LINKS! Ausgabe 7-8/2016

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Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0

Ändere die Welt, sie braucht es!

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Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Juli-August 2016

Zum 60. Todestag: Brief eines Nachgeborenen an den Klassiker der Vernunft Lieber Bidi, werter Genosse Brecht! Die erste Anrede erlaube ich mir, weil Du in meinem Leben immer ein Kraftgeber und ein Anregender warst. Die zweite Anrede gestatte ich mir, obwohl Du nie Mitglied einer linken Partei warst, Dich aber immer auf die Seite der Geknechteten und Entrechteten geschlagen hast. Und Du hast auch, was heute sehr Not tut, die Kunst, die hohe, aus dem Mief der Opern- und Schauspielhäuser geholt und sie für die einfachen Leute zum Gebrauch gegeben. Kunst war für Dich nicht Selbstzweck, sondern Kampfund Lustmittel, Nachdenken war immer Vergnügen. Wenn ich mich in der heutigen Welt umsehe, ist wenig davon geblieben. Das erste Stück von Dir, das ich an Deinem Berliner Ensemble sah, war „Die Ausnahme und die Regel“. Ein Stück über die Gerechtigkeit und über Recht, das für die Herrschenden und die Beherrschten eben nicht gleich ist. Mir ist aufgefallen, dass es bis heute gespielt wird, aber immer mehr zur Nummernrevue verkommt. Deine Werke werden trotz aller Unkenrufe in der Welt immer wieder gespielt und sorgen bis heute für Diskussion und Nachdenken. So wurde eine Aufführung von „Mutter Courage und ihre Kinder“ in Israel verboten, da die Theatergruppe das zeitlose (also doch aktuelle) Stück über das Verdienen am Kriege in den Gazastreifen versetzt hatte. Besser wirken kann man am Theater kaum. Von Deinen epischen Werken haben mich das „Meti – Buch der Wendungen“ und die „Flüchtlingsgespräche“ begeistert. Die philosophischen Überlegungen des Meti laden zum Nachdenken ein. Beispiel: „Erfahrungen müssen sozialisiert werden. Meti sagte: Man soll keinen auf einem öffentlichen Posten halten, weil er ,Erfahrung‘ in gerade dieser Angelegenheit hat. Er soll lernen, seine Erfahrungen weiterzugeben, statt sie als Besitz zu verwerten“. Und natürlich Deine Gedichte. Angefangen von Deinen Liedern

zur Klampfe über die Exillyrik der Svendborger Gedichte oder der Hollywood-Elegien bis zu Deinen Buckower Elegien sind sie nicht veraltet und strahlen mutig und tapfer durch die Zeiten. Selbst im politischen Diskurs der Linken sind sie immer noch gute Waffen. Interessant fand ich folgende Geschichte: Charlie Chaplin lud Dich und Hanns Eisler zur Premiere von „Modern Times“ ein. Ihr saßt in der letzten Reihe. Im Film gibt es eine Szene, wo sich ein Banker nach einem Börsenkrach aus dem Hochhausfenster stürzt. Das gesamte Publikum fand das rührend, nur in der letzten Reihe lachten drei Personen laut. Diese Geschichte hast Du immer erzählt, um der Forderung nach einer denkenden, eingreifenden und polarisierten Kunst Nachdruck zu verleihen. Die DDR hat es Dir auch nicht leicht gemacht. Nachdem du Dich mit Bauernschläue dem Verhör der McCarthys entwunden hattest, bist Du über die Schweiz und Österreich auf Einladung von Johannes R. Becher hergekommen und hast mit einer grandiosen Inszenierung von „Mutter Courage und ihre Kinder“ unterm Dach des Deutschen Theaters für ein neues Publikum in einem neuen Land Erfolg eingefahren. Aber die ersten überlegten schon, ob dies nicht das falsche Theater ist. Man solle sich doch mehr an die Klassiker halten und nichts ausprobieren. Aber der Erfolg gab dir Recht. Dann begann eine Debatte über Formalismus in der Kunst. Deine Oper vom „Verhör des Lukullus“, eines Kriegsherrn, der „ins Nichts gestoßen wird“ von den einfachen Menschen, die unter den Kriegen leiden mussten, wurde solange diskutiert, bis selbst der Titel geändert wurde. Trotzdem ist es schade, dass sie zu selten gespielt wird. Sie ist bis heute eine Anklage und eine Drohung für Leute, die glauben, der Menschheit mit Vernichtung und Tod weiterhelfen zu wollen. Und nicht zu vergessen Deine ungoethische Urfaust-Inszenierung an der neuen Spielstätte am Schiffsbauerdamm-Theater. Leider sind nur Fotos und Szenenmitschnitte erhalten. Was bleibt einem Nachgeborenen zu sagen? Du bist ein Klassiker, der aber, und das wird Dich freuen, aktueller denn je wird. Deine Forderung nach einer sich einmischenden, anregenden Kunst, nach dem Theater als Mittel nicht der Darstellung des einzelnen Schicksals, sondern der Aufforderung zur Veränderung, wird bestehen. Denn, wie es in „Die Maßnahme“ heißt: „Ändere die Welt, sie braucht es!“ Mit freundlichen und sozialistischen Grüßen, Mike Melzer


Links! im Gespräch

Links! 07-08/2016

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Austausch über den Gräbern der Gefangenen Seit 1985 gibt es in Zeithain eine Gedenkstätte für 35.000 im sogenannten „Russenlager“ verstorbene Menschen. Es war die erste Gedenkstätte für sowjetische Kriegsgefangene auf deutschem Boden. Dass es sie gibt, ist wesentlich der Forschungsarbeit eines Mannes zu verdanken: Egon Förster, Geschichtslehrer und ehemaliger Schuldirektor von Wülknitz, Jahrgang 1928. Er war sowjetischer Kriegsgefangener in Mittelasien und wurde dort zum Kriegsgegner, Antifaschisten und Freund der Sowjetunion. Heute ist er Mitglied der LINKEN und hat seine Sammlung kürzlich als Dauerleihgabe dem Deutsch-Russischen Kulturinstitut in Dresden überlassen. Ralf Richter befragte den Geschichtsforscher nach dem 75. Jubiläum des Angriffs des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion. Herr Förster, Sie schreiben in Ihren Erinnerungen, dass Sie mit Kriegsbeginn wie andere Jungen Ihres Alters nach 1939 den Kriegsverlauf an der Karte mit Stecknadeln absteckten. Können Sie sich noch an den 22. Juni 1941 erinnern? Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern! Ich gehörte zum so genannten „Jungvolk“. Unser „Fähnlein“ hatte seinen Stützpunkt in Wülknitz und wir machten im Wald bei Görzig an diesem Tag ein Geländespiel, fühlten uns wie kleine Krieger auf Russlandfeldzug.

willig zur Wehrmacht meldeten. Das schafften sie aber nicht. Dennoch machte ein ganzer Teil, ich also auch, mit. Sicher spielte auch eine Rolle, dass mein Vater selbst Nazi war; zudem glaubten wir immer noch, dass im Osten zwar einzelne Schlachten verloren gegangen waren, zweifelten aber nicht an der Möglichkeit eines Sieges. Alles in allem war es für mich ein Mitlaufen. Man meldete sich also 1944 noch mit Begeisterung für die Armee? Nein. Ich beschreibe in meinen „Erinnerungen“ den Abschied eines Kameradschaftsführers, der zur Armee ging. Bei diesem Treffen wurde durchaus mit Bewunderung über die Angriffe von Edelweißpiraten auf HJ-Führer in Chemnitz gesprochen, die dort im Park den HJler verdroschen hatten. Einer sagte sogar: „Wenn es mal andersrum kommt, dann mache ich bei den Kommunisten mit!“ Das alles hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Grundtenor war damals schon: Wir müssen versuchen, am Leben zu bleiben.

tete aus Chemnitz – das waren zum Teil Kommunisten – in dem von der Organisation Todt aufgebauten Stadtteil Pulsen untergebracht wurden. Bis 1939 hatte die Gestapo dort über 60 „Vorfälle“ untersucht – man kann also sagen, dass die Chemnitzer ein neues linkes politisches Denken nach Gröditz brachten ... Sie sind als 17-Jähriger in Dresden in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und hatten bis dahin keinen Schuss auf „den Feind“ abgegeben. In Mittelasien haben Sie mehrere Jahre in Kohlegruben gearbeitet und diese harte Arbeit als Teil der Wiedergutmachung angesehen, für all die Verbrechen, die Deutsche den Menschen in der Sowjetunion angetan haben. Eine bemerkenswerte Erkenntnis für einen so jungen Menschen. Als wir in Usbekistan ankamen, trafen wir im Lager auf Stalingrad-Überlebende. Sie wissen vielleicht, dass von den Kriegsgefangenen nur 3.500 überlebt haben. Die wir sahen, waren schon in Sanatorien

Egon Förster 1986 mit Galina Slobina. Witwe des Widerstandskämpfers und Schriftstellers Stepan Slobin

Es war ein Blitzkrieg geplant. Die Deutschen waren nicht auf einen Winterkrieg vorbereitet. Sie selbst erfuhren bald, dass dieser Krieg ganz anders war als die Feldzüge gegen Polen oder Frankreich. Es gab bis dahin keine großen Verluste in der Familie. Das änderte sich nun. Mein Cousin kämpfte vor Moskau in einem Panzerregiment. Beim Rückzug wurde er verwundet und blieb liegen. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Von da an stiegen die Verluste ständig. Sie haben sich 1944 freiwillig zur Armee gemeldet, mit 16 Jahren. Das ist heute schwer nachvollziehbar. Waren Sie damals eine Ausnahme und was trieb sie an? Das ist nicht ganz einfach zu erklären. Zunächst muss man wissen, dass ich zum Jahrgang 1928 gehörte und die Hitlerjugend beschlossen hatte, meinen ganzen Jahrgang „dem Führer“ an seinem Geburtstag „zum Geschenk“ zu machen – dergestalt, dass sich alle frei-

Ich habe kürzlich bei einem Chemnitz-Besuch erfahren, dass der dortige Stadtrat, in dem die KPD sehr stark war, schon 1927 beschloss, einen Karl-Marx-Platz einzurichten. Waren die Chemnitzer besonders fürs „LinksSein“ bekannt? Das Stahlwerk Gröditz hat in den letzten Jahren seine Geschichte aufgearbeitet. Ich habe mitgewirkt. Dabei bin ich darauf gestoßen, dass schon 1937 Zwangsarbeitsverpflich-

aufgepäppelt worden und politisch sehr weit, sie wussten um die Verbrechen der Nazis. Ich registrierte auch, wie aus unserem Lager zwei Männer abgeholt wurden. Einer, ein Feldwebel, war in der Ukraine Ortskommandant gewesen und hatte dort gewütet – er wurde zur Gegenüberstellung in die Ukraine zurück gebracht. Wir bekamen in unserem Lager Kysyl-Kija 1948 sogar Besuch von Diplomaten, die in China interniert waren und auf ihrer

Heimreise bei uns einen Stopp einlegten. Auch von ihnen bekamen wir Informationen über die Geschehnisse außerhalb. In unserer Lagerzeitung „Die Nachrichten“ erfuhr ich von den Untersuchungen der „Chorun-Kommission“, die in Zeithain auf 35.000 Tote gestoßen war. Die „Chorun-Kommission“? Der Generalmajor Josef Iwanowitsch Chorun leitete eine mit sowjetischen Offizieren, deutschen Polizisten sowie deutschen und sowjetischen Gerichtsmedizinern besetzte Untersuchungskommission zum Kriegsgefangenenlager 304 H in Zeithain. Sie arbeitete ab Augst 1946 für mehrere Monate vor Ort. Sie stießen auf vier Gräberfelder. Insgesamt kam man auf eine Zahl von 35.000 toten Sowjetsoldaten. In Zeithain kannte man bis in die 80er Jahre keinen einzigen Namen von einem sowjetischen Kriegsgefangenen. Es wurden zwar jährlich am Tag der Befreiung Kränze niedergelegt, aber man gedachte der „unbekannten Soldaten“ – bis Sie mit ihrer AG Junge Historiker Licht ins Dunkel brachten. Wie kam es dazu? Ich bin Geschichtslehrer, und für mich war klar: Ein richtiger Geschichtslehrer muss selbst die Geschichte seiner Region erforschen. Sonst vermittelt er nur das, was in Büchern steht, aber keine eigenen Erkenntnisse. Reines Buchwissen ist totes Wissen. In der DDR animierte man erst Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre die Geschichtslehrer dazu, Regionalforschung zu betreiben. Dabei hat das Forschen von Geschichtslehrern eine lange Tradition – bereits den in Riesa zu sehenden Zeithainer Mammutzahn hat vor vielen Jahrzehnten ein Lehrer ausgebuddelt. Ich habe eine Arbeitsgemeinschaft Junger Historiker gegründet und wir haben dann, nachdem der Vorsitzende des Kreisvorstandes der DeutschSowjetischen Freundschaft (DSF) bei einer Sowjetunionreise ein Buch über den sowjetischen Schriftsteller Pawel Slobin entdeckte, der in Zeithain Kriegsgefangener war, den Stein ins Rollen gebracht. Wie lief das ab? Telefon und Internet gab es nicht, also schrieben wir Briefe. Aber zunächst, das war 1977, ließen wir uns einen Forschungsauftrag erteilen von der Gesellschaft für DeutschSowjetische Freundschaft. Das war das Jahr, in dem wir zwei Briefe abschickten – einen an

das Revolutionsmuseum in Moskau und den zweiten an den sowjetischen Schriftstellerverband. Letzterer leitete unseren Brief gleich an die Witwe von Pawel Slobin weiter, die sich bei uns meldete und ihrerseits gut über die Kontakte ihres Mannes zu anderen ehemaligen Mitgefangenen Bescheid wusste. Es war im wesentlichen Frau Slobina, die uns Briefkontakte mit Überlebenden vermittelte. Wann kam der erste ehemalige Kriegsgefangene nach Zeithain zurück? Das war ein wirklich kurioser Zufall. Im Jahre 1983 besuchte eine Leningrader Delegation Dresden. Sie traf u.a. Frido Seidewitz, den Sohn von Max Seidewitz also, der von 1947 bis 1952 Ministerpräsident von Sachsen war. Ein Mann namens Metjolkin fragte ihn, ob es möglich sei, nach Zeithain zu fahren, er sei dort als Kriegsgefangener gewesen. So entstand mein Kontakt zum Arzt des Vorlagers, der uns später gemeinsam mit Galina Slobina zur Verleihung des Ehrennamens „Stepan Slobin“ für unsere Schule besuchte. Sie haben Ihre Sammlung als Dauerleihgabe dem Deutsch-Russischen Kulturinstitut in Dresden übergeben und nicht der Gedenkstätte Zeithain. Warum? Die Gedenkstätte Zeithain wurde nach 1990 radikal umgestaltet. Über ihre Entstehungsgeschichte findet man heute kaum Informationen, was insofern bedauerlich ist, da es sich doch immerhin um die erste Gedenkstätte für sowjetische Kriegsgefangene auf deutschem Boden handelt. Das ist aber nicht der Grund. Die Trägerinstitution Stiftung Sächsische Gedenkstätten fährt seit Jahren einen Kurs, den ich für sehr bedenklich halte. Ich traue aber dem DRKI zu, dass es das, was ich angeschoben habe – den Austausch zwischen Deutschen und Russen über den Gräbern ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener – im eigenen Interesse weiter betreiben wird. Man soll niemals vergessen, was deutsche einfachen Soldaten der Sowjetunion auf deutschem Boden hier bei uns in Sachsen angetan haben. Umso wichtiger ist es, alles dafür zu tun, an diese Geschichte zu erinnern und gemeinsame Projekte zwischen Deutschen und Russen in der Zukunft anzugehen. Vielleicht werden einmal junge Russen und Deutsche gemeinsam im Internet eine Homepage über das Zeithainer Lager gestalten – zweisprachig!


Die dritte Seite

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07-08/2016  Links!

So viel Grundeinkommen war noch nie Die Schweizer Volksabstimmung zum Grundeinkommen hat Deutschlands Öffentlichkeit aufgerüttelt. So viel Grundeinkommen – differenziert und auch linke Konzepte beleuchtend – war noch nie in hiesigen Medien. Die Verankerung des Grundeinkommens in der Schweizer Verfassung hat „nur“ 23 Prozent Ja-Stimmen bekommen, immerhin – ein guter Start für folgende Kampagnen. Manche Parteien in Deutschland würden Freudentänze aufführen bei so einem Wahlergebnis. Die Schweizer Volksabstimmung war Anlass für eine Kampagne in Deutschland: „grundeinkommen abstimmen“. Innerhalb von zwei Monaten kamen 110.000 Unterschriften zusammen. Die Vorsitzende des Petitionsausschusses im Bundestag, Kersten Steinke, nahm sie entgegen. Ein klares Signal der Bürger*innen: Wir wollen abstimmen über Dinge, die uns betreffen. Wir wollen unsere Arbeits- und Lebensbedingungen mitgestalten. Die Linksfraktion hat sofort reagiert: Die Einführung der Möglichkeit einer bundesweiten Volksabstimmung stand auf der Tagesordnung, natürlich wie immer abgelehnt von der CDU/CSU und der SPD. Das Grundeinkommen steht ebenfalls auf der gesellschaftspolitischen Tagesordnung. Ein LINKES Konzept für ein Grundeinkommen liegt auf dem Tisch: seriös gerechnet, sozial gerecht und eingebettet in ein sozialökologisches Gesellschaftskonzept mit klarem antikapitalistischen, sozialistischen und emanzipatorischen Anspruch.

Es ist Sommer und ich will leichte Kost bieten; zum Lesen im Liegestuhl oder im Bett an einem verregneten Urlaubstag. Namen sind öfter Zeichen, sind öfter Lebensprogramm, als man denkt. Fangen wir doch gleich mit dem Wetter an. Es bereitet nicht selten Kummer. Christa Kummer heißt auch die Wetterfee des 2. Programmes im österreichischen Fernsehen. Da ziehe ich doch Tim Frühling, einen Meteorologen der ARD „tagesschau“, vor. Aber auch er kann uns vor Schwankungen des Wetters nicht bewahren, weshalb er einen Kollegen namens Karsten Schwanke hat. Wetter ist immer. Manchmal kommt es schreck-

Was sind Argumente gegen ein solches Grundeinkommen? Nicht finanzierbar? Falsch, weil es umverteilend ist. Übrigens: Die Staatsquote in Deutschland würde mit einem Grundeinkommen von 1080 Euro und dem Ausbau öffentlicher Infrastruktur und sozialer Dienstleistungen ein Niveau wie in Frankreich oder Dänemark erreichen. Es ist machbar. Grundeinkommen als Niedriglöhne stützender Kombilohn? Falsch, weil es mit ordentlichen Tarif- und Mindestlöhnen verbunden ist und die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen stärkt. Nicht umsetzbar? Falsch. Richtig, wenn es DIE LINKE selbst verhindert. Dann sind aber andere Grundeinkommenskonzepte im Angebot, die nicht unbedingt linken Vorstellungen entsprechen.

Zurück zur Schweizer Volksabstimmung: Was wäre in Deutschland anders zu machen, wenn wir endlich die Möglichkeit der Volksabstimmung hätten? Erstens muss eine Kampagne einen klar durchgerechneten Vorschlag vorlegen, der den Bürger*innen die Machbarkeit und den meisten Vorteile nachweist. Die Schweizer Initiant*innen konnten kein schlüssiges Konzept darlegen, verhedderten sich in Widersprüchen. Zweitens müssen soziale Bewegungen ins Boot. Die Schweizer Initiant*innen waren ausgesprochen gesprächsarm in Richtung ökologischer und feministischer Bewegung. Das sind aber Schlüsselbewegungen für die Zukunft! Drittens setzten die Schweizer Initiant*innen zwar recht wirksam auf mediale

Effekte, die zwar wirkten, aber auch abschreckend. Ein Skifahrer auf dem goldenen Geldberg, so ein Bild. Als ob es beim Grundeinkommen um Geldberge geht. Es geht um ein sicheres Fundament für jede/n und nicht um eine Talfahrt von Geldbergen herab. Ausgeblendet wurde darüber hinaus die globale Dimension. Die Schweizer*innen in einem Raum jenseits realer Welt drumherum? Auch Umverteilung von realer Macht über Produktion, Finanzen und von Reichtum von oben nach unten waren nur selten Themen. Das Fazit zur Schweizer Volksabstimmung lautet: gewonnen, verloren, gewonnen. Erstens: Enorme Öffentlichkeit gewonnen. Zweitens: Abstimmung erst einmal verloren, eine weitere wird folgen. Drittens: Vie-

le Einsichten gewonnen. Wohl die wichtigste: Die Debatte um das Grundeinkommen ist als Debatte über eine andere Gesellschaft zu führen: eine Gesellschaft, die nachkommenden Generationen eine verbesserte Erde hinterlässt (Marx) und keine zerstörte. Eine Gesellschaft, die Demokratie nicht nur formal, sondern materiell absichert: Der aufrechte Gang der Bürger*innen bedarf einer bedingungslosen materiellen Anerkennung eines jeden Menschen als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft. Und eine Gesellschaft, die ausspricht, dass Lohnarbeit – um wieder mit Marx zu sprechen – Sklaverei ist: Weil sich der Mensch, um leben zu dürfen, verkaufen muss. Erzwungene Prostitution auf höchst niederträchtigem Niveau, versüßt mit dem Konsumlutschbonbon. Eine Linke gewinnt nur, wenn sie auf grundlegende Fragen grundlegende Antwort-Angebote unterbreitet und diese mit den Menschen und sozialen Bewegungen diskutiert – und dabei nicht den Konflikt scheut. So wie sie beim Mindestlohn nicht den Konflikt scheute, und jetzt nicht in der Frage um Flucht und Fluchtursachen: Jeder Mensch soll das Recht haben, an dem Ort seiner Wahl gut zu leben – und das heißt auch, bedingungslos sozial und vor Gewalt gesichert zu leben. Wetten, dass dieser kategorische Imperativ das Potenzial hat, versteinerte Verhältnisse zum Tanzen zu zwingen (Marx)? Ronald Blaschke

lich daher. Notlandungen von Flugzeugen sind seltener, doch immer schrecklich. Von einer solchen im Hudson River berichtete ein Jim Schreckengast bei t-online. Ein Gastwirt in Landsberg, Sachsen-Anhalt, heißt Rausch. Der Wirt einer Berggaststätte in der Schweiz trägt den Namen Alexander von Almen. Eine Frau Lackner besitzt einen Malereibetrieb. Das ist für Frauen selten, weshalb sie, um keine Zweifel aufkommen zu lassen, ihren Betrieb in der Weiberfeldgasse in Graz hat. Admira Wien hatte einen Fußballtrainer namens Knaller. Die Mannschaft ist derzeit immerhin Vierter in der obersten österreichischen Liga. Ohne Knaller auf das gegnerische Tor geht das wohl nicht. Eine Assistenztrainerin der deutschen Frauenfußballnationalmannschaft muss wiederum mit ihrem Namen Ballweg zurecht kommen. Amor ist der Gott der Liebe. Ein Frater Rafael Amor sprach im Bayrischen Fernsehen über den Zölibat und den Verzicht auf Familie.

Gelernte DDR-Bürgerinnen und -Bürger wird es nicht wundern. Wir wussten, dass es neben der körperlichen Liebe auch noch die Liebe zur Sowjetunion gab. Der fromme Mönch hat da sicher auch Ersatz. Schmerzt ihn der Zölibat dennoch hin und wieder, sein Vorname tröstet:

ner Moschee. Die leichte Kost könnte jetzt allerdings schwerer werden, wenn mir die Namen der Pflichtverteidiger der NSUKurtisane Beate Zschäpe einfallen: Heer, Stahl und Sturm. Ich habe noch viele Namen in meiner Sammlung. Die Sache gerät aber ins Delikate. Ein Prof. Uwe Hartmann heilt erektive Dysfunktionen und eine Frau Kastrati protestierte mit Damenbinden, auf denen feministische Botschaften standen. Lassen wir den Rest also in „Schwarzen Löchern“ verschwinden, die, bevor man sie entdeckt hatte, ein Karl Schwarzschild schon vorausgesagt hat. Es ist ja auch nicht alles originell, selbst wenn es die Bedingung für das nomen est omen erfüllt. Alexander Gauland träumt möglicherweise noch von einer Zeit, zu der in deutschen Landen Gaue Verwaltungseinheiten waren. Das sollte 1000 Jahre halten, zwölf schlimme waren es dann immer noch. Träumen wird er, der Gauland. Erinnern braucht man

ihn daran nicht. Er kann sich gewöhnlich an nichts erinnern. Sein Gedächtnis ist unerforschlich wie Gottes Wege und wie die Wege des Sigmar Gabriel von der SPD. Dessen Namenspatron, der Erzengel Gabriel, verkündete einst Mariäen ihre „unbefleckte Empfängnis“. Eine solche nimmt er für sich ebenso in Anspruch, wenn er so manche CDU-Einfälle mit in die Welt setzt. Sein Name kommt aus dem Hebräischen. „Gott hat sich stark gezeigt“ oder „Mann Gottes“ bedeutet Gabriel. So mancher Geldsack hält ihn für einen solchen wegen seiner Absage an die Vermögenssteuer. Neuerdings erinnert sich der Gabriel wieder der Mühseligen und Beladenen und eines „linken Lagers“. War ja nicht immer so. Aber Gott macht die Seinen offensichtlich stark in Wahlzeiten. Wohlan Sigmar! Bist Du nicht (wenigstens auf althochdeutsch) der, „der den Sieg verkündet“, der, „der für den Sieg berühmt ist“? – Mal sehen, ob jetzt nomen auch gleich omen?

Nomen est omen? Rafael ist hebräisch und bedeutet „Gott heilt“. Versucht ihn der Teufel, hilft die Pastoralamtsleiterin der für den Mönch zuständigen katholischen Erzdiözese, Frau Prüller-Jagenteufel. Der Mönch kann sich darauf verlassen, dass die Sache gut ausgeht. Die Pastoralamtsleiterin trägt den Vornamen Veronika, die „Siegbringerin“. Dass ein Schweizer Literaturkritiker Zweifel heißt, wundert uns jetzt gar nicht mehr. Ein Herr Klingler ist Glockenbetreuer in einem Tiroler Dorf. Das gibt es in kei-


Hintergrund

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100 Jahre Jurij Brezan Das sorbische Volk, ob in der Niederlausitz oder in der Oberlausitz, ist gar nicht arm an bedeutenden Schriftstellern, die ihren unverwechselbaren Anteil an der Bewahrung von Sprache und Kultur dieses kleinen, noch dazu in zwei Varianten existierenden Volkes haben. Das gilt für Vergangenheit und Gegenwart. Mit einigem Stolz konnte deshalb der Sorbische Künstlerbund Ende Juni, Anfang Juli 2016 schon sein 38. Fest der sorbischen Poesie feiern. Natürlich ragen, wie in jeder Sprachgemeinschaft, einige aus der Menge heraus. Dazu gehört sicher Jurij Brězan. Der Einzige ist er natürlich nicht. Wenn man nach ihm fragt, wird fast jede und jeder im Osten sagen, „natürlich, den kenne ich.“ Was man von ihm gelesen hat, steht vermutlich schon auf einem anderen Blatt. Wie man sich seiner erinnert, zehn Jahre nach seinem Tod und zu seinem 100. Geburtstag, steht erst recht etwas fragwürdig im Raum. Brězan beginnt seinen Roman „Krabat oder die Verwandlung der Welt“ mit einem sehr dialektisch gedachten und zugleich so berührend bildlich

dargestellten Zusammenhang von engster landschaftlicher Bindung und Welt: „Genau im Mittelpunkt unseres Kontinents – wie viele hierzulande irrtümlich glauben, also auch der Welt – entspringt die Satkula, ein Bach, der sieben Dörfer durchfließt und dann auf den Fluß trifft, der ihn schluckt. Wie die Atlanten, so kennt auch das Meer den Bach nicht, aber es wäre ein anderes Meer, nähme es nicht auch das Wasser der Satkula auf.“ Das mit dem „anderen Meer“ steht auch auf dem Grabstein Jurij Brězans und meint mit Recht, die Welt wäre eine andere, gäbe es die Sorben nicht. „Ihr lebt vom Brot Eurer Enkel“ und „Jeder kennt bloß noch die Hektare und keiner mehr die Krume“, setzt er maßloser Ausbeutung bodenständiger Lebensgrundlage seines Volkes entgegen. Man kann hier Brězans Hinterlassenschaft sicher nicht ausreichend und umfassend würdigen. Es ist auch nicht meine Absicht. Einen Hauch davon konnte man jedoch bei einer Veranstaltung aus Anlass des hundertsten Geburtstages Jurij Brězans im Bautzener Steinhaus verspüren. Jurij Brězan,

der auf sorbisch wie auf deutsch gleichermaßen souverän beglückend, bereichernd

engsten Heimat, ihrer Landschaft, ihren Geschichten, ihren Menschen. Eingebettet ist darin die Auseinandersetzung mit der Welt. Den 95. Geburtstag des 2006 kurz vor seinem 90. Geburtstag Verstorbenen hatte seine Familie einst im engen Kreis in Horni Hajnk gefeiert. Man hoffte auf größere Ehrungen zum Hundertsten. Das wurde nicht ganz so. Sein Tod war allseits bemerkt worden, eine Ehrung zum 100. Geburtstag, ja auch nur eine ehrende Erwäh-

nung blieben weitgehend aus. Die Stadt Bautzen rang sich nie zur Ehrenbürgerschaft durch, obwohl beantragt. Wo ist die Jurij-Brězan-Gasse in Bautzen, Kamenz oder anderswo im obersorbischen Siedelgebiet? Wo ist wenigstens eine Ehrentafel? Caren Lay und Heiko Kosel, Abgeordnete aus der Region im Bundes- und Landtag für DIE LINKE, ergriffen die Initiative, organisierten die Ehrenveranstaltung und ersparten so mögliche Enttäuschung. Der Stellvertreter des Bautzener OBM hielt die Laudatio, in einer Podiumsdiskussion erfuhren wir bisher Unbekanntes über die Rezeption von Jurij Brězans Werk, von persönlichem Zugang und von Privatem. Florian Brězan präsentierte Jurij Brězans auf obersorbisch verfassten „Brief an meine Enkel“ in eigener sensibler Übersetzung. Menschen aus lokaler und sächsischer Kultur und Politik lasen aus Texten Brězans und machten damit ihre durchaus unterschiedlich begründete Zuwendung deutlich. Alles in allem eine nicht nur notwendige, sondern auch sehr gewinnbringende Veranstaltung. Peter Porsch

ne Schuld darin, dass er den Veteranen aus der 1. Reiterarmee (Stalin, Woroschilow, Budjonny) in seinem militärtheoretischen Denken voraus war und militärisches Können nicht als „bürgerliches Fachwissen“ degradierte. Während die genannten „Großen Drei“ bei künftigen Kriegen weiter aufs alte Pferd, die Kavallerie, zu setzen schienen, warb er für eine Modernisierung der Streitkräfte. Viel Aufmerksamkeit widmete er daher der Konstruktion und der Ausrüstung mit neuen Waffen. In einem Memorandum an den Kreml forderte er 1930 den Bau von 40.000 Flugzeugen und von 50.000 Panzern. Das war zu viel für Stalin, der ihm daraufhin „roten Militarismus“ und „konterrevolutionäre Sabotage“ vorwarf. Trotz aller Widerstände, die Kerngedanken seiner Reformideen setzten sich durch. Und wie nach seiner Meinung kommende Kriege geführt werden würden, machte er 1928 in dem Buch „Krieg der Zukunft“ nachlesbar. Dann, im Großen Vaterländischen Krieg, fanden Tuchatschewskis Vorstellungen praktische Anwendung auf den Schlachtfeldern. Ein Beispiel: die Panzerschlacht am Kursker Bogen 1943. Aber schon sechs Jahre zuvor war das Ärger machende Kind

der Revolution Michail Tuchatschewski von dem nimmersatten stalinschen Unterdrückungsapparat aufgefressen worden. Verhaftet wurde er am 22. Mai 1937. Auch auf der Grundlage von durch Heydrichs SD gefälschten Dokumenten, für die die Sowjetunion 3 Millionen Rubel gezahlt haben soll, wurde ihm am 11. Juni der Prozess gemacht. Um 23.35 Uhr wurde das Todesurteil verkündet. Am 12. Juni wurde es vollstreckt. Marschall Konstantin Rokossowski, der selbst drei Jahre GULAG überstehen musste, fand für diese Schläge gegen die Rote Armee die Worte: „Das ist schlimmer als Artilleriefeuer gegen die eigenen Truppen“. Dabei war die Exekution Tuchatschewskis erst die Ouvertüre einer Sinfonie des Schreckens, an deren Ende über 30.000 höhere Offiziere der Roten Armee „ausgespielt“ hatten. Es sei noch einmal Schostakowitsch zitiert, der über seinen Geige spielenden Beethoven-Freund sagte: „Ich wüsste gern, wer heute Tuchatschewskis Geigen spielt. Ich habe das Gefühl, sie müssten einen traurigen Klang haben“. Bleibt noch zu sagen, dass der Marschall 1957 rehabilitiert wurde. Wie so viele andere. Früher oder später. René Lindenau

die Erklärungen dafür, geboren aus einer ständigen Auseinandersetzung mit sich selbst, der Jurij Brězan, Christa Wolf (1981) Bundesarchiv, Bild 183-Z1229-301 / Senft, Gabriele / CC-BY-SA 3.0

und in Einmaligkeit schreiben konnte, wird sicher nicht zu Unrecht oft der bedeutendste Dichter der Sorben im 20. Jahrhundert genannt. Das heißt nicht, dass er unumstritten wäre. Nein dies ist sogar unvermeidliches Element seiner Größe. Seine Poesie überzeugt alle, die das Herz dafür offen haben. Sein politischer Weg durch die Labyrinthe seiner Lebenszeit ist für manche Anlass zu Ablehnung oder wenigstens Skepsis. Wer ihn versteht, findet aber gerade in der Poesie

„Der rote Napoleon“ Michail Tuchatschewski (18931937) Jede Revolution hat ihre Kinder. Wenn sie Ärger machen, werden sie mancherorts aufgefressen. Zurück bleibt eine Gesellschaft, der es zunehmend am revolutionären Nachwuchs fehlt. Irgendwann ist sie ganz kinderlos und dem Untergang geweiht. So ist es geschehen – in und mit der Sowjetunion. Man denke an die Moskauer Schauprozesse der Jahre 193638; ein für so viele tödliches unrechtes Mittel zur Verhütung von Revolutionen. Schließlich erreichte die „Schlächterei der Säuberungen“, wie es Chruschtschow später ausdrückte, auch die Reihen der Roten Armee. Das prominenteste Opfer des Generalstaatsanwaltes Andrej Wyschinsky sollte Marschall Michail Tuchatschewski werden. Der legendäre Marschall Georgi Shukow meinte dem Außenminister Andrej Gromyko gegenüber: „Ein besonders schwerer Verlust für Armee und Staat war Tuchatschewski“. Dennoch wurde er von Wyschinski, einem Amtsvorgänger Gromykos, angeklagt. Dringen wir ein in das Leben dieses Mannes, den der Komponist Dmitri Schostakowitsch in seinen Memoiren als „sehr

ehrgeizigen und gebieterischen Mann“, einen „Liebling der Götter“, als die herausragende Persönlichkeit der Roten Armee, als aufbrausend und großzügig beschrieb. Anders als der Volkskommissar Marschall Woroschilow, dem Leo Trotzki nur eine „hinterwäldlerische Enge seines Horizonts“ zuschrieb, galt Tuchatschewski als vielseitig gebildeter Offizier mit Interesse für Musik, Theater, Literatur und Fremdsprachen (Französisch, Deutsch). Auf schöne Frauen soll er sich auch verstanden haben. Geboren wurde Tuchatschewski 1893 als Sohn einer verarmten Adelsfamilie. Nach dem Gymnasium besuchte er mehrere militärische Lehranstalten in Moskau und in Smolensk. Ab 1912 diente er in der zaristischen Armee und nahm am 1. Weltkrieg teil. Schon 1915 geriet er in deutsche Gefangenschaft. Dort lernte er den späteren französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle kennen, der ihn in Französisch unterrichtet haben soll. 1921 sollten sie sich noch einmal gegenüberstehen – als Gegner im sowjetisch-polnischen Krieg. Er als Kommandeur der Westfront der Roten Armee und de Gaulle als Freiwilliger auf polnischer Seite. Das Rad der Geschichte läuft eben nicht immer

ganz rund. Den Weg in die Partei der Bolschewiki fand Tuchatschewski 1918. Sein späterer Ankläger Wyschinsky, damals noch Menschewik, fand ihn erst 1920. Einen geradezu kometenhaften Verlauf nahm die Karriere von Michail Tuchatschewski in der Roten Armee. Mit 25 befehligte er eine Armee, mit 27 die Westfront im Krieg gegen Polen, mit 32 wurde er Generalstabschef und mit 42 war er Marschall. Umso tiefer der Fall: Mit 44 wurde er Opfer von Stalins Verfolgungswahn und der Gerichtsbarkeit Wyschinskys. Und das, obwohl er ein treuer Diener der Sowjetmacht war – im Bürgerkrieg, aber auch bei der Niederschlagung des Aufstandes der Kronstädter Matrosen oder bei der Zerschlagung des Bauernaufstandes im Gebiet Tambow. Als im Januar 1924 eine ZK-Kommission Mängel in der Ausbildung, der Auffüllung und der Erziehung der Roten Armee feststellte, war er aktiv an der Militärrefom beteiligt, die diese Mängel beheben sollte. Auszeichnungen mit der Goldenen Ehrenwaffe, mit dem Rotbannerorden und mit dem Lenin-Orden mochten belegen, dass er in den Augen seiner (allmächtigen) Herren nicht alles falsch gemacht haben konnte. Wohl bestand sei-


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Ohne einen Tropfen Lakaienblut „Warum ist Paul Levi ein Thema für uns?“ Mit dieser rhetorischen Frage eröffnete Klaus Kinner Ende Mai das Ständige Rosa-Luxemburg-Seminar in der Leipziger Dependance der gleichnamigen Stiftung. Dass Levis persönliche und politische Nähe zur sozialistischen Revolutionärin Kinners Scheinfrage legitimierte, mochten die Gäste noch als unkonventionellen Wegweiser auf die annoncierte Vorstellung der Werkausgabe durch den Dietz-Verlagschef Jörn Schütrumpf betrachtet haben. Dass der Leipziger Historiker jedoch von einer „Ehrenschuld der entschiedenen Linken“ gegenüber dem in der Öffentlichkeit fast Vergessenen sprach, der einst in erster Rei-

he mit Rosa Luxemburg, Leo Jogiches und Karl Liebknecht gestanden hatte, verhieß dem Auditorium eine hintergründige Geschichtslektion über für die Allgemeinheit weithin unbekanntes, auch brisantes Geschehen in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung vor beinahe 100 Jahren. Die „Ehrenschuld“-These gegenüber Paul Levi, „jenem, dem größtes Unrecht zugefügt wurde“, abgestraft mit dem haltlosen „Verdikt des Renegaten, des Verräters“, begründete Kinner anhand geschichtsnotorischer Argumente: dass der enge Vertraute Luxemburgs 1919 die soeben mitgegründete KPD vor dem Verfall rettete; dass er die diktatorische Machtpolitik

der Bolschewiki ablehnte; dass er daher via Komintern 1921 nicht nur den KPD-Vorsitz verlor, sondern aus der Partei ausgeschlossen wurde; dass damit die letzte Chance verspielt war, eine deutsche sozialistisch-demokratische Massenarbeiterpartei zu formen; dass ihm der linke Flügel der SPD als Wirkstätte blieb, der Arbeiterbewegung und ihren sozialen Interessen zu dienen ... Und mit direktem Bezug auf Levis Schrifttum als Gegenstand des aktuellen Luxemburg-Seminars überraschte der Moderator mit der Feststellung: „Darin wird Rosa Luxemburg weitergedacht. Ihr Name taucht im Register der Werkausgabe am häufigsten auf“. Das von rus-

sisch-sowjetischer und SEDGeschichtsschreibung kolportierte Zerrbild Levis, er sei zwar ein erfolgreicher Rechtsanwalt gewesen, aber kein eigenständiger politischer, gar theoretischer Denker, werde freilich vor allem in seinen Originaltexten voller analytischer Schärfe und kluger Ideen hinsichtlich demokratischer Lösungen für eine sozialistische Zukunft überzeugend widerlegt. Immerhin war es Lenin, der Levis Gedanken einer gewaltlosen sozialrevolutionären Umwälzung des Kapitalismus als Irrweg kritisierte, ihn aber zugleich mit den Worten würdigte: „Levi hat den Kopf verloren. Er war allerdings der einzige in Deutschland, der einen zu verlieren hatte“.

So eingeleitet, übernahm Jörn Schütrumpf, Historiker, Publizist und Verleger, seine Rolle, die ersten beiden von ihm herausgegebenen Bände mit Schriften Paul Levis vorzustellen. Unter dem Titel „Ohne einen Tropfen Lakaienblut“ enthalten sie Artikel aus dem von Levi zwischen 1923 und 1930 als „Ein-Mann-Unternehmen“ redigierten Korrespondenzblatt Sozialistische Politik und Wirtschaft (SWP). Die Werkausgabe solle drei Bände mit je zwei Büchern Schriften, Reden und Briefe Levis von 1914 bis zu seinem Tod 1930 umfassen, kündigte Schütrumpf an, bevor er sich drei Problemkreisen der in den Bänden II/1 und II/2 enthaltenen SWP-Pressebeiträge Levis zuwandte: dessen Haltung zur Weimarer Republik, zur russischen Revolution und zur KPD. Aus Platzgründen greift der Berichterstatter hier nur Äußerungen Levis heraus, in denen sein Andersdenken über russische Revolution und Diktatur des Proletariats deutlich wurde. Anfangs noch gemäßigter in seinen Urteilen, teilte er mehr und mehr die radikale Kritik Luxemburgs an der undemokratischen, freiheitsberaubenden, despotischen Strategie und Taktik der Bolschewiki. Das veranlasste ihn, Luxemburgs bereits 1918 im Gefängnis entstandene Schrift „Zur russischen Revolution“ 1921 zu veröffentlichen. Er selbst blieb ein unversöhnlicher Gegner jeglicher Negation ziviler Demokratie und Freiheit. Zum Beweis rezitierte Schütrumpf ein authentisches Beispiel aus Levis Feder. 1927, zum zehnten Jahrestag des Oktoberumsturzes, hatte der formuliert: „Der Terror an und für sich gehörte nicht zu dem Grundbestand der bolschwistischen Lehre ... Der Terror vielmehr kam in das bolschwistische Arsenal erst später in Ausübung der Diktatur des Proletariats, die etwas grundsätzlich anderes ist als Terror. Diktatur zu Terror verhält sich wie Strategie zu Schlacht; diese ist nur ein Mittel im Dienste jener. In Ausübung also der Diktatur sahen sich die Bolschwiki zu immer schärferen Maßnahmen gedrängt, und am Schluß stand das System des Terrors ... Praktisch aber – und die Praxis ward bald Lehre – haben die Bolschewiken stets Diktatur und Aufhebung der Demokratie für identisch gehalten und niemals irgendeine demokratische Anwandlung gezeigt ...“ Bis Mitte der 1980er blieb der diktatorisch-zentralistische Politikstil die Verkehrsform der KPdSU. In der Diskussion äußerte sich Bewunderung für einen „brillanten Kopf“ (Carl v. Ossietzky), der erst mit 35 Jahren angefan-

gen hatte, politische Texte zu schreiben, nachdem er die bolschewistische Literatur im Parforceritt studiert hatte. Übereinstimmung bestand darin, dass Levis Schriften mannigfaltige Denkanstöße für heutige Entwicklungsfragen bieten. Klaus Kinner wies auf den Anmerkungsapparat der beiden

ersten Bände hin. „Darin sind unzählige Informationen enthalten. Von besonderem Erkenntniswert sind die intellektuellen Betrachtungen Levis, die Jörn Schütrumpf zusammengetragen hat“. Lob und Dank für den Herausgeber, der die Werkausgabe bis 2017 auf den Markt bringen will. Wulf Skaun

Achtung: Werbung in eigener Sache! Peter Porsch: Linke Dispute. Anregungen, Polemiken und Kopfnüsse aus linker APOZeit. 162 S., brosch., 12,99 Euro, ISBN 978-3-94518762-3. Das Büchlein erscheint Ende Juni 2016 im verlag am park. Sämtliche Verkaufserlöse helfen, unsere Zeitung zu erhalten. Inhalt In diesem Band sind an die siebzig Kommentare versammelt, die der promovierte Germanist und Vollblutpolitiker in den letzten Jahren in Links! zu Papier brachte. Er reibt sich an Äußerungen von Politiker-Kollegen, an Schlagzeilen in der Presse und Dämlichkeiten des Alltags. Porsch zeigt sich darin als origineller Denker und präziser Analytiker. Er legt, auf dialektisches Denken trainiert, die Elle an: an öffentlich verbreitetem Unsinn, an Phrasen und Sprech-

blasen und gefährlichen Wendungen. Und Porsch unterhält damit auch. Er verbindet Analyse und Informationen mit sprachlichem Witz, was nur wenige seines Fachs beherrschen. Er ist unfähig, den Holzhammer zu schwingen. Sein bevorzugtes Instrument ist das Florett. Der Autor Peter Porsch, 1944 in Wien geboren, wo er Germanistik und Anglistik studierte. 1968 setzte er das Studium an der Freien Universität Berlin fort, promovierte dort 1972. 1973 übersiedelte er in die DDR, wurde 1979 deren Staatsbürger. Er arbeitete als Dozent, dann als Professor an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Peter Porsch gehörte dem Sächsischen Landtag von 1990 bis 2009 an, von 1994 bis 2007 führte er die Fraktion der PDS bzw. der Linken. Peter Porsch ist in dritter Ehe verheiratet und Vater von drei Kindern.


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Die (neue) intellektuelle Rechte zentralen Figuren der Identitären Bewegung in Deutschland zählt. Gewählt werden unter anderem Aktionsformen, die in den Medien mitunter als Spaßguerilla bezeichnet werden. Andere Aktionen verlaufen gewalttätig gegen Sachen oder gegen Personen. So stellten 2014 vermummte Wiener Identitäre auf dem Stephansplatz in Wien Hinrichtungen,

tiven Revolution für die rechtsintellektuelle Klientel der Weimarer Republik. In Dresden stechen besonders Zeitschriften wie Die Blaue Narzisse (BN), ein 2004 in Chemnitz gegründetes Jugendmagazin, heraus, dessen Sitz sich seit 2013 auf dem Weißen Hirsch in Dresden befindet. Durch das Wirken des bereits erwähnten Gründers des Ma-

wie sie vom IS verübt werden, nach, um gegen Migration („Masseneinwanderung“), eine angeblich drohende Islamisierung und Terrorgefahr Stimmung zu machen. Nach diesem Abstecher Natascha Strobls nach Wien trug Stefan Kleie ein Zitat von Antonio Gramsci (1891-1937) vor, der den Begriff „organischer Intellektueller“ für Menschen, die die Ideen einer bestimmten Klasse vertreten und diese artikulieren, prägte. Großes Vorbild für die Neurechten ist der von Arnim Mohler geprägte Sammelbegriff der konserva-

gazins, Felix Menzel, ergeben sich Synergien zwischen Sachsen und Österreich. Weitere Pfeiler sind das von Kubitschek errichtete Institut für Staatspolitik in Schnellroda in Sachsen-Anhalt und der angeschlossene Antaios-Verlag. Hier wurde Renaud Camus (* 1946) rechter Klassiker „Revolte gegen den Großen Austausch“ 2015 von Lichtmesz übersetzt und herausgegeben. Dieses Buch besitzt nur wenige Stellen intellektueller Klarheit und ist voll von Verschwörungstheorien und Sozialdarwinismus. Dennoch bzw.

Bild: blu-news.org / Wikimedia Commons / CC BY-SA 2.0

den zu Zentren diverser rechter Denkfabriken in den letzten Jahren entwickelt haben. Die Universität Wien, 1365 gegründet, ist die älteste Universität im heutigen deutschen Sprachraum – hier konzentriert sich, mit wenigen Ausnahmen wie Graz, Innsbruck oder Salzburg, die österreichische „Elite“, auch was konservative und rechte Gruppierungen be-

Metropolico.org / flickr.com/ CC BY-SA 2.0

Trotz subtropischer Temperaturen, sowohl im Freien wie auch in der WIR-AG, versammelten sich am Freitag, den 24. Juni, zahlreiche Gäste, um bei der Podiumsdiskussion der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen zum Thema „Die (neue) intellektuelle Rechte“ den Analysen von Natascha Strobl (Wien) und Stefan Kleie (Dresden) zu lauschen. Erstmals moderierte Sven Brajer vom Arbeitskreis der RLS Dresden den Abend. Natascha Strobl studierte in Wien Politikwissenschaft und Skandinavistik und schloss ihr Studium mit einer Arbeit zur Neuen Rechten ab. Sie ist aktive Antifaschistin und betreibt den Blog „Schmetterlingssammlung“. 2014 erschien von ihr, zusammen mit Julian Bruns und Kathrin Glösl, das Buch: „Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa“ im Unrast-Verlag Münster. Stefan Kleie studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft und Alte Geschichte in Dresden und Tübingen und wurde 2011 an der Universität Basel mit einer Arbeit über den „Rosenkavalier“ promoviert. Seit Anfang 2016 arbeitet er als Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte der TU Dresden. Daneben schreibt er als freier Journalist u.a. für die Junge Welt, Das Argument, neues deutschland, die Dresdner Neuesten Nachrichten, den Merkur und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Im ersten Block wurde zum einen der Versuch unternommen, eine Definition von Intellektuellen per se bzw. rechten Intellektuellen zu finden, und zum anderen der Frage nachgegangen, warum sich ausgerechnet Wien und Dres-

trifft. Martin Lichtmesz, bürgerlicher Name: Martin Semlitsch, (* 1976 in Wien), ist ein führender Kopf der Neurechten in Österreich. Seit 2005 arbeitet er für die Junge Freiheit überwiegend als Filmkritiker. 2012 besuchte Lichtmesz mit Götz Kubitschek (* 1970 in Ravensburg) den Convent internationale des Bloc identitaire in Orange, Frankreich. Lichtmesz verfügt über enge Kontakte zum österreichischen Ableger der Identitären Bewegung, neben Kubitschek und Felix Menzel (*1985 in Karl-Marx-Stadt), der zu den

gerade deswegen verkauft es sich offenbar wie warme Semmeln. Noch stärker auf die konservative Revolution berufen sich die Beiträge der seit 2013 vom Alt-68er Frank Böckelmann (* 1939 in Dresden) verlegten Zeitschrift Tumult – Magazin für Konsensstörung. Der zweite Block befasste sich mit der Verherrlichung von Männlichkeit und dem Wiederauftauen von längst vergessenen Frauenbildern, von den Identitären über den Front National bis zur AfD. So fühlen sich die die Identitären wie die gestählten Krieger Spartas, bekannt nach dem Film „300“, aus dem sie auch ihr Zeichen, das griechische Lambda, gewählt haben. Frauen dienen auf Demonstrationen lediglich zur Zier bzw. ihr Auftreten in der ersten Reihe soll mögliche Gegendemonstranten verschrecken und nette Fotos generieren. Ansonsten wirkt das Frauenbild der Rechten wie aus der Mitte des letzten Jahrhunderts zusammengesetzt: Die Frau gehört hier an den Herd und hat den Mann und die Kinder zu versorgen. Das Podium war sich einig, dass hier feministische Gegenstrategien effektiver zum Einsatz kommen müssen, um diese verstaubten Rollenbilder öffentlichkeitswirksam aufzudecken und zu bekämpfen. Abschließend wurde über die Krise der Linken und das Auseinanderklaffen von altlinken Institutionen wie Parteien oder Gewerkschaften und junglinkem emanzipatorischem Engagement gesprochen. Regionale außerparlamentarische Bündnisse und ein „europäischer Stammtisch“ (S. Kleie) könnten vielleicht helfen, diese Krise zu überwinden, und dabei die politische Initiative zur Linken zurückzuholen. Sven Brajer

Vor 135 Jahren geboren: Heinrich Brandler Am 3. Juli 1881 geboren, war Heinrich Brandler von Beruf Maurer. 1897 trat er der Gewerkschaft und 1901 der SPD bei. Mit seinem Berufskollegen Fritz Heckert in enger politischer Verbindung stehend, kam Brandler 1913 nach Chemnitz und wurde gemeinsam mit Heckert zum dortigen Wortführer der Linken. Sie lehnten die mit Kriegsbeginn 1914 vom SPD-Parteivorstand verkündete „Burgfriedenpolitik“ ab und vertraten die Plattform der Gruppe „Internationale“, an deren Reichskonferenz am 1. Januar 1916 in Berlin wie auch an der Reichskonferenz

der Spartakusgruppe am 19. März 1916 Brandner teilnahm und über die Arbeit der Linken in Chemnitz berichtete. Wegen seiner Antikriegsarbeit war bereits 1915 sein Ausschluss aus der SPD erfolgt. Während der Novemberrevolution 1918 gehörte Brandler dem Arbeiter- und Soldatenrat in Chemnitz an. Als Organ der Chemnitzer Organisation gab er die Zeitung „Der Kämpfer“ heraus. Von Oktober 1919 bis August 1921 war Brandler Mitglied der Zentrale der KPD. Die 2. Tagung des Zentralausschusses der KPD vom 22. bis 24. Februar 1921 wählte ihn

und Walter Stoecker zu Vorsitzenden der Partei und der III. Weltkongress der Komintern 1921 Brandler zu seinem Ehrenvorsitzenden. Am 18. April 1921 wurde Brandler wegen seines maßgebenden Anteils an der MärzAktion verhaftet und am 6. Juni 1921 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Doch bereits im November 1921 gelangen ihm die Flucht und die Ausreise in die UdSSR, wo er für das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) tätig war. Nach der „Rathenau-Amnestie“ kam er nach Deutschland

zurück und wurde Sekretär des Politischen Büros der Zentrale der KPD und später dessen Vorsitzender. Im Oktober 1923 gehörte er der Arbeiterregierung in Sachsen als Leiter der Staatskanzlei an. Nach dem KPD-Verbot in Folge der Oktoberniederlage 1923 erfolgte 1924 seine Absetzung als Parteivorsitzender. Als er jedoch in der Folgezeit wegen „opportunistischer Fehler“ und „fraktioneller Tätigkeit“ gemaßregelt und ihm jegliche Tätigkeit in der KPD und KI untersagt wurde, waren ihm die Rechte eines Parteimitgliedes entzogen. Gemeinsam mit August

Thalheimer wurde er 1928 zum Mitbegründer der KPD-Opposition [KPD (O)], woraufhin Brandler aus der KPdSU und der Komintern ausgeschlossen wurde. Er gehörte bis 1933 ihrer Reichsleitung an und war Mitherausgeber ihrer Wochenschrift „Gegen den Strom“, die er selbst leitete. 1933 emigrierte Brandler nach Frankreich. Danach lebte er auf Kuba und später in London. Nach seiner Rückkehr nahm er seinen Wohnsitz in Westdeutschland. Am 26. September 1967 verstarb Heinrich Brandler in Hamburg. Kurt Schneider


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Zwischen den Kriegen – Spanien und die Pariser Weltausstellung von 1937 Die Ausrichtung von internationalen Schauen hatte in Paris eine lange Tradition. Insgesamt eröffnete Frankreich sieben glanzvoll inszenierte Ausstellungen in Paris. Am 25. Mai 1937, nach 37jähriger Pause, öffneten sich in Paris die Tore zur bis dato letzten Weltausstellung auf französischem Boden. Das Thema der Expo, die Symbiose von Kunst und Technik, hatte sich, so Paul Sigel, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Thema der Moderne entwickelt. Ungeachtet dessen ging es weniger um den Austausch industrieller Errungenschaften als vielmehr um die nationale Repräsentation der einzelnen Teilnehmerstaaten. Besonders die Pariser Expo von 1937 wurde zum Ort propagandistischer Selbstverherrlichung und ideologischer Konfrontationen. Nie zuvor stand die Architektur der Nationenpavillons so im Dienste nationalistischer Positionen. Die politische Lage Europas war 1937 bereits mehr als angespannt. Am Vorabend des zweiten Weltkrieges erprobte das NS-Regime seine Kampfkraft in Spanien, die Annexion Österreichs und weiter Teile der ehemaligen Tschechoslowakei standen bevor, und der Hitler-Stalin-Pakt besiegelte unlängst Polens Schicksal. Auch die damalige UdSSR nutzte die 37er Ausstellung, um ihrem politischen Geltungsdrang auch international Ausdruck zu verleihen. Seit Juli 1936 tobte in Spanien ein erbitterter Aufstand gegen die spanische Volksfrontregierung, getragen von Falangisten, Faschisten, Militärs und Antirepublikaner*innen. Aus diesem entwickelte sich dann der spanische Bürgerkrieg, ein Krieg gegen und für den Faschismus. Für die spanische Republik war die Expo in Paris die einzige Chance, um auf die Verbrechen des Krieges und die Gefahr des Faschismus hinzuweisen sowie um an die bis dato unbeteiligte politische Weltöffentlichkeit zu appellieren. Umso erstaunlicher erscheint dann die bewusste Teilnahme an einer Weltausstellung, in der es sich unmittelbar mit seinen politischen Gegnern konfrontiert sah. Die Weltausstellung war die letzte Gelegenheit, die Weltöffentlichkeit auf die Schrecken des Krieges hinzuweisen und vor den Gefahren des drohenden Faschismus zu warnen. Der spanische Pavillon, die darin aus-

gestellten Kunstwerke, allen voran Picassos Guernica, wurde so zum politischen Mahnmal. Im April 1936, wenige Monate vor Eröffnung der Expo, erreichte der Bürgerkrieg seinen gewaltsamen Höhepunkt. Am 26. April wurde die Baskenstadt Guernica von den fa-

gon, ging auf die Suche nach Künstler*innen und Kunstwerken, die der spanischen Republik wohl gesonnen waren und sich an der Expo beteiligen sollten. Der in Paris lebende, renommierte spanische Künstler Pablo Picasso war der Erste, um dessen Teilnahme gebeten wurde. Ihm folgten Joan Míro, Die Ruinen von Guernica. Bundesarchiv, Bild 183-H25224 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0

schistischen Aufständischen völlig zerstört. Das Bombardement dauert knapp über drei Stunden und zurück blieben ein Flammenmeer, tausende Tote und unzählige Verletzte. Gleichzeitig beschossen mehrere Flugzeuge in geringer Höhe die flüchtende Zivilbevölkerung. Hauptanteil an der sinnlosen Verwüstung hatte die von Hitler befehligte „Legion Condor“, der gleichzeitig die spanische und italienische Luftwaffe unterstand. Guernica war das erste Flächenbombardement auf europäischen Boden. Tausende Zivilist*innen starben. Die Brutalität und Sinnlosigkeit der Bombardierung erschütterte die Welt, doch die europäischen Großmächte mit ihrer Nichteinmischungspolitik ließen die Faschisten gewähren. Die spanische Republik verlor den Kampf für die Demokratie, und bis zum Ende des Bürgerkrieges im März 1939 ließen über eine halbe Millionen Menschen im Kampf ihr Leben. Letztlich siegte Francos Regime, trotz erbitterten Widerstandes. Am 28. März 1939 zogen die Faschisten unter Franco in die spanische Hauptstadt Madrid und verkündeten das Ende des Bürgerkrieges. Bis ins Jahr 1975 blieb Franco, unter Verweigerung demokratischer Grundrechte, an der Macht und regierte Spanien mit diktatorischer Härte. Paris 1937: Eine eigens für die Gestaltung des Pavillons einberufene Kommission, bestehend aus den führenden spanischen Intellektuellen Lluís Sert, Max Aub und Louis Ara-

Alexander Calder, José Renau und Alberto Sanchéz. Es war offenkundig, dass dem spanischen Haus aufgrund des Krieges und finanzieller Engpässe nur ein minimales Budgets zur Verfügung stand. Für den Bau des Beitrags engagierte man zuallererst den Architekten Luis Lacasa. Lacasa war aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens und hatte unter anderem für eine Dresdner Stadtplanungsbehörde gearbeitet, sowie in MaDeutscher Pavillon, Weltausstellung 1937. Bundesarchiv, Bild 183-S30757 / CC-BY-SA 3.0

drid die modernistische Gruppe 25 gegründet. An seiner Seite stand der Architekt Louis Sert. Aus dieser Entscheidung resultierte die hochkomplexe, aber rationalistisch-funktionale Bau des Pavillons, der in seiner Modernität in der Tradition des Bauhauses steht. Gekoppelt war die modernistische Bauweise mit dem Anspruch inhaltlicher Inanspruchnahme des Publikums, d. h. die sehr bewusste Konfrontation der Besucher*innen mit den Leiden des Krieges und der politischen Lage in Spanien. Auf den Weg in die Räumlichkeiten begegnete man z. B. am rechten Flügel des Portals einer Skulptur von Alberto Sanchéz Pérez. Die symbolträchtige Figur mit dem Titel „Der Weg des spanischen Volkes führt zu einem Stern“ glich einem überdimensionalen Totempfahl. Überdies illustrierten Arbeiten von Souto, Priéto, Ferrer und Vicente die Brutalität der Faschisten. Zudem schilderten Fotomontagen an allen Wänden die Verluste und Opfer in den Kämpfen. Der spanische Pavillon wurde zur architektonisch formulierten Gegenthese zum totalitären Klassizismus in den Bauten des politischen Gegners (Hitler hatte Speer mit einem eigenen Bau beauftragt) und zur Architektur des Widerstandes. Bis heute aber ist ein bestimmtes Kunstwerk zum Sinnbild

des Bürgerkrieges geworden. In seiner beispiellosen Drastik sowohl hinsichtlich seiner künstlerischen Gestaltung als auch in seiner fassungslos machenden Eindringlichkeit des Inhalts ist es eines der bedeutendsten Kunstwerke der Welt: Guernica von Pablo Picasso. Das erste Mal wurde es im spanischen Pavillon auf der Pariser Expo gezeigt. Picasso schuf es angesichts des Bombardements in Guernica. Er selbst, zu der Zeit in Paris, war am Boden zerstört, als er von dem Angriff erfuhr. Daraufhin begann er an dem Werk zu arbeiten. Es gab sowohl positive als auch negative Reaktionen zu Picassos Bild. Selbst in den spanischen Reihen sorgte sein abstraktes Gemälde für Verstimmungen. Im deutschen Messeführer wurde „Guernica“ besonders diffamiert und im Juli zeigte die Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ sehr deutlich, was die Deutschen von expressiver Kunst hielten. Nach der Weltausstellung wanderte „Guernica“ 1938 nach Oslo, dann nach London, Leeds und 1939 nach New York, wo es bis 1981 blieb. Gemäß dem Willen des Malers sollte das Bild erst nach dem Ende des Franco-Regimes, wenn in Spanien wieder bürgerliche Freiheit herrschte, zurück in seine Heimat gelangen. Im Jahr 1981 wurde Picassos Wunsch wahr, und „Guernica“ kam zurück nach Spanien, wo es seitdem im Prado zu sehen ist. Seine Vision von der Bombardierung der Baskenstadt wurde zum bildgewordenen Albtraum eines ganzen Jahrhunderts. Trotz des enormen Ausstellungserfolges und der Ehrung des Beitrags mit einer Goldmedaille zerschlug sich die Hoffnung der Spanier*innen auf ausländischen Beistand. Der Bürgerkrieg dauerte an und die europäischen Großmächte übten sich weiter in einer Nichteinmischungspolitik. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hielten die erbitterten Kämpfe in Spanien an, und am Ende siegte der Faschismus. Die Weltausstellung von 1937 steht sinnbildlich für das politische Gefüge der damaligen Zeit. Am Vorabend des Krieges standen sich die großen ideologischen Gegner*innen dort bereits gegenüber und nutzten die Ausstellungsarchitektur als Sprachrohr ihrer politischen Rivalitäten. Die Mahnung vor dem Faschismus blieb ungehört. Anja Eichhorn


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30. Juni 1946: Enteignung der Naziaktivisten Nur die Ältesten unter unseren Mitbürgern werden sich an diesen Sonntag vor 70 Jahren erinnern, als die Wähler an die Urnen gerufen wurden, um durch Volksentscheid über das „Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes“ zu entscheiden. Je nach Bedeutung sollten die Betriebe in das Eigentum des Landes, der Kommunen, von Genossenschaften und Gewerkschaften übergehen. Kleinere Betriebe und Vermögenswerte sollten verkauft und die daraus erzielten Einnahmen für „Waisen, Witwen, Umsiedler, Bombengeschädigte und Invaliden“ verwendet werden. Im Falle geringerer Belastung waren die Betriebe und Vermögenswerte den Eigentümern zurückzugeben. Es ging um nichts weniger als darum, die wirklich Verantwortlichen und Nutznießer der Hitler-Diktatur zur Rechenschaft zu ziehen. Jene, die wieder Krieg, Not und Elend über das deutsche Volk und Europa gebracht hatten, sollten nicht, wie nach dem 1. Weltkrieg, ungestraft bleiben. Die katastrophalen Kriegsfolgen waren 1946 unübersehbar. Allein in meiner Gemeinde, einem Ort mit rund 1500 Einwohnern, an dessen Beispiel vom Volksentscheid berichtet werden soll, sind im Sterberegister 53 Gefallene verzeichnet. Dazu kamen ungezählte Vermisste. Mehr als ein Dutzend Antifaschisten waren eingekerkert und misshandelt worden. Mit Beginn des Jahres 1945 erreichte die Flüchtlingswelle aus dem zerbombten Dresden und von der Ostfront auch unseren Ort. Ungefähr 600 Flüchtlinge und zahlreiche Verwundete mussten untergebracht werden. Das Sterberegister verzeichnet in den Maitagen 1945 55 Sterbefälle unter diesen. Die Versorgungslage war außergewöhnlich angespannt und spitzte sich zu, als zunehmend Vertriebene aus dem Sudetenland aufgenommen werden mussten: Wiederholt reichten die Zulieferungen nicht einmal aus, die geringen Brot- und Fleischrationen der Lebensmittelkarten bereitzustellen. Hunger bestimmte den Alltag der Bevölkerung. Die katastrophalen Kriegsfolgen in Deutschland und vor Ort hatten die Wähler vor Augen, als sie an die Urne traten. Das Gesetz wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen: In Rechenberg-Bienenmühle erhielt es bei einer Beteiligung von 98,5 Prozent insgesamt 87,6 Prozent Ja- Stimmen. Offensichtlich hatten viele Bürger, die vormals die NSDAP gewählt hatten – der Stimmen-

anteil der Nazipartei war in der Gemeinde von 1930 zu 1932 von 16 auf 45 Prozent gewachsen – die richtigen Schlussfolgerungen für sich gezogen. Die Vergleichswerte für ganz Sachsen betrugen 77,6 Prozent Zustimmung für dieses Gesetz. Im Juli und August 1946 erließen dann die Landes- bzw. Provinzialverwaltungen der sowjetischen Besatzungszone analoge Rechtsvorschriften. Eine ähnliche Volksabstimmung wie in Sachsen hatte es übrigens auch in Hessen gegeben, wo ein entsprechender Verfassungsartikel mit 71,9 Prozent angenommen, von der US-Militärmission aber aufgehoben wurde. In Rechenberg-Bienenmühle hatten Betriebe der ortsansässigen Nazis und Kriegsgewinnler auf der Enteignungsliste gestanden, die von den neuen Gemeindevertretern vorbereitet worden war: das Sägewerk Oskar Biermann, eine Möbelfabrik und ein Holzstoffwerk. In der neuen Gemeindevertretung spielten die seit dem Frühjahr auch in unserem Ort aus SPD und KPD hervorgegangene SED und die CDU die entschei-

dende Rolle. Ihre Vertreter hatten sich gemeinsam einstimmig für die Enteignung dieser Betriebe ausgesprochen. Dabei stützten sie sich auch auf die Meinung der Werktätigen der genannten Betriebe. So hatten sich die Arbeiter Biermanns in einer Betriebsversammlung am 17.3.1946 mit 20 zu 1 für die Enteignung ausgesprochen. Als Begründung wird in den historischen Dokumenten die aktive Mitgliedschaft des Eigentümers in der NSDAP (er war u.a. mit dem Gauleiter von Sachsen, Mutschmann, befreundet), die Übernahme von Rüstungsaufträgen und die brutale Ausbeutung seiner Arbeiter genannt. Das gilt besonders für 60 sowjetische Kriegsgefangene, die ohne Entgelt schuften mussten. Unter diesen waren während des etwa einjährigen Arbeitseinsatzes drei Todesopfer zu beklagen gewesen. Mit der Schaffung einer demokratischen Gemeindeverwaltung und den Ergebnissen des Volksentscheids waren wichtige Voraussetzungen für den Weg aus der Katastrophe geschaffen worden. Dieses lokale Geschehen ord-

net sich in die allgemeine Geschichte nach 1945 ein, für die sich in der linken Historiographie der Begriff „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ eingebürgert hat, ein Prozess revolutionärer Wandlungen von tiefgreifenden Auswirkungen. Vergegenwärtigen wir uns die dafür entscheidenden politischen Bedingungen. Erstens: Nach der bedingungslosen Kapitulation der HitlerGenerale gab es keine von den Alliierten akzeptierte deutsche Regierung. Die Siegermächte übernahmen vielmehr selbst die oberste Regierungsgewalt, die in dem von der Sowjetunion besetzten Teil Deutschlands von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) ausgeübt wurde, für Sachsen durch die SMA Sachsen. Als Vertreter eines sozialistischen Landes verfolgte sie von Anfang an eine strikt antifaschistische Politik mit antikapitalistischen Akzenten, auch zur dauerhaften Ausschaltung des Militarismus. Zum Zweiten: Partner fand sie dafür in den deutschen Antifaschisten, die in der Illegalität gekämpft hatten oder aus dem Exil, aus den Konzen-

trationslagern und Zuchthäusern zurückgekehrt waren und sich nun mit demokratischen Kräften zusammenfanden, um Nachkriegschaos, Nazimacht und faschistisches Denken in der Bevölkerung zu überwinden. Es ist heute noch bemerkenswert zu beobachten, wie schnell es den Antifaschisten gelang, in den Kommunen die Macht zu übernehmen. Im Juli 1945 entstand die Landesverwaltung Sachsen, deren Bildung nach Bekunden seines Präsidenten Rudolf Friedrichs als Beginn eines großen Demokratisierungsprozesses zu verstehen war. Über solche Ereignisse wie die Bodenreform und die Enteignung des Flick-Konzerns in Verantwortung der Landesregierung, die Schließung der Monopolbanken sowie der Beschlagnahme der Konzerne, Rüstungsbetriebe und Betriebe von Naziaktivisten durch die SMA im Jahr 1945 führte der Weg schließlich im Sommer 1946 zum Volksentscheid, bei dessen Vorbereitung die zur SED vereinte Arbeiterpartei ihre erste große Bewährungsprobe bestand. Ihr Programm: Der Volksentscheid als „Volksgericht gegen Kriegsund Naziverbrecher“, nicht als „Sozialisierung“. Die Sozialisten waren sich damals sehr wohl bewusst, dass eine solche Losung das noch junge Bündnis der demokratischen Kräfte und das Bündnis mit Bauern und dem Mittelstand gefährdet hätte. Wichtig auch, dass die Entscheidung strikt nach demokratischen Regeln und Kriterien erfolgte: Vorbild waren gesetzliche Bestimmungen von 1926, nach denen die sächsischen Wähler über die Fürstenabfindung entschieden hatten. Auch wenn der mit dem sächsischen Volksentscheid verbundene Prozess im Unterschied zu den Nationalisierungsgesetzen der volksdemokratischen Nachbarländer vorrangig politische Ziele hatte, so muss doch auch sein sozialökonomischer Inhalt betont werden: Erstmalig in der deutschen Geschichte entstand Volkseigentum an Produktionsmitteln. Neue Fragen standen vor der Partei und den Verwaltungsorganen: Wie das Volkseigentum organisieren und leiten, wie die Mitwirkung der Werktätigen als Eigentümer daran gestalten und das von Marx herausgearbeitete Problem der Entfremdung aufheben? Vieles dabei ist gelungen. Wie die gegenläufigen Prozesse 45 Jahre später erweisen, blieben Grundfragen aber offensichtlich leider ungelöst, ein schwieriges Erbe der Linken, an das uns der Jahrestag des sächsischen Volksentscheides gemahnt. Reinhard Kluge


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Sündenfall einer jungen Demokratie Am 17. August 1956 eröffnete der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Josef Wintrich, die Urteilsverkündung zum KPD-Verbotsverfahren. „Die Bundesregierung allein trägt die Verantwortung für dieses Verfahren“, schickte er dem Folgenden voran. Und was folgte, war das nach dem der „Sozialistischen Reichspartei“ – ein allzu billiger Abklatsch der NSDAP vornehmlich frustrierter Nationalsozialisten – zweite und bis heute letzte Parteienverbot in der Geschichte der BRD. Ihm vorangegangen war eine aggressive Kampagne der Adenauerregierung gegen die Kommunisten, die sich fast nahtlos an die Verfolgung der Kommunisten unter den Nationalsozialisten anschloss. „Der westdeutsche Antikommunismus war nicht nur nicht grundsätzlich anders in Art, Inhalt und Ton von dem durch das Dritte Reich Betriebenen – was sicherlich ein Grund für seinen Erfolg war –; er wurde in vielen Fällen von den gleichen Leuten propagiert, den professionellen Agitatoren und Antikommunisten, welche in Goebbels Propagandamaschine gedient hatten“, stellte William D. Graf in seinem Werk „The German Left Since 1945“ fest. Bereits im September 1950 wurde der sogenannte Adenauererlass vom Bundeskabinett verabschiedet, der die Verfassungstreue der öffentlich Bediensteten festschrieb und ihnen Mitgliedschaften in verfassungsfeindlichen Organisationen verbot. Viele Kommunisten wurden so bereits aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Die FDJ wurde 1951 durch die Bundesregierung verboten. Begründet wurde dies maßgeblich mit deren Verbindungen zur SED und – man staune – zur

damals immer noch legalen und im Bundestag vertretenen KPD. Mit dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz führte man nicht weniger als 37 neue Einzelnormen wie Hochverrat, Landesverrat und Geheimbündelei ins Strafrecht ein, was vor allem auf KPD-Mitglieder zielte. Zu dieser Zeit war die KPD bereits eine schwächelnde – manche meinten: sterbende – Organisation. Während viele Täter von einst wieder fest im Sattel saßen, hatte sich die KPD von der Vernichtung der deutschen Kommunisten in der Tötungsmaschinerie der Nazis organisatorisch kaum erholen können. Gleichzeitig waren viele Funktionäre der Partei in die DDR ge-

gierung angestrebten Westintegration – hing ihr nach. Ihre Rolle als maßgeblicher Teil des Widerstandes gegen die Remilitarisierung der BRD war der Adenauerregierung ein Dorn im Auge. So organisierte die KPD zahlreiche Demonstrationen und es gelang ihr, nicht weniger als neun Millionen Unterschriften gegen die Regierungspläne zu sammeln, bevor der Innenminister 1951 die Volksbefragung verbot. Im November 1951 beantragte die Bundesregierung das Verbotsverfahren gegen die KPD, im Jahr darauf wurde das parlamentarische Handeln der KPD durch Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags faktisch verunmöglicht.

entscheidenden Argumente für ihr Verbot. Schließlich schaffte sie 1953 mit 2,2 Prozent der Stimmen den Sprung über die neu eingeführte Fünf-ProzentHürde nicht mehr. Obwohl bundespolitisch damit ohne Bedeutung, forcierte die Adenauerregierung ihre Bestrebungen zum Verbot und schreckte vor politischer Einflussnahme nicht zurück: Weil ihr das Verfahren zu lange dauerte, das Gericht zögerte und auf ein Umdenken zu hoffen schien, änderte sie kurzerhand die Grundordnung des Gerichtes, so dass sechs Wochen nach Beendigung des mündlichen Verfahrens ohne Ergebnis das Verfahren auf den Zweiten Senat übergehen sollte.

Demonstration der Leipziger Eisen- und Stahlwerke (LES), 1952 Bild: Deutsche Fotothek

gangen, um dort am Aufbau des „realexistierenden Sozialismus“ mitzuwirken. Zwar zog die KPD 1949 mit 5,7 Prozent der Stimmen in den ersten Bundestag ein, sie war aber auf Grund ihrer Kontakte zur DDR und SED im Parteiensystem isoliert. Der Ruf des Hochverrats – angesichts ihres politischen Handelns entgegen der von der Adenauerre-

Mit der Ausgrenzung verstärkte sich auch die gesellschaftliche Isolation der Partei. So verschärfte sie ihre außerparlamentarische Agitation und rief – angesichts der Kräfteverhältnisse vollkommen aus der Welt gefallen und später widerrufen – zum „revolutionären Sturz des Regimes Adenauer“ auf. Mit dieser Agitation lieferte sie die

So zwang man das Gericht zum Urteil. Das Gericht stellte schließlich fest, dass als Partei als verfassungswidrig zu gelten habe, wer „die obersten Werte der Verfassungsordnung verwerfe[n], die elementaren Verfassungsgrundsätze, die die Verfassungsordnung zu einer freiheitlichen demokratischen machen […]“.

Dazu müsse allerdings „eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen; sie muß planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen“. Die organisatorische Schwäche – man staune gerade im Hinblick auf das aktuelle NPD-Verbotsverfahren – spiele keine Rolle, denn eine Partei sei auch verfassungswidrig, „wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, daß sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können“. In allen großen westdeutschen Städten wurden noch am gleichen Tag Parteibüros von Polizeikommandos durchsucht und geschlossen, Druckereien beschlagnahmt, Parteimaterial sichergestellt, das Parteivermögen eingezogen. Über 30 Funktionäre wurden verhaftet und ihnen später der Prozess gemacht. Die KPD war zerschlagen. Eine Wiederzulassung ist nicht in Sicht. Die DKP, als Neubegründung des westdeutschen Kommunismus 1968 geduldet, konnte an die Bedeutung der KPD nicht mehr anknüpfen. Das KPD-Verbot ist nur ein Sündenfall der politischen Übergriffigkeit der frühen Republik. Mit der SPIEGEL-Affäre suchte die gleiche Regierung die Presse zu zähmen. Mit dem Radikalenerlass rückten Gewerkschafter, Friedensbewegte, selbst religiös motivierte Linke in den Fokus der Verfolgung. Die Politik machte klar: Der Feind steht links. Und wenig hat sich seitdem geändert. Thomas Dudzak ist Historiker und studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.

75 Jahre Atlantik-Charta: Grundstein der Vereinten Nationen Am 14. August 1941 erklärten der britische Premierminister Winston Churchill und US-Präsident Franklin D. Roosevelt ihre gemeinsamen Prinzipien und Vorstellungen für eine Nachkriegsordnung. Diese AtlantikCharta gilt als Grundstein für die Gründung der Vereinten Nationen im Frühjahr 1945. Ohne diese Vereinbarung sähe die Welt heute anders aus. Vor 75 Jahren, am 12. Juni 1941, trafen sich Vertreter aus Australien, Kanada, Neuseeland, der Südafrikanischen Union und des Vereinigten Königreiches sowie der Exilregierungen von Belgien, Griechenland, Jugoslawien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Polen, der Tschechoslowakei und der französische General Charles de Gaulle im

historischen St. James Palast in London und unterzeichneten die „Erklärung von St. James“. Darin äußerten sie ihren Wunsch nach einem internationalen Bündnis, das sich Frieden und Wohlstand für alle Völker zum Ziel setzt. Besonders ein Satz in der Erklärung wurde zum Sinnbild für die künftigen Vereinten Nationen: „Das einzig wahre Fundament eines dauerhaften Friedens ist die Bereitschaft freier Völker zur Zusammenarbeit in einer von der Bedrohung der Aggression befreiten Welt, in der alle wirtschaftliche und soziale Sicherheit genießen können“. Unter dem Eindruck dieser Erklärung von St. James und des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion zehn Tage später trafen sich Roosevelt und Churchill vom 9. bis 12. August 1941 auf

dem britischen Schlachtschiff HMS Prince of Wales und dem Kriegsschiff USS Augusta vor Neufundland. Das Treffen unterlag strengster Geheimhaltung. Erst als sich Churchill und Roosevelt am 14. August mit dem Ergebnis ihrer Beratungen an die Öffentlichkeit wandten, wurde die Zusammenkunft der beiden Regierungschefs bekannt. Die von Roosevelt und Churchill beschlossene Atlantik-Charta umfasste mehrere zentrale Punkte, darunter: Verzicht auf territoriale Expansion, gleichberechtigter Zugang zum Welthandel und zu Rohstoffen, Verzicht auf Gewaltanwendung, Selbstbestimmungsrecht der Nationen, engste wirtschaftliche Zusammenarbeit aller Nationen mit dem Ziel der Herbeiführung

besserer Arbeitsbedingungen, eines wirtschaftlichen Ausgleichs und des Schutzes der Arbeitenden, Sicherheit für die Völker vor Tyrannei, Freiheit der Meere und die Entwaffnung der Nationen, um ein System dauerhafter Sicherheit zu gewährleisten. In Anbetracht der Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges verpflichteten sich bereits im Januar 1942 neben den USA und Großbritannien auch die Sowjetunion und China sowie weitere 22 Nationen auf die Prinzipien der Atlantik-Charta. Das kurze Dokument wurde als „Deklaration der Vereinten Nationen“ bekannt. Die Gründung der UNO erfolgte schließlich noch vor Kriegsende im April 1945 mit der Verabschiedung der „Charta der Vereinten Nationen“ durch die Repräsentanten

von 51 Staaten. In diesem Jahr jährt sich die Verabschiedung der Atlantik-Charta zum 75. Mal und sie ist heute so bedeutend wie damals. Ohne die Gründung der Vereinten Nationen, ohne das gemeinsame Eingreifen der Alliierten im Krieg gegen Nazi-Deutschland wäre die Welt eine andere als die, die wir heute kennen. Im 75. Jubiläumsjahr der UNO-Gründung ist eine verstärkte Rückbesinnung auf zentrale Prinzipien wie „Verzicht auf territoriale Expansion, gleichberechtigter Zugang zum Welthandel und zu Rohstoffen, Verzicht auf Gewaltanwendung, Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die Entwaffnung der Nationen“ unerlässlich, soll die Idee der vereinten Nationen nicht irreparablen Schaden nehmen. Stefan Liebich


Links! 07-08/2016

Rosa-Luxemburg-Stiftung

Termine Chemnitz, 14. Juli, Donnerstag, 14.00 Uhr Lesung: Fernferne Schwester – Lyrik von Frauen aus der DDR. Mit Mike Melzer (RLS Sachsen). Eine Kooperation der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen mit der Frauenbegegnungsstätte Eva. Frauenbegegnungsstätte Eva, Straße Usti nad Labem 37, 09119 Chemnitz Was blieb übrig von 40 Jahren DDR? Was wurde aus dem Versuch eine menschenwürdige Gesellschaft nach NS-Staat und Holocaust zu schaffen? Was aus dem Versprechen und Anspruch Selbstbestimmung und Emanzipation voran zu bringen? Das Programm will anhand von Texten von Frauen, die ihre Erfahrungen in der DDR in Gedichten verarbeiteten, diesen Fragen nachspüren. Dabei äußern sie sich über viele Themen, über Partnerschaft, über Ängste und Hoffnungen, über Politik und Enge, über Weite und Freiheit. Die Frauen, die zu Wort kommen, haben sehr verschiedene Lebenswege beschritten. Natürlich sind dadurch auch ih-

re Forderungen und Ansprüche sehr verschieden gewesen. Was ihnen dabei allerdings gemeinsam blieb, dem wird die Lesung nachzugehen versuchen. Leipzig, 11. Juli, Montag, 19.00 Uhr Vernissage der Ausstellung „Homo Sensitivus“*** Mit Judith Meister (Videokünstlerin), Pedro de Sousa Pereira (Skulptur, Video-Mapping, teilweise Video- und Audio-Material) und Anna Sozonova (Autorin, LGBTIQA-Aktivistin und Kuratorin). Veranstalter*innen: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., Fraktion DIE LINKE im Stadtrat Leipzig, linXXnet e.V. KUB, Kantstraße 18, 04277 Leipzig Leipzig, 12. Juli, Dienstag, 18.30 Uhr Film und Diskussion: „Aus der Haut“***. Eine Produktion des MDR 2016. Veranstalter*innen: J.u.n.g.S. Leipzig, RLS Sachsen mit Unterstützung des MDR. LURU Kino, Spinnereistraße 7, 04179 Leipzig Der Film „Aus der Haut“ ist ein

Coming-of-Age-Film des Regisseurs Stefan Schaller. Er handelt vom Coming-Out eines schwulen Teenagers. Produziert wurde das Drama im Auftrag vom MDR und ORF. Im Anschluss an den Film wollen wir mit den Gästen, Vertretern der J.u.n.g.S Leipzig und des MDR (angefragt) über den Film diskutieren. Welche Klischees werden in den Medien reproduziert, kann eine Darstellung überhaupt klischeefrei sein? Welche Aufgabe und Möglichkeiten haben die Öffentlich-Rechtlichen? Leipzig, 12.-15. Juli, Montag bis Freitag, 16.00-20.00 Uhr Ausstellung „Homo Sensitivus“. Vernissage am Freitag, dem 15. Juli, 21 Uhr. KUB, Kantstraße 18, 04277 Leipzig Das Projekt der Ausstellung dient der Erforschung und der Darstellung verschiedener Kombinationen von menschlichen Gefühlen, die im Rahmen von Liebesbeziehungen empfunden werden. Das Ausstellungsmaterial wird gesammelt mit Hilfe von Interviews über konkrete

Gefühle und emotionale Zustände von Menschen in verschiedenen Beziehungssituationen. Die Teilnehmer*innen der Interviews sind Menschen verschiedener Gender, sexueller Identitäten und Vertreter diverser Kulturen. Am Projekt sind unter anderen auch Einwohner*innen Leipzigs mit internationaler Herkunft beteiligt. In der Ausstellung wird das Endprodukt der Arbeit und der Erforschung präsentiert. Die Ausstellungsbesucher*innen werden die Audioversionen der Interviews mit den Projektteilnehmer*innen hören. Das visuelle Ergebnis des Projekts wird – als eine Art Sammelabbild aller Projektbeteiligten und damit einhergehend ihrer diversen Genderidentitäten, ihrer sexuellen und kulturellen Identifikationen – eine Plastik sein. Dieses Sammelabbild wird von mehreren Video-Künstler*innen aus Interviewausschnitten mit den Projektbeteiligten mit der Technik des Video-Mappings erschaffen und anschließend auf die Plastik projiziert. Damit möchte die Autorin des Projektes die

Seite 10 gleichzeitige Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit aufzeigen, die dem Ausdruck von Gefühlen durch Menschen diverser sozialer, kultureller Gruppen und unterschiedlichster Herkunft verliehen wird. Mittels der metaphorischen Sprache der Kunst werden wir versuchen, die Bürger*innen von Leipzig einzubinden und fördern dadurch die Toleranz und den Respekt für zwei diskriminierte Gruppen, den Migrant*innen und queeren sowie anderen nicht-heteronormativen Menschen. Die 12. globaLE findet voraussichtlich vom 22.07. – 01.11.2016 statt. Unabhängig davon gibt es hin und wieder Veranstaltungen, die wir über das ganze Jahr hinweg zwischendurch einschieben. Freut Euch auch in diesem Jahr auf globalisierungskritisches Kino in Leipzig und spannende Diskussionen! Ab Ende Juni/ Anfang Juli wird hier das aktuelle Programm stehen und die aktuellen Flyer und Plakate verlinkt sein: www.globale-leipzig.de Die globaLE wird unterstützt von der RLS Sachsen. Eintritt frei! *** in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V.

Der Geist der „Friedensfahrt“ lebt Etwa 35 Kilometer hinter der deutsch - niederländischen Grenze befindet sich in der Provinz Groningen der Ort Bedum. Der Radsport spielt dort eine große Rolle. So fanden in der Region nationale Straßenradmeisterschaften statt. Jährlich gibt es das „Omloop van Bedum“, 2016 bereits das 33. Kriterium. Seit 2011 findet es auf einem 1,887 km langen Rundkurs statt. Als das Radsportmuseum „Course de la Paix“ 2013 erstmalig mit einem Info-Stand und dem Nachbau einer Draisine an dieser Veranstaltung teilnahm, bemerkten die Kleinmühlinger die große Begeisterung der Niederländer für den Radsport und die Friedensfahrt. Es gab viele Fragen zur Friedensfahrt und ihrer Geschichte zu beantworten. Ein Gast war auch der Vater des Bayern-München-Stars Arjen Robben.

Damals kam der Gedanke auf, ob man nicht im Rahmenprogramm etwas mit Kindern machen könnte. Die freundschaftlichen Beziehungen in das Organisationsbüro des Kriteriums ließen aus dieser Idee Taten werden. Im März dieses Jahres fuhr eine kleine Delegation von Kleinmühlingen nach Bedum und besuchte Schulen und Kindereinrichtungen, um diese für die Durchführung eines Kinderradrennens zu gewinnen. Die Mitstreiter im Organisationsbüro standen dabei stets hilfsbereit zur Seite. Mitte Mai besuchten drei Organisatoren des Kriteriums dann Kleinmühlingen und schauten sich an, wie dort die „Kleine Friedensfahrt“ organisiert und durchgeführt wird. Diese Erfahrungen und das finanzielle Engagement der örtlichen Rabobank sicherten die Durchführung der ersten „Kleinen Friedensfahrt“.

Am 21. Juni startete sie vor dem Hauptrennen. In drei Rennen wurden die besten Mädchen und Jungen in den unterschiedlichsten Altersklassen ermittelt. Die jüngsten fuhren eine, die beiden älteren Gruppen je zwei Runden auf der offiziellen Rennstrecke, mit der gleichen Begleitung/Absicherung wie später die Leistungssportler. Die jeweiligen Sieger, drei Jungen und drei Mädchen, erhielten aus den Händen des Museumsleiters des Radsportmuseum „Course de la Paix“, Horst Schäfer, jeder ein gelbes Trikot mit der Friedenstaube. Von der Rabobank gab es einen kleinen Siegerscheck und die weiteren Teilnehmer erhielten Teilnahmewimpel. Nach der Siegerehrung begann das Hauptrennen. Ein spannendes 100-km-Rennen, mit einer lange führenden Spitzengruppe, zu der auch Radsportler des Dresdener DSC ge-

hörten. Am Ende gewann der Niederländer Taeke Oppewal im Zielsprint ganz knapp. Der Dresdener Johannes Heidler wurde Dritter. Knapp eine Woche später: Besuch im Radsportmuseum „Course de la Paix“ aus den USA. Unangemeldet standen am 28. Juni drei mongolische Besucher vor dem Museum. Die Überraschung wurde noch größer, als sich herausstellte, dass unter den Besuchern die Tochter eines mongolischen Friedensfahrtteilnehmers ist. 1965 und 1967 startete der mongolische Rennfahrer Luwsan Erschemschanz erfolgreich bei der Friedensfahrt. Im Museum gab es dann eine Überraschung für die Tochter des Rennfahrers: Aus den Händen des Museumsleiters, Horst Schäfer, erhielt sie Fotos der mongolischen Friedensfahrtmannschaften, in denen ihr Vater beteiligt war.

Auf die bei weitgereisten Museumsbesuchern übliche Frage, wie diese auf das Museum aufmerksam geworden seien, kam die Antwort: „Mein Vater hat früher sehr viel über dieses große Radrennen erzählt. Besonders stolz war er auf seine erreichten Ergebnisse“. Beide Male landete er in der Endabrechnung im Mittelfeld, trotz einer relativ kurzen Vorbereitungszeit. In der Mongolei sind die Winter immer relativ lang und das Frühjahr zu kurz für richtiges Training. Die heute in den USA lebende Tochter hat noch sehr gute Beziehungen in ihre Heimat. Sie versprach Herrn Schäfer unter anderem, eine Verbindung zum mongolischen Radsportverband herzustellen. Der Präsident des Verbandes, Zedendambyn Ganbold, war selbst sechsmaliger Friedensfahrtteilnehmer für die Mongolei in den 80er Jahren. Ralf Fiebelkorn

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Redaktion: Kevin Reißig (V.i.S.d.P.), Jayne-Ann Igel, Ute Gelfert, Ralf Richter.

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Links! Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Herausgeber: Dr. Monika Runge, Verena Meiwald, Prof. Dr. Peter Porsch, Dr. Achim Grunke Verleger: Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e. V., Kleiststraße 10a, 01129 Dresden

Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auflage von 10.950 Exemplaren gedruckt.

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Rezensionen

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07-08/2016  Links!

Mit geschärfter Klinge Als Gerd Adloff 1985 im Verlag der Nation mit dem Gedichtband „Fortgang“ debütierte, war mir sein Name schon ein Begriff, vielleicht, weil ich ihn auf einer der Wohnungslesungen im Prenzlauer Berg erlebt, Gedichte von ihm, die in Dorothea von Törnes legendärer wie umstrittener Lyrikanthologie „Vogelbühne“, in „Offene Fenster“ oder der „Auswahl 80“ erschienen waren, bei mir nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatten. Adloff gehört zu jener Generation von Dichterinnen und Dichtern, die, in die DDR der 50er/60er Jahre hineingeboren, sich ab Mitte der 70er einen Namen zu machen versuchten, dafür mehr oder weniger Hindernisse überwinden mussten. Wie viele Zeitgenossen schlug er sich eine Zeit lang mit verschiedenen Tätigkeiten durch. Ab den 70er Jahren war er gleich anderen Autoren seiner Generation (etwa Elisabeth Wesuls, Michael Meinicke, Beate Stanislau oder Richard Pietraß) Mitglied des von Schreibenden wie literarisch Interessierten 1965 gegründeten Lyrikclub Pankow, der im ersten Jahrzehnt z. B. auch Uwe Gressmann und Bettina Wegner zu seinen Mitgliedern zählen, namhafte Autoren wie Volker Braun, Sarah Kirsch und Thomas Brasch als Gast begrüßen durfte. Nach dem Debüt sollte eine lange Zeit vergehen, bis der Autor, der im Anschluss an sein Germanistikstudium eine Festanstellung am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR gefunden hatte, erneut mit eigenen Texten an die Öffentlichkeit trat. Ab Anfang der 90er beschäftig-

te er sich neben Lektortätigkeit und Literaturmittlerschaft vor allem mit fotografischen Arbeiten. Erst seit Ende der 2000er Jahre ist wieder eine verstärkte Hinwendung des Autors zum Gedicht beobachtbar. So erschienen in kurzer Folge kleinere Sammlungen neuer Gedichte in der Jenaer Reihe Versensporn (Heft 4, 2011) und in Kai Pohls Schock-Edition (2012). Der vorliegende Band, im Herbst letz-

ten Jahres in Hendrik Lierschs ambitionierter Corvinus Presse editiert, bietet nunmehr einen umfassenden Einblick in das aktuelle Schaffen des Dichters, und er ist, mit kongenialen Grafiken von Horst Hussel versehen, auch buchkünstlerisch eine Augenweide. Der Titel des Bandes stimmt hintersinnig auf das ein, was hier der Entdeckung harrt, denn er ist nicht allein der Anordnung der Texte geschuldet, vielmehr schlägt der Autor damit in biographischer wie geschichtlicher Hinsicht einen Bogen von der jüngeren Vergangenheit zur Jetztzeit, versinnbildlicht so die Spanne eines Lebens, die den Hintergrund in vielen der Ge-

dichte bildet. Während „Geschichte“ am Anfang des Buches Ereignisse aus der Zeitgeschichte zitiert, die das dichterische Subjekt in seiner Zeitgenossenschaft scheinbar nur mittelbar berührten, begegnen wir ihm im abschließenden Text „Dieser September“ in einem Stadium des Lebens, in dem Abgeklärtheit und Ernüchterung überwiegen, es sich als Gast sieht, in diesem Garten. Wenn das dichterische Ich eingangs also historisch bedeutsame Momente mit dem subjektiven Erleben (hier eher Erleiden) des Alltags zu diesen Zeitpunkten kontrastiert, sie (selbst-)ironisch bricht, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen persönlicher und Zeit-Geschichte, welche Relevanz letzterer für die eigene Entwicklung zukommt und was es mit der Konditionierung, aber auch Zeitzeugenschaft auf sich hat. In der Gleichzeitigkeit und Überlagerung von Ereignissen auf den verschiedensten Ebenen, in der Mittelbarkeit ihrer Wahrnehmung. Etliche Texte werden von Reminiszenzen an die Kindheit bestimmt, an die Eltern, Großeltern, das zurückliegende Leben, und können als eine Art vorgezogene Bilanz gelesen werden, nicht ohne Spott), aber von einer Grundstimmung der Akzeptanz, auch im Hinblick auf das eigene Altern, von einer gewissen Nachgiebigkeit diesem Prozess gegenüber aufgefangen. Im Beispiel „Abschied“ spiegelt sich diese Gestimmtheit sehr deutlich wider (Kasten). Anhand dieses Textes wird auch erfahrbar, wie unprätentiös Adloff mit Bildern umgeht, sie poetischer Weise lesbar macht, denn natür-

lich funktioniert der Reiher, dessen Flug das dichterische Ich beobachtet, als Bild, als Metapher – Ablösung, Erlösung schwingen hier mit, wie auch im Zeilenumbruch des „abgenommen/mir“. Oft sind es die kleinen Begebenheiten und Geschichten, in denen sich atmosphärisch die „großen“ Themen widerspiegeln. Wie etwa die Geschichte von jener alten Frau, die mehrmals am Tage mit ihrem Wecker auf die Straße läuft, um von Passanten die Zeit zu erfragen und eines Tages abgeholt wird). Oder die Szene, in der ein Angetrunkener in der S-Bahn mit einer Bierflasche telefoniert und so all den unabkömmlich sich Dünkenden den Spiegel vorhält. Großartig das Langgedicht „Berlin“, das so etwas wie das innere Zentrum des Bandes darstellt. In diesem Text gerät dem mehr oder weniger den Verhältnissen willfahrenden Ich gelegentlich einer Busfahrt von Spindlersfeld nach Neukölln, einer S-Bahnfahrt von Mitte nach Spandau oder Grunewald in den Blick, was als symptomatischer Ausdruck spätkapitalistischer Macht- wie Marktverhältnisse erachtet werden kann: Üppige Villen und Partys, auf denen die feiern/ und sich feiern lassen/ die eins ums andere /an die Wand fahren. (S. 17) Und zum anderen (wie auch anderswo im Band) Charaktere, deren Leben von Vereinsamung geprägt ist, ins Leere gehenden Gesten. Eindrücklich vermag Adloff die Illusionslosigkeit zu beschreiben, den erfahrenen Bedeutungsverlust jener, die zu den Verlierern in dieser Gesellschaft gehören, und dies mit spürbarer Empathie (S. 16 ff., S.20). Es sind Ge-

stalten, die dennoch eigensinnig sich behaupten in einer Gegenwart, wo der Markt alles regelt, jenes Phantom/ das sich nicht zeigt, und manches Detail erscheint dabei skurril, surreal. Der Desillusionierung wohnt eine Trauer inne, ob des Verlusts an Leichtigkeit und des Gefühls von Unendlichkeit, doch: wenn man unsterblich ist/ geht alles viel zu leicht (S. 11). In einer sehr pointierten Art und Weise (was jedoch nicht damit gleichzusetzen ist, auf eine Pointe hin zu arbeiten), generiert er Perspektivwechsel und Weiterungen im Text, greift dabei gelegentlich stehende Redewendungen auf, deren Sinn er mittels geringer Abwandlungen eine gänzlich andere Richtung verleiht. Methoden, die konstitutiv für Adloffs Texte sind, schon in „Fortgang“ finden sich solche Sachen. Jayne-Ann Igel Gerd Adloff: Zwischen Geschichte und September. Mit Grafiken von Horst Hussel. Corvinus Presse, Berlin 2015. 180 vom Autor signierte Exemplare zu je 20,-€ Abschied Als die Wohnung meines toten Vaters leer war und fremd abgenommen mir sah ich noch einmal aus dem Fenster. Da flog ein Reiher über Marzahn kein Symbol, kein Bild, keine Metapher nur ein großer schöner Vogel der mein Herz erfreute.

Abrechnung mit den DDR-Abrechnern Manchmal spielt Geld keine Rolle. Wird bei der Erhöhung des Mindestlohnes um jeden Cent gefeilscht, fließen anderswo Millionen: zum Beispiel in die Bundesstiftung „Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Jahr für Jahr dürfen Medien, Institute an Hochschulen und vor allem Gedenkstätten mit einem Geldsegen rechnen, damit sie das „richtige“ DDR-Bild zeichnen. 25 Jahre institutionalisierte Abrechnung mit der DDR rechtfertigen ein Buchprojekt. Eben weil ein Ende dieser „Aufarbeitung“ nicht abzusehen ist, stellt sich die Frage, was die „Aufarbeiter“ mit den Millionen eigentlich angestellt haben. Wäre es nicht an der Zeit, dass die, die von der Abrechnung mit der DDR leben – und sehr gut zum Teil –, unter die Lupe genommen werden? Krauß zerpflückt die Arbeit der Schwarz-Weiß-Zeichner und stellt gleich zu Anfang die

Grundfrage: Was müsste eine ehrlich gemeinte Aufarbeitung leisten? Grundlagen wären eine vorurteilsfreie Betrachtung des Forschungsgegenstandes und seine Einbettung in ein internationales Umfeld mit all den Spannungen und Konflikten, die es in den Jahren zwischen 1949 und 1989 gab. Ziel sollte eine umfassende Aufklärung sein. Doch was geschieht stattdessen? Es gibt den staatlichen Auftrag, ein bestimmtes Bild von der DDR zu zeichnen, und das erfolgt u.a. dadurch, dass man sich für bestimmte Jahre gewisse Themen heraussucht. 2015 waren das u.a. „Sowjetische Straf-und Arbeitslager Gulag“, „17. Juni 1953 Volksaufstand in der DDR“ und „Flucht, Fluchthilfe und Freikauf sowie Haftzwangsarbeit in der DDR“. Dass aus dieser Themensetzung ein objektives DDR-Bild entsteht, darf bezweifelt werden. Es entspräche ungefähr

diesen Themen, würde sich eine Stiftung der „Aufarbeitung der BRD-Demokratie“ mit folgenden Themen widmen, meint der Autor: „Schutz der Nazitäter – wie die BRD nach 1945 sie vor juristischer Bestrafung schützte“, „Kontakte von Staat und Wirtschaft der BRD zum Apartheidstaat in Südafrika“, „Jahrzehntelange Unterdrückung der bundesdeutschen Frau und ihre Verbannung an den Herd“, „Staatlich erlaubte Prügelstrafe in Schulen und Heimen der BRD“ … Natürlich kann man sich diesen Themen stellen! Wenn es das Ziel ist, ein Zerrbild zu zeichnen, das kaum mit der erlebten Realität übereinstimmt, kann man das tun. Auch die DDR hatte eine TV-Propagandaecke, die gepflegt wurde von Karl Eduard von Schnitzler im „Schwarzen Kanal“. Nichts anderes treibt heute diese Stiftung, und je mehr ihr widersprochen wird,

als desto „notwendiger“ erachten die Aufarbeiter*innen ihre Tätigkeit, die nichts anderes ist als „Geschichtsklitterung“. Hier wird der – Napoleon zugesprochene – Satz in die Tat umgesetzt: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt

hat“. Man könnte meinen, dass ausschließlich Kreise im Westen daran ein Interesse haben. Krauß beseitigt gleich am Anfang diese Vorstellung und weist darauf hin, wie sehr auch die LINKEN in die Aufarbeitungsmaschinerie eingebunden sind: Dem höchsten Gremium der Stiftung, dem Stiftungsrat, gehören 26 Mitglieder des Bundestages an – auch Vertreter der LINKEN. Müssen oder wollen sie eigentlich mitmachen? Vor einiger Zeit hat sich ein wichtiger Mann aus der Arbeit für die Stiftung Sächsische Gedenkstätten zurückgezogen. Wenn man in die falsche Richtung fährt, kann man umkehren. Jeder, der wissen will, welches DDR-Bild von welchen Leuten in die Geschichtsbücher und in die Köpfe der Menschen kommt, sollte dieses kleine Buch lesen. Es erschien bei der edtion ost und kostet 12,99 Euro. Ralf Richter


Die letzte Seite

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Von Blues aus Polen bis Diestelmann Wie kam es eigentlich dazu, dass gerade in der DDR und in der Volksrepublik Polen unabhängig voneinander Blues eine bedeutende Rolle in der modernen Musikszene spielte? Der Auslöser könnten die Gastspiele des Ensembles „American Folk Blues Festival“ sein, das 1964 und 1966 in beiden

Parallel entstand ein ähnliches Phänomen im „Bruderland“ DDR. Hier spielte Thüringen eine wesentliche Rolle in der Bluesszene, in der ein Mann von sich reden machte, der es verstand, durch seine brisante Spielweise auf der Gitarre und seinem leidenschaftlichen Gesang mit selbstverfassten

„Klaus Lenz Combo“ an der Violone sowie Bernd Kleinow an der Mundharmonika ins Leben rief. Sein erstes Programm lief unter dem Namen „Blues in Wort und Musik“, in dem er Songs seiner Idole Muddy Waters, Sam „Lightnin“ Hopkins, „Big Bill“ Bronzy oder „T-Bone“ Walker sang und spielte, ohTadeusz Nalepa.

Lestath / Wikimedia Commons / CC BY-SA 2.5

Staaten auftrat. Diese Gruppierung aus namhaften Bluesgrößen wie Sunnyland Slim, Willie Dixon, Hubert Sumlin, Clifton James, Roosevelt Sykes, Otis Rush, Little Brother Montgomery, Sleepy John Estes, Big Joe Turner, um nur einige zu nennen, bot dem Publikum ein sehr breites Spektrum der verschiedenen Bluesstile, z. B. DeltaCountry oder Chicago Blues. In Polen gründete der Sänger und Gitarrist Tadeusz Nalepa die Beatgruppe „Blackout“, die sich jedoch mehr dem Rhythm and Blues zuwandte. Seit 1968 nannten sie sich „Breakout“ und entwickelten sich bald zu wahren Bluesgiganten Osteuropas. 1969 erschien ihre LP „Blues“, später „Karate“, 1974 „Kaminie“ (Steine) und bis zum Schluss ihres Zusammenseins in den späten Achtzigern noch etliche weitere Alben in höchster Qualität. Nalepa wandelte danach auf Solopfaden und musizierte mit seinem Sohn Piotr Nalepa sowie Andrzej Ryszka und Rafał Rękosiewicz weiter. Auch andere Formationen in Polen widmeten sich dem Blues, so die „Bee Hive Blues“ aus Kraków, „Dzem“, „Krzak“, die um Jacek Skubikowsky oder der Multiinstrumentalist und Sänger Józef Skrzek, einst Bassist bei „Breakout“, später bei Ślężanie, Ametysty und dann Mitbegründer des polnischen Supertrios „SBB“. Übrigens: Alle sangen ihren Blues in ihrer Landessprache!

Texten nicht nur seine Frau zu begeistern: Jürgen Kerth! Ihm gelang eine bis dahin noch nicht existierende Melange, Blues und Reggae zu verschmelzen. Er ist bis heute auf den Bühnen deutschlandweit unterwegs. Ja, und wenn das Thema Blues in der DDR auftaucht, kommt man an Stefan Diestelmann nicht vorbei, der als Ikone der ostdeutschen Bluesbewegung bezeichnet werden kann. Geboren wurde er am 29. Januar 1949 in München. Seine Eltern waren Schauspieler und bekamen das Angebot, bei der DEFA Filmrollen zu erhalten. So zogen sie 1961 in die DDR. Im Alter von zwölf Jahren schenkten sie ihrem Sohn eine Gitarre, die er bereits mit dreizehn Jahren gut beherrschte. Da er sich damals schon für die Musik der schwarzen Bevölkerung Amerikas, insbesondere für den Blues interessierte, lag es nahe, sich damit intensiv zu beschäftigen. Er wälzte Fachliteratur und hörte aufmerksam die Schallplatten, die die Eltern aus dem Westen mitbrachten. Bald schloss er sich auch Bands an, u. a. den „Teddys“, 1975 der Gruppe „Vai hu“ von Axel Stammberger, deren Musikstil jedoch nicht Stefans Bluesgeschmack entsprach, weshalb er zur „Engerling-Bluesband“ wechselte und zwei Jahre später die „Stefan Diestelmann Folkbluesband“ mit Rüdiger Phillip von „Vai hu“ am Bass, Dietrich Pätzold von

ne sie eins zu eins zu covern. Stattdessen bearbeitete er sie eigenwillig. Auch eigene Musikstücke entstanden: „Blues für Memphis Slim“, „Der Alte und die Kneipe“ oder „Reichsbahnblues“. 1978 erschien seine erste LP „Stefan Diestelmann-Folk Blues Band“. Leider entsprechen die meisten Lieder nicht dem Plattentitel, zu viel Streicherteppich. Überhaupt klingt vieles überarrangiert, hier wäre weniger mehr gewesen. Auch wenn er bei „Rockin‘ The House“ Memphis Slim begleiten durfte, fällt dieser Livemit-

schnitt stark aus dem Rahmen des Konzeptalbums. Da wirkte seine zweite LP „Hofmusik“ von 1980 viel authentischer. Gleich zu Beginn der Platte stellte er sehr einfühlsam seine genialen Mitstreiter vor: Alexander Blume am Klavier, Lothar Wilke an der Orgel, Conny Körner am Tenorsaxophon, Dietrich Pätzold an der Violine, Dieter Gaste an der Mundharmonika, Gusto Miguel Aldo an den kubanischen Trommeln, Peter Kalandra an der Gitarre, Jiri Vesely am Bass und Akkordeon sowie Sängerin Regina Dobberschütz. Er lässt so einen Eindruck seiner Liveperformance zu und wird dem gerecht, was den Vergleich zu den Bands aus dem „Bruderland“ Polen zulässt: Er singt endlich in seiner Sprache, verzichtet gänzlich auf englischen Vortrag: „Ich singe den Blues, weil ich will, dass auch ihr ihn versteht …“ Aufgelockert wird die Scheibe mit teils jazzigen Improvisationen von Conny Körners Saxophoneinlagen, dem an den französischen Jean Luc Ponty erinnernden Jazzgeiger Dietrich Pätzold, dem tschechischen Akkordeonist Jirí Veselý und der jazzigen Soulstimme der Sängerin Regina Dobberschütz, die mit ihrer Gesangseinlage einen tiefen Einblick in die damals sehr aufmüpfige „Prenz’lbergszene“ der 80er Jahre gewährt. Diestelmann wirkt diesmal konsequenter, denn seine auf Deutsch interpretierten Lieder erweisen sich als konkrete Beschreibungen der sozialen Umstände in der Ostberliner Subkultur. 1981 gastierte Diestelmann beim Folk-Blues-Festival in Poznań, wo er die Bekanntschaft mit dem bereits erwähnten polnischen Bluesmusiker Tadeusz Nalepa machte. 1982 gab es einen gemeinsamen Auf-

tritt mit Alexis Korner in der slowakischen Hauptstadt Bratislava, nachdem er bereits in den Siebzigern die Ehre hatte, mit Memphis Slim, Johnny Mars, Robert Jr. Lockwood oder John Porter aufzutreten. Aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber den Staatsorganen der DDR gab es immer wieder Probleme mit den Kulturbehörden sowie Auftrittsverbote in einigen Bezirken des Landes. So beschloss er nach einem Gastspielaufenthalt in Hildesheim, nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Bedauerlicherweise wurde seine dritte Langspielplatte „Folk, Blues und Boogie“, die gerade fertig gestellt worden war, nach Bekanntwerden seiner Entscheidung 1984 sofort wieder aus den Läden genommen und eingestampft. Und doch sollen einige Exemplare als Musikkassetten verkauft worden sein. Im Westen gründete er mit Michel Arman am Piano sowie dem Organisten Ludwig Seuß eine neue Band, produzierte auch noch einige Platten, aber im großen Sumpf der dortigen Unterhaltungsmaschinerie ging er leider verloren. Nach der Wende gab es noch einige Versuche, in der Ex-DDR aufzutreten, doch die vielen tausend Fans, die einst in seine Konzerte pilgerten, blieben aus. In den neunziger Jahren zog er sich aus der Musik zurück und gründete die Filmfirma „Diestelfilm“ für Dokumentarfilme. Seit 2006 gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Erst 2011 wurde bekannt, dass er am 27. März 2007 in einsamster Isolation im bayrischen Tutzing verstorben war. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen eigenwilligen Könner, dem es gelang, eine ganze Generation für die Bluesmusik zu begeistern. Jens-Paul Wollenberg

Stefan Diestelmann. Screenshot: youtube.com


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Juli-August 2016

Sachsens Linke

Der Brexit erschüttert Europa - wir ziehen in verschiedenen Beiträgen Schlussfolgerungen. Außerdem gehen wir philosophisch der Frage nach, weshalb Emotionen in unserer politischen Kommunikation eine größere Rolle spielen sollten.

Wir blicken auch nach innen, auf die Verfasstheit unserer Partei und auf die anstehenden Aufgaben nach dem Landesparteitag.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern einen sonnigen, frohen und erholsamen Sommer!

Aktuelle Infos stets auch

unter

e www.dielinke -sachsen.d

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Sommer, Sonne, Sozialismus

DIE LINKE. Sachsen ergreift Partei! Unter dem Motto „Ergreift Partei“ hat die sächsische LINKE am 18. Juni 2016 ihren 13. Landesparteitag in Neukieritzsch abgehalten. In seinem halbstündigen Referat zur Eröffnung erinnerte Rico Gebhardt daran, dass der Parteitag nicht ohne Grund wieder in diesem Saal stattfand. Beim 12. Landesparteitag hatten mutmaßlich Rechte über Nacht die Scheiben der ParkArena zerstört, der Parteitag stand kurz vor dem Abbruch. Dies sei auch Ausdruck einer tiefen Spaltung dieser Gesellschaft: „Die Folge dieser Spaltung ist eine tiefe Krise der Demokratie. Und auf diese Krise müssen WIR eine Antwort geben. Und deshalb ist es richtig und wichtig, auch Zeichen zu setzen gegen den rechten Mob, gegen den rechten Terror. Und eines dieser Zeichen setzen Wir heute mit der Rückkehr nach Neukieritzsch. Wir sagen diesen rechten Spinnern: Wir sind wieder hier. Wir bleiben hier. Wir lassen uns nicht einschüchtern! IHR werdet UNS nicht vertreiben! Nirgendwo!“ DIE LINKE habe in dieser Auseinandersetzung keinen Grund, sich zu verstecken. So verwies Gebhardt auf die vielen Initiativen der Linken, sei es für eine gerechtere Rente, für eine BürgerInnenversicherung oder das linke Steuerkonzept, das 97

Prozent der Bevölkerung entlasten würde: „Also gehen wir verdammt noch mal erhobenen Hauptes und mit gradem Rücken raus und werben für Mehrheiten für eine andere Politik. Wir sind nicht Teil des neoliberalen Blocks! Nur mit uns ist eine solidarischere, eine gerechtere Gesellschaft möglich!“ Hart ins Gericht ging Gebhardt auch mit SPD-Wirtschaftsminister Dulig, der der LINKEN in Bezug auf ihr Engagement für die Beschäftigten von Bombardier Klassenkampf vorgeworfen hatte: „Ja, natürlich gibt es Klassenkampf: Er wird seit Jahren von ‚Oben‘ gegen ‚Unten‘ geführt, und es ist allerhöchste Zeit, dass wir dem gemeinsam wirkungsvoll entgegentreten! Wenn Du, lieber Martin Dulig, vergessen hast, auf welcher Seite ein Sozialdemokrat zu stehen hat, wir LINKEN haben das nicht!“ Der Landesparteitag verabschiedete danach den Leitantragsentwurf des Landesvorstandes mit breiter Mehrheit. Konkurrierende Anträge fanden keine Mehrheit. Dabei betonte Antje Feiks, dass sich der Leitantrag nicht an die Partei, sondern an die Öffentlichkeit richte: „Politik wird unüberschaubarer und komplexer. Diese Komplexität wirkt bedrohlich. Und auch wir müssen schauen, wie wir damit umgehen. Wir wollen

nicht nur Angebote von Politik, sondern unser Ansinnen ist es doch, zu einer Re-Politisierung beizutragen – allerdings einer von Links.“ So heißt es unter anderem im Leitantrag: „Es ist unsere Aufgabe, dafür zu kämpfen, dass sich die Lebensverhältnisse für alle Menschen verbessern, hier und überall. Es ist unsere Aufgabe, Ausbeutung und Unterdrückung zu bekämpfen – hier und überall. Es ist unsere Aufgabe, hier und heute für ein besseres Leben, für ein Leben in Würde für alle Menschen zu arbeiten. Das tun wir. Gemeinsam mit denen, die es betrifft, die unsere Überzeugungen teilen. Wir laden dazu ein. Wir sind die Partei der Demokratie. Wir sind die Partei, die sich um jene kümmert, die gesellschaftliche Unterstützung benötigen. Wir sind die Partei der Humanität und der europäischen Idee“. Wer sich mit diesen Zielen identifizieren könne und selbst Partei ergreifen wolle, finde in der Partei eine starke Partnerin. Auch das Wahl- und Aufstellungsverfahren zur Bundestagswahl 2017 wurde beschlossen. So wird u.a. die sächsische LINKE mit einer/einem SpitzenkandidatIn in den Bundestagswahlkampf ziehen. Die Landesgeschäftsführerin warb in ihrer Einbringungsrede zum Antrag

dafür, dass dies die Parteivorsitzende Katja Kipping sein solle: „Welche Argumente soll ich öffentlich verwenden, wenn wir die Parteivorsitzende, die ja auch eine ausgewiesen Sozialexpertin ist, als Landesverband Sachsen nicht – auch wegen ihres Bekanntheitsgrades – nutzen würden? Das wäre politisch hochnotpeinlicher Nonsense“, betonte Antje Feiks. Auch beschloss der Landesparteitag neben Weichenstellungen in Satzungs- und Finanzfragen, dass sich die Partei mit zahlreichen eigenständigen Initiativen in die politische Auseinandersetzung der kommenden Jahre einmischen wird. So wurde mit großer Mehrheit eine schulpolitische Initiative beschlossen, die auch eine mögliche Volksabstimmung für längeres gemeinsames Lernen im Freistaat beinhaltet. Weitere Anträge zum Laizismus, zur Erarbeitung eines Modells für eine solidarische BürgerInnenversicherung sowie ein 10-Punkte-Plan zur Stärkung der sächsischen Zivilgesellschaft fanden eine breite Mehrheit. Abschließend rief der Parteitag zur Teilnahme am bundesweiten Protesttag gegen TTIP am 17. September 2016 auf. In sieben deutschen Großstädten sind an diesem Tag Demonstrationen geplant, u.a. in Leipzig. Thomas Dudzak

Neulich wurde ich gefragt, wie meine Parteitagsrede einzuordnen sei, ob ich mich vom rot-rotgrünen Projekt verabschiedet hätte. Die Antwort darauf ist einfach: Wir brauchen in naher Zukunft nicht über Bündnisse zu sprechen. Die Debatte steht einfach nicht an. Die SPD steckt in der Koalition mit der CDU, mit den Grünen teilen wir die Oppositionsbänke. Das wird aller Voraussicht nach bis 2019 weitergehen. Warum soll ich also 2016, wo sich die politischen Mehrheiten radikal verändern, Blöcke erodieren, jetzt ausgerechnet anfangen, von Koalitionen zu reden? Das wäre eine Debatte im luftleeren Raum, die nur das Bild einer Politik bedient, die sich um sich selbst dreht, aber die Realitäten im Land nicht wahrnimmt. Jede Debatte hat ihre Zeit. Und jetzt werben wir für Grundsätzlicheres: Für unsere Werte und Überzeugungen. Wir kämpfen gemeinsam für eine starke LINKE. So nehme ich auch die breite Zustimmung des Parteitages zu unseren beschlossenen inhaltlichen Projekten zur Kenntnis. Die Botschaft sollte bei allen angekommen sein: Wir haben keine Zeit mehr mit Selbstbeschäftigung zu verlieren. Wir verlören dann mehr, als wir gewinnen können. In diesem Sinne: Lasst uns kraftvoll im Herbst an die anstehenden Aufgaben gehen. Seien es die Bundestagswahlen, die sächsischen Impulse für Partei und Gesellschaft oder auch die Aktionen gegen TTIP und CETA. Vorher lasst uns alle Kraft tanken in der anstehenden Sommerpause. In diesem Sinne wünsche ich uns allen: Sommer, Sonne und natürlich bald auch Sozialismus.


Sachsens Linke! 07-08/2016

Meinungen

Gezerre um Gaucks Nachfolge: Brauchen wir wirklich einen Bundespräsidenten? Wir sollten die alten Gleise der Macht verlassen und endlich auch an wirkliche Veränderungen denken, anstatt uns in die Spiele der anderen Parteien einbinden zu lassen. Wieso rufen wir schon wieder nach Rot-Rot-Grün und bringen keine phantasievollen eigenen Vorschläge, die wirklich in das System eingreifen können und uns nicht zum „Wurmfortsatz“ anderer degradieren? Das Karussell der politischen Illusionen (von Herzogs „ein Ruck muss durch das Land gehen“ bis zu Gaucks Kriegstreiberei á la „Deutschland muss mehr Verantwortung in der Welt übernehmen“) soll sich weiter drehen und alle suchen fieberhaft nach einem neuen Betreiber. Warum denken wir nicht einfach neu und fragen nach dem Sinn des Bundespräsidialamtes, das schon mit Lübke einen KZ-Baumeister an seiner Spitze hatte und damit das herrschende System entlarvte? Brauchen wir rauschende Sommerfeste im Schloss Bellevue und wohlgesetzte Sonntagsreden, wenn doch tausende Kinder in Deutschland schwer von Armut und Familien von den Hartz-Gesetzen betroffen sind und deutsche Soldaten mit pastoralem Segen im Ausland zu Tode kommen? Bisher gab es kein Veto eines deutschen Bundespräsidenten gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr oder Forderungen nach Gesetzen, die soziale Ungerechtigkeiten, die stete Umverteilung von unten nach oben im Lande verhindert hätten. Nutzen wir die Gelegenheit und versucht ernsthaft, dieses längst überflüssige Amt mit einem letztmaligen Tschingtarassa abzuschaffen. Mit den eingesparten Millionen Euro kann wirklich Gutes getan werden, indem man sie zum Beispiel in Wissenschaft und Bildung steckt. Raimon Brete, Chemnitz

erwähnt, dass nach der Rückkehr von Sahra Wagenknecht auf den Parteitag und nach ihrer Rede mit Beifall bedacht wurde. Auch fehlte, dass die Linksjugend erklärte, dass kein Parteimitglied und auch nicht die Linksjugend selbst irgendetwas mit dem Tortenwurf zu tun hatte. Die Angriffe kamen von außen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die systemtragenden Mainstreammedien auf die Torte konzentrierten. Da brauchten sie sich nicht mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Auch in der Debatte wurde die Verbindung zwischen dem Einsatz für Demokratie, für eine Sozialpolitik zugunsten der großen Bevölkerungsmehrheit und für eine Friedenspolitik aufgezeigt. Die neoliberale Politik von AfD, der großen Koalition (auch TTIP) und der Schröder-Regierung wurde deshalb abgelehnt. Zu gemeinsamen Aktionen gegen Faschisten, Rassisten und Sexisten wurde aufgerufen. Nur so lässt sich der Bevölkerung vermitteln, dass nicht die AfD und PEGIDA, sondern die Linken als Opposition sich für die Interessen der Bevölkerung einsetzen. Rita Kring, Dresden

Zu „Lichtblicke, Enttäuschungen und ein Torte“ von Antje Feiks (Sachsens Linke! 06/2016, S. 1) Leider wurde im Artikel nicht

Zu „Finanzschrott gar nicht erst auf den Markt lassen“ (Sachsens Linke! 06/2016, S. 8) Das gegenwärtige, also das kapitalistische System, beruht auf Profiterwirtschaftung. Die Vermögensverteilung ist in Folge dessen inzwischen aber so ungleich, dass einerseits die kaufkräftige Nachfrage zu gering, andererseits das angehäufte Kapital zu groß ist. Verbunden mit der hohen Produktivität und damit dem geringeren Arbeitskräftebedarf lässt sich somit in der Produktion dieser Profit nicht mehr erzielen. Folge davon ist die Aufblähung des Finanzsystems. Nur so sind größere Profitraten möglich, für die Kapitalanlegenden oder für die Finanzproduktanbietenden. Mit einem Finanz-TÜV werden lediglich die Kapitalanlegenden gestärkt. Die Bevölkerung hat nichts davon. Die eigentlichen Probleme werden nicht gelöst. Im Gegenteil wird der

Impressum

Kleiststraße 10a, 01129 Dresden

Sachsens Linke! Die Zeitung der LINKEN in Sachsen

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Termine der Redaktionssitzungen bitte erfragen.

Herausgeberin: DIE LINKE. Sachsen Verleger: Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e.V.,

Seite 2 sieht die „Stütze“ aus? Greifen wir die Unterstützung der Militarisierung und den Segen für fürchterliche Kriege heraus. Wer segnete Hitler 1933 bei der Potsdamer Inszenierung, wenn nicht Dibelius? Wem verdankte Hitler den ersten außenpolitischen Erfolg, wenn nicht dem Konkordat mit dem Vatikan? Wenn schon „Geschichtsbewältigung“ (Geschichte ist vergangen und lässt sich nicht „bewältigen“), dann nicht nach der Methode Gauck: Ein Pfarrer erhebt sich zum Ankläger und Richter über Ereignisse und Akteure. ln der Bibel wird empfohlen: Mit dem Maß, mit dem ihr messet, wird man euch wieder messen. Und: Wer den Splitter im Auge des andern sieht, möge zuerst den Balken im eigenen Auge entfernen. Fritz Jäckel beruft sich auf „Rechtsansprüche“, die auf die Zeit Napoleons zurückgehen und 1919 in der Weimarer Verfassung festgeschrieben wurden. Das (provisorische) Grundgesetz übernahm 1949 diese Regelungen. Aber sind diese „Rechtsansprüche“ auf ewig unantastbar, obwohl sie dem Gebot der Trennung von Staat und Kirche widersprechen? Ist das Recht tatsächlich eine „Katze im Sack“ (Brecht)? Jeder Leser dürfte wissen, dass mit der „Wiedervereinigung“ mit einigen Federstrichen „verbriefte Rechte“ auf Arbeitsplätze, Grundstücke, Renten usw. gestrichen wurden. Geschah das nicht u.a. durch sächsische Minister wie den protestantischen Pfarrer Eggert und das Mitglied (zeitweilig Präsident) des Zentralkomitees deutscher Katholiken, Professor Dr. Meyer (der sich inzwischen seiner Taten rühmt)? Da die „friedliche Revolution“ unter dem Dach der Kirchen stattfand, sind sie natürlich auch für die negativen Folgen verantwortlich. Ich wiederhole, was jedermann weiß: Gesetze können verändert werden. Rico Gebhardt ist Chef der Linkspartei in Sachsen. Er beruft sich zu Recht auf das Verfassungsgebot der Trennung von Staat und Kirche, die auch im Artikel 109 der sächsischen Verfassung enthalten ist. Die Geldzuweisungen an Kirchen, die Gebhardt kritisiert, sind eine Praxis, die der Verfassung widerspricht. Rico Gebhardt schreibt als Chef der sächsischen Linken. Ob es für

Auf ein Wort in eigener Sache zum Beitrag „Wlassow – Diener zweier Herren“ (Links! Mai 2016) Dass man für Geschriebenes auch Kritik einstecken muss, gehört dazu, ebenso wie die Notwendigkeit, Entwürfe zu kürzen. Aber bitte in einem kritischen-solidarischen Ton und in einem solidarischen Miteinander. Thomas Lang aus Chemnitz schrieb: „Vielleicht hätte der Autor zur Vollständigkeit die Beteiligung der ,Wlassow-Armee‘ bei der Befreiung Prags erwähnen sollen“. Ich gebe zu: Das habe ich wirklich nicht gewusst, ich bedanke mich ausdrücklich für diesen Hinweis. Den weiterführenden Link habe ich mir gern angesehen und das Material ausgedruckt. Aber war der Satz „Weglassen von Informationen ist auch eine Art von Unwahrheit“ wirklich nötig? Ist es angemessen, mit Unterstellungen zu arbeiten, erst recht gegen ehrenamtlich Aktive wie mich, der ich seit über 20 Jahren für kleine Zeitungen schreibe und viel Zeit darauf verwende, besonders bei historischen Themen möglichst viele neue Archivquellen oder Forschungsergebnisse zu berücksichtigen? René Lindenau, Cottbus

Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auf­lage von 10.950 Exp. gedruckt.

Ralf Richter, Stathis Soudias.

Redaktionsschluss 25.06.2016

Bildnachweise, wenn nicht gesondert vermerkt: Archiv, iStockphoto, pixelio.

Die nächste Ausgabe erscheint voraussichtlich am 01.09.2016.

Der Redaktion gehören an: Ute Gelfert, Jayne-Ann Igel, Thomas Dudzak, Antje Feiks (V.i.S.d.P.), Andreas Haupt,

Kontakt: kontakt@dielinke-sachsen.de Tel. 0351-8532725 Fax. 0351-8532720

Eindruck erweckt, dass das Finanzsystem vertrauenswürdig ist. Somit werden die private Rentenversicherung und andere kleinere Geldanlagen gefördert und damit die Gewinne im Finanzsystem gestärkt. Außerdem gibt es neben den im Artikel genannten Anlagen auch Kredite, die nicht der Profiterzielung, sondern der Unterstützung sinnvoller Projekte (z. B. Mietshäusersyndikat, Solidarische Landwirtschaft, 1-Welt-Läden usw.) dienen. Die könnten einen solchen Finanz-TÜV nicht bezahlen. Bei der Regulierung des Grauen Kapitalmarktes ist es deshalb notwendig, dass solche Kredite nicht nur weiterhin problemlos möglich sind, sondern sogar eher möglichst gefördert werden. Das könnte auch ein Schritt zu einer grundsätzlichen Vermögensrückverteilung von oben nach unten und zum Aufbau alternativer, bedürfnis- statt einkommens- /profitorientierter Wirtschaftskreisläufe sein. Uwe Schnabel, Coswig Über das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland Die Sächsische Zeitung veröffentlichte am 25. Mai 2016 zwei Beiträge über den Platz der Kirchen in „unserer Gesellschaft“, also in „unserem“ Kapitalismus. Der Pro-Autor Fritz Jäckel ist Minister und Chef der Staatskanzlei. Er schreibt also, was ihm sein Amt gebietet. Seine zentrale These lautet: „Die Kirchen stärken das Gemeinwohl“. Zu fragen ist: Was versteht der Minister unter „Gemeinwohl“? Er nennt den Betrieb von Schulen, Kindergärten usw., deren Unterhaltung vom Staat finanziert wird. Dieselbe Aufgabe lösen staatliche Einrichtungen. Warum sind kirchliche Enklaven nötig? Warum müssen sich Kinder schon nach Kirchenzugehörigkeit der Eltern trennen? Was würde es schaden, wenn der Staat ohne den Umweg Kirchen für das „Gemeinwohl“ sorgte? Fritz Jäckel hat Recht mit dem Satz: Die Kirchen sind eine „großartige Stütze unserer Gesellschaft“. In der Tat, das Bündnis von „Thron und Altar“ war und ist ein entscheidender Faktor in der Herrschaftsstruktur von Ausbeutergesellschaften. Aber wie sah und

ihn nötig war, der DDR einen „anmaßenden Atheismus“ anzudichten, vermag ich nicht zu beurteilen. Es zahlt sich nicht aus, Geßlerhüte zu grüßen. ln der DDR gab es weder in der Verfassung noch in der Praxis einen „verordneten“ Atheismus, während es in der BRD den Antikommunismus als Staatsdoktrin gab. Als Totalitarismusdoktrin getarnt, fand der Antikommunismus seinen Platz in der Präambel der sächsischen Verfassung. Ein Linker weiß, dass Marx/Engels schon im ersten Satz des „Manifests“ unter denen, die die Kommunistenhatz betrieben, auch den Papst nannten. Mindestens bis zum polnischen und deutschen Papst ist es so geblieben. Sie waren eine „Stütze“ bei der imperialistischen Politik gegenüber den sozialistischen Staaten. Wird Johannes Paul II. deshalb heiliggesprochen werden? Der Imperialismus weiß sehr wohl, warum er die Kirchen als Stütze braucht, jedenfalls nicht bei der Schaffung des „Gemeinwohls“. Horst Schneider, Dresden


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Hier spricht die Amazon-Belegschaft len und Verbesserungswünsche vorbringen. Dabei kommt die Thematik der hohen Belastung und der anstrengenden Arbeit für ältere Mitarbeiter immer wieder zur Sprache. Die Antworten unterscheiden sich dabei gravierend, wenn keine Kamera oder Vertreter der Presse dabei sind. Dabei gab es unter anderem solche Aussagen wie: Wer zu alt für diesen Job ist, muss sich eben was anderes suchen. Ende des vergangenen Jahres verkündete der Standort von Amazon in Leipzig stolz, eine Investitionssumme von knapp einer Million Euro an Land gezogen zu haben, um eine neue Förderbandanlage zu bauen. Der Einbau dieser Bandanlage brachte es mit sich, dass

sich einige Arbeitsabläufe verändert haben. Im Vorfeld wurden die Mitarbeiter darüber informiert und es gab ein paar Infoveranstaltungen. Hierbei wurde auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es durch den veränderten Arbeitsablauf auch notwendig werde, neue Mitarbeiter einzustellen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass der Arbeitsaufwand für den einzelnen Angestellten höher werden würde. Das wurde in dieser Veranstaltung auch angesprochen. Die verantwortlichen Manager waren sich dieser Tatsache durchaus bewusst, waren aber nicht bereit, irgendetwas am Arbeitsprozess zu verändern. Nahezu täglich weisen engagierte Mitarbeiter ihre Vor-

gesetzten auf einseitige Belastung und monotone Arbeit hin. Sie zeigen auf, dass es ihrer Gesundheit abträglich ist, wenn sie gewisse Tätigkeiten über Stunden und Tage in der immer gleichen Abfolge, im immer gleichen Rhythmus absolvieren müssen. Davon wollen die verantwortlichen Manager aber erst recht nichts wissen und geben dann eine Arbeitsanweisung, dass man genau so zu arbeiten und sich zu bewegen habe. Dagegen zu verstoßen würde in einer Abmahnung münden. Damit wird auch in persönlichen Einzelgesprächen immer wieder gedroht. Der Gesundheit zuträglich hingegen wären erholsame Pausen. Aber auch hier: Fehlanzeige. Es gibt eine 20-minütige

Metropolico.org / flickr.com/ CC BY-SA 2.0

Am 24.5.2016 sendete der Mitteldeutsche Rundfunk einen Beitrag mit dem Titel „Amazon: Wie Mitarbeiter im Rekordtempo tausende Kundenwünsche erfüllen“. In diesem Beitrag wird Amazon heftig kritisiert. Dies wiederum gefällt der Geschäftsleitung des Standortes aus Leipzig überhaupt nicht. Dabei wird gleich zu Beginn des Berichtes der Standortleiter Dietmar Jüngling gezeigt, der sagt: „Bei uns steht als allererstes die Sicherheit und das Wohlbefinden unserer Mitarbeiter, das heißt die Sicherheit und die Gesundheit steht über allen anderen, über allen Punkten“. Im Folgenden soll untersucht werden, ob diese Aussage der Realität entspricht. Im Bericht wird erwähnt, dass der Krankenstand zeitweise bis zu 20 Prozent beträgt, also jeder fünfte Mitarbeiter krank ist. Diesem Fakt widerspricht die Geschäftsführung auch nicht, denn klar ist, dass die tägliche Arbeitsbelastung enorm hoch und die Krankenstatistik darauf zurückzuführen ist. Um dem entgegenzusteuern, hat Amazon ein Gesundheitsprogramm entwickelt, bei dem einmal am Tag eine 1-minütige Übung absolviert werden kann. Vorgeführt wird diese Übung von einem einfachen Versandmitarbeiter. Eine Ausbildung dafür wurde nicht absolviert, lediglich ein mehrstündiger Einführungskurs belegt. Der Nutzen dieser Übung bleibt daher fragwürdig. Als moderner Arbeitgeber führt Amazon immer wieder Mitarbeiterbefragungen durch, und hin und wieder kann man der Geschäftsleitung Fragen stel-

Gesundheit! und eine 25-minütige Pause. Um in die Pausenräume zu gelangen, benötigt man fünf Minuten, für den Rückweg ebenso. Bleiben also nur zehn bzw. 15 Minuten von der jeweiligen Pause zur eigentlichen Erholung. Dass die Mitarbeiter den Weg zur bzw. von der Pause eilig zurücklegen ist dabei nachvollziehbar, will man doch möglichst viel von der knapp bemessenen Zeit nutzen können. Am Ende bleibt aber durch das ständige Gehetze praktisch kein Erholungseffekt von der Pause. Da ist die Wartezeit in der Kantine noch nicht einberechnet. Beschäftigten, die auch nur eine Minute zu früh in die Pause gehen oder zu spät wiederkommen, wird Arbeitszeitbetrug vorgeworfen. Diesen wiederum kann Amazon mit Abmahnung ahnden. Erstaunlicherweise gibt es sogenannte Health-Manager bei Amazon. Diese sind eigentlich für gesunde Arbeitsbedingungen verantwortlich. Merkwürdig nur, dass sie die Ursachen des hohen Krankenstandes nicht erkennen oder dem entgegenwirken wollen. All diese Geschehnisse aus dem Arbeitsalltag belegen, dass die Realität so, wie Amazon sie in der Presse und den Medien darstellen will, nicht beschaffen ist. Das Gegenteil ist der Fall und wurde im Beitrag des MDR auch korrekt dargestellt. Die Aussage zu Beginn des Films ist demnach falsch und soll nur über die katastrophalen Zustände in den Versandhandelszentren hinwegtäuschen. Der Beitrag lässt sich in der Mediathek der ARD abrufen. Christian Rother

Eine Partei zum Mitmachen … sind wir das? Oft formulieren wir, dass wir eine beteiligungsorientierte Partei sind, eine Partei zum Mitmachen. Ob das so ist, vermag ich nicht abschließend zu beurteilen. Aber: Mir scheint, dass da noch Luft nach oben ist. Gerade in Vorbereitung der Bundestagswahl, aber auch in Nachbetrachtung der Landtagswahl unter Einbeziehung aller Debatten, die wir seitdem geführt haben, sollten wir uns hierzu Gedanken machen. Unsere Partei wandelt sich und die Ansprüche derer, die zu uns kommen, sind sehr unterschiedlich. Eines eint aber alle, die sich für den Parteieintritt entschieden haben: Das Recht des Mitgliedes ist es, mitzuentscheiden. Nun sind wir eine Partei, die sich nach Parteiengesetz strukturiert. So haben wir Gremien, die Entscheidungen

treffen, z. B. den Landesparteitag, den Landesvorstand, die Kreis- und Ortsvorstände, Sprecher*innenräte Landesweiter Zusammenschlüsse, Gesamtmitgliederversammlungen in den Kreisen und Ortsverbänden. Aber sind diese Veranstaltungen tatsächlich Punkte, an denen man als Mitglied mitentscheiden kann? Nur zum Teil. Auf Parteitagen nehmen die Debatten an Komplexität zu. Nicht nur die Inhalte allein entscheiden, sondern oft auch Gemengelagen. Meist trauen sich nur diejenigen ans Mikrofon, die geübtere Redner*innen sind. Und was bleibt am Ende der Debatte übrig von dem Gesagten? So gut wie nichts, weil ein Redebeitrag kein Beschluss ist. An den Landesvorstand können sich Mitglieder mit Anliegen wenden, für die sie Unterstützung benö-

tigen. Oft wird diese Möglichkeit nicht genutzt. Schade! Aber Entscheidungen entstehen auch jenseits gewählter Gremien. Hier müssen wir ran. Gerade in der Vorbereitung der Wahlkämpfe sollten wir möglichst viele einbinden und neue Wege erproben, um für 2019 gewappnet zu sein und unsere Partei weiterzuentwickeln. Erste Ideen dafür sind: • Eine Mitgliederbefragung durchführen, die Aufschluss darüber gibt, wo genau der meiste Mitentscheidungsbedarf liegt. Diese soll im Winter 2016/2017 stattfinden. • Auf dieser Grundlage Angebote schaffen, die mehr Genoss*innen als bisher und zielgerichteter einbinden. • In Vorbereitung der Wahlkämpfe wird es mitgliederoffene regelmäßige Einwahlte-

lefonkonferenzen geben, die einen kurzen Überblick über den Stand der Wahlkampfplanung und zur Klärung individueller Probleme und Hinweise von vor Ort genutzt werden soll. Das sind erste Ideen und Beispiele. Im Rahmen des Prozesses der Erarbeitung eines Landesentwicklungskonzeptes z. B. zur Wichtung der Themen hoffe ich, Wege zu finden, die Mitgliedschaft einzubinden. Das werden wir nicht in Gänze digital gestalten können, nicht bei unserer Altersstruktur. Die Herausforderung liegt im Zusammenführen dessen, was analog und auch digital bzw. in Telefonkonferenz diskutiert wird, also Transparenz zu schaffen und gemeinsam zu Ergebnissen zu kommen. Wünsche, Entscheidungen, Anregungen jenseits von Gremien müssen dafür

sinnvoll aufgenommen werden und ihren Weg in formalisierte Prozesse finden. Denn nichts ist frustrierender, als sich in einen Prozess einzubringen und dann zu merken, dass die eigene Idee keine Rolle spielt. Dass am Ende eines Prozesses immer Mehrheitsentscheidungen stehen, die wir dann kollektiv vertreten, bleibt unbenommen. Diese Herausforderungen müs sen wir gemeinsam in den kommenden Monaten bewältigen. Wer zu diesem Thema mitarbeiten und Ideen einbringen will, den möchte ich ganz herzlich bitten, sich bei mir zu melden. Wir müssen uns als Partei weiterentwickeln – nicht neu erfinden. Auch in Sachen Mitbestimmung. Antje Feiks, Landesgeschäftsführerin kontakt@dielinke-sachsen.de


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Europa neu ausrichten! britain“ sicherlich erneut diskutiert. Die erste Ministerin Nicola Sturgeon aus Schottland hat bereits direkt nach dem Ergebnis angedeutet, dass sie Verantwortung für die Menschen in Schottland übernehmen möchte und die rein schottische Abstimmung über die Europäische Union ernst nimmt. So gab es in Schottland nicht einen einzigen Wahlbezirk, der sich für den Brexit ausgesprochen hat. Landesweit betrachtet stimmten 62 Prozent der Schott*innen für Europa. So ist es nicht verwunderlich, dass bereits am Tag danach die Möglichkeit eines zweiten Versuchs der Unabhängigkeitserklärung ins Spiel gebracht wur-

irland den Weg Großbritanniens mitgehen. Doch auch hier haben sich, bereits vor dem Referendum, erste Scheidewege angedeutet. So hatte Martin McGuiness, erster Minister von Nordirland, angekündigt, bei einem „leave“ dann auch das „leave“ Nordirlands aus Großbritannien zur Diskussion zu stellen – mit dem möglichen Ausgang, sich mit der Republik Irland zusammenzuschließen. Somit könnte der Brexit auch dafür sorgen, dass eine fast einhundert jährige Spaltung Irlands demnächst beendet wird. Der politische Zerfall Großbritanniens könnte also durch den Brexit eingeläutet sein.

dum und Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen Rechtspopulist*innen, stößt ins selbe Horn für sein Land. Europaweit werden die Rufe der politischen Rechten nach einem Zerfall Europas immer lauter, und auch in Deutschland werden wir im nächsten Jahr zur Bundestagswahl sicherlich von der AfD die Forderung nach einer Abstimmung in Deutschland über den Verbleib in der EU hören. Sicherlich wird es zu weiteren Referenden in der Union nicht zeitnah kommen, wahrscheinlich wird zunächst die Beobachtung der Folgen eines Austritts sein. Doch ein Referendum EU zur Union ist an und für sich nicht

dem Referendum die häufigste Suchanfrage mit den Folgen des Brexits zu tun hatte. Daher empfiehlt es sich, Erfahrungen außerhalb der Union zu holen – in der Schweiz. Natürlich können und müssen viele Entscheidungen der Schweizer*innen inhaltlich kritisiert werden, jedoch wird durch die Regelmäßigkeit der öffentlichen politischen Auseinandersetzung letztlich zur Sache und nicht aus Protest abgestimmt. Diese Form der Referenden täte auch den Mitgliedstaaten sowie der Europäischen Union als supranationalem Verbund gut und würde die Demokratie in ganz Europa stärken. Für die Europäische Union gilt

Ein weiteres politisches Zerwürfnis ist nach dem beschlossenen Austritt Großbritanniens ebenso denkbar: der Zerfall der Europäischen Union. Rechte und rechtspopulistische Akteur*innen haben sich bereits kurz nach der Bekanntgabe des Ergebnisses dafür ausgesprochen, dass es noch weitere Referenden nach dem Vorbild Großbritanniens in den weiteren Mitgliedstaaten der Union geben soll. Diese Möglichkeit – ich würde nicht von einer Gefahr sprechen, dazu im Folgenden –, besteht sehr wohl. So fordert beispielsweise in Frankreich der Front National eine Abstimmung über ein Frexit, Norbert Hofer von der FPÖ fordert auch für Österreich ein Referen-

ablehnens-, sondern begrüßenswert. Die Auseinandersetzung der Bevölkerung mit dem Staatenverbund wurde zu lange gescheut und nicht vorangetrieben. Umfassende Aufklärungskampagnen statt Werbekampagnen müssen dabei im Vordergrund stehen. Dies gilt zum einen über die Europäische Union als Ganzes und zum weiteren über die jeweilige Frage eines Referendums. Schließlich konnte in Großbritannien die Leave-Fraktion gerade durch Angstmacherei, falsche Behauptungen und blanken Populismus eine Mehrheit für sich gewinnen. Nicht zuletzt wird dies auch dadurch deutlich, dass im Onlinesuchdienst Google am Tag nach

es nun, sich vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ich bin nicht der Auffassung, dass das Projekt der Europäischen Union hier endet. Stattdessen muss die Ausrichtung der Europäischen Union als Wirtschaftsund Fiskalunion kritisiert werden. Damit einhergehend sind die Lissabon-Verträge grundsätzlich in Frage zu stellen. Eine Neuausrichtung in Europa kann nur in Gänze erfolgreich sein. Europa als Projekt ohne die EU Bürger*innen und ohne soziale Ausrichtung ist gescheitert. Wir müssen den Kampf um die Union von links annehmen und für eine neue soziale Idee, für Weltoffenheit und für ein demokratisches Europa einstehen. Anja Klotzbücher

diamond geezer / flickr.com / CC BY-NC-ND 2.0

Großbritannien hat sich am 23. Juni entschieden. 52 Prozent der abgegebenen Stimmen im Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union fielen negativ aus. Somit schreibt das Vereinigte Königreich Geschichte und wird als erstes Land über den Artikel 50 des Vertrages der Europäische Union (EUV) aus der EU austreten. Nach dem Referendum zeigen sich die verantwortlichen Brit*innen, allen voran David Cameron, jedoch nicht gewillt, zügig auf die Europäische Union zuzugehen. Dabei liegt nach dem zweiten Absatz des Artikels 50 EUV die Anzeigepflicht der Austrittsabsicht gegenüber dem Europäischen Rat beim Mitgliedstaat. Doch bereits an diesem Punkt fangen die politischen Bewertungen des Referendums an, auseinanderzulaufen. Denn auch wenn ein Referendum nach britischem Recht keine Bindungswirkung für die Regierung hat, war bereits vor der Wahl wie auch bis heute klar: London hält sich an das Ergebnis. An diesem Punkt könnte also der Tag des Referendums als Tag der Absichtserklärung gewertet werden. Jedoch wäre dies, gerade durch die Reichweite des Brexit, sehr riskant. Stattdessen gilt es von Seiten der Europäischen Union und aller verbleibenden 27 Mitgliedstaaten Druck auf Cameron und sein Kabinett auszuüben um die Hinhaltetaktik über die nächsten vier Monate zu beenden. Schließlich waren es die von Cameron gerufenen Geister, die ihm nun das Ende seiner Regierungszeit und das Ende Großbritanniens in der Europäischen Union beschert haben. Derweil ist auch im EUV geregelt, dass die Union in einer Zeit von zwei Jahren nach der Anzeige des Austritts mit dem ausscheidenden Mitgliedstaat ein Abkommen über die künftigen Beziehungen auszuhandeln hat. Diese Zeit sollte mehr als ausreichen, und ein Hinauszögern Großbritanniens ist völlig fehl am Platz. Immerhin wird in Großbritannien noch so lange europäisches Recht angewandt, bis entweder das Abkommen unterzeichnet ist oder die zwei Jahre vergangen sind. Doch genau in dieser Zeit kann sich sicherlich auch im Vereinigten Königreich die politische Landschaft stark verändern. Neben dem weiteren Aufstieg von rechtspopulistischen Parolen, der UKIP (Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs) und einer in den ersten Tagen nach dem Referendum steigenden Gewalt von rechts, wird auch die Frage „great britain or little

de. Zwar scheiterte erst 2014 der erste Versuch der Unabhängigkeit, jedoch gab es vor zwei Jahren als starkes Argument für den Verbleib im Vereinigten Königreich den Verbleib in der Europäischen Union. Gerade dieses Argument könnte also einen Wendepunkt darstellen und die europafreundlichen Schott*innen zu dem Austritt aus Großbritannien bewegen, wenn ein freies Schottland dann wieder Mitglied der EU sein könnte. Als zweites Problemland des Vereinigten Königreichs stellt sich das ebenso proeuropäische Nordirland heraus. 55,8 Prozent der abgegeben Stimmen entfielen dort auf den Verbleib in der Europäischen Union, jedoch muss auch Nord-


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Erfolgreich unter dem Radar Fast unbemerkt sind soziale Medien ein wichtiges Standbein unserer Kommunikation geworden Ich bin ehrlich: Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Vielleicht von vorne. Mein Name ist Thomas Dudzak. Ich bin der Mitarbeiter für Strategieentwicklung, -beratung und Öffentliches Wirken in der Landesgeschäftsstelle. Für manche einfach der Pressesprecher. Und irgendwie ist das alles Teil meiner Aufgaben. Was genau? Dieses Internet. Die sozialen Netzwerke. Facebook, Twitter, Instagram und Co., das ganze Zeug, wo sich die Hälfte der Partei an den Kopf fasst, weil sie nur Bahnhof versteht, der anderen Hälfte aber ein wohliges Grinsen über das Gesicht huscht. Ja, wir sind da verdammt aktiv. Und ja, wir sind da erfolgreich. Um nicht zu sagen – ohne übermäßiges Eigenlob – verdammt erfolgreich. Die meisten kriegen das nicht mit. Aber mit unserer Onlinearbeit halten wir uns in allen Leistungsvergleichen fest unter den Top 10 aller deutschsprachigen Landesparteien. Die CSU hält sich vor uns, ein paar Landesverbände von Parteien aus Nordrhein-Westphalen und drei größere AfD-Ableger. Die CDU Sachsen hat aktuell Platz 136. Ich gebe zu: Ich bin ein klassischer Vertreter der Generation Online. Ich bin seit 1998 im

Netz. Bei mir wählte sich das Modem noch mit lautem Knarzen ein, bevor man in unfassbar langsamer Geschwindigkeit im Netz bewegen konnte. Das Telefon war in der Zeit tot, die Telefonrechnungen enorm, was manchmal lange Debatten mit den Eltern mit sich brachte. Das alles ist nicht selbstverständlich. Ich stamme aus einer Familie, die Arbeitslosigkeit und Existenzangst nicht nur einmal erlebt hat. Irgendwie ging es trotzdem. Und so führte ich politische Debatten im Netz, als die meisten noch gar kein Internet hatten. Ich kenne Diskursstrategien im Onlineraum schon lange. Ich habe sie üben können. Ich habe gelernt, worauf es ankommt. Warum erzähle ich das? Tilman Loos brachte es in seinem Beitrag zur Strategiedebatte „Mehr Antipathie wagen“ auf den Punkt: „Wir reden freudig darüber, wenn an einem Infostand 50 oder 100 Leute stehen geblieben sind, aber bekommen es nicht mit, wenn wir mit einem Facebookbeitrag die 100.000er-Reichweite geknackt haben“. Nein, ich will nicht den Infostand kleinreden. Im Gegenteil. Mein Anliegen ist es, gleichzeitig für unser Engagement im Netz zu werben. Zur Einordnung: 492.900 Euro hat uns die Kampagne zur letzten Landtagswahl gekostet. Nicht

mal ein Prozent davon haben wir für die Schaltung von Werbeanzeigen in sozialen Netzwerken ausgegeben. Trotzdem haben wir damit rund 3,5 Millionen Kontakte mit 1,5 Millionen individuellen NutzerInnen erreicht. Zum Preis von vier Großflächen haben wir es geschafft,

ge die Menschen im Netz vor Wahlen. Und ich mobilisiere sie in Wahlkämpfen. Ich persönlich glaube: Genau so funktioniert das auch im realen Leben. Und ja: Das ist Arbeit. Ich sitze morgens am Rechner und überlege mir, was wir heute präsentieren, welche Botschaft wir

ein Drittel der sächsischen Bevölkerung mit unseren Inhalten zu konfrontieren. Keine vier Großflächen dieser Welt könnten das leisten. Wir haben nach dem Landtagswahlkampf nicht aufgehört. Wahlen werden in der Zwischenwahlzeit entschieden, nicht in Wahlkämpfen. Und das gilt besonders im Netz. Ich kann nicht erst sechs Wochen vor der Wahl damit anfangen, online aktiv zu sein und mir eine Nutzer-Innenschaft aufzubauen. Ich überzeu-

senden. Ich muss abwägen, was wir machen. Mir einen starken Slogan ausdenken. Einen Antext zusammenreimen. Und bis spätestens um neun fertig sein. Denn wir müssen präsent sein, wenn die Leute online sind: Auf dem Weg zur Arbeit. In der Mittagspause. Abends vor dem Fernseher oder wenn sie ins Bett gehen. Nachts. Wir können dabei nicht alles machen. Soziale Themen zum Beispiel funktionieren nur selten. Absurd für Anhänger einer sozialisti-

schen Partei, aber das läuft einfach nicht, außer uns gelingt eine besonders gute Zuspitzung. Man kann nicht in Gremien beschließen, was morgen oder in einer Woche auf Twitter oder Facebook steht. Wir können eben nicht nur verkünden, was uns gerade wichtig ist. Wir müssen tagesaktuell sein. Wir müssen an die Lebenswirklichkeit der Menschen andocken. Dann funktionieren Beiträge. Ein Beitrag ist ein kleiner Flyer. Den produzieren wir jeden Tag. Unter extremem Zeitdruck. Zusammen mit den Kommentaren und Reaktionen kommen viele Seiten Text zusammen. Wir führen Dialog mit den Menschen. Unmittelbar, wie kein anderes Medium es uns bieten könnte. Das birgt Gefahren, aber auch riesige Chancen: Ein Beitrag erreicht über die Plattformen hinweg normalerweise etwa 20.000 Menschen. Ein besonders Guter aber eben auch mal 500.000. Gratis. Es ist die unmittelbarste Form der Politikvermittlung. Es ist anspruchsvoll, zermürbend, ungefiltert. Und manchmal tut es auch weh. Aber es macht Spaß. Ein mir zugeschriebenes Zitat lautet: „Wer heutzutage Onlinekampagne nicht verstanden hat, der hat Kampagne insgesamt nicht verstanden“. Das habe ich nie gesagt. Schade eigentlich. Es ist was dran. Thomas Dudzak

Aleksa 2030 – brauchen wir sowas? Der 12. Landesparteitag beauftragte die Landtagsfraktion, ein Landesentwicklungskonzept unter Einbeziehung der Partei zu erarbeiten. Ein derzeit nicht gerade unumstrittenes Projekt. Brauchen wir ein Landesentwicklungskonzept? Ist sowas noch zeitgemäß? Oft gestellte Fragen. Ich behaupte: Ja. Denn wer, wenn nicht wir, versucht in den Regionen die Problemlagen festzustellen und landespolitisch wie regionalspezifisch Lösungsansätze zu erarbeiten? Mehr noch brauchen wir ein Fundament für ein Wahlprogramm 2019, wenn wir nicht wieder die üblichen fünf oder sechs Schwerpunktthemen definieren und dann dort – spannend, spannend – alles, was uns einfällt, subsumieren wollen. Die Frage ist doch: Wo macht sich in den einzelnen Regionen fest, dass über 25 Jahre abgewirtschaftet wurde? Macht sich das an den gleichen Problemen in ganz Sachsen fest oder muss man für sinnvolle Lösungsansätze mehr in die Regionen gehen? Muss man diese vielleicht sogar neu definieren?

Genau darum geht es: Genau zu schauen, wo die Tücke im Detail liegt. Sind es die Schulwege? Ist es die Gesundheitsversorgung? Was passiert mit Landstrichen, die vom öffentlichen Nahverkehr abgehängt wurden? Wie weit sind die Wege zu Behörden und Politik? Gibt es funktionierende regionale Wirtschaftskreisläufe und Kulturräume? Muss man als Kulturschaffende in eine der größeren Städte ziehen? Was passiert in den nächsten Jahren, wenn das Rentenniveau weiter sinkt, die Bevölkerung im ländlichen Raum älter wird? Was bedeutet attraktives Leben im ländlichen Raum? Warum entwickeln sich Sachsens Großstädte unterschiedlich? Wir müssen wieder dahin zurückkehren, dass unsere großen Linien wichtig sind, wir aber nur glaubwürdig bleiben, wenn wir auch für die Details ein Auge haben und Zusammenhänge herstellen. Denn nur Haltung und konkretes Tun machen uns zu einer ernstzunehmenden Partnerin, einer wählbaren Alternative im Land. Nun ist so ein Prozess nicht von

jetzt auf gleich im Gange, sondern bedarf der Vorarbeit. Diese ist nun abgeschlossen, die Partei nun in Gänze mit all ihrem Wissen gefragt. Die Landtagsfraktion hat bereits im letzten Jahr eine Steuerungsgruppe eingesetzt, die den Prozess im Blick hat. Um die Fehler aus dem Aleksa-Prozess 2003/04 nicht zu wiederholen, hat Jana Pinka, als Arbeitsgruppenleiterin unterstützt vom parlamentarisch-wissenschaftlichen Berater der Landtagsfraktion, Frank Kutzner, die Beteiligten des Aleksa-Prozesses 2003/04 zu ihren Erfahrungen befragt. Diese Auswertung liegt vor. Und wir fangen jetzt an, konkreter zu werden. Die Abgeordneten sind seit einigen Wochen und bis in den Herbst unterwegs auf ihrer „Tour der Regionen“. Dabei werden nicht einfach Termine und Infostände abgehalten, sondern Menschen zu vier Schwerpunkten befragt: Gesundheit, regionale Wirtschaft, ÖPNV/Infrastruktur und Sicherheit. Bislang sind über 50 Rückmeldungen eingegangen. Das macht deutlich: Wenn wir die Menschen ernst

nehmen und einbinden, bekommen wir auch Feedback. In einem nächsten Schritt müssen diese Rückmeldungen verarbeitet werden. Wir als Partei müssen jetzt ebenfalls loslegen. Die Steuerungsgruppe hat sich vorgenommen, in jedem Altkreis mindestens eine Abendveranstaltung durchzuführen, in der wir sehr konkret über die Probleme und vielleicht bereits vorhandene Lösungsmöglichkeiten sprechen wollen. Ich gehe davon aus, dass gerade unsere Kreis- und Gemeinderäte viel beisteuern können, sich in den letzten Jahren bereits Gedanken gemacht haben. Diese einzusammeln, aber auch zu schauen, wie man die Aufgaben gewichten kann, ist der Inhalt dieser Veranstaltung. Wir werden also nicht vor Ort kommen und ein Frontalreferat halten, sondern fragen und zuhören. Im Herbst ist eine Arbeitskonferenz als gemeinsamer Einstieg geplant, bei der wir uns in Arbeitsgruppen den verschiedenen Themenfeldern nähern und in die Tiefe gehen wollen. Noch 2016 wollen wir Eckpunkte für

ein Aleksa 2030 vorlegen, die nach den Bundestagswahlen wiederum zur Debatte stehen. Die Landtagsfraktion bezieht in allen Phasen Externe ein und wir als Partei haben die Aufgabe zu schauen, ob die Richtung stimmt. In einer Frage bin ich relativ sicher. Es wird oft verlangt, dass wir uns als Partei wieder mehr den Alltagsproblemen widmen müssen. Genau die werden uns in diesem Prozess über den Weg laufen. Ich möchte Euch herzlich einladen, mitzumachen. Antje Feiks, Landesgeschäftsführerin Die Mitglieder der Steuerungsgruppe: Rico Gebhardt (Fraktionsvorsitzender); Dr. Jana Pinka (stellv. Fraktionsvorsitzende); Enrico Stange, Sprecher für Landesentwicklung; Antje Feiks und Stefan Hartmann, externe Mitglieder; AG-Sekretärin: Marika Tändler-Walenta


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Der Sprengstoff der schwarzen Affekte Die anderthalbjährige Geschichte von 15 Jour-fixe-Foren ist nicht nur ihres unkonventionellen kommunikations- und erkenntnisfreundlichen Diskurses wegen eine Erfolgsstory. Sie ist auch eine Geschichte beglückender Erfahrungen beim „Erklettern steiler wissenschaftlicher Pfade“. Ihr 16. Kapitel dürfte vorerst als Gipfelpunkt geistiger Herausforderung in Erinnerung bleiben. Auf der Agenda stand, von Manfred Neuhaus eingangs als „großer Wurf“ gewürdigt, das „Opus magnum“ des ausgewiesenen Leipziger Philosophen Volker Caysa: „Empraktische Vernunft“. Mit der Kommentierung seines gedankenreichen, unorthodoxen Werkes nahm der Autor das bemühte Auditorium jedoch rasch mit auf den argen Weg der Erkenntnis, seine innovative Praxis- und Begriffsdialektik im Marxschen Sinne als Denkanstöße und Handlungsanleitung für heutige linke Politik zu verstehen. Ganz in diesem Sinne näherte Caysas Philosophenkollege Peter Fischer die wiederum stattliche Jour-fixe-Gemeinde dem Thema an, indem er dem Amt des Moderators das des Rezensenten vorlagerte. Einschlägige eigene Forschung (über empraktische Kommunikation) und gekonnte Transformation der tiefgründig-speziellen philosophiehistorischen und -logischen Überlegungen Caysas auf die populärwissenschaftliche Ebene erschlossen auch dem Unkundigen Inhalt und Zweck des im Frühjahr erschienenen dickleibigen Buches. Fischer bereitete die darin entwickelten Thesen Caysas zur Philosophie der Praxis pointiert auf: emprakti-

sche Vernunft als Weiterdenken traditioneller Auffassungen, weg von einem einseitig gefassten Praxisbegriff als wesentlich rationales, verstandgesteuertes, überreflektiertes SubjektObjekt-Verhältnis. Hin zu Anerkenntnis und Einbeziehen vorbegrifflicher, nonverbaler, seelisch-leiblicher Ausdrucksformen in Denk- und Hand-

vor allem mit Ernst Bloch. Wie jener, nur konsequenter, wolle er „die Stimmungs- und Leibvergessenheit einer abstraktrationalistischen Praxisphilosophie“ aufheben. Dies gehe einher mit seiner Kritik gegen eine ökonomistische Verkürzung der Marxschen Praxisphilosophie, die in ihrem Ursprung eindeutig stimmungsontolo-

dern sie basieren auf vorgängigen, oft untergründig wirkenden Stimmungen ... Es geht um die politische Dimension von Stimmungen: Sie regeln das Gemeinschaftsleben grundlegend ... Souverän ist heute, wer über den Thymos, also die Stimmungslage, einer Kultur verfügt. Daran wird sich der Kampf der Kulturen entscheiden“. Sei-

gisch angelegt, aber von Marx selbst nicht mehr, sondern erst von Ernst Bloch (Hoffnung als Aufhebung der Entfremdung) und Erich Fromm (Sinn des Habens) weitergeführt sei. Vor ihnen habe bereits Max Weber erkannt, dass Gesellschaft nicht über rein ökonomistische Regulationsmechnismen funktioniert, sondern wesentlich auch über anscheinend „irrationale“ Momente wie Gefühle. Volker Caysa folgert daraus: „Meines Erachtens muss die Kritik der politischen Ökonomie durch die Kritik der politischen Emotionen ergänzt werden. Daher ist meine Ausgangsthese: Kulturen regeln sich nicht allein ökonomisch-funktional, son-

ne Analyse heutiger Politik der Linken mündet in der kritischen Konklusion, die Linke müsse Hegemon über die moderne Kultur werden. „Sie muss wieder die Herrschaft über den Thymos der Gesellschaft erlangen“. Aktuell seien thymotische Defizite linken Denkens nicht zu übersehen. Linke Philosophen der Gegenwart verstünden nicht, die „thymotischen Energien der Masse zu rationalisieren und alternativ zum philosophischen Konservatismus zu zentrieren“. Ein Fehler, wie ihn ein einseitig rationalistischer Aufklärungsmarxismus schon in den 20er und 30er Jahren beging. „Man nimmt die Stimmungen aus ... dem Untergrund, der schwei-

Martin Abegglen / flickr.com / CC BY-SA 2.0

Volker Caysas Philosophie der empraktischen Vernunft begründet Zweck und Mittel, thymotische Defizite linken Denkens und Handelns zu überwinden

lungsstrukturen, die auch ohne Reflexion funktionieren. Empraktische Vernunft als Seinsform primärer Praxis, als immanentes Merkmal aller anderen (höheren) Praxis- und Bewusstseinsformen. Volker Caysa vertiefte auf dieser Grundlage seine zentrale Idee von der praktischen Gestaltungskraft der Affekte, Stimmungen, Emotionen. Der Meisterschüler des legendären Leipziger Philosophen und Mitbegründers der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Helmut Seidel erklärte, er radikalisiere dessen Auffassung, die marxistische Praxisphilosophie müsse durch eine spinozistische Affektenlehre ergänzt werden,

Erste „FrauenOrte Sachsen“ stehen fest Sicher hat mancher sie schon bei Radwanderungen oder Spaziergängen in Brandenburg gesehen, die Tafeln mit der orangen Blume, die auf „FrauenOrte“ hinweisen. Nun wird, nach langem Ringen um die Finanzierung, dieses Projekt auch in Sachsen umgesetzt. Der Landesfrauenrat griff die Idee aus Brandenburg und Niedersachsen auf und will auch hier auf engagierte Frauen der Geschichte aufmerksam machen. Das Projekt „FrauenOrte Sachsen“ soll die sächsische Frauengeschichte ins öffentliche Bewusstsein rücken und das Leben und Wirken von bedeutenden Frauen, die auf politischem, sozialem, wirtschaft-

lichem, wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet besondere Leistungen vollbracht haben, würdigen. Ziel ist es, starke Frauen der Vergangenheit sichtbar und damit der Gegenwart zugänglich zu machen. Stelen oder Tafeln werden an den Wirkungsorten dieser Frauen auf ihr Tun hinweisen. Die „FrauenOrte Sachsen“ sollen auch neue Wege im Kulturtourismus eröffnen und werden durch den Landesfrauenrat mehrere Jahre begleitet. Damit werden nun auch landesweit Stadt- und Regionalgeschichte aus dem Blick von historischen Frauenpersönlichkeiten betrachtet. Anfang 2016 startete der Vorstand des Landesfrau-

enrates den Aufruf, FrauenOrte vorzuschlagen, und die Resonanz war enorm. Die Auswahl der ersten drei FrauenOrte erfolgte durch einen Fachbeirat, der aus Vertreterinnen verschiedener Institutionen (Landesfrauenrat Sachsen e.V., Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. Leipzig, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der TU Dresden und Frauenstadtarchiv Dresden) besteht. Aufgrund der Vielzahl der Vorschläge, insgesamt mehr als 40, beschloss der Beirat, in diesem Jahr gleich drei FrauenOrte zu kennzeichnen. Die Entscheidung fiel auf die Dresdner Frauenrechtlerin Marie Stritt, die Zwickauer Professorin Dr. Ger-

trud Schubart-Fikentscher und die Chemnitzer Streikführerin Ernestine Minna Simon. Marie Stritt wurde 1855 geboren und lebte fast 40 Jahre lang in Dresden. Als Beteiligte an der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ (ADF), einer Dresdner Ortsgruppe und Gründerin des „Rechtsschutzvereins für Frauen“ leistete sie einen wegweisenden Beitrag zur politischen und gesellschaftlichen Emanzipation und zur Gleichstellung der Frau. Dr. Gertrud SchubartFikentscher wurde 1896 in Zwickau geboren und verlor nie die Bindung zu ihrer Heimatstadt. Sie war die erste Professorin der Rechtswissenschaften mit

genden Mehrheit, dem Rand der Gesellschaft nicht wahr, will sie nicht wahrhaben und glaubt, sie allein mit Verstand in den Griff zu bekommen. Das kann nicht funktionieren, weil ein Affekt nur durch einen stärkeren Affekt beherrscht werden kann“. Man müsse daher die Logik der Stimmungen, vor allem auch den „Sprengstoff der schwarzen Affekte“ wie Eifersucht, Neid und Hass der Massen analysieren, wenn diese erreicht, verstanden werden und regierbar bleiben sollen. Nötig sei also eine entwickelte Affekttheorie, denn die formale Logik des Verstandes basiere wesentlich auf der Logik von Stimmungen. „Und dieses behaupte ich auch für die Logik der Praxis ...“ Dass empraktische Vernunft jenes Handeln steuert, das schon anwesend ist, ohne dass der Mensch es reflektiert habe oder es reflektieren müsse. Was bereits des Dichters Goethe empirische Weisheit ahnte – „Geduld, Hoffnung, Glaube, Liebe, alle diese Tugenden sind die Vernunft actu, in Ausübung, sie sind die ausgeübte Vernunft“ – hat der Philosoph Caysa nun hinreichend theoretisch begründet. Die Diskussion konzentrierte sich auf Caysas Kritik, die Linke suche ihre Programmatik einseitig auf der kognitiven Ebene, über die Ratio, zu vermitteln. Indem sie zugleich Erkundung und Berücksichtigung der Gefühle, der Stimmungen, der Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen vernachlässige, insbesondere auch ihrer „schwarzen Affekte“, treibe sie auch bisherige Parteigänger und Sympathisanten neoliberalen, rechtskonservativen Alternativen zu. Einig war sich die Runde in der Erkenntnis, linke Thematisierung von Stimmungen dürfe nicht als Populismus denunziert werden. Wulf Skaun

eigenem Lehrstuhl in Deutschland. Ernestine Minna Simon war Textilarbeiterin in der Aktienspinnerei in Chemnitz. Geboren 1845, gilt sie als erste Frau, die in Deutschland einen Streik anführte. Die feierlichen Veranstaltungen finden am 27. September in Dresden und am 25. Oktober in Chemnitz satt. Der Termin der Einweihung des FrauenOrtes in Zwickau steht noch nicht fest. Die Benennung weiterer FrauenOrte erfolgt im nächsten Jahr. Vorschläge dafür können dem Landesfrauenrat jederzeit unterbreitet werden. Heiderose Gläß, Vorstandsmitglied des Landesfrauenrates Sachsen e.V.


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Für vier Tage im Bundestag Als ich am 4. Juni den Besuchereingang des Paul-Löbe-Haus betrete, bin ich noch Carlo aus Borna, 19 Jahre jung, politisch interessiert, aber in keiner Jugendorganisation einer Partei aktiv, dafür aber sehr wohl im örtlichen Kinder- und Jugendparlament. Der LINKEN-Abgeordnete meines Wahlkreises, Axel Troost, hat mich entsendet, damit ich für vier Tage im Rahmen des Planspiels „Jugend und Parlament“ den Weg der Gesetzgebung am eigenen Leib erfahren darf. Nach dem Sicherheitscheck und dem mehrmaligen Schlangestehen für die Anmeldung hat sich meine Identität geändert. Innerhalb des Planspiels, organisiert und begleitet vom Besucherdienst des Bundestages, bin ich Friedrich Wyhra-Bürger, 65-jähriger Gewerkschafter aus Essen, der für die „Partei der Sozialen Gerechtigkeit“, die PSG, seit 2009 im Bundestag sitzt. Wenigstens musste ich meine politische Grundhaltung nicht vollkommen umstellen, so wie es den FraktionskollegInnen geht, die im Real Life JUlerInnen sind. Ich hatte also Glück, dass ich zur Linken im Szenario zugelost wurde und nicht etwa zur Christlichen Volkspartei (CVP). Umso größer ist die Schadenfreude darüber, junge konservative NachwuchspolitikerInnen im Fraktionssaal sitzen zu sehen, die das erste Mal in ihrem Leben die Vorstellung überwinden müssen, dass die Linke kategorisch „gegen alles“ sei und keine Alternativkonzepte vorzuweisen hätte. Aber überraschenderweise nehmen alle ihre neue Rolle ziemlich ernst und finden sich schnell damit ab, „nur“ Oppositionsführerin im Bundestag zu sein. Alle beginnen damit, sich fachlich wie strategisch in ihren Arbeitsgruppen und -kreisen auf

die Ausschusssitzungen vorzubereiten. Eines wird schnell deutlich: Zeit ist für Abgeordnete/r viel zu knapp und wahres Luxusgut. Tausende Zettel mit Hintergrundinformationen aus Wissenschaft und Parteidenke müssen im viel zu kleinen Gehirn verknüpft werden, eigene Vorschläge müssen innerhalb der Fraktion gerechtfertigt und ständige parlamentarische und fraktionsinterne Niederlagen verkraftet werden. Apropos Niederlagen: Fraktionsvorsitzender bin ich nicht geworden, trotz oder gerade wegen meiner

te sich noch zeigen, dass Vorsitzende in der Praxis zum Wohle der Fraktion mehr intern moderieren als nach außen polarisieren sollten. Als Abgeordneter im fiktiven, aber im Spiel federführenden Verfassungsausschuss versuche ich vergeblich, die GroKo davon abzuhalten, Deutsch als Landessprache im Grundgesetz zu verankern. Über Kompromisse unsererseits, die Gebärdensprache oder die Minderheitensprachen ebenso wie Deutsch in der Verfassung unter Schutz und Förderung zu stellen, wird gar nicht erst verhandelt. Es ist

endlich ihre Hausaufgabe machen und in Sprachkurse und DeutschlehrerInnen investieren sollte. Am Ende nützen dann aber all die guten Reden nichts, wenn mit den Stimmen der CVP, der Arbeitnehmer Partei und teilweise auch der ÖkologischSozialen Partei die Verfassung geändert wird, um rechte WählerInnen-Sympathien zu gewinnen – direktdemokratische Elemente werden nicht den Parlamentarismus ergänzen, dafür die Bundeswehr in den fiktiven afrikanischen Staat „Sahelien“ zu einer „Schutzmission“ fahren

Bewerbungsrede, in der ich ausgeführt habe, als West-Linker keine SED-Vergangenheit wie einige meiner Mitbewerber zu besitzen, mich vom Unrechtsstaat DDR zu distanzieren und eine regierungsfähige Linke, die in kleinen Schritten Kompromisse in Richtung Rot-Rot-Grün schließen soll, zu fordern. Letztendlich war ich dann aber doch froh, nicht in dieses Amt gewählt geworden zu sein. Es soll-

deprimierend, in der Opposition immer nur von der Willkür und Arroganz der Mehrheit abhängig zu sein und jeden noch so großen Frust immer hinunter zu schlucken. Erst die finale Debatte bietet uns eine Bühne, wenigstens der Öffentlichkeit vom Rednerpult oder in Form von Zwischenrufen zuzuschreien, welche Symbolpolitik die GroKo da betreibt, und dass sie stattdessen

und der Tierschutz zwar partiell verbessert, aber Massentierhaltung im Konzept nicht groß angetastet. Dafür hat man 315 Jugendlichen sehr viel Vertrauen entgegengebracht. Immerhin konnten wir uns vollkommen frei im ganzen Bundestag bewegen und durften wie die „Großen“ im Plenarsaal sitzen – ein Privileg, um das uns einige echte wissenschaftliche MitarbeiterInnen der Abge-

ordneten nur beneiden können. Was bringen also kurze aber arbeitsintensive vier Tage im Parlament auf der Oppositionsbank? Eine Frage, die sich auch einige Abgeordnete immer wieder einmal nach vier Jahren und in den Landesparlamenten nach fünf Jahren stellen werden. Auch wenn die Ohnmacht der Opposition im Parlament demotivierend und drückend wirkt, gesamtgesellschaftlich haben wir Veränderungen bewirkt. Viele unserer Vorschläge und Schwerpunkte haben es (noch) nicht in die Gesetzestexte geschafft, aber dafür in die Reden und somit in die Argumentationen der KoalitionärInnen. Das, was wir heute noch nur erträumen und nicht umsetzen konnten, könnte schon ein paar Monate oder Jahre später – wie in der Realität –, gerade nach der Verschiebung von gesellschaftlichen Mehrheiten, ein Antrag der Regierung werden und somit ein Sieg für die gute Sache. Warum standen wir im Planspiel immer geschlossen für unsere Themen ein, gerade in den Abstimmungen? Es lag nicht nur daran, dass alle ihre Rollen so überzeugend angenommen haben, sondern auch daran, dass man als kleinere Fraktion zusammen wächst, sich – anders als bei den Großen – persönlich kennt, tiefgreifend, aber fair diskutiert und es schafft, auch ein Bild der Geschlossenheit nach außen zu vermitteln, obwohl es zuvor im Fraktionssaal gehörig gekracht hat. Daran erkennt man, dass „die Jungspunde“ nicht nur etwas vom Hohen Haus und von den anwesenden Politpromis wie Norbert Lammert und Dietmar Bartsch gelernt haben, sondern, dass die „Alten Hasen“ sich hin und wieder selbst von der Jugend etwas abschauen können und dürfen. Carlo Hohnstedter

Endlich Schluss mit dem Tanz ums goldene Kalb! Die LINKE wie auch die gesamte Linke sollte sich endlich auf ihre aufklärerischen Traditionen besinnen – gerade beim Thema Laizismus. Eine Polemik Man könnte meinen, man sei im falschen Film. Da schreiben Linke einen Antrag, der im wesentlichen nichts anderes tut als Positionen aus dem Erfurter Programm zu wiederholen, und vorzuschlagen, aus diesen Positionen eine deutlichere gesellschaftliche Positionierung abzuleiten. Doch anstatt die Gelegenheit zu nutzen und sich frohlockend in der Tradition der Marxschen Kritik zu sammeln, rumort es in der Partei. Viel wäre im Einzelnen dazu zu sagen. Am schockierendsten

bleibt aber die krasse Abkehr von den Ur-Motiven des historischen Materialismus: die Erkenntnis „die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“. Der ganze Kladderadatsch, den der olle Kalle mühsam in seiner Kritik der bürgerlichen Ökonomie am Abend seines Lebens ausarbeitete, ging einst aus von der These, dass der Mensch die Gesellschaft gut und gerecht einrichten könnte – wenn er denn erkennen würde, dass er allein sich seine Welt tätig produzierend stets selbst schafft. So wandte sich Marx‘ Kritik erst gegen die Religion (von der er 1843 leider etwas zu optimistisch schrieb, „Für Deutschland ist die Kritik der Religion

im wesentlichen beendigt“ Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1: 378-391.) wie gegen das Recht und den Staat, bevor er sich den Sphären der Ökonomie zuwandte. „Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in

die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (Ebenda) Ziel des ganzen Programms mit den Zuständen und dem Umwerfen ist, eine Welt zu etablieren, in der die Menschen ihr Potential als Gattungswesen überhaupt erst verwirklichen können. Eine Welt, in der die im Kern irrationalen Ungerechtigkeiten und eben Selbstentfremdungen dem unerschrockenen Selbstbewusstsein weichen, in dem Menschen all den Tand wie Staat, Wert und eben auch Gott als das begreifen, was sie sind: Projektionen ihrer Selbst. Fetische, aufgerichtet und in jedem Moment tätig wieder hergestellt als über den Menschen thronen-

de, dem Verstand entrückte böse Geister. Eine gesellschaftliche Linke täte gut daran, gerade in Zeiten, in denen allerorts der dumpfe Kulturalismus regiert, stolz und offensiv dieses Erbe zu verteidigen. Ziel bleibt es, auch all die Zustände umzuwerfen, in denen Individuen aufgrund ihres Unglaubens Opfer werden. Laizismus ist da nicht viel mehr als ein schaler, realpolitischer Kompromiss. Laizismus ist die sozialdemokratische Position in Bezug auf die Religion. Gegenstand von LINKEN in Tradition des historischen Materialismus sollte eigentlich die völlig selbstverständliche, aufklärerische Kritik der Religion sein. Steffen Juhran


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Spanischer Bürgerkrieg und Salazars Hilfe für Franco Politik im 19. Jahrhundert war auf der iberischen Halbinsel besonders konfliktreich, sowohl in Portugal als auch in Spanien, u. a. zwischen Liberalen und Absolutisten bei der Überwindung des „ancien regime“. In Spanien haben sich die verschiedenen Rivalen des bourbonischen Hauses (Isabelinos und Carlistas) sowie Monarchisten und Republikaner hart und lange bekämpft. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verlor Spanien seine Kolonien in Amerika und die Philippinen. Die spanische Wirtschaft blühte indessen mit der Entwicklung von Mineralogie und Metallurgie am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Land lieferte seine Produkte an beide Seiten der Staaten, die den Ersten Weltkrieg führten, und machte zu dieser Kriegszeit gute Geschäfte. Die Früchte des wirtschaftlichen Reichtums kamen aber den Großgrundbesitzern, der Monarchie, der Kirche und der konservativen Armee zugute. Eine Arbeiterklasse, die schon ab 1840 in Barcelona allmählich wuchs, stark von anarchogewerkschaftlichen Anschauungen geprägt, wurde von diesem Reichtum nicht berührt. Die soziale Krise in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts unter der Diktatur von Primo de Rivera, einem der Gründer der „Falange“ (eine Art faschistischer Partei) dauerte an. Das Aufkommen des Faschismus in Europa, Feudalstrukturen auf dem Lande sowie regionale Autonomiebestrebungen in Katalonien und Baskenland, nicht zuletzt tiefe Widersprüche in den spanischen Mentalitäten bzw. der nationalistisch-katholische Mentalrahmen versus die laizistische, bürgerlich-liberale, eventuell antiklerikalische Weltanschauung bis hin zu sozialrevolutionären Strömungen, verschärften die sozialen Verhältnisse. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 traf auch die spanische Wirtschaft heftig. König Alfons XIII. sah sich gezwungen, im April 1931 Wahlen einzuberufen. Die Republikaner, zusammen vereint in einer Volksfront mit Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, galicischen, baskischen und katalanischen Nationalisten, gewannen die Wahlen in Großstädten gegen das „Movimiento Nacional“, d. h. gegen die Monarchisten, Falangisten und Karlisten, gegen die katholische Kirche, gegen Generäle und Armeestabsoffiziere (Franco, Mola, Keipo de Llano…), gegen die Großgrundbesitzer. Das war das Ende der Diktatur von Primo de Rivera. Die Zweite Republik wurde ausgeru-

fen und der König musste abdanken. Es folgten zwischen 1931 bis 1936 verschiedene Verschwörungen (u. a. die von Sanjurjo) gegen die zweite spanische Republik, aber ohne nennenswerten Erfolg. Neue Wahlen im Jahre 1936 gewann die Volksfront mit Manuel Azaña als Präsident und Largo Caballero als Premier-Minister. Eine soziale Revolution sowie

der dringenden Notwendigkeit zu überzeugen, den Aufstand Francos finanziell zu unterstützen. Salazar trieb die Propagandakampagne gegen die spanische Republik und kooperierte mit der spanischen Opposition in der Vorbereitung eines Putsches. Damit wollte er zweierlei erreichen: die Niederlage der Republik in Spanien und die Befestigung seiner eige-

co und seine „Movimiento“: leichte Waffen, Tonnen von Munition, Flugzeuge, die von Deutschland und Italien geliefert wurden, Waggons voller Weizen – in einer Zeit, als in Portugal viele Menschen verhungerten. Portugal war „die Nachhut einer rebellierenden Armee in Kampagne” (César de Oliveira). Deutschland, Italien und Portugal hatten dem

Internationale Brigaden: Das Thälmann-Bataillon in Spanien

eine Bodenreform waren die ersten Schritte. Ein neuer militärischer Coup fand am 17. Juli 1936 statt, die Republik konnte sich jedoch zur Wehr setzen. António de Oliveira Salazar, Ministerpräsident Portugals, konspirierte in seinem Land seit ihrer Ausrufung gegen die spanische Republik, obwohl er mit der Revolte von Madeira sehr beschäftigt war. Er unterstützte

Diktator Salazar

Gil-Robles und seine rechtsgerichtete Bewegung, obwohl er gleichzeitig formelle diplomatische Beziehungen mit der spanischen Republik pflegte. Gerade am 17. Juli 1936, dem Tag des nationalistischen Putschs, traf der portugiesische Diktator den portugiesischen Bankier Ricardo Espírito Santo, Präsident der BES-Banco Espírito Santo, um ihn von

nen Diktatur, zehn Jahre nach dem militärischen Coup am 28. Mai 1926 in Portugal. Salazar sprach mit Bankiers und mit großen portugiesischen Unternehmern, diese sollten den militärischen Widerstand der Nationalisten in Spanien mitfinanzieren. Denn ansonsten würden die wirtschaftlichen und sozialen Projekte der Regierung der Volksfront in Madrid früher oder später auch in Portugal stattfinden. Die Hilfe für die Aufständischen sei absolut notwendig, sagte Salazar dem Gründer der CUF (Companhia União Fabril) Alfredo da Silva, mit Interessen in Sektoren wie Bank, Versicherungen, Schiffsbau und Reparatur, Bauunternehmen und Zement, sowie Manuel Bulhosa, der mit Öl sehr reich wurde. Alfredo da Silva gewährte im August 1936 den Vertretern der nationalistischen Regierung in Burgos, Andrés Amado, Gil Robles und Gabriel Maura in Lissabon sofort einen Kredit von 175.000 Pfund Sterling. Auch die Bank Totta, die Caixa Geral de Depósitos, die Bank Comercial, das Haus Casa Viana e Fonseca, die Banco Nacional Ultramarino und die Banco Espírito Santo u.a. überwiesen Geld an die Regierung von Burgos, um sie am Leben zu erhalten. Salazar leistete logistische und materielle Unterstützung für Fran-

Nicht-Einmischungskommittee (London, September 1936) auch zugestimmt, aber das Prinzip der Nichteinmischung wurde von den deutschen Nazis, von den italienischen und den portugiesischen Faschisten nicht eingehalten. Die liberaldemokratischen Regierungen in Paris und London trugen, indem sie die Internationalisierung des Konfliktes vermeiden wollten, somit dazu bei, dass die spanischen Faschisten ständig begünstigt und die Republikaner sogar ihre Hilfen verlieren konnten. Deutschland sandte die Legion Condor, mit Instrukteuren, Piloten, Soldaten, 100 Flugzeugen, Panzerkampfwagen und Artillerie, Booten, Kriegsschiffen sowie U-Booten und im Jahre 1939 eine „Finanzhilfe“ in Höhe von 43.000.000 Pfund Sterling. Dafür erhielten deutsche Unternehmen (Siemens, IG Farben…) 135 Minenkonzessionen und Bergbaurechte. Die Elektron-Thermit Stabbrandbombe B1 wurde auf Guernica geworfen. Hans Eltze organisierte Kriegsmateriallieferungen sowie das Wolframgeschäft höchstpersönlich mit Salazar. Portugal wurde der erste Wolframexporteur der Welt und überhaupt in das Dritte Reich. Ein Sonderstab W unter Hermann Göring organisierte die Luftbrücken von Ma-

rokko nach Spanien, über die tausende Fremdlegionäre und Soldaten Francos sowie Tonnen Kriegsmaterial auf das spanische Festland transportiert wurden. Lissabon wurde ein wichtiger Hafen für den Empfang von Kriegsmaterial aus Deutschland und Italien für die spanischen Faschisten. In Portugal wurde auch Tetraethylblei verarbeitet und Flugzeugbenzin für die Frankisten hergestellt. Italien nahm auch teil, mit dem Korps von freiwilligen Truppen – Corpo Truppe Volontarie, CVT – unter General Mario Roatta: 80.000 Mann, 1000 Flugzeuge, 2000 Artilleriegeschütze, 1000 Gefechtswagen, Kreuzer, U-Boote, Zerstörer… Aus Galway fuhren unter der Führung von Eoin O’Duffy 700 Soldaten nach El Ferrol, um die Frankisten zu stärken, alles organisiert von einem gewissen deutschen Joseph Veltiens. Auch polnische sowie rumänische Faschisten der Eisernen Garde kämpften für Franco. Salazar schickte ein Korps vom etwa 10.000 „freiwilligen“ Soldaten, die sogenannten „Viriatos“, die in nationalistische Einheiten Francos integriert wurden. Die Sowjetunion stand grundsätzlich an der Seite der Spanischen Republik. Mexiko hat eine außerordentliche Solidarität zu den spanischen Flüchtlingen der besiegten Republik an den Tag gelegt. Weiterhin sind die „Brigadas internacionales“ zu erwähnen, die aus fortschrittlichen Menschen aus aller Welt, aus mindestens fünfzig Nationen, bestanden. Über sie sagte Dolores Ibarruri, sie seien „Leyenda” (Legende)! Ihre schlimmsten Feinde waren das Großkapital und seine ergebenen Diener: Hitler, Mussolini, Franco, Salazar… In Portugal selbst haben die Antifaschisten ihre Solidarität mit dem spanischen Volk und seiner Republik bekundet, indem sie Attentate gegen den Diktator Salazar verübten, im nationalistischen Konsulat in Lissabon mit einer Explosion Schäden verursachten, weitere Anschläge gegen Radio Club Português verübten, eigentlich ein Radio, das sogar auf Spanisch Propaganda für Franco ausstrahlte, sowie bei Vacuum/Mobil Anlagen in Alcântara, die Benzinlieferanten der faschistischen Truppen, angriffen. Zuletzt gab es auch Explosionen in Waffenfabriken in Chelas/Lissabon und in Barcarena. Die Völker der Welt werden einmal verstehen, was alles in Spanien passierte … L. Rosa Mit Dank an Delfim Cadenas für gute Zuarbeit


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Digitale Revolution und soziale Verhältnisse im 21. Jahrhundert Dritte oder vierte Industrieelle Revolution, digitale Revolution oder Industrie 4.0: All diese Kennzeichnungen der Umbrüche im System der produktiven Kräfte reflektieren, dass sich fundamentale Veränderungen in den Produktions- und Lebenswelten vollziehen. Was ist das Bestimmende an diesen Veränderungen? Was bedeuten sie für die sozialen Verhältnisse? Ist diese Umwälzung im Kapitalismus beherrschbar oder braucht es dafür eine neue Wirtschaftsordnung? Muss die Frage vielleicht anders gestellt werden: Welche Produktivkräfte braucht der sozial-ökologische Fortschritt? Diese Frage nach der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts war Gegenstand der auch für eine Publikation vorgesehenen Beiträge eines Kolloquiums, in dem etwa vierzig Teilnehmer*innen interessiert und sachkundig diskutiert haben. In seiner Einführung stellte der Autor dieses Berichts die Thematik des Kolloquiums in den Kontext der seit einigen Jahren erneut aufgebrochenen Diskussion über das Schicksal des Kapitalismus und gab einen Überblick über die dazu vertretenen Meinungen. Sie reichten von einem grenzenlosen Optimismus bis zu der Auffassung, die Welt erlebe gerade, wie sich mit der digitalen Revolution zugleich der Kollaps des Systems vollziehe. Als erster geladener Referent sprach Thomas Kuczynski (Wirtschaftshistoriker, Berlin) über die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Geschichte. Die auf Marx fußende wirtschaftshistorische Analyse zeige, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse vor der industriellen Revolution stets reversibel waren. Erst durch diese, mit der Produktion des relativen Mehrwerts, erhielten sie ihre technologische Basis; in ihr wurden die spezifisch-kapitalistischen Produktivkräfte geschaffen. Davon ausgehend zeigte Kuczynski, warum die in Osteuropa vorhandenen sozialistischen Produktionsverhältnisse noch keine spezifisch sozialistischen waren und sich demzufolge als reversibel erwiesen. Eine Prognose hinsichtlich der Bewältigung der gegenwärtigen technologischen Revolu-

tion im Kapitalismus sei kaum möglich. Einerseits habe dieses System eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit bewiesen, andererseits seien selbst Revolutionäre vom plötzlichen Zusammenbruch politischer Systeme überrascht worden. Nach Stefan Meretz (Commons-Netzwerk und Keimform-Blog) erzwinge der Commons-Ansatz eine Reflexion ehern geglaubter marxistischer Grundsätze. Dazu gehöre das Verhältnis von Produktivkräften und Gesellschaftsform, von Produktion und Reproduk-

der Sphärenspaltung von Ökonomie und Care sein. Commons und Peer-Produktion (Beitragen statt Tauschen) seien das theoretische und praktische Paradigma der Aufhebung des Kapitalismus. Gerhard Banse, Präsident der Leibniz-Sozietät, sprach über Technikentwicklung und die Abschätzung und Bewertung ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen mittels Technikfolgenabschätzung bzw. Technikbewertung (TA). Sie sei gerichtet auf das Erfassen und Beurteilen beziehungs-

tigen sind. Wolfgang F. Haug (Herausgeber des Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus, Esslingen, La Palma) betonte, jede technische Entwicklung müsse durch einen Selektionsfilter. Zwar gebe es einen urmenschlichen Erkenntnisdrang, aber die Haupttriebkräfte seien primär der Profit und die Konkurrenz. Es gehe um „Distanz-Technik“, um die Entwicklung einer Technik, um Konkurrenten im Grad der Verwertung auf Abstand zu halten. Dies gelte auch für Digitalisie-

weise Bewerten der Einführungsbedingungen sowie der Nutzungs- und Folgedimensionen technischen Handelns unter gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, ökologischen, technischen, wissenschaftlichen, militärischen und humanen (einschließlich ethischen) Aspekten. TA mache deutlich, dass Technik stets an Zwecke, Werte und vor allem Interessen rückgebunden ist und dass somit auch oder vor allem diese Zwecke, Werte und Interessen zu thematisieren, zu begründen und zu rechtfer-

rung und Netzwerktechnologien, deren Potenziale dadurch eine Perversion erführen. Sie bestehe darin, dass die Informationen, welche die Nutzer beabsichtigt oder unbeabsichtigt ins Netz einspeisen, der monopolisierte Rohstoff der Verwertungsmaschinerie der Netzwerkkonzerne seien. Diesen Rohstoff stellen die Nutzer kostenlos zur Verfügung, indem sie in die Falle einer scheinbaren „Umsonst-Ökonomie“ tappten. Tatsächlich gebe es nichts umsonst. Wir zahlten durch die Preisgabe persönlicher Informationen, mit denen im Netz eine Art „Zwilling“ unserer selbst geschaffen werde und aus dessen Aneignung sich die Macht der Internetkonzerne speise. Dieser Gedanke wurde von Thomas Wagner (Journalist, Autor von „Robokratie“) vertieft, der über die Ziele und Ideologien sprach, die hinter der Erklärung des „Menschen als Auslaufmodell“ stehe. Sponsoren dieser Ideen seien die Konzerne der Superreichen und Supermilliardäre aus

Bilder: Susann Scholz-Karas

Kolloquium der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen am 4. Juni 2016 in Leipzig

tion, von Reform und Revolution. Traditionell würden die Produktionsverhältnisse als resultierende gesellschaftliche Bewegungsform der Produktivkräfte angesehen. Dieses theoretische Ableitungsverhältnis habe sich als inadäquat erwiesen. Stattdessen sei die Produktionsweise als Ganze zu betrachten. Die Industrie 4.0 konstituiere commonistische Subjektivitäten im Widerspruch zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung. Eine Aufhebung des Kapitalismus kann nur die Aufhebung

dem Silicon Valley, die Markt und Demokratie als veraltete Technologien bezeichneten, weil nur Monopole in der Lage seien, die neuen globalen Technologien zu schaffen. Die Arbeit an der künstlichen Intelligenz solle auf die „technologische Singularität“ zusteuern. Ab jenem Zeitpunkt verbessern sich die Maschinen selbst und überholen den Menschen in seiner Kreativität und seinen demokratischen Vorstellungen. Gegen diese Allmachtphantasien in und im Umfeld der großen Netzwerkmonopole sollten, so Wagner, die Linken und Progressiven eine Strategie zur Rückgewinnung des öffentlichen Raums stellen. Die 1968er Losung „Enteignet Springer“ müsse heute lauten „Enteignet Google“. Der Beitrag von Gisela Notz (Sozialwissenschaftlerin, Berlin) titelte „Alternatives Wirtschaften im Kontext der modernen Produktivkraftentwicklung“. Früh hätten sich real-utopische Modelle entwickelt, nach denen nicht nur die Arbeiten in der Industrie, sondern auch die Haus- und Sorgearbeiten alternativ zum kapitalistischen System gestaltet werden sollten. Notz sprach dann vor allem über die Geschichte der Genossenschaftsbewegung, die eng mit der industriellen Entwicklung des 19. Jahrhunderts verbunden war, deren Ideen sich aber auch auf den Kontext einer Industrie 4.0 anwenden ließen. Aus den in der Diskussion vorgetragenen Standpunkten und Fragen sollen zwei hervorgehoben werden. Offen sei geblieben, was die digitale Revolution für den Charakter der Lohnarbeit bedeute, welche Stellung das neue „digitale Proletariat“ einnehme und was das für die Klassenverhältnisse und Klassenkämpfe bedeute. Gegenwärtig gebe es viele „Fronten“ der sozialen Auseinandersetzung; damit ihre Akteure zusammenfinden, müsse die Linke lernen, Brücken zu schlagen, und dabei ein eigenes Profil entwickeln. Die Orientierung auf die Commons sei dafür zu eng, andere Perspektiven zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse kämen dabei zu kurz und wären in den Referaten insgesamt zu wenig angesprochen worden. Der Wandel der Produktivkräfte und der sozialen Verhältnisse würde zwar reflektiert und interpretiert, es käme aber auf ihre Veränderung und dessen Subjekte an. Jürgen Leibiger


Sachsens Linke! 07-08/2016

Jugend

Patriotismus fürn Arsch! Alle Jahre wieder steht ein internationales Herren-Fußballevent auf dem Plan. Alle Jahre wieder nutzt die sächsische CDU dies als Aufhänger für die Forderung nach einer neuen „Patriotismusoffensive“. Und alle Jahre wieder kriechen die „Partypatriotinnen“ (Ich nutze im Folgenden das generische Femininum, das analog zum generischen Maskulinum zwar eingeschlechtlich formuliert ist, jedoch alle Geschlechter meint.) hervor, um den nationalismuskritischen Volksverräterinnen zu zeigen, dass ihr Patriotismus ganz harmlos sei und sich nur auf die Erfolge der Nationalmannschaft bezieht. Dass dem nicht so ist, dass der Patriotismus vielmehr nicht einfach der kleine, ungefährliche Bruder des Nationalismus, sondern sein Pendant ist, soll im Folgenden erläutert werden. Für gewöhnlich spricht man der Nationalistin zu, ihre Nation über die der anderen zu stellen, tendenziell diese vernichten zu wollen. Der Patriotin wird nachgesagt, dass sie ihr eigenes Land liebe und auf dessen Leistungen stolz sei. Abgesehen davon, dass der Stolz darauf eher unsinnig ist, haben beide Ideologien ihre Grundlage in der Nation. Geschichtlich betrachtet stellte diese für das Bürgertum die verwirklichte Freiheit dar. Als historische Idee stand sie für die Überwindung des Feudalismus hin zu einem Verein freier Bürgerinnen. Die Verwandlung der unmittelbaren Herrschaft der Fürstinnen zur vermittelten Herrschaft von Ware und

Kapital stellte jedoch nur einen Fortschritt, nicht das Heraustreten aus der gewaltförmig organisierten Gesellschaft dar. Das Konstrukt Nation nun ist im Sinne dieser Analyse eine Form von Herrschaft, welche die Gesellschaft organisiert. Nation konstruiert eine Gemeinschaft („Die Deutschen“), welche sich als einheitlich präsentiert. Diese Einheit kann ausschließlich mit dem Uneinheitlichen („Die Anderen“) gedacht werden. Das Kollektiv Nation fungiert nun als eine Art Schicksalsgemeinschaft, welche die Gewaltförmigkeit des Kapitalismus transzendiert und als eine Art „Naturhaftes“ darstellt. Sich für Deutschland zu Tode zu arbeiten ist etwas Schicksalhaftes, welches nicht zu hinterfragen ist. In diesem Sinne wird nun aber alles außerhalb der Nation stehende als Böses betrachtet – seien es ausländische Kokurrenzkapitale, der „amerikanische Raubtierkapitalismus“

oder ganz plump die Juden™, die immerfort versuchen, die gute deutsche Wirtschaft, also die Nation, zu schädigen. Auch der Hass, der Geflüchteten entgegen schlägt, kommt aus dieser Ecke. Im Flüchtenden spiegelt sich der Nationalistin das Fremde, Uneinheitliche, das „ihre“ Nation von innen zu zerstören droht. Gleichzeitig ist die Nation jedoch auch Zurichtungsinstrument des Einzelnen. So wie sie die Gesellschaft als homogenes Kollektiv bildet, so bietet sie auch dem Subjekt im Kapitalismus eine Zuflucht in diesem und damit gleichzeitig eine Identität. Der Angriff auf das Kollektiv wird damit auch der Angriff auf die Einzelne, jedenfalls so lang sie primär Deutsche ist. So erklärt sich auch die Brüchigkeit der zivilisatorischen Fassade, die sich lüftet, sobald das Subjekt in seiner (nationalen) Identität angegriffen wird. Die Hassreaktionen

der „harmlosen Patriotinnen“ auf unsere #patriotismusfürnarsch-Online-Kampagne sind das beste Beispiel. Im Rahmen dieser baten wir junge Menschen, uns Bilder von sich zuzuschicken, auf dem sie darlegten, was ihnen an der Nation und seinen Implikationen missfällt. Schon das erste Bild wurde mit einem massiven Schwall an Hasskommentaren geflutet. Darunter waren auch einige Morddrohungen. Damit verraten sich alle jene, die vorher vom harmlosen Stolz auf die eigene Nation schwadronierten, schon selbst. Denn warum sollte man fremde Menschen, die mit einer kaputten Flagge vor einem Dixi-Klo posieren und einen schnittigen Spruch dazu sagen, höchstpersönlich den Strick an den Hals binden wollen? Diese Reaktion zeigte uns, dass wir nicht aufhören dürfen, Patriotismus, Nationalismus und das Konzept Nation als Ganzes anzugreifen. Neben

der Online-Kampagne, an der sich viele junge Menschen aus verschiedenen Bereichen beteiligten und die eine großartige kritische Begleitung der EM darstellt, entwickelten wir auch Textmaterial in Form von Flyern, das sich auch nach EM noch zur Aufklärung eignet. Ein ideologisches Konstrukt mit einer solchen Tragweite und fundamentalen Funktion im Kapitalismus, wie es die Nation ist, muss immer Thema einer emanzipatorischen Linken sein. Deshalb begleiten wir auch zu diesem Thema kritisch die Partei, in der Hoffnung, dass diese sich ganz von nationalen Tendenzen distanziert. Ein gutes Leben kann es für uns nur ohne Nation geben. Marius Neubert

Termine 7. Juli, 19 Uhr: Reihe „Völkisches Empfinden duldet keine Zinsknechtschaft“ – Kapitalismuskritik von rechts. Vortrag und Diskussion mit Peter Bierl. Lesecafé „ODRADEK“, Chemnitz. Infos: gleft.de/1ms 8. Juli, 18 Uhr: Critical Mass goes Queer! Everybody is welcome! Demo für Verbesserung der Fahrradfahrer*innenfreundlichkeit. Augustusplatz, Leipzig. Infos: gleft.de/1mt 9. Juli, 12:30 Uhr: Beauftragtenratssitzung in Pirna. Wende Dich für weitere Infos bitte per Mail an kontakt@linksjugend-sachsen.de

Ein neues Schulgesetz Vieles wurde auf dem 13. Landesparteitag beschlossen. So auch eine schul- und bildungspolitische Offensive: Geplant wird eine Volksinitiative zum längeren gemeinsamen Lernen bis Klasse 8. Der Zeitpunkt könnte kaum besser gewählt sein, denn seit einigen Monaten liegt ein Entwurf zur Schulgesetzänderung (Stand 2. Mai 2016) vor. Ein kleiner Kritikpunkt: Wir haben kein „erzkonservative[s] dreigliedrige[s] Schulsystem“ – sondern ein erzkonservatives dreizehngliedriges Schulsystem. Zu Wort gemeldet haben sich dazu bereits die GEW, Eltern, Lehrer*innen und der LandesSchülerRat. Letzterer übt mit der #ernsthaftundkonstruktiv – Kampagne scharfe Kritik am Gesetzesentwurf und der Kultusministerin Kurth. Längeres gemeinsames Lernen ist eines der Kernthemen. Aber hier beruhigt die Ministerin: Wir haben das ja alles schon, nämlich, „[…] die Freiheit, dass Schüler

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nach Klasse vier länger gemeinsam lernen. […] Diese Möglichkeit gibt es! Man kann doch auch mit einer Bildungsempfehlung fürs Gymnasium an der Oberschule lernen! Dazu ermuntere ich ja auch die Eltern“ (SZ-Interview, 25.05.2016). What. The. Hell. Wo lebt diese Frau denn? Wenn das längeres gemeinsames Lernen sein soll, dann weiß ich auch nicht mehr. Beim Thema Inklusion enthält das neue Schulgesetz wenigstens eine kleine Verbesserung: Separation, d. h. gesonderte Beschulung, ist keine Pflicht mehr (§ 4c Absatz 2 Satz 1). Juhu und willkommen im Jahre 2009, denn damals wurde die UN-BRK von Deutschland ratifiziert und gemeinsame Beschulung zur Notwendigkeit erklärt. Gemeinsamer Unterricht ist also möglich, soweit „die Förderung anderer Schüler nicht erheblich beeinträchtigt wird“ (ebenda). Das impliziert, dass Inklusion zu Lasten der leistungs-

fähigeren Schüler*innen laufen würde. Auch wenn Frau Kurth meint, es gebe keine Belege, dass gemeinsames Lernen für alle förderlich sei (SZ-Interview, 25.05.2016): Die Bildungswissenschaft ist sich da relativ einig, gemeinsamer Unterricht tut allen gut. Weiterhin hat laut Gesetzesentwurf die Schulleitung das Schlusswort bei inklusiver Beschulung (§ 4c Absatz 3 Satz 2). Es hängt also an deren Weisheit und Willen. Sachsen muss sich hier bewegen! Ich behaupte: Der Schlüssel zur inklusiven Gesellschaft ist die Schule. Diese spiegelt Gesellschaft wider und wirkt gleichzeitig in sie hinein. Schüler*innen sind Teil der Gesellschaft von heute und von morgen. Kinder ohne Behinderung, die mit Kindern mit Behinderung aufwachsen, bauen Vorurteile ab und Behinderung wird zur Normalität, zu einer Eigenschaft wie jede andere, die uns ausmacht. Wir brauchen eine gelungene Integration, flächen-

9. Juli, 16 Uhr: CSD Pirna. Demo und Straßenfest, Markt, Pirna. Infos: gleft.de/1mu deckend barrierefreie Schulen und das entsprechende pädagogische Personal. Nur so können wir das Denken ändern und Kontakt zwischen Kindern und Eltern mit und ohne Behinderung herstellen. Dann klappt auch Inklusion. Wir als LINKE stehen für längeres gemeinsames Lernen und die Förderung Benachteiligter. Das betrifft nicht nur Schüler*innen in Förderschulen, sondern vor allem sozial Benachteiligte. Leider ist die Schnittmenge von Armut und Förderschule recht hoch. Bei der Schule zur Lernförderung kommen etwa 90 % aus einem sozial benachteiligten Haushalt. In diesem reichen Land bestimmt der Geldbeutel der Eltern oft den Bildungsweg. Ergo ist inklusive Bildung ein Thema mit hoher sozialpolitischer Wirkung. Mit der Volksinitiative und der schul- und bildungspolitischen Offensive geben wir die richtigen Signale. Werner Kujat

16. Juli, 14 Uhr: CSD Leipzig. Demo und Straßenfest, Marktplatz Leipzig. Infos: gleft.de/1hO 22.-24. Juli: Fußball Grenzenlos. Jede Menge Sport, Workshops, Musik und eine Ausstellung. Auf dem Horken in Kittlitz, Löbau. Infos: gleft.de/1mv 29. Juli – 6. August: Sommercamp der Linksjugend [‘solid]. Sommer, Sonne und tolle Menschen. Fusiongelände, Lärz, MV. Infos: gleft.de/1mx 16. - 18. September: Aktionswochenende. Den Ort finden wir noch. Bitte blockt euch diesen Termin, wir werden ihn kunterbunt ausgestalten, die Planungen laufen. 28. - 30. Oktober Landesjugendplenum + Landesjugendtag. Landesvollversammlung aller, die die Linksjugend Sachsen super finden. Wo? Lasst euch überraschen! Spannende Debatten, tolle Themen, einfach ein Muss ;)


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DIE LINKE im Europäischen Parlament

07-08/2016 Sachsens Linke!

BREXIT: Den sozialen Schaden minimieren Nun ist es soweit. Die britischen Rechtspopulisten haben ihr Lieblingsprojekt durchgesetzt: den Brexit. Die Wählerinnen und Wähler haben am 23. Juni 2016 mit knapper Mehrheit dafür gestimmt, die EU zu verlassen. Mit dem Brexit wurde vollendet, was vor 32 Jahren mit Margareth Thatchers AntiEU-Kampagne „Ich will mein Geld zurück!” begann. Die EU war schon lange ein populäres Feindbild in Großbritannien, vor allem auf Seiten konservativer Tories und der Rechtspopulisten von UKIP. In der Debatte um das Für und Wider der EU kamen kaum Stimmen zu Wort, die eine linke Kritik an der EU formulierten, etwa an den neoliberalen Kürzungsdiktaten oder der mangelnden Solidarität für Flüchtlinge. Die Kampagne gegen die EU wurde stattdessen von Rechtsaußen geführt, mit rassistischen Parolen gegen Einwanderer und vielen Lügen. Nigel Farage, der Anführer der Rechtspopulisten von UKIP, nahm gleich am Tag nach der Abstimmung das zentrale soziale Versprechen der LeaveKampagne zurück, nach dem EU-Austritt würden jede Woche 350 Millionen Pfund zusätzlich in das Nationale Gesundheitssystem NHS fließen. Diese Behauptung sei ein Fehler gewesen und er selbst habe dies nie gesagt. Wochenlang waren die Busse der LeaveKampagne mit eben dieser Beschriftung durch das Land gefahren und lockten die Menschen so an die Wahlurnen. Großbritannien hatte nie den Euro und musste trotz hoher

Schulden keine Troika-Diktate akzeptieren. Das Land gehört auch nicht zum Schengen-Raum und führt daher seit jeher Grenzkontrollen durch. Die sozialen Probleme auf der Insel haben kaum etwas mit der EU zu tun, anders als in Griechenland oder Spanien. Die konservativen Eliten und die New-Labour-Fraktion um den ehemaligen Premierminister Tony Blair haben diese selbst zu verantworten. Thatchers neoliberales Glaubensbekenntnis, es gebe „so etwas wie Gesellschaft nicht“, haben sie und ihre Nachfolger zutiefst verinnerlicht. Dass der verantwortungslose Finanzkapitalismus der City of London heute so stark die britische Wirtschaft dominiert, ist eine Folge dieser Politik. Rund 17,5 Millionen Menschen haben für den Brexit gestimmt. Viele wollten den Eliten zu zeigen, wer der Souverän ist, in Großbritannien und in der EU. Die EU hat es nicht geschafft, diesen Menschen ein Gefühl von demokratischer Selbstbestimmung und sozialer Sicherheit zu vermitteln, eher im Gegenteil. Letztlich haben die britischen Konservativen das Referendum jedoch dazu benutzt, einen internen Machtkampf auszutragen. Dabei haben diese Eliten ihr Land und die ganze EU rücksichtslos in Mitleidenschaft gezogen. Premier Cameron benutzte die Ankündigung des Referendums als Wahlkampftrick für seine Wiederwahl und hoffte, den EU-Kritikern in seiner eigenen Tory-Partei ein Schnippchen zu schlagen. Der ehema-

lige Londoner Bürgermeister Boris Johnson will seinen Parteifreund Cameron als Premierminister ablösen. Weil Cameron sich für ein Großbritannien in der EU einsetzte, stellte sich Johnson neben Farage an die Spitze der „Raus“Kampagne. Am Ende riskieren die parteiinternen Kontrahenten sogar, dass das Königreich zerfällt. Zum einen sozial: Die Mehrheit derjenigen, die für den Brexit gestimmt haben, könnten am meisten unter den wirtschaftlichen Folgen des Brexit leiden – Arbeiterinnen und Arbeiter, ältere Menschen und diejenigen, die außerhalb der großen Städte wie Lon-

tei Sinn Féin hat bereits ein Referendum über die Vereinigung Irlands gefordert. In Schottland bereitet sich die regionale Regierung auf ein neues Referendum über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich vor. Die verantwortlichen Eliten – von Cameron über Johnson bis hin zum ehemaligen Investmentbanker und EU-Abgeordneten Farage – erwecken jetzt den Eindruck, als hätten sie sich nie Gedanken darüber gemacht, was der Brexit tatsächlich politisch und wirtschaftlich bedeutet. Premierminister Cameron will sich bis Oktober Zeit dafür nehmen, seinen

don leben. Zum anderen regional: Im sozialdemokratisch geprägten Schottland und im Norden Irlands haben die Menschen anders als in England und Wales mehrheitlich für die EU votiert. Wenn Irland demnächst durch eine EU-Außengrenze gespalten wird, könnte dies den Friedensprozess in höchstem Maße gefährden. Die links-republikanische Par-

Nachfolger wählen zu lassen. Dieser soll dann die Austrittsverhandlungen mit der EU führen. Boris Johnson, der konservative Anführer der Leave-Kampagne, äußerte sich in den ersten drei Tagen nach der Entscheidung überhaupt nicht. Vielleicht haben ihm die Millionen Menschen die Sprache verschlagen, die sich nach dem Referendum an der Nase

herumgeführt fühlen und in einer Petition an das britische Parlament fordern, ein neues Referendum durchzuführen. Es ist zynisch, wenn konservative Marktradikale, die den britischen Sozialstaat zusammengekürzt haben, auf einmal die EU verantwortlich dafür machen, dass das nationale Gesundheitssystem NHS unterfinanziert ist. Den Rechten und Konservativen sind vor allem solche EU-Regeln ein Dorn im Auge, die im Binnenmarkt ökologische oder soziale Mindeststandards setzen. Dazu gehören EU-Vorschriften zum Klimaschutz, die EU-Arbeitszeitbegrenzung oder die EUMindeststandards zum Mutterschutz. Für die Linke in der EU kommt es jetzt darauf an, nach der demokratischen Entscheidung der Britinnen und Briten den sozialen Schaden so gering wie möglich zu halten. Dazu gehört auch, dass wir der zunehmend fremdenfeindlichen Stimmung entgegentreten. Die EU ist nur dann zu retten, wenn sie radikal umsteuert und die soziale Rechte und Sicherheiten der einfachen Menschen zum Ausgangspunkt ihrer Politik macht. Dies zu erreichen ist ein harter Kampf, aber er muss geführt werden. Gabi Zimmer, Vorsitzende der GUE/NGL

Partei ergreifen für Emanzipation und linken Feminismus Im Moment sehen wir mit großer Besorgnis den Anstieg der Zahl rassistischer Übergriffe in Sachsen, zunehmende Fremdenfeindlichkeit, fehlendes Vertrauen in die Politik, einen erstarkenden Konservatismus und der Zunahme sozialer Ungerechtigkeiten. Dem zur Seite stehen ein ebenso hart geführter Kampf gegen einzelne Gruppen, Islamfeindlichkeit oder die Abwertung von Frauen- und Freiheitsrechten. Und der Kampf um gesellschaftliche Hegemonie. Umso wichtiger ist es, deutlich Partei zu ergreifen: für mehr Humanität, Solidarität und Mitmenschlichkeit und klar gegen Diskriminierung, Hass und Ausgrenzung. Deshalb ist es für uns als LINKE auch selbstverständlich, dafür zu streiten, dass allen die gleichen Rechte und Möglichkeiten einge-

räumt werden und sich dort, wo strukturelle Ungleichheiten vorliegen, für die Beseitigung der Ungerechtigkeit einzusetzen. Das bedeutet in der Gleichstellungspolitik, dass wir uns für die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter auf allen Ebenen so lange stark machen, bis dieses Ziel erreicht ist! Wir als LINKE haben bereits viel erreicht, es gilt allen Streiter*innen für eine solidarische und emanzipatorische Politik zu danken. Als neu gewählte Sprecherin im Landesvorstand habe ich die letzten Monate, die konstruktiven Debatten und politische Arbeit, als sehr bereichernd empfunden. In Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen auf Landesebene und in den Städten, den LAGs und engagierten Genoss*innen, haben wir vie-

le Projekte verwirklichen können. Dazu gehört eine neu gegründete Runde feministischer Frauen in Dresden, das erfolgreiche Bestreiten des 8. März, der CSDs, oder das Erscheinen des 1. Gleichstellungspolitischen Newsletters, der zusammen mit Sarah Buddeberg im Juni gestartet ist und dann vierteljährlich erscheinen soll. Diesen könnt ihr unter feminism@dielinke -sachsen.de abonnieren. Zur politischen Arbeit in den vergangenen Wochen und Monaten gehört natürlich auch die intensive Beschäftigung mit Fragen zur Struktur und Mitgliedergewinnung im Landesvorstand selbst sowie die Mitarbeit in der LAG Asyl. Trotz vieler positiver Entwicklungen wird mit Blick auf die strukturelle Verfasstheit unse-

rer Partei klar: Auch wir haben Aufholbedarf. Um ein Beispiel zu nennen: Der Frauenanteil in unserer Partei liegt aktuell bei 45 %. Der in den LAGs bei nur 28 %. Auch hier müssen wir uns kritisch fragen, woran das liegt, und wie dieses ungleiche Verhältnis beseitigt werden kann. Denn natürlich hat das Einfluss auf Beteiligung und politische Meinungsbildung. Wenn beispielsweise von allen 360 in Deutschland erscheinenden Tageszeitungen nur ZWEI eine Chefredakteurin haben, alle anderen aber einen Chefredakteur, leuchtet doch sofort ein, dass die Themenauswahl und Berichterstattung nicht in gleicher Form erfolgt, wie die Gesellschaft zusammengesetzt ist. Übertragen gilt das natürlich auch für Beteiligung und Entscheidungen in Parteigremien.

Das müssen wir stärker thematisieren und ein Weiterdenken in diesen Fragen als Chance begreifen. Denn die gemeinsame Debatte, die Stärkung unserer eigenen feministischen Strukturen, wird uns als Partei insgesamt attraktiver machen. Es ist wichtig, dass wir unsere Forderungen für eine gleichberechtigte Gesellschaft in unserer politischen Praxis auch wirklich leben und deutlich nach außen tragen. Das Parteiergreifen für Emanzipation ist ein wichtiger Bestandteil unserer politischen Tradition. Dafür stehen wir als LINKE. Das macht uns aus. Lasst uns diese konsequent weiterführen. Ich jedenfalls freue mich darauf! Anja Eichhorn, Sprecherin für Gleichstellung und feministische Politik, Kontakt: anja.eichhorn@dielinke-sachsen.de


Sachsens Linke! 07-08/2016

DIE LINKE im Bundestag

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Zerrissenes Großbritannien – Neubeginn in der EU? mehr nur von den WählerInnen der Rechtspopulisten, sondern auch der konservativen Partei ist die Frage der Zuwanderung zum zentralen Entscheidungskriterium geworden. Auch die Labourparty steht vor einer neuen Belastungsprobe. In

Im hohen Stimmanteil der europaskeptischen Briten widerspiegeln sich Besorgnisse, die auch in vielen anderen EU-Mitgliedsländern vorhanden sind. Teile der politischen Klasse, die für die Gestalt des aktuellen Europas als Elitenprojekt verant-

und Erneuern“. Ich werde mich weiter dafür einsetzen, dass ein auf Europa ausgerichtetes soziales Reformkonzept zu einem Hauptthema linker Politik wird. Ich bin skeptisch, ob die überwiegend von konservativen und sozialdemokratischen Parteien

(Mick Baker)rooster / flickr.com/ CC BY-ND 2.0

Der Ausstieg Großbritannien aus der EU ist eine Zäsur. 52 % der Abstimmenden schicken Großbritannien und die verbleibende EU in einen komplizierten politischen und ökonomischen Umbauprozess. Die Landesteile des Vereinigten Königreiches haben z. T. unterschiedliche Mehrheiten. Für Schottland und Nordirland, die sich mehrheitlich für den Verbleib in der EU ausgesprochen haben, wird die weitere Entwicklung besonders kompliziert. Das Ergebnis des Referendums zeigt, dass die britische Gesellschaft mehrfach tief gespalten ist. Großbritannien steht als Vereinigtes Königreich und als Gesellschaft vor einer Zerreißprobe. Seit langem hatte sich in Großbritannien ein tief sitzendes Unbehagen über die EU-Mitgliedschaft aufgebaut. Mit der Entscheidung, die Bürger bis spätestens 2017 über die EUMitgliedschaft abstimmen zu lassen, wollte Cameron die Europa-Skeptiker isolieren. Das ist ihm nicht gelungen. Nun hat er seinen Rücktritt für Oktober angekündigt. Gewinner des Referendums ist die rechtspopulistische UKIP. In allen Regionen, von fast allen Altersgruppen und sozialen Schichten und nicht

den traditionellen Labour-Hochburgen hat eine Mehrheit für den Austritt gestimmt. Unter der Führung Jeremy Corbyns hatte Labour die Kampagne „Bleiben und verändern“ gemeinsam mit dem Gewerkschaftsbund TUC gestartet. Auch hier wird ein Neuanfang unvermeidlich.

wortlich sind, sind damit konfrontiert, dass ein „Weiter so“ nicht mehr funktioniert. Welche Veränderungen her müssen, wird die zentrale Debatte um die europäische Zukunft sein und ich werde darauf drängen, dass sich die LINKE intensiv daran beteiligt – in Sinne des „Bleiben

dominierten europäischen Regierungen wirklich einen europapolitischen Kurswechsel in Angriff nehmen und tatsächlich die Korrektur der Fehlentwicklungen einer langen Austeritätspolitik einleiten werden. Die politische Linke in den verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten

ist zersplittert und schwach. Gleichwohl müssen wir unsere Vorstellungen für ein soziales und demokratisches Europa stärker in die Debatte hineintragen. Für eine Reform der EU Um die großen Leistungsbilanzungleichgewichte in der Euro-Zone endlich zu überwinden, schlage ich die Ablösung des Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU durch eine „Europäische Ausgleichsunion“ vor. Parallel dazu brauchen wir neue Instrumente für die (Re-)Finanzierung der öffentlichen Haushalte, um sie dem Diktat privater Investorenentscheidungen zu entreißen. Die soziale Dimension der EU muss ausgebaut werden. Eine Neugewichtung und -verteilung der EU-Mittel kann dazu beitragen, das EU-Wachstum anzukurbeln und würde nebenbei den sozialen, territorialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt in Europa stärken, anstatt ihn über Sparpolitik und Sozialkürzungen weiter auseinanderdriften zu lassen. Letzteres bereitet den Nährboden für weitere politische Spannungen und lässt den Rechtspopulismus noch stärker zunehmen. Dr. Axel Troost

Mindestlohnerhöhung: Von Arbeit muss man leben können! Seit 2015 gilt in Deutschland erstmals ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro. LINKE und Gewerkschaften hatten sich jahrelang dafür eingesetzt. Denn seit die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder das Arbeits- und Sozialrecht umgepflügt hatte, war ein großer Niedriglohnsektor entstanden. Immer mehr Menschen arbeiten zu Löhnen, die nicht zum Leben reichen. Im Westen ist nur noch die Hälfte aller Beschäftigten von Tarifverträgen abgedeckt, in Ostdeutschland sind es nur 37 Prozent. Der Mindestlohn sollte für alle Arbeitsnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Lohnuntergrenze einziehen, damit die schlimmsten Hungerlöhne abgeschafft werden. Zum Januar 2017 wird der Mindestlohn zum ersten Mal erhöht, um 34 Cent pro Stunde, auf 8,84 Euro. Aber in der Mindestlohnkommission, die die Bundesregierung eingesetzt hat, gibt es keine Mehrheit für einen armutsfesten Mindestlohn. Die Vorgaben der Kommission bleiben hinter dem Notwendigen zurück. Wir sagen, das reicht nicht. Wer Vollzeit arbeitet und 8,50 Euro verdient, hat am Monatsende 1.040 Euro netto in der Tasche. Das reicht vorne und hinten nicht. Zum Vergleich:

Die Armutsgrenze liegt bei 979 Euro. Vor Einführung des Mindestlohns hatten die Arbeitgeber den Untergang des Abendlandes an die Wand gemalt: ein Mindestlohn würde bis zu einer Million Arbeitsplätze vernichten. Ganze Branchen wären in ihrer Existenz bedroht. Deutschland würde im internationalen Wettbewerb verlieren. Die Arbeitsmarktzahlen für das Jahr 2015 belegen aber das Gegenteil. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze hat zugenommen. Die Wirtschaft ist gewachsen. Alle Forschungsinstitute bestätigen: Der Mindestlohn hat keine negativen Aus-

wirkungen gehabt. Gerade in Branchen, wo der Mindestlohn zu Gehaltssteigerungen geführt hat, hat die Beschäftigung deutlich zugenommen – das Gastgewerbe war hier 2015 Tabellenführer. Warum hat der Mindestlohn nicht geschadet? Zum einen betrifft er gerade das Dienstleistungsgewerbe, und hier können Arbeitsplätze nicht einfach ins Ausland verlagert werden, wo die Löhne noch niedriger sind. Die Pizza kann man sich eben nicht aus Rumänien oder Bangladesch liefern lassen. Zweitens gilt der Mindestlohn für alle Betriebe. Deshalb fällt kein einzelner im Wettbewerb hinter sei-

ne Konkurrenten zurück, wenn er die Löhne auf Mindestlohnniveau erhöht. Drittens haben jetzt viele Menschen mehr Geld in der Tasche, und das stärkt die Nachfrage und damit das Wirtschaftswachstum. SPD und CDU haben im Mindestlohngesetz für einige Branchen Ausnahmen vom Mindestlohn zugelassen. So profitieren Erntehelfer*innen und Zeitungsausträger*innen zum Beispiel bislang noch nicht vom Mindestlohn. Dass Erdbeeren und Spargel wieder teurer geworden sind, hat also nichts damit zu tun, dass die Beschäftigten mehr Geld bekommen hätten.

Ansonsten sind die befürchteten Preissteigerungen für Dienstleistungen übrigens ausgeblieben. Anders als die Arbeitgeber gewarnt hatten, konnten es sich die meisten Unternehmen offensichtlich doch leisten, die Niedriglöhne ihrer Angestellten auf 8,50 Euro zu erhöhen, ohne deshalb auch die Preise zu steigern. Allgemein muss man sagen: Ein Unternehmen, das nur funktioniert, solange es seinen Beschäftigten Hungerlöhne zahlt, hat offensichtlich ein falsches Geschäftsmodell. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den Laden schließlich erst zum Laufen bringen, muss genug da sein, dass sie ein anständiges Leben führen können. Deswegen setzt sich die LINKE weiter dafür ein, dass der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht wird. Ausnahmen vom Mindestlohn – egal ob für bestimmte Branchen, für Langzeitarbeitslose oder für Flüchtlinge – darf es nicht mehr geben. Armut trotz Arbeit – damit muss Schluss sein. Sabine Zimmermann


Kommunal-Info 6-2016 29. Juni 2016 Online-Ausgabe unter www.kommunalforum-sachsen.de

KFS

Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Kommunalfinanzen Mehr Geld für die Kommunen zur Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur Seite 3

Seminare Für junge Kommunalpolitiker*innen vom 29.-31. Juli in Cunnersdorf Intensivseminar zum Thema Haushalt am 12./13. August in Trebsen Seite 4

Kommunalpolitische Tage in Landkreisen

Erzgebirge am 24. September Zwickau am 15. Oktober Nordsachsen am 19. November Seite 4

Neues Vergaberecht 2016 Seit dem 18. April 2016 besteht in Deutschland ein neues Vergaberecht für öffentliche Auftraggeber zu allen Vergaben oberhalb der EU-Schwellenwerte. D.h., liegen die Auftragswerte (ohne Umsatzsteuer) im Baubereich ab mind. 5,225 Millionen Euro, bei Konzessionsverträgen ab mind. 5,225 Millionen Euro, bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen ab mind. 209 000 Euro, und bei Dienst- und Lieferaufträgen von Sektorenauftraggebern (Verkehr, Trinkwasserversorgung, Energieversorgung) ab mind. 418 000 Euro, dann sind diese Aufträge EU-weit nach dem neuen Vergaberecht auszuschreiben.

EU-Richtlinien und nationales Recht

Eine Neufassung des Vergaberechts war erforderlich durch drei von der Europäischen Union 2014 erlassene Vergaberichtlinien, die wie in den anderen EU-Mitgliedsländern auch in Deutschland in nationales Recht umzusetzen waren: die Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe 2014/24/EU (VRL), die Richtlinie 2014/23/EU über die Konzessionsvergabe (KVR) und die Richtlinie über die Sektorenvergabe 2014/25/EU (SRL). Die Reform des nationalen Vergaberechts und Umsetzung der EU-Richtlinien geschah durch: das Vergaberechtsmodernisierungsgesetz (VergRModG) und die Vergaberechtsmodernisierungsverordnung (VergRModVO). Während das VergRModG die Überarbeitung des vierten Teils (§§ 97 bis 186) des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) enthält, wur-

den in der VergRModVO folgende neugefasste Verordnungen beschlossen: die Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge (Vergabeverordnung – VgV), die Verordnung über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen im Bereich des Verkehrs, der Trinkwasserversorgung und der Energieversorgung (Sektorenverordnung – SektVO), die Verordnung zur Vergabe von Konzessionen (Konzessionsvergabeverordnung – KonzVgV).

Neue Struktur des Vergaberechts

Dadurch hat das Vergaberecht eine völlig neue Struktur erhalten. Oberhalb der EU- Schwellenwerte werden die wesentlichen Aspekte für alle Vergaben auf einer ersten Stufe im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) geregelt. Diese wesentlichen Aspekte betreffen insbesondere Neuregelungen zu den Grundsätzen der Vergabe (§ 97 GWB), zum Anwendungsbereich (98 ff GWB), zu den Verfahrensarten (§ 119 GWB), zur Leistungsbeschreibung (§ 121 GWB), zur Eignung von Unternehmen sowie zu den zwingenden und fakultativen Ausschlussgründen (§ 122 ff. GWB), zur Selbstreinigung von Unternehmen (§ 125 GWB), zum Zuschlag (§ 127 GWB), zur Auftragsausführung (§ 128 GWB), zu den Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit (§ 132 GWB) sowie zur Kündigung von öffentlichen Aufträgen in besonderen Fällen (§ 133 GWB). Außerdem werden die Möglichkeiten für öffentliche Auftraggeber, strategische Ziele, z. B. umweltbezogene, soziale oder innovative Aspekte, im Rahmen von Vergabeverfahren vorzugeben, ausgeweitet (§ 97 Abs. 3 GWB). Die stärkere Nutzung elektronischer

Mittel soll für effizientere Vergabeverfahren sorgen (§ 97 Abs. 5 GWB). Kommunale Freiräume, etwa bei der Vergabe an kommunale Unternehmen (sog. Inhouse-Vergaben) oder bei der Zusammenarbeit mit anderen Kommunen, werden erstmals im Gesetz ausdrücklich geregelt (§ 108 GWB). Soziale und andere besondere Dienstleistungen werden in einem erleichterten Verfahren vergeben (§130 GWB). Durch die Vielzahl von Neuregelungen wird das GWB / vierter Teil auf ca. 190 Normen ausgeweitet. Dafür fallen für EU-weite Vergabeverfahren aber künftig die VOL/A und die VOF weg, da die wesentlichen Regelungen für die Vergabeverfahren sich fortan im GWB finden und detaillierte Ausführungsvorschriften in der VgV geregelt werden. Nur die VOB/A-EU bleibt (zumindest vorerst) in einer deutlich überarbeiteten Fassung erhalten. Was beim Deutschen Städte- und Gemeindebund als auch Architekten- und Ingenieurkammern auf Kritik stößt, denn der Fortbestand der VOB/A-EU sprengt die von der Bundesregierung angestrebte einheitliche Struktur des neuen Vergaberechts und stellt einen Systembruch dar. Aber eigentlich sollte ja mit der Vergaberechtsreform auch das Ziel verfolgt werden, das Vergaberecht zu vereinfachen, es anwenderfreundlicher zu gestalten und die Rechtssicherheit zu erhöhen. Ob diese Ziele erreicht werden, muss in der Praxis noch bewiesen werden.

Der Unterschwellenbereich

Eine Anpassung des Vergaberechts unterhalb der EU-Schwellenwerte soll zeitlich erst nach der Umsetzung der EU-Richtlinien vorgenommen werden. Das bedeutet aber, dass für die Verga-

ben unterhalb der EU-Schwellenwerte (das sind ca. 95 Prozent aller Vergaben im kommunalen Bereich) weiterhin die VOL/A (1. Abschnitt) sowie die VOB/A (1. Abschnitt) gelten. In einem Positions- und Bewertungspapier des Deutschen Städte- und Gemeindebundes wird das zurecht beanstandet: „Die damit vorgezeichnete Diskrepanz von Ober- und Unterschwellenrecht ist zu kritisieren. Es ist nicht einsehbar, dass seit dem 18.04.2016 im Oberschwellenbereich mit der freien Wahl des Auftraggebers zwischen Offenen und Nichtoffenen Verfahren (nach vorherigem Teilnahmewettbewerb) ein erleichtertes Vergaberecht gilt, dieses aber im Massengeschäft der Unterschwellenvergaben nicht nutzbar gemacht werden kann. Zur Vermeidung eines Flickenteppichs bleiben Bund und Länder… daher aufgefordert, … auch die flexibleren Verfahrensmöglichkeiten des Oberschwellenrechts auf den Unterschwellenbereich zu übertragen.“1 Jedoch hat das neue Vergaberecht für EU-Vergaben auch bereits jetzt Auswirkungen auf die Vergaben im unterschwelligem Bereich. Hierzu gehören u.a. die Neuregelungen über die Freistellung vom Vergaberecht bei „Öffentlich- öffentlicher Zusammenarbeit“, zu den „Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit“, aber auch die Grundregeln zur Leistungsbeschreibung, zur Eignung einschließlich der Selbstreinigung von Unternehmen und zur Zuschlagserteilung.

Freistellungen vom Vergaberecht

Ausdrücklich durch neue Ausnahmeregelungen vom Vergaberecht freigestellt wurden bestimmte und für die Kommunen charakteristische Leistungen. So ist das Vergaberecht nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB nicht anzuwenden auf: „Dienstleistungen des KatastroFortsetzung auf folgender Seite


Kommunal-Info 6/2016 phenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden... mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung“; auch Rechtsdienstleistungen, die etwa die Vertretung eines Mandanten (Kommune) durch einen Rechtsanwalt in Gerichts- oder Verwaltungsverfahren vor nationalen oder internationalen Gerichten, Behörden oder Einrichtungen betreffen, fallen zukünftig nach § 116 Abs. 1 GWB ausdrücklich nicht unter das Vergaberecht. Ebenso werden notarielle Beurkundungen und die Tätigkeiten von gerichtlich bestellten Betreuern, Sachverständigen und auch Insolvenzverwaltern vom Vergaberecht freigestellt; Schließlich unterliegen nach § 149 Nr. 9 GWB auch Konzessionen im Bereich der Wasserversorgung nicht dem Vergaberecht.

Soziale und andere besondere Dienstleistungen

Nach § 130 GWB gelten für die Vergabe von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung etc.) erleichterte Beschaffungsregeln. Diese greifen zudem erst ab einem eigenen Schwellenwert von 750 000 Euro. Weiter ist es zum Beispiel in den genannten Bereichen, also insbesondere bei Dienstleistungen des Gesundheits-, Sozialwesens sowie auch im kulturellen Bereich (z.B. Durchführung von Stadtfesten oder kommunaler Kulturveranstaltungen), nach § 130 Abs. 1 GWB möglich, dass die Auftraggeber die Vergabeart, vorausgesetzt es findet ein Teilnahmewettbewerb statt, frei wählen können. Ebenso unterliegen aber auch Wachund Sicherheitsdienste, wie sie oft für Flüchtlingsunterkünfte benötigt werden, oder auch soziale und Rechtsdienstleistungen gelockerten vergaberechtlichen Vorgaben, soweit diese nicht ohnehin gänzlich vom Vergaberecht freigestellt sind.

Öffentlich-öffentliche Kooperationen

In § 108 GWB werden in Ausführung der EU-Richtlinie erstmals Regelungen zu den Voraussetzungen und der Reichweite vergaberechtsfreier Aufträge zwischen öffentlichen Auftraggebern getroffen. Die Ausnahmetatbestände fußen im Wesentlichen auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), die nun gesetzlich kodifiziert und präzisiert wurden, um die bestehende Rechtsunsicherheit zu beseitigen und eine homogene Anwendung in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. In § 108 wird entsprechend der EU-Richtlinie grundsätzlich zwischen der Zusammenarbeit auf vertikaler und horizontaler Ebene unterschieden.

Inhouse-Vergabe

Bei der vertikalen Zusammenarbeit werden Aufträge zwischen Rechtssubjekten geschlossen, die in einem Über-Unterordnungs-Verhältnis zueinander stehen (sog. Inhouse-Vergabe) – wenn z.B. eine Kommune einen Auftrag an ihre Eigengesellschaft (die Stadt ist hier 100%iger Gesellschafter) erteilt. Für ein vergaberechtsfreies Inhouse-Geschäft werden im Gesetz drei

Seite 2 Voraussetzungen bestimmt: 1. der öffentliche Auftraggeber muss über die zu beauftragende juristische Person eine ähnliche Kontrolle wie über seine eigenen Dienststellen ausüben. Die Ausübung einer solchen Kontrolle wird nach § 108 Abs. 2 vermutet, wenn der öffentliche Auftraggeber einen ausschlaggebenden Einfluss auf die strategischen Ziele und die wesentlichen Entscheidungen der kontrollierten juristischen Person besitzt (Kontrollkriterium). 2. die kontrollierte juristische Person muss mehr als 80 % ihrer Tätigkeiten in Ausführung der Aufgaben erbringen, mit denen sie vom öffentlichen Auftraggeber betraut worden ist; sie muss also im Wesentlichen für den öffentlichen Auftraggeber tätig werden (Wesentlichkeitskriterium). 3. an der kontrollierten juristischen Person darf grundsätzlich keine private Kapitalbeteiligung bestehen. Hierdurch sollen Wettbewerbsvorteile für private Teilhaber ausgeschlossen werden, die anderenfalls ohne Wettbewerb an einem öffentlichen Auftrag partizipieren würden (Beteiligungskriterium). Frei vom Vergaberecht gestellt sind Beschaffungen zwischen mehreren von einer Kommune kontrollierten „Töchtern“ (z.B. eine Kommunale ITGmbH erbringt als Tochter der Stadt IT-Leistungen für die ebenfalls von der Stadt kontrollierte Stadtwerke-GmbH) sowie die Auftragsvergabe einer „kommunalen Tochter“ an ihre „Mutter“ (z.B. Wohnungsbau-GmbH der Stadt lässt sich ihre Grünflächen vom städtischen Bauhof pflegen). Auch dient erstmalig die in § 108 Abs. 4 GWB aufgenommene und in Anknüpfung an die bisherige EuGH-Rechtsprechung eröffnete Möglichkeit eines „gemeinsamen Inhouse-Geschäfts mehrerer öffentlicher Auftraggeber“ der Rechtssicherheit. Nach dem bereits o.g. Papier des Deutschen Städtetags sei aber nach wie vor nicht geklärt, ob die Ausführung von Aufgaben zugunsten eines privaten Dritten nur dann Inhouse-fähig ist, wenn diese zwar Tätigkeiten im Bereich der Daseinsvorsorge betreffen, für welche die juristische Person (z.B. Stadtwerke) von der Kommune gegründet wurde, aber in liberalisierten Märkten stattfinden (z.B. Strom und Gas). Dies beträfe insbesondere die Frage, ob die Umsätze mit den Bürgern einer Stadt in diesem Bereich für das Wesentlichkeitskriterium mit eingerechnet werden können, wenn die Bürger trotz ihrer Wahlfreiheit beim Stromanbieter von dem kommunaleigenen Stadtwerk mit Strom versorgt werden.2

Horizontale Zusammenarbeit

In § 108 Abs. 6 GWB ist die vergaberechtsfreie Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehr öffentlichen Auftraggebern auf horizontaler Ebene geregelt, etwa die Zusammenarbeit zwischen mehreren kommunalen Gebietskörperschaften (z.B. Vertragliche Übernahme der Abfallentsorgung von einem Kreis für einen anderen Kreis). Anders als bei der Inhouse-Vergabe fehlt es hier an der Kontrolle des Auftraggebers über den Auftragnehmer. Für eine vergaberechtsfreie Zusammenarbeit auf horizontaler Ebene werden im Gesetz folgende Vorausset-

zungen gestellt: 1. der Vertrag begründet oder erfüllt eine Zusammenarbeit zwischen den beteiligten öffentlichen Auftraggebern, um sicherzustellen, dass die von ihnen zu erbringenden öffentlichen Dienstleistungen im Hinblick auf die Erreichung gemeinsamer Ziele ausgeführt werden. Die im Wege der Zusammenarbeit erbrachten Dienstleistungen müssen nach der Gesetzesbegründung dabei nicht identisch sein, sondern können sich auch ergänzen. Die Zusammenarbeit muss auf einem kooperativen Konzept beruhen. 2. die Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen Auftraggebern darf ausschließlich durch Überlegungen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Interesse bestimmt werden. 3. die öffentlichen Auftraggeber dürfen auf dem offenen Markt weniger als 20 Prozent der Tätigkeiten erbringen, die durch die Zusammenarbeit nach Nr. 1 erfasst wird. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass die öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit nicht zu Wettbewerbsverzerrungen gegen-

traggeber unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein Unternehmen zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen können, wenn das Unternehmen bei der Ausführung öffentlicher Aufträge nachweislich gegen umwelt-, sozial- oder arbeitsrechtliche Verpflichtungen verstoßen hat.“ Bei der Beschaffung energieverbrauchsrelevanter Waren oder bei der Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Behinderung (§ 121 GWB) bestehen allerdings zwingende gesetzliche Vorgaben. Der Gesetzgeber konnte der im Rahmen der Anhörung zum Regierungsentwurf vorgebrachten Forderung, § 97 Abs. 3 generell nur als Kann-Regelung auszugestalten, allerdings nicht nachkommen. § 97 Abs. 3 ist sehr offen ausgestaltet und enthält keinen Hinweis darauf, dass strategische Belange einen Auftragsbezug aufweisen müssen. Dies wird jedoch bei den jeweiligen Einzeltatbeständen (§§ 122, 127, 128) explizit

über privaten Unternehmen führt.

klargestellt. Einer ausufernden Berücksichtigung strategischer Belange wurde dadurch entgegengewirkt, dass nunmehr die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit (§ 97 Abs. 1 GWB) explizit in den Status von Vergabegrundsätzen erhoben wurden. Damit soll eine ausgewogene Balance zwischen den unterschiedlichen Grundsätzen gewährleistet werden.3 AG —

Ökologische und soziale Aspekte

In § 97 Abs. 3 GWB wird unter den Grundsätzen der Auftragsvergabe die Möglichkeit eröffnet, qualitative, soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte zu berücksichtigen. Die konkrete Ausgestaltung der Einbeziehung dieser Belange in jeder Phase des Vergabeverfahrens (von der Definition der Leistung über die Festlegung von Eignungs- und Zuschlagskriterien bis hin zur Vorgabe von Ausführungsbedingungen) erfolgt bei den jeweiligen Einzelvorschriften im 4. Teil des GWB sowie in den Rechtsverordnungen (z. B. die VgV), die auf der Grundlage dieses Teils erlassen werden. Damit verlieren soziale und umweltbezogene Aspekte endgültig das ihnen zuweilen immer noch zugeschriebene Stigma „vergabefremd“ zu sein; sie stehen nun vielmehr auf Augenhöhe mit den anderen Zwecken einer Beschaffung. Der Wortlaut des § 97 Abs.3 („werden...berücksichtigt“) könnte sogar nahelegen, dass eine durchgängige Verpflichtung besteht, strategische Belange einzubeziehen. Deren Berücksichtigung hat aber „nach Maßgabe dieses Teils“ zu geschehen und die dadurch in Bezug genommenen Einzelvorschriften (z. B. §§122,127, 128) eröffnen dem Auftraggeber zwar grundsätzlich die Option, strategische Belange in den Beschaffungsprozess einfließen zu lassen, verpflichten ihn aber nicht dazu. Dementsprechend wurde unter den lediglich „fakultativen“ Ausschlussgründen in § 124 GWB geregelt, „dass öffentliche Auf-

1 Das neue Vergaberecht 2016: Eine Darstellung und Bewertung, Deutscher Städte- und Gemeindebund, www.dstgbvis.de 2 Vgl. ebenda. 3 Vgl. Ley/Wankmüller, Das neue Vergaberecht 2016. Lieferungen und Dienstleistungen nach GWB und VgV, 3. Aufl., Rehm 2016, S. 18f.

Impressum Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Großenhainer Straße 99 01127 Dresden Tel.: 0351-4827944 oder 4827945 Fax: 0351-7952453 info@kommunalforum-sachsen.de www.kommunalforum-sachsen.de Red., Satz und Layout: A. Grunke V.i.S.d.P.: P. Pritscha Die Kommunal-Info dient der kommunalpolitischen Bildung und Information und wird aus finanziellen Zuwendungen des Sächsischen Staatsministeriums des Innern gefördert.


Kommunal-Info 6/2016

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Mehr Geld für die Kommunen Von Susanna K arawanskij, MdB und Mitglied des Vorstands des Kommunalpolitischen Forums Sachsen e.V. Mehr Geld für Kommunen: Nur eine grundlegende Erneuerung öffentlicher Infrastruktur sichert Integration geflüchteter Menschen Menschen, die vor Krieg, politischer Verfolgung und Armut nach Deutschland geflüchtet sind, müssen in die Gesellschaft integriert werden. Asylrecht ist universelles Menschenrecht und kein Gnadenrecht. Auch wenn die Zahl der nach Deutschland geflüchteten Menschen in 2016 bislang nachließ, ist eines klar: Integration kostet Geld, und sie wird dann gelingen, wenn sie Bestandteil einer grundlegenden Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur sowie der sozialen Dienstleistungen zugunsten aller hier lebenden Menschen ist. Woher dieses Geld kommen soll und welche Gebietskörperschaft wieviel erhält, bleibt ein strittiges Thema. Daher möchte ich im Weiteren insbesondere auf die Rolle der Kommunalfinanzen zur Bewältigung der Flüchtlingslage eingehen. Im Jahr 2015 sind insgesamt 1,09 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Aktuell befinden sich hier fast 1,6 Millionen Schutzsuchende (Stand April 2016). Im Jahr 2015 nahm der Freistaat Sachsen 69.900 Asylbewerber*innen auf. Für Betreuung und Unterbringung von Schutzsuchenden wurden 2015 insgesamt 43 Millionen Euro bereitgestellt.1 Die weitere Entwicklung und alle tatsächlich anfallenden Integrationskosten sind nicht exakt vorherzusehen. Klar ist nur, dass man bei einer solch bedeutenden Aufgabe wie der Integration geflüchteter Menschen nicht plötzlich stehen bleiben darf, um zum Beispiel die heilige Kuh der schwarzen Null nicht schlachten zu dürfen. Die Kosten für Aufnahme, Unterbringung, Versorgung und Integration der Menschen in die Stadtgesellschaften werden steigen. Deshalb sind die Anstrengungen zur Integration der Geflüchteten zu verstärken, auch indem mehr Geld in die Hand genommen wird. Bund, Länder, Landkreise, Städte und Gemeinden müssen kooperieren und eine Verantwortungsgemeinschaft bilden. Integration findet vor Ort statt; Kommunen sind wichtige Akteure der Integration. Sie brauchen dafür die nötige finanzielle Unterstützung. Denn bereits heute fahren viele Kommunen auf Verschleiß, die Kassen sind vielerorts leer, immer mehr Infrastruktur verfällt. Auf finanzieller Ebene muss zwischen den Kosten der Erstunterbringung (kurzfristig) und den Kosten von Versorgung, Wohnraumbeschaffung und Integration in Kindergärten, Schulen, Arbeitsmarkt (langfristig) unterschieden werden. Wie bringen sich Bund und Länder ein? Zwar haben im Jahr 2015 Bund, Länder, Gemeinden und ebenfalls die Sozialversicherungen mit Überschüssen abgeschlossen. Diese Überschüsse verteilen sich jedoch auf die einzelnen

Ebenen recht unterschiedlich; einige Länder und viele Gemeinden weisen nach wie vor Defizite auf. Vom Bund werden knapp 8 Milliarden Euro für die Integration im Haushalt eingeplant, wobei davon nur 4 Milliarden direkt an die Länder gehen: Der Bundestag hat zur Bewältigung der Flüchtlingslage zum Bundeshaushalt 2016 Mindereinnahmen und Mehrausgaben in Höhe von rund 7,9 Mrd. Euro (4 Mrd. Mindereinnahmen, 3,9 Mrd. Mehrausgaben) beschlossen. Mindereinnahmen von 3,637 Mrd. Euro ergeben sich aus einer mit dem

unterbringung und -integration ca. 16,7 Milliarden Euro vorgesehen. Die finanzielle Belastung liegt zwischen 3 und 8 Prozent pro Landeshaushalt.2 Die Integration könnte nach Schätzungen Bund und Länder im Jahr 2016 zwischen 20 und 25 Milliarden Euro kosten.3

Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz beschlossenen Änderung der Umsatzsteuerverteilung zugunsten der Länder. Über das Sondervermögen „Kommunalinvestitionsförderfonds“ stehen finanzschwachen Kommunen Finanzhilfen in Höhe von 3,5 Mrd. Euro zur Verfügung. Die Bundesländer können die jeweiligen Mittel abrufen, tun es aber oft nicht ausreichend. Zur Bewältigung der Herausforderung des Flüchtlingszuzugs und zur Bekämpfung von Fluchtursachen sehen allein die Eckwerte im Bundeshaushalt für das Jahr 2017 rd. 10 Mrd. Euro mehr vor als der Finanzplan aus dem vergangenen Sommer. Darin enthalten sind auch die zusätzlichen Mittel für den Wohnungsbau (+0,8 Mrd. Euro), für Arbeitsmarkt, Integration und Rente (+1,1 Mrd. Euro) sowie für familienpolitische Maßnahmen (0,45 Mrd. Euro). Die Finanzlage der Länder insgesamt hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. Dabei ist allerdings die Haushaltssituation zwischen den einzelnen Ländern – wie auch in den Kommunen – heterogen. Die Bundesländer haben dieses Jahr für die Finanzierung von Flüchtlings-

losenraten und Steuerkraft sind nun gleich niedrig. Bereits heute zeichnen sich aussterbende ländliche Regionen ab und eine erhöhte Binnenmigration in die Ballungszentren, welche mit ihrer Infrastruktur und Wohnungskapazität an ihre Grenzen stoßen. Und da sich diese Strukturschwäche auch in den jeweiligen Steuereinnahmen niederschlägt, können die grundgesetzlich garantierten gleichwertigen Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet kaum mehr aufrechterhalten werden. Hier gilt es, entschieden umzusteuern – auch weil aufgrund der geflüchteten Menschen zusätzliche Herausforderungen zu bewältigen sind. Allein die Unterbringung anerkannter Asylbewerber werde auf Basis des Integrationskonzepts der Bundesregierung die Kommunen rund 500 Millionen Euro kosten. 15.000 Erzieher und 22.000 Lehrer zusätzlich werden wohl für die Integration von Flüchtlingen benötigt, nach einer vorsichtigen Schätzung. Insgesamt wird so die Integration einen zweistelligen Milliardenbetrag kosten.4 Der Deutsche Städtetag rechnet bei den kommunalen Integrations- und Sozialleistungen im Jahr 2016 mit bis zu

Wie können Landkreise, Städte und Gemeinden besser unterstützt werden? Ganze Regionen – in Ost wie West – wurden durch Strukturwandel von wirtschaftlicher Prosperität abgekoppelt; ihre Wirtschaftsstärke, Erwerbs-

1,5 Milliarden Euro zusätzlichen Ausgaben der Kommunen für anerkannte Asylbewerber. In den Städten sind weiterhin zusätzliche Plätze in Kitas (zusätzlicher Bedarf von gut 80.000 Plätzen) und Schulen nötig, ebenso mehr bezahlbare Wohnungen, ausreichende Angebote für Sprachunterricht, Nachhilfe und Integrationskurse, für Jugendhilfe, Leistungen für Familien sowie für Hilfen für den Einstieg ins Arbeitsleben. Gleich, auf welche Zahl man fokussiert, wird deutlich, dass die finanzielle Unterstützung von Bund und Län-

dern auf mittlere Sicht nicht ausreichen wird. Die Sozialausgaben der Kommunen sind zudem sehr massiv um 4,4 Milliarden Euro bzw. 9 Prozent auf 54 Milliarden Euro angestiegen. Monatlich werden pro Kopf 670 Euro vom Bund für die Flüchtlingsintegration eingezahlt, wobei dieser Betrag je nach Bundesland größer oder kleiner sein kann. Manche Kommunen rechnen dabei mit einem Betrag von 1000 bis 1200 Euro im Monat. Die meisten Bundesländer zahlen jedoch mehr als den vorgesehenen Betrag von 670 Euro, nämlich bis zu 833 Euro im Monat.5 Wichtig ist, dass die Leistungen auch dort ankommen, wo sie benötigt werden. Ein Mittel dafür wären Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen. Die Länder müssen dabei verpflichtet Fortsetzung auf folgender Seite


Kommunal-Info 6/2016 werden, die Bundesmittel gezielt an die betroffenen Kommunen weiterzuleiten. Die „klebrigen Finger“ der Länder müssen gewaschen werden und der Vergangenheit angehören. Sinnvoll erscheint ferner, dass die Länder ihre Beteiligung an laufenden Betriebskosten der Kitas erhöhen und die Ausgaben für unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche vollständig finanzieren. Die Länder sollten außerdem Sondermittel für den Bau und die Ausstattung von Schulräumen zur Verfügung stellen und Programme dafür auflegen. Sie sollten im Rahmen ihrer Verantwortung für Bildung auch die Mittel für das dringend benötigte zusätzliche schulische Ergänzungspersonal, wie Sozialpädagogen, Schulpsychologen und Dolmetscher sichern. Grundsätzlich bleibt festzustellen: Bund und Länder müssen gemeinsam die ohnehin unterfinanzierte kommunale Infrastruktur sowie sozialen Wohnungsbau finanzieren. Erfordernisse zur Stärkung der Kommunalfinanzen, insbesondere vor dem Hintergrund einer umfänglichen Integration geflüchteter Menschen Kurzfristig muss der Bund die Kosten der Flüchtlingsaufnahme vorrangig übernehmen, um einen Mindeststandard bei der Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Länder und Kommunen bleiben in der Verantwortung, indem sie die Mittel für die Betreuung und lokale Integration der Asylsuchenden und anerkannten Schutzberechtigten zur Verfügung stellen. Der Bund hat also die Kosten zu tragen, die Länder und Kommunen nicht beeinflussen können. In erster Linie kommen dafür die Sozialkosten infrage. Dies ist auch deshalb notwendig, um Kommunen handlungsfähig zu machen, um wichtige Zukunftsinvestitionen in Bildung und Infrastruktur zu tätigen. Daran anknüpfend ist umgehend ein Sofortprogramm in Höhe von 25 Mrd. Euro aufzulegen, um die Handlungsfähigkeit des Staates in seinen originären Aufgabenbereichen wieder herzustellen und einen generellen Ausbau sozialer Dienstleistungen und öffentlicher Infrastruktur für alle zu gewährleisten. Angesichts der momentan niedrigen Zinsen ist die Finanzierung öffentlicher Investitionen für den Staat so günstig wie noch nie. Deshalb sollten folgende Maßnahmen in Angriff genommen werden: Aufstockung der Soforthilfe an die Kommunen und Länder zur Erstattung sämtlicher Kosten der Integration von Flüchtlingen; Bundessonderprogramm barrierefreier sozialer Wohnungsbau mit 500.000 Wohnungen (Neubau und Kauf von Sozialwohnungen, Ankauf von Belegungsbindungen und Ertüchtigung von Leerstand) in Mischnutzung für Menschen mit geringen Einkommen und Flüchtlinge; Ausbau arbeitsmarktpolitischer Qualifizierungs- und Integrationsprogramme; mindestens 300.000 Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose und Flüchtlinge in einem vernünftig organisierten und finanzierten ÖBS; Verbesserung der Gesundheitsversorgung; Sprachkurse anbieten;

Seite 4 Bundeszuschuss für Bildung (Schulen, Kitas, aber auch Volkshochschulen und - insbesondere für Mädchen und junge Frauen - Bibliotheken); Ausbau sozialer Beratungsstellen; Bekämpfung von Fluchtursachen u.a. mehr Geld für das UN-Flüchtlingshilfswerk und für das Welternährungsprogramm. Damit sich jedoch die finanzielle Lage der Städte und Gemeinden nachhaltig und überall in gleichem Maße verbessert, sind eine grundlegende Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen sowie eine Gemeindefinanzreform vonnöten. Der Länderfinanzausgleich ist solidarisch, sozial gerecht und aufgabengerecht zu gestalten. Einnahmeschwache Bundesländer müssen über genügend Mittel verfügen, um föderale Aufgaben in gleicher und guter Qualität wie die finanziell gut gestellten Bundesländer ausführen zu können. Mit einem Soli-gestützten dritten Solidarpakt müssen auch nach 2019 bundesweit gezielt strukturschwache Regionen unterstützt werden. Dabei könnte der Bund Teile dieser Gelder einsetzen, um die Länder und Kommunen bei den Kosten für die Flüchtlingsintegration zu entlasten. Der Bund muss in seinen Haushalt dauerhaft eine hohe einstellige Milliardensumme als kommunale Investitionspauschale einstellen. Um originäre Einnahmen der Kommunen zu steigern und zu verstetigen, ist die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer mit breiterer Bemessungsgrundlage weiterzuentwickeln. Bündnispartner sind insbesondere bei Umsetzung eines ersten Schrittes dorthin leicht zu finden, wenn es um die Einbeziehung freier Berufe in die Gewerbesteuerpflicht geht. Die Verteilung des Gesamtsteueraufkommens ist kritisch zu überprüfen, und die Kommunen sind stärker als bislang an den gemeinschaftlichen Steuern zu beteiligen. Für die Handlungsfähigkeit des Staates ist es darüber hinaus notwendig, alle Steuerschlupflöcher zu schließen sowie Steuersparmodelle zu entlarven und zu verhindern. Eine gerechtere Besteuerung insbesondere von Kapitaleinkünften und großen Vermögen ist ebenso geboten wie eine gerechte Erbschaftsteuer, die vor allem nicht von einem Großteil der Unternehmen umgangen werden kann. Eine Sonderabgabe der deutschen Rüstungsindustrie ist zu erheben, um die Kosten der Integration mitzufinanzieren. —

Veranstaltungen des KFS Juli – November 2016 Intensivseminar

für junge Kommunalpoliker*innen

Kommunale Wirtschaft. Kommunaler Haushalt von Freitag 29. Juli 2016 ab 18 Uhr bis Sonntag 31. Juli 2016 14 Uhr

in Cunnersdorf

„Alte Schule Cunnersdorf“ Schulweg 10, Schönteichen

Referent: Alexander Thomas (Dipl.-Verwaltungswirt, Parlamentarisch-wissenschaftlicher Berater)

Intensivseminar Kommunaler Haushalt. Kommunale Einnahmen von Freitag 12. August 2016, ab 17.00 Uhr (Einchecken i. Hotel) bis Sonnabend 13. August 2016, 15.30 Uhr

in Trebsen

Hotel Schloßblick, Markt 8

Referent: Alexander Thomas (Dipl.-Verwaltungswirt, Parlamentarisch-wissenschaftlicher Berater)

Kommunalpolitischer Tag im LANDKREIS ERZGEBIRGE

zum Thema: Fördermittel für Kommunen am Sonnabend, 24.09.2016, 10:00 - 16:30 Uhr

in Annaberg-Buchholz

GDZ Annaberg, Adam-Ries-Straße 16, Referent*innen: Susanna Karawanskij, MdB (Politik- und Kulturwissenschaftlerin) Verena Meiwald, MdL (Diplomlehrerin, Sprecherin für Fördermittelpolitik) „Kulturbüro Sachsen e.V.“ (angefragt) Konrad Heinze (Politikwissenschaftler, Vorstand KFS) Andi Weinhold (LEADER Regionalmanager Annaberger Land)

Kommunalpolitischer Tag LANDKREIS ZWICKAU

Sonnabend, 15.10.2016, 10:00 - 16:00 Uhr

Kommunalpolitischer Tag LANDKREIS NORDSACHSEN Sonnabend, 19.11.2016, 10:00 - 15:30 Uhr

in Eilenburg

Bürgerhaus Eilenburg, Franz-Mehring-Straße 23, Eilenburg

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„Maßnahme-Paket der Sächsischen Staatsregierung“, Website: www. asylinfo.sachsen.de/massnahmenpaket-der-staatsregierung.html, aufgerufen am 14.4.2016. 2 „Die Rechnung“, in: Handelsblatt, v. 1.4.2016. 3 Ebd.

Vgl. http://www.tagesspiegel. de/politik/betreuung-von-fluechtlingen-kommunen-integration-kostet-zweistelligen-milliardenbetrag/13464792.html 4

5

Ebd.

Referenten: Andreé Schollbach (Rechtsanwalt, MdL) N.N.

Um die organisatorische Vorbereitung zu erleichtern, wird um rechtzeitige Anmeldung gebeten. Anmeldungen und weitere Informationen unter: Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. 01127 Dresden, Großenhainer Straße 99 Tel.: 0351-4827944 oder 4827945 Fax: 0351-7952453 info@kommunalforum-sachsen.de www.kommunalforum-sachsen.de


Juni 2016

Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag

ParlamentsReport Nicht Braunkohle, sondern aktive Politik ist die Brücke!

„mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“. Dieser Ausspruch des damaligen Grünen-Abgeordneten Fischer, der 1984 dem Bundestagspräsidenten Richard Stücklen galt, steht nun auch im Protokoll des Sächsischen Landtages. Zitiert hat ihn unser Parlamentarischer Geschäftsführer Sebastian Scheel. Nicht nur die bundesweite Berichterstattung interpretierte das als Beleidigung des Landtagspräsidenten Matthias Rößler. Scheels Stil ist eigentlich ein anderer, und so widmeten sich die Medien der Vorgeschichte: Was war passiert? Die „Indemnität“ schützt Parlamentarier in Deutschland davor, für Äußerungen, die sie in Ausübung ihres Mandats tätigen, verfolgt zu werden. Einzige Ausnahme laut Grundgesetz: Verleumdungen. Einer solchen hat sich Frank Heidan (CDU) aus unserer Sicht schuldig gemacht, als er im Mai während der Debatte über die Tagebau-Besetzung ausfällig wurde. Protokoll: „Die LINKEN sind Krawallbrüder, das sind Straftäter. Im Kriegsfall würde man sagen, es sind Partisanen; im Friedensfall, sage ich Ihnen, sind es Terroristen, die Gleisanlagen besetzen, die Maschinen stürmen“. Rößler ließ Heidan gewähren! Meine Fraktion wollte ihn deshalb zum Beginn des Juni-Plenums auffordern, „mit einem angemessenen Ordnungsmittel zu reagieren“. Rößler hatte den Text der Erklärung wunschgemäß vorab erhalten, verbannte sie dann aber ans Ende der Sitzung – mit der Aufforderung, sie zu überdenken. Dieser Selbstherrlichkeit fügten wir uns nicht: Wir veröffentlichten den Text und gaben ihn zu Protokoll. Wir nehmen es nicht hin, wenn frei gewählte Abgeordnete für die friedliche Ausübung ihres Mandats als Verbrecher abgestempelt werden! Das zumindest dürfte das Medien-Echo auf den „Arschloch-Eklat“ klargemacht haben.

Rico Gebhardt Fraktionsvorsitzender

Gegenwärtig sind die sächsischen Regionen, die von Braunkohleabbau und -verstromung geprägt sind, nicht auf ein vorzeitiges Ende dieser Wirtschaftszweige vorbereitet. Das aber hätte erhebliche ökonomische, soziale und ökologische Konsequenzen. Der Freistaat muss vorsorgen, damit das Ende des Kohlezeitalters die Region und ihre Menschen nicht unvorbereitet trifft. Deshalb will die Linksfraktion mit einem „Gesetz zur Bewältigung des Strukturwandels“ (Drs 6/1398) dafür sorgen, dass nach Zukunftsperspektiven geforscht wird. Ein „Braunkohle-Strukturwandelförderfonds“ soll pro Jahr mit zehn Millionen Euro aus dem Landeshaushalt versehen werden. Aus ihm sollen Investitions- und Forschungsvorhaben finanziert werden, damit kein Strukturabbruch entsteht. Der droht beim von der Regierung gewollten „Weiter so“. Dr. Jana Pinka, Umwelt-Expertin der Linksfraktion, entlarvte ein altes Lied von der „Brückentechnologie“: „Der immer wieder gebetsmühlenartig bemühte Begriff bedeutet das Gegenteil von Wandel: Denn wohin führt denn Ihre Brücke, werte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition? Und wie lange soll überbrückt werden? Ihre

Brücke führt zum möglichst langen Ausschlachten der in der Lausitz lagernden Ressourcen. Bis zum letzten Häufchen Braunkohle wird die Lausitz umgepflügt und ausgekohlt. Natur, Umwelt, Landschaft, Wasserhaushalt, Ortschaften und der Mensch müssen dafür noch in Jahrzehnten weichen“. Die Linksfraktion wolle neue Entwicklungspfade und vielfältige Ideen. Geplant seien keine Schreibtisch-Studien, sondern eine Analyse unter Beteiligung aller Betroffenen, praxisnah und mit Pilotprojekten. „Braunkohle spielt da auch eine Rolle, aber nur so lange wie nötig. Landauf, landab haben fachkundige Menschen gezeigt, dass es aus vielfältigen Gründen nicht nötig ist, Kohle über 2040 hinaus abzubauen“. Deshalb brauchten die Menschen in der Lausitz Planungssicherheit für sich, ihre Kinder und Enkel. Schluss mit der Zukunftsangst! Zu einem Vorzeigeprojekt für die Energiewende könne die Lausitz aber nur werden, wenn sie rechtzeitig dafür ertüchtigt wird, sich von einer Industrieregion in ein Zentrum für hochtechnologische Industrien (z. B. im Umweltschutz) und für moderne Dienstleistungen zu wandeln. „Die Brücke dahin ist nicht die Braunkohle, sondern eine aktive Politik“, so Pinka. Für die Regierungsfraktionen gelte aber bisher: „Abwarten, Wegducken und beim Niedergang der Lausitz zuschauen“.

Landesregierung ein helfendes Sofortprogramm. Doch auch hier geschieht nichts. Derweil zeigen 23 Kommunen grenzüberschreitende Aktivität und schlagen vor: „Mithilfe eines Staatsvertrags zwischen dem Bund und den Ländern Sachsen und Brandenburg könnte die Schaffung von alternativen Industriearbeitsplätzen finanziert werden“. Auch diesem Bündnis schwebt vor, dass die Lausitz zu einer Modellregion werden und ein selbst verwalteter Regionalfonds helfen könnte. Hinzu kommt: Offenbar hat Vattenfall seine Pflichten, für die Sanierung der Bergbau-Folgekosten vorzusorgen, nicht ausreichend erfüllt. Die Rückstellungen reichen nach bisheriger Kenntnis nicht aus. Sie betreffen auch nur die Wiederherstellung der Tagebaugebiete, nicht aber Langzeitschäden wie die Verockerung der Spree oder die Sulfatbelastung von Trinkwasservorkommen. Vattenfall zahlt zwar an den tschechischen Käufer der Braunkohle-Sparte insgesamt 1,7 Milliarden Euro für die Altlastenbeseitigung. Es ist aber offen, wie der nicht-staatliche Konzern EPH mit dem Geld umgeht – es könnte über die Jahre in den Bilanzen versickern. Die Staatsregierung muss EPH verpflichten, vorzusorgen, und Sicherheitsleistungen einfordern! Bergbaurechtliche Genehmigungen könnte sie mit Auflagen versehen. Bei Betrieben, die Natursteine,

© Claus Weisweiler / pixelio.de

Liebe Leserinnen und Leser,

Strukturwandel! Dieser Begriff kann ängstigen, gilt Veränderung doch selten als Wert an sich. Eigentlich sind wir alle oft froh, wenn das Leben in den gewohnten Bahnen bleibt. Richtig ist aber auch Gorbatschows Ausspruch zur Zeitenwende 1989: „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“. Für die Lausitz, wo das Ende der Braunkohleverstromung nur noch eine Frage der Zeit ist, wäre es gefährlich, dem Kurs der Regierung zu folgen und sich an die Kohle zu klammern, ohne nachzudenken, was danach kommt. Auf die Frage, wie sich den Menschen in der Region eine neue wirtschaftliche Perspektive eröffnen lässt, hat die Regierung bisher keine Antwort. Lieber wirft sie denen, die eine solche Antwort suchen wollen, vor, sie wollten ein Ende der Kohleverstromung über Nacht und gefährdeten so die Versorgungssicherheit. Dabei gehen auch wir von einem Ausstieg bis 2040 aus – ein konkreter Zeitpunkt ist aber weder abseh- noch planbar. Bekannt ist nur, dass das Kraftwerk Jänschwalde bis 2030 vom Netz geht, die beiden ältesten Blöcke in Boxberg bis 2025. Europa- und bundesweit gibt es aber einen klimapolitisch wünschenswerten Trend weg von der Kohleverstromung. Deshalb ist auch die Auffassung der Staatsregierung, trotz des absehbaren Abbau-Endes weiter überwiegend allein auf diesen Wirtschaftszweig zu setzen, überholt.

Das hilft übrigens auch nicht den Kommunen, bei denen nach dem Verramschen der Braunkohle-Sparte an EPH nun Gewerbesteuerrückforderungen des schwedischen Konzerns auflaufen. Der Bürgermeister von Weißwasser, Torsten Pötzsch, spricht von Forderungen in Höhe von zehn Millionen Euro für 2014 bis 2016. Bei der Gemeinde Neukieritzsch liegen sie bei etwa fünf Millionen Euro, in Borna bei einer Million Euro. Die Linksfraktion fordert von der

Kiese, Ton, Lehm, Kaolin oder Flussund Schwerspat fördern, ist das selbstverständlich. Warum eigentlich nicht bei Braunkohle-Förderern? Die Folgen des Kohle-Abbaus werden uns noch jahrzehntelang beschäftigen. Pinka erwartet von der Regierung, „dass sie eine Kostenabwälzung auf uns alle verhindert“. Je länger sie wartet, desto größer werden die Folgekosten. Die sind schon jetzt furchteinflößend.


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PARLAMENTSREPORT

Juni 2016

manus, -us, f. (lat.), I. Hand, II. Arm Die Porzellanmanufaktur Meissen ist seit 300 Jahren im staatlichen Besitz. Sie steht für 300 Jahre Erfindergeist, 300 Jahre Innovation, Porzellan in bester Qualität, wertvoll und ansprechend. Die politische Verantwortung für ihren Kurs liegt bei Finanzminister Georg Unland (CDU). Seit Jahren herrscht nun Krisenstimmung in Meissen.

den Charakter des Unternehmens, der „Manufaktur“, die – wie der Name sagt – für künstlerische Handarbeit steht. Anfang Juli beriet der Aufsichtsrat über die strategische Ausrichtung. Die Linksfraktion sorgte dafür, dass der Landtag vorher darüber diskutierte – Titel: „Tradition stärken, Vertrauen wieder herstellen, Experimente beenden!“

Ab 2008 wollte der damalige Geschäftsführer Christian Kurtzke die bis dahin solide aufgestellte Manufaktur zu einem weltweit agierenden Luxuskonzern umformen. Die Strategie sah vor, in alle Bereiche des Luxusgeschäftes einzudringen und sich weit vom Kern des Unternehmens, der Porzellanherstellung, zu entfernen. Der Erfolg blieb aus: Am Ende musste ein Gesellschafterdarlehen von 7,5 Millionen Euro in Eigenkapital umgewandelt werden. 2013 wurden weitere 12,2 Millionen Euro Steuergeld zugeschossen, 2014 noch einmal 9,8 Millionen Euro. 2015 wurde eine ominöse Stiftung gegründet, um noch mehr Eigenkapital in das Unternehmen zu schaffen. „50 Millionen Euro Steuergeld sind bisher hineingepumpt worden. Aus Schals, Tischchen, Deckchen und Törtchen wurden Ladenhüter im Wert von 2,8 Millionen Euro. Die italienische Tochter ist noch einen Euro wert. Für diesen Trip wurde 180 Beschäftigten gekündigt“, fasst der Kulturpolitiker der Linksfraktion, Franz Sodann, zusammen.

Für Sebastian Scheel, Meißener Abgeordneter und Finanzpolitiker

der Linksfraktion, war es „kindlicher Übermut, sich mit den Großen der Branche weltweit anzulegen. Wer wirklich glaubt, Meissen, unser Kleinod, könne es mit Branchengrößen wie der LVMH Moët Hennessy – Louis Vuitton SE aufnehmen, der muss von irgendetwas in Meißen zu viel getrunken haben“. Staatsminister Unland habe Vertrauen verspielt, indem er das Parlament nicht an den Strategieentscheidungen beteiligte. So sei auch unsicher,

ob er es vermag, „das Unternehmen wieder dorthin zurückzubringen, wo es hingehört, nämlich in die Herstellung von hochwertigsten Porzellanen und deren künstlerische Aufbereitung“. Die Linksfraktion warne davor, dem altehrwürdigen Unternehmen nun die Diskussion über mehr technisch produziertes Porzellan zuzumuten. Das könne sich als erneute schädliche Fehlentscheidung erweisen. Franz Sodann fürchtet für diesen Fall eine „endgültige Entwertung des Meissner Porzellans und dessen Weltrufs“. Auch den Beschäftigten drohe Gefahr, „denn deren Kunst wird teilweise nicht mehr gebraucht, wenn Dekore vermehrt aufgedruckt werden“. Die Regierungskoalition konterte, die von der LINKEN angestoßene Debatte schade dem Ruf des Unternehmens. Bei Sebastian Scheel rief das ein Déjàvu-Erlebnis hervor: Als der Landtag 2007 über die Strategie der inzwischen untergegangenen Landesbank SachsenLB debattierte, sei ähnlich argumentiert worden …

© Rahel Szielis / pixelio.de

Die Diskussion über die Strategie der Manufaktur, in die der Landtag einbezogen werden muss, hält an. Nun droht möglicherweise ein neuer gefährlicher Ausflug, diesmal in die Welt der industriellen Fertigung. Soll statt des berühmten, edlen Meissner nun vor allem Gebrauchsgeschirr hergestellt werden? Dabei geht es nicht darum, ob das Geschirr spülmaschinenfest ist – das ist es zum Teil schon, sogar das handbemalte („Unterglasur“). Es geht um

„Wenn wir es so weit kommen lassen, dass handbemaltes Porzellan zu industriell gefertigtem Tischgeschirr wird, dann beschädige nicht ich das Image, sondern das schaffen Sie, meine Damen und Herren von CDU und SPD, ganz allein“, so Scheel. Er forderte den Finanzminister auf, den Mitarbeiter*innen eine Beschäftigungsgarantie zu geben, zum Kern der handbemalten Porzellane zurück zu kehren und die Markenstreitigkeiten mit anderen Unternehmen in Meißen zu beenden. Franz Sodann riet: „Hören Sie auf, dieses kulturellen Erbe zum Spielball wahnwitziger kurzsichtiger Ideen werden zu lassen. Frei nach Brecht: Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht, und mach noch einen zweiten Plan, geh‘n tun sie beide nicht“. Die Strategiedebatte geht also auch im 306. Jahr der Manufaktur weiter.

Sofortprogramm „Sicheres Sachsen“ jetzt! Wie geht es Sachsens Polizei? Und wie viel Personal braucht sie? Diese Fragen sind offen, jedenfalls dann, wenn man wissenschaftliche Antworten erwartet und nicht „nur“ politisch motivierte. Auch die Fachkommission, die 2015 unter der Leitung des Innenministeriums den Bedarf berechnen sollte, hat sich vor allem vom Kürzungswahn des Finanzministers leiten lassen. So arbeiten die Polizistinnen und Polizisten weiter am Leistungslimit oder schon darüber. „Hohe Krankenstände und eine steigende Zahl von Langzeiterkrankten sind sichtbare Indikatoren“ befindet Enrico Stange, Sprecher für Innenpolitik der Linksfraktion. Die Linksfraktion unterstützt die Forderungen des Sofortprogramms „Sicheres Sachsen“ der Gewerkschaft der Polizei. Wir trugen sie in den Landtag (Drs 6/5372), verbunden mit einem Plädoyer für eine neutrale Analyse der Aufgaben, die die sächsische Polizei erfüllen muss. Dazu müssen fachliche, keine

politisch beeinflussten Expertisen eingeholt werden, und zwar von unabhängigen Instituten. Davon ausgehend muss der Doppelhaushalt 2017/2018 endlich eine moderne, attraktive, hoch motivierte und vernünftig ausgestattete Polizei ermöglichen. Hoch mit den Ausbildungskapazitäten! Jährlich 800 und nicht nur 600 Anwärter*innen einstellen! Mehr Mittel für das polizeiliche Gesundheitsmanagement! Enrico Stange erinnerte an eine Sachverständigenanhörung zum Abschlussbericht der Fachkommission. Der lag Ulbig seit dem 14. Dezember 2015 vor, der vier Monate brauchte, um ihn offiziell dem Landtag zu übergeben. Im Mai schließlich trafen sich namhafte Experten, um das Papier zu bewerten. „Wir hatten geargwöhnt, dass weder die Aufgaben analysiert noch der Bedarf an Personalstellen nachvollziehbar berechnet worden sind“, so Stange. Die Anhörung bestätige das. Offenbar hätten vor allem finanzpolitische, weniger

fachliche Erwägungen zur Empfehlung der Kommission geführt, den Personalbestand um nur 1.000 Stellen aufzustocken. Hagen Husgen, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Sachsen: „13.042 Stellen im Haushaltsjahr 2015 entsprechen nicht dem Bedarf. Aber 14.040 Stellen werden dagegen als ausreichend anerkannt. Da frage ich mich, wie man eine solche Aussage begründen kann, ohne dass ausreichend Zahlen zur polizeilichen Praxis in Sachsen dargelegt werden. Kann daraus tatsächlich ein Personalbedarf erhoben werden? Ich denke, kaum“. Laut Stange habe das Kommissionsmitglied Prof. Gisela Färber, Verwaltungswissenschaftlerin aus Speyer, eingestanden, dass es gar nicht beabsichtigt war, einen belastbaren Personalbedarf zu berechnen. Erik Berger, Vorsitzender des Polizei-Hauptpersonalrates, kam zum Schluss, dass die Kommission zu wenig Zeit hatte, um eine „qualitätsgerechte“ Empfehlung auszusprechen. Sein Gewerkschaftskollege Peer Oeh-

ler befand: „Dem Kernwillen des Parlaments wurde nicht in der gebotenen Tiefe entsprochen. Ziel war die Rückkehr zur Personalbedarfsberechnung, die Rückkehr dorthin, nicht nur zur Verfügung Stehendes simpel zu verteilen, sondern überhaupt erst einmal zu ermitteln, was erforderlich ist“. Er plädierte für eine „Fachkommission 2.0“ unter externer Leitung. Auch Dieter Müller, Professor an der Hochschule der Sächsischen Polizei, stellt der Kommission ein schlechtes Zeugnis aus. Die Untersuchung habe „erhebliche methodische Schwächen“. Die Methodik liege im Dunkeln, die Daten seien scheinbar willkürlich gewählt, Randdaten wie die Cyberkriminalität überbewertet, die verkehrspolizeiliche Arbeit hingegen unterbewertet worden. Die Regierungskoalition will diese Kritik nicht hören und lehnt Forderungen nach weiteren Analysen ab. Unter ihrer Führung bleibt die sächsische Polizei wohl weiter in schlechter Verfassung.


PARLAMENTSREPORT

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Experten in eigener Sache sollen mitreden!

Der LINKE Entwurf für ein „Gesetz zur Stärkung der Mitwirkung, Mitbestimmung und Interessenvertretung von Seniorinnen und Senioren im Freistaat Sachsen“ (Drs 6/3471) soll ihnen das erleichtern. Er stand nun im Landtag zur Abstimmung – und fiel durch. CDU und SPD haben damit gezeigt, was sie alles für unnötig halten. Behörden, öffentliche Stellen und Einrichtungen wie auch Kreise und Kommunen sollen nicht verpflichtet werden, „geeignete Formen und Verfahren“ für die Beteiligung von Senior*innen „an den sie betreffenden Planungen und Vorhaben zu gewährleisten und vorzuhalten“. Senior*innenvertretungen mit Beteiligungs- und Mitwirkungsrechten soll es nicht geben, auch keine Senior*innenbeauftragten in den Landkreisen und Gemeinden. Aus der Mitte des Landtages soll kein unabhängiger Landessenior*innenbeauftragter gewählt werden. Auch einen Landessenior*innenrat als Beratungsorgan der Regierung und des Landtages zu Belangen älterer Menschen soll

es nicht geben. Kurz: Senior*innen sollen in Sachsen keine stärkere Interessenvertretung bekommen. Horst Wehner, Sprecher für Senior*innenpolitik der Fraktion DIE LINKE, hatte eindringlich dafür geworben, ältere Menschen stärker mitbestimmen zu lassen. „Die Älteren haben die Entwicklung des Freistaates seit der friedlichen Revolution miterlebt und mitgestaltet. Den Jüngeren

Menschen sind dabei vor allem die folgenden Punkte wichtig: Angebote für lebenslanges Lernen, eine sichere Altersversorgung ohne Armutsgefahr, familien- und generationengerechter Wohnraum für ein möglichst langes Bleiben in häuslicher Umgebung, leistungsfähige Gesundheitsund Pflegesysteme. Um all das muss politisch gerungen werden, wobei die Senior*innen als Experten in eigener Sache mitbestimmen sollen. „Ältere

ist der Freistaat politische Selbstverständlichkeit. Jedoch zwingen uns die Folgen des demografischen Wandels auf vielen Politikfeldern zum Um- und Neudenken“. Zentral dabei: dafür zu sorgen, dass alle Menschen – mit und ohne Behinderung, junge und alte, einheimische und zugewanderte – gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Für ältere

Menschen wollen, können und sollen aktiv die Zukunft mitgestalten. Als gleichberechtigte Partner sollen sie selbst mitbestimmen und selbst mitarbeiten dürfen“, so Wehner. Mit der Ablehnung des Gesetzentwurfes ist dieses Anliegen nicht erledigt. Wir ermuntern die Menschen im Freistaat – nicht nur die älteren –, mit uns für mehr Mitbestimmung zu streiten!

© Maren Beßler / pixelio.de

Den demografischen Wandel und andere große Probleme unserer Zeit werden wir nur bewältigen, wenn die Generationen zusammenhalten. Es spricht vieles dafür, auch Seniorinnen und Senioren bestmöglich an der politischen Meinungsbildung zu beteiligen. Dieser Personenkreis besteht heute aus zwei Generationen: den „jungen Alten“ zwischen 60 und 85 und den „Hochbetagten“ über 85. Vor allem die erstgenannte Gruppe ist in der Regel so gesund, aktiv, mobil und produktiv wie nie zuvor in der Geschichte. Weshalb soll sie nicht mehr Möglichkeiten bekommen, sich für ihre Belange einzusetzen, auch in Gremienstrukturen?

Jugendpauschale hoch! Sonst wird’s später teurer Junge Menschen brauchen auch in Sachsen Anlaufpunkte, Freizeitangebote, Jugendeinrichtungen, Freiräume. Muss sich die Jugendarbeit aufgrund von Geldmangel zurückziehen, wird dieser Raum frei für antidemokratische Akteure. Dem Freistaat sollte also daran liegen, jungen Menschen sinnvolle Angebote zu machen, die ihnen auch zu Selbstvertrauen, Konfliktfähigkeit und Demokratiebildung verhelfen. Das wird kaum gelingen, wenn der Staatsregierung die „Jugendpauschale“, die Sachsen an die Träger der öffentlichen Jugendhilfe ausschüttet, nicht erhöht. CDU und FDP haben sie 2010 von 14,30 Euro auf 10,40 Euro pro Jugendlichem gekürzt. Der letzte Doppelhaushalt steigerte sie nur leicht auf 12,40 Euro. Die Linksfraktion fordert (Drs 6/2135), die Pauschale endlich dem Bedarf anzupassen. Im Haushalt 2017/18, über den bis zum Jahresende entschieden wird, müsse die Regierung dafür sorgen, dass mehr Geld für Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit, Jugendsozialarbeit, erzieherischen Kinder- und Jugendschutz, Jugendgerichtshilfe, Familienbildung

und familienunterstützende Beratung bereitsteht. Außerdem solle sie prüfen, wie das Instrument Jugendpauschale weiterentwickelt werden kann. Zwar hat die Staatsregierung angekündigt, im neuen Haushalt zusätzliche Mittel für Schulsozialarbeit bereitzustellen. Die sind aber so niedrig angesetzt, dass nur ein Bruchteil der Schulen davon profitieren kann. © Klaus-Peter Adler / Fotolia.de

Janina Pfau, Sprecherin für Kinderund Jugendpolitik, erinnerte daran, dass die Kürzungen 2010 zu Einschnitten führten, die bis heute nachwirken. „Besonders Gebiete mit rückläufiger jugendlicher Bevölkerung mussten die Angebote verringern“. Das Argument gegen höhere Landesmittel laute oft, dass die Kommunen für die Kinder- und

Jugendhilfe verantwortlich seien. „Nur können insbesondere die Landkreise die Finanzierung nicht mehr sicherstellen. In den letzten Monaten wurden schon schmerzhafte Haushaltsstrukturkonzepte beschlossen. Von diesen Kürzungen ist dann meist die Kinder- und Jugendarbeit betroffen“. Die Anbieter würden zu ständigen Bittstellern degradiert, Mitarbeiter*innen müssten um die Laufzeit ihrer Projekte und um ihre Jobs bangen, bekämen oft keine tarifgerechte Vergütung. Auch fachliche Reflexionsmöglichkeiten und Weiterbildung litten unter der Mittelknappheit. „In den letzten Jahren wurde vor allem ein Trend hin zu Teilzeitarbeitsverhältnissen festgestellt, besonders bei den freien Trägern“. Derweil laste vieles auf den Schultern von Ehrenamtlern. Es sei geboten, dass sich der Freistaat stärker engagiert. Die Koalition lehnte ab – wir werden das Thema in der Haushaltsberatung wieder aufrufen! Denn jede Kürzung bei der Jugendarbeit verursacht hohe Folgekosten – dann nämlich, wenn die Jugend in den Bann der Falschen gerät.

Polizei-Beschwerden:

Ein Placebo schafft kein Vertrauen! Was tun, wenn sich Polizeibeamte im Dienst falsch verhalten? Oder wenn der Dienstherr Ärger macht? Beschwerdeführende Bürger*innen und Polizeibeamte können sich bisher an eine „Zentrale Beschwerdestelle“ wenden, die im Januar 2016 mit zunächst vier Mitarbeiter*innen ihre Arbeit aufgenommen hat. Das Problem: Sie ist direkt in Markus Ulbigs Innenministerium angesiedelt – Unabhängigkeit sieht anders aus. Für Enrico Stange, Sprecher für Innenpolitik der Fraktion DIE LINKE, ist sie deshalb ein „lächerliches Placebo“, das auch den Festlegungen im Koalitionsvertrag widerspricht. Dort haben CDU und SPD festgelegt: „Wir wollen das Vertrauensverhältnis zwischen der sächsischen Polizei und den Bürgerinnen und Bürgern weiter stärken und Hinweise, Anregungen und Beschwerden ernst nehmen. Zu diesem Zweck wird eine unabhängige Zentrale Beschwerdestelle der sächsischen Polizei im Staatsministerium des Innern eingerichtet“. Das kleine, aber sehr wichtige Wörtchen „unabhängige“ ist jedoch offenbar „der Dienst-, Fach- und Rechtsaufsicht des Innenministeriums und, moderat formuliert, der politisch motivierten Eingriffsbefugnis des Ministers geopfert worden“. So lautet Stanges Fazit. Er hat sich übrigens vergeblich bemüht, beim Innenminister die Rechtsgrundlage zu erfragen, auf der die Arbeit der Beschwerdestelle basiert. Sie liegt im Dunkeln. Offenbar beruht die Beschwerdeinstanz nur auf einer Konzeption, die nicht öffentlich ist. Eine Rechtsverordnung oder ähnliches ist nicht bekannt. Die Fraktion DIE LINKE hat dem Landtag ein Gesetz (Drs 6/5439) vorgeschlagen, das eine wirklich autonome Ombudsstelle für die Sachsen-Polizei schaffen soll. Diese soll frei sein von der Gefahr politischer Eingriffe und von dienstlichen Weisungsbefugnissen. Sie soll als sichere Anlaufstelle für alle Bürger*innen des Freistaates und alle seine Polizei-Bediensteten fungieren. Eine solche unabhängige Instanz der Streitschlichtung würde Verfahrenssicherheit schaffen, für jede Art von Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie für Auseinandersetzungen von Polizei-Bediensteten mit Dienstvorgesetzten oder dem Dienstherrn. Mit dem Gesetzentwurf folgt unsere Fraktion den Vorschlägen der Gewerkschaft der Polizei. Wir wollen mit diesen Maßnahmen die Bürgernähe der Polizei vergrößern. Neben der unabhängigen Ombudsstelle sehen wir auch eine Regelung zur Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamtinnen und -beamten in geschlossenen Einheiten vor. Sie soll die Identifikation von Polizistinnen und Polizisten im Einsatz erleichtern. Ein funktionierendes Beschwerdemanagement schafft Vertrauen in die sächsische Polizei – und auch innerhalb der sächsischen Polizei!


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PARLAMENTSREPORT

Juni 2016

Ansporn für eine aktive Zivilgesellschaft Zum zweiten Mal hat die Linksfraktion ihren Preis „Gelebte Willkommenskultur und Weltoffenheit in Sachsen“ vergeben. Die Verleihung fand in den Räumlichkeiten des „Sorbischen Nationalensembles“ in Bautzen statt und wurde anlässlich des 75. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion mit der sächsischen Erstaufführung der bewegenden „Stalingrad-Sinfonie“, Werk des sorbischen Komponisten Heinz Roy,

ren die Mitglieder ehrenamtlich Angebote für Asylsuchende – Deutschkurse, Sommerfeste, praktische Alltagsunterstützung, Film- und Gesprächsnachmittage, Ausstellungen, Podiumsdiskussionen, eine Fahrradwerkstatt oder auch ein Kochprojekt. Neben dieses vielfältige praktische Engagement tritt ein klarer politischer Anspruch: Partei zu ergreifen für Geflüchtete und gegen rassistische Mobilisierung. Dazu gehört

Wir gratulieren herzlich allen Preisträgern und danken ihnen, wie auch allen anderen Initiativen und Personen, die für ein friedliches Zusammenleben streiten, für ihr Engagement! Und wir möchten sie ermutigen, sich an einer erneuten Preisausschreibung, über die wir rechtzeitig informieren werden, wieder zu beteiligen. Dann wird auch die nächste Verleihungsveranstaltung sicher würde- und freudvoll.

Plenarspiegel Juni 2016 Die 36. und 37. Sitzung fanden am 22. und 23. Juni 2016 statt. Die Fraktion DIE LINKE war mit folgenden parlamentarischen Initiativen vertreten: Aktuelle Debatte „Die staatliche Porzellanmanufaktur Meissen – Tradition stärken, Vertrauen wieder herstellen, Experimente beenden!“ Gesetzentwürfe „Gesetz zur Bewältigung des Strukturwandels in den von Braunkohleabbau und -verstromung geprägten Regionen in Sachsen (Sächsisches Strukturwandelfördergesetz)“ (Drs 6/1398) „Gesetz zur Stärkung der Mitwirkung, Mitbestimmung und Interessenvertretung von Seniorinnen und Senioren im Freistaat Sachsen (Sächsisches SeniorInnenmitbestimmungsgesetz)“ (Drs 6/3471) „Gesetz zur Gewährleistung der Gleichstellung von Beamtinnen und Beamten im Vorbereitungsdienst bei Leistungen nach dem Reisekostengesetz“ (Drs 6/522) „Gesetz zur Errichtung der Unabhängigen Ombudsstelle der Sächsischen Polizei und zur Änderung weiterer Gesetze“ (Drs 6/5439) Anträge „Evaluation und Weiterentwicklung der Jugendpauschale im Freistaat Sachsen“ (Drs 6/2135) „Sofortprogramm ,Sicheres Sachsen‘ – Ergebnisoffene Evaluierung der Polizei und Sofortprogramm für eine moderne, attraktive, hoch motivierte sowie personell und materiell vernünftig ausgestattete Polizei jetzt!“ (Drs 6/5372) Sammeldrucksache 6/5402 mit den Anträgen der Linksfraktion „Sofortprogramm zur Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung der sächsischen Landespolizei auflegen und umsetzen (Landesprogramm Polizei Sachsen)“ (Drs 6/3205) „Ergebnisse der Fachkommission zur Evaluierung der Polizei des Freistaates Sachsen umsetzen - Einstellungskorridor deutlich erhöhen!“ (Drs 6/3932) Drucksachen (Drs) und Reden unter linksfraktion-sachsen.de

Umgang mit Behörden, gibt Deutschunterricht, organisiert einen Austausch auf Augenhöhe. Mittlerweile hat auch die Hausgemeinschaft den Wert ihrer Arbeit erkannt. So spielen nun auch die Kinder einer anfangs ablehnend auftretenden Familie mit den Kindern von Familie Augusta und den Kindern der Asylsuchenden. Sie begegnen sich als Menschen, was sich im Dorf herumspricht und somit humane Fakten setzt.

Termine verbunden. An der Veranstaltung nahmen auch der Oberbürgermeister der Stadt Bautzen, Alexander Ahrens, der ein Grußwort hielt, und die Ausländerbeauftragte des Landkreises, Anna Piętak-Malinowska, teil. Die Entscheidung für den Veranstaltungsort war kein Zufall: Zum einen bildete das Konzert einen feierlichen Rahmen. Zum anderen wurde Bautzen, nachdem es in die Reihe sächsischer Orte im Ruch aggressiver Fremdenfeindlichkeit geraten war, schnell zugleich zum Markenzeichen für den mutigen Umgang mit einem solchen Desaster. Das Gesicht dafür wurde Oberbürgermeister. „Wir haben uns für den Ort Bautzen entschieden, weil er dafür stehen könnte, was wir aus der Herausforderung Integration praktisch zum Wohle aller schaffen können: für die, die schon lange da sind, für die, die gekommen sind, und für die, die noch kommen werden. Bautzens traditionelle sorbisch-deutsche Bikulturalität ist doch ein schöner Rahmen für ein solches Projekt“, so der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Rico Gebhardt. „In diesem Sinne ist auch unser Preis Anerkennung und Ansporn für eine aktive Zivilgesellschaft“. Das schmerzliche Dilemma, dem solche Preise unterliegen, ist klar: Obwohl alle Engagierten eine Auszeichnung verdienen, muss die Jury eine Wahl treffen. Diesmal lagen 23 Bewerbungen und Vorschläge vor. Diese Entscheidungen fallen sehr schwer. Am Ende aber haben sich die fünf Juror*innen – Emiliano Chaimite (Vize-Vorstandsvorsitzender des Ausländerrat Dresden e. V.), To Ha Hoang Thi (Asylsuchende) sowie die LINKEN-Abgeordneten Juliane Nagel, Lutz Richter und Marion Junge – entschieden. Die Preisgelder stammen aus Spenden der Abgeordneten. In der Kategorie „Etablierte Initiative“ ging der Preis an die AG Asylsuchende Sächsische Schweiz/Osterzgebirge e.V. Seit ihrer Gründung 2008 organisie-

nicht nur die Kooperation mit der antirassistischen Faninitiative 1953international, sondern auch der erfolgreiche Kampf für dezentrale Unterbringung, die Abschaffung der Essenspakete und die Einführung von Flüchtlingssozialarbeit. Mit Unterstützer*innenschulungen hilft die AG bei der Organisation der Flüchtlingshilfe. Derzeit wird in Pirna ein Internationales Begegnungszentrum aufgebaut. Da kommen die 1.000 Euro Preisgeld gerade recht. Die zweite so dotierte Auszeichnung – in der Kategorie „Junge Initiative“ – ging an den Chemnitzer Willkommensdienst. Er ergänzt seit September 2015 die Arbeit zahlreicher Geflüchteten-Initiativen um einen wichtigen Aspekt: Das direkte Willkommen-Heißen. Die Initiative funktioniert auf der Basis der sozialen Medien. Die Engagierten begleiten vor allem in den Abendstunden am Chemnitzer Hauptbahnhof ankommende Geflüchtete in die Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) am AdalbertStifter-Weg in Chemnitz-Ebersdorf, die knapp fünf Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt liegt. Inzwischen nutzen die Mitglieder ihre privaten Fahrzeuge. Die Helfer*innen erleichtern den Ankommenden so wenigstens den letzten Teil ihres Weges. In der dritten Kategorie wurde eine „Engagierte Persönlichkeit“ geehrt: Susann Augusta sorgt für die alltägliche tatkräftige Integration in der Nachbarschaft. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in einem Mehrfamilienhaus bei Stolpen. Im Oktober 2015 zogen vier asylsuchende Familien aus der Türkei, Afghanistan und Tschetschenien ein, darunter zwölf Kinder. Die anderen Mietparteien begegneten den Geflüchteten mit Ablehnung, auch in den sozialen Medien wurde frühzeitig Stimmung gemacht. Trotz dieser konfliktgeladenen Atmosphäre und obwohl sie mit ihrer Familie selbst am Existenzminimum lebt, setzt sich Susann Augusta von Beginn an für die Geflüchteten ein, unterstützt sie im Alltag, beim

Regionaltour „Regionen der Zukunft – Sachsen. Hier leben. Hier bleiben.“ Infos: www.linksfraktionsachsen.de/ regiotour.php Die nächsten Veranstaltungswochen: Nordsachsen, Leipziger Land (01.08.–05.08.16), Erzgebirge (08.08.–10.08., 30.08), Landkreis Bautzen (15.08.–24.08.16), Zwickauer Land (22.08.–26.08.16) Fachgespräch: Wohnen als soziales Problem. Hartz IV in Sachsen und die Kosten der Unterkunft (KdU). Mittwoch, 10. August 2016, 16 Uhr, Sächsischer Landtag, Raum A400 Fachgespräch: Häusliche Gewalt in Sachsen – Auswertung der Großen Anfrage „Bekämpfung von häuslicher und Beziehungs- sowie sexualisierter Gewalt im Freistaat Sachsen“ Mittwoch, 17. August 2016, 17 Uhr, Sächsischer Landtag, Raum A400 Infos: www.gleft.de/1aJ

Impressum Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Telefon: 0351/493-5800 Telefax: 0351/493-5460 E-Mail: linksfraktion@slt.sachsen.de www.linksfraktion-sachsen.de V.i.S.d.P.: Marcel Braumann Redaktion: Kevin Reißig


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