Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0
Ändere die Welt, sie braucht es!
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Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Juli-August 2016
Zum 60. Todestag: Brief eines Nachgeborenen an den Klassiker der Vernunft Lieber Bidi, werter Genosse Brecht! Die erste Anrede erlaube ich mir, weil Du in meinem Leben immer ein Kraftgeber und ein Anregender warst. Die zweite Anrede gestatte ich mir, obwohl Du nie Mitglied einer linken Partei warst, Dich aber immer auf die Seite der Geknechteten und Entrechteten geschlagen hast. Und Du hast auch, was heute sehr Not tut, die Kunst, die hohe, aus dem Mief der Opern- und Schauspielhäuser geholt und sie für die einfachen Leute zum Gebrauch gegeben. Kunst war für Dich nicht Selbstzweck, sondern Kampfund Lustmittel, Nachdenken war immer Vergnügen. Wenn ich mich in der heutigen Welt umsehe, ist wenig davon geblieben. Das erste Stück von Dir, das ich an Deinem Berliner Ensemble sah, war „Die Ausnahme und die Regel“. Ein Stück über die Gerechtigkeit und über Recht, das für die Herrschenden und die Beherrschten eben nicht gleich ist. Mir ist aufgefallen, dass es bis heute gespielt wird, aber immer mehr zur Nummernrevue verkommt. Deine Werke werden trotz aller Unkenrufe in der Welt immer wieder gespielt und sorgen bis heute für Diskussion und Nachdenken. So wurde eine Aufführung von „Mutter Courage und ihre Kinder“ in Israel verboten, da die Theatergruppe das zeitlose (also doch aktuelle) Stück über das Verdienen am Kriege in den Gazastreifen versetzt hatte. Besser wirken kann man am Theater kaum. Von Deinen epischen Werken haben mich das „Meti – Buch der Wendungen“ und die „Flüchtlingsgespräche“ begeistert. Die philosophischen Überlegungen des Meti laden zum Nachdenken ein. Beispiel: „Erfahrungen müssen sozialisiert werden. Meti sagte: Man soll keinen auf einem öffentlichen Posten halten, weil er ,Erfahrung‘ in gerade dieser Angelegenheit hat. Er soll lernen, seine Erfahrungen weiterzugeben, statt sie als Besitz zu verwerten“. Und natürlich Deine Gedichte. Angefangen von Deinen Liedern
zur Klampfe über die Exillyrik der Svendborger Gedichte oder der Hollywood-Elegien bis zu Deinen Buckower Elegien sind sie nicht veraltet und strahlen mutig und tapfer durch die Zeiten. Selbst im politischen Diskurs der Linken sind sie immer noch gute Waffen. Interessant fand ich folgende Geschichte: Charlie Chaplin lud Dich und Hanns Eisler zur Premiere von „Modern Times“ ein. Ihr saßt in der letzten Reihe. Im Film gibt es eine Szene, wo sich ein Banker nach einem Börsenkrach aus dem Hochhausfenster stürzt. Das gesamte Publikum fand das rührend, nur in der letzten Reihe lachten drei Personen laut. Diese Geschichte hast Du immer erzählt, um der Forderung nach einer denkenden, eingreifenden und polarisierten Kunst Nachdruck zu verleihen. Die DDR hat es Dir auch nicht leicht gemacht. Nachdem du Dich mit Bauernschläue dem Verhör der McCarthys entwunden hattest, bist Du über die Schweiz und Österreich auf Einladung von Johannes R. Becher hergekommen und hast mit einer grandiosen Inszenierung von „Mutter Courage und ihre Kinder“ unterm Dach des Deutschen Theaters für ein neues Publikum in einem neuen Land Erfolg eingefahren. Aber die ersten überlegten schon, ob dies nicht das falsche Theater ist. Man solle sich doch mehr an die Klassiker halten und nichts ausprobieren. Aber der Erfolg gab dir Recht. Dann begann eine Debatte über Formalismus in der Kunst. Deine Oper vom „Verhör des Lukullus“, eines Kriegsherrn, der „ins Nichts gestoßen wird“ von den einfachen Menschen, die unter den Kriegen leiden mussten, wurde solange diskutiert, bis selbst der Titel geändert wurde. Trotzdem ist es schade, dass sie zu selten gespielt wird. Sie ist bis heute eine Anklage und eine Drohung für Leute, die glauben, der Menschheit mit Vernichtung und Tod weiterhelfen zu wollen. Und nicht zu vergessen Deine ungoethische Urfaust-Inszenierung an der neuen Spielstätte am Schiffsbauerdamm-Theater. Leider sind nur Fotos und Szenenmitschnitte erhalten. Was bleibt einem Nachgeborenen zu sagen? Du bist ein Klassiker, der aber, und das wird Dich freuen, aktueller denn je wird. Deine Forderung nach einer sich einmischenden, anregenden Kunst, nach dem Theater als Mittel nicht der Darstellung des einzelnen Schicksals, sondern der Aufforderung zur Veränderung, wird bestehen. Denn, wie es in „Die Maßnahme“ heißt: „Ändere die Welt, sie braucht es!“ Mit freundlichen und sozialistischen Grüßen, Mike Melzer