70 Jahre освобождение
LIBERATION
wyzwolenie
libération
osvobzení
BeFRIELSE wuswobodźenje
befreiung
Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Mai 2015
Vor sieben Jahrzehnten feierte Europa seine Befreiung vom deutschen Faschismus. Wir erinnern in dieser Sonderausgabe an diese Zäsur: Simone Hock spricht mit der Buchenwald-Zeitzeugin Sonja Thormeyer über schreckliche Erlebnisse in ihrer Jugend. Peter Porsch untersucht nicht nur sprachwissenschaftlich „die Sache mit der Befreiung“. Zur Geschichte der Selbstbefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald und von den dies-
jährigen Gedenkfeierlichkeiten berichten Heiderose Gläß und Simone Hock. Ralf Richter berichtet schließlich von einer seltsamen Gedenkfeier. „Unsere Vorfahren sind verantwortlich für den Anfang und die Folgen, nicht für das Ende. Wir sind verantwortlich dafür, dass es den Anfang und die Folgen nie wieder geben kann. Das Vergessen ist die Mutter der Verwahrlosung.“ Franz Sodann
Aktuelles
Links! 05/2015
Wider das Vergessen! Am 12. April 2015 fuhr ich zusammen mit anderen zur Gedenkfeier nach Buchenwald. Die Zwickauer Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten hatte die Fahrt organisiert. Einige kannte ich, auch Sonja Thormeyer. Doch was sie mir auf der Fahrt erzählte, war mir neu. Sonja, Du bist hier bei Buchenwald aufgewachsen? Ja, ich wohnte seit meiner Geburt 1934 in Rastenberg bei Weimar, ganz in der Nähe von Buchenwald.
danken, wo genau wir waren. Wir wollten nur hinterher laufen. Und dann waren da auf einmal so viele Menschen, die auf der Erde krochen. Sie konnten nicht mehr laufen, waren abgemagert, richtige Skelette. Ihr wart im KZ Buchenwald. Wir sind durch das BuchenwaldTor gelaufen und sahen so viele liegend, die Arme nach uns streckend. Dabei waren wir noch Kinder. Es war ein Schock für uns
Nach dem Krieg behauptete die Bevölkerung gerade auch in der Nähe solcher Konzentrationslager immer, sie hätten von dem, was dort passiert ist, nichts gewusst. War das KZ auf dem Ettersberg wirklich ein solches Geheimnis? Nein. Abends ging ich sehr oft mit meiner Mutter auf den Berg und sie zeigte mir dort einige Lichter am Wald und erklärte mir, dass Deutsche dort viele arme Menschen töten. Also wussten ja die
Wie hast Du die Zeit bis zum Kriegsende erlebt? Intensiv in Erinnerung geblieben sind mir die letzten Kriegstage. Mein Vater war schon lange im Krieg und auch mein Bruder wurde mit 16 Jahren eingezogen. Er war zehn Jahre älter als ich, aber ich kannte ihn nur von Soldatenbildern. In Rastenberg war ein großes Gefangenenlager von Polen, Russen und Franzosen. Im Nachbarort war eine große Gasbombenfabrik, wo viele von ihnen arbeiten mussten. Vor dem Eintreffen der Amerikaner wurden die Waggons mit den Gasbomben von den Häftlingen in Brand gesetzt. Das rettete die Bevölkerung vor dem Gastod.
Wie kam es, dass Du plötzlich im KZ Buchenwald warst? Im März/April 1945, ich war damals zehn Jahre alt, fiel oft der Unterricht aus. Fliegeralarm war für uns Kinder ein Erlebnis. Wir waren viel im Wald und auf dem Berg unterwegs, hörten den Lärm. Fuhr ein echter Panzer durch die Straßen, war das für uns eine Sensation. Viele Einwohner kamen mit weißen Tüchern und auch wir hatten ein weißes Taschentuch an einen Stock gebunden. Wir durften auf dem Panzer Platz nehmen und fuhren ein Stück mit. Es waren junge Männer wie mein Bruder, nur einer war schwarz – der erste, den wir sahen. Und wir bekamen von ihnen die erste Schokolade unseres Lebens. Unterwegs kamen uns viele Menschen in gestreiften Sachen entgegen, manche lagen am Straßenrand, winkten uns zu, streckten die Arme den Panzern entgegen. Vor dem Wald mussten wir absteigen. Wir machten uns keine Ge-
che anzuschauen. Wer da war, bekam einen Stempel aufs Handgelenk. Wer keinen hatte, bekam für die ganze Familie keine Lebensmittelkarten. Weißt Du, wie es nach der Befreiung in Buchenwald weiterging? Die Alliierten beschlossen, dass die Aufräumungsarbeiten nicht von den ehemaligen Häftlingen, sondern von NSDAP-Mitgliedern zu leisten waren. Es wurde ein Internierungslager eingerichtet – wie übrigens in allen vier Besatzungszonen. Leider kamen auch viele Unschuldige dorthin. Mein Bruder war in einem solchen Lager der Amerikaner in Bad-Kreuznach. Das war als Hungerlager bekannt, zigtausende Menschen starben dort, weil sie unter freiem Himmel auf dem Feld untergebracht waren. Mein Bruder hat oft über seine Erlebnisse dort erzählt. War Dein Vater auch in Gefangenschaft? Nein. Der war auch in Buchenwald, das erfuhren wir aber erst nach der Befreiung, er war aus dem Lager herausgekommen. Wie kam es zu seiner Inhaftierung in Buchenwald?
Die Häftlinge haben das doch sicher nicht überlebt. Gibt es einen Gedenkort für sie? Ihren Einsatz haben sie mit dem Leben bezahlt. Ein Denkmal erinnerte an sie. Leider wurde es 1991 auf Anraten des Bürgermeisters entfernt.
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– ein wildes Durcheinander. Wir sahen zum ersten Mal einen ganzen Haufen, einen Berg von toten Menschen, die Augen weit aufgerissen, der Mund weit aufgerissen, als ob sie uns noch etwas sagen wollten. Ein grauenvoller Anblick, den ich wohl nie vergessen werde. Auch das Geschrei und die Hilferufe von abgemagerten Menschen – viele lagen im Dreck und versuchten uns zu greifen, waren aber zu schwach um aufzustehen. Das bleibt ewig in Erinnerung. Ich kann nicht beschreiben, was in mir und meinen Freunden vor sich ging. Und für uns Jüngere ist es kaum vorstellbar. Wie seid ihr da wieder weggekommen? Wir wurden von Amerikanern aufgesammelt und in einem Jeep nach Hause gebracht. Wir haben alle tagelang nichts essen können, nur geweint und außerdem noch viel Ärger zu Hause bekommen. Wir fragten uns, warum so viele Menschen sterben mussten und nichts dagegen getan wurde.
Leute, was sich dort abspielte. Als ich 1987 zur Jugendweihefahrt in Buchenwald war, wurde ein Film gezeigt mit den Leichenbergen und … Ja, die Engländer und Amerikaner haben die Gräueltaten im Film festgehalten. Dieser zeigt die Wahrheit, wie sie das Lager vorfanden und wie ich es auch gesehen habe. Ich habe mir den Film nur ein Mal angesehen. Da kommen so viele Bilder wieder … Bis 2010 konnte ich die Gedenkstätte Buchenwald nicht betreten. Und ich habe jedes Mal Angst davor. …weil dann die Erinnerung wieder lebendig wird. Ja, die Bilder von damals habe ich dann immer vor Augen; die Schreie, der Geruch … es ist dann alles wieder da. Damals haben die Amerikaner aus jeder Familie eine Person verpflichtet, sich diese Unmenschlichkeit und Grausamkeit innerhalb einer Wo-
Mein Vater hatte zum 1. Mai 1944 ein Transparent gemalt und wurde verhaftet, kam nach Buchenwald. Dort musste er verschiedene medizinische Versuche über sich ergehen lassen. Ihm wurden Venen entfernt und auch die Nieren wurden geschädigt. Es ging ihm sehr schlecht. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, wurde er von irgendjemandem als Nazi bei den Amerikanern angeschwärzt. Er wurde verhaftet. Nachbarn konnten das zum Glück richtig stellen. Er starb 1960. Er hat übrigens – wie viele andere Ex-Häftlinge auch – auf die OdF-Rente verzichtet, die ihnen als Opfer des Faschismus zugestanden hätte. Er und die anderen waren der Meinung, dass der Staat das Geld für andere, wichtige Aufbauprojekte braucht. Bei Kriegsende warst Du zehn Jahre alt. Wie verlief Dein wei-
teres Leben – welchen Beruf hast Du erlernt und wie hat es Dich nach Zwickau verschlagen? Die Schule beendete ich 1949. In Köthen besuchte ich die Hebammenschule und machte in Naumburg mein Staatsexamen als Kinder- und Säuglingskrankenschwester. Ich wurde konfirmiert – Jugendweihe gab es damals noch nicht –, wurde Mitglied in der FDJ und war beim zentralen FDJ- Jugendprojekt „Talsperre Sosa“ dabei. Später war ich in Erlabrunn erste Hebammenausbilderin am Wismutkrankenhaus, heiratete. Mein Mann war Offizier, was viele Umzüge zur Folge hatte. 1963 kamen wir nach Zwickau. An der Kinderklinik des Heinrich-Braun-Klinikums war ich bis 1979 Lehrfachschwester. Per Parteiauftrag landete ich im Betriebsgesundheitswesen des Reichsbahn-Ausbesserungswerks und war bis 1981 die leitende Schwester der Betriebsambulanz. Danach verschlug es mich in den Blutspendedienst in Zwickau, wo ich nebenberuflich eine Ausbildung zur Fachschwester für Blutspende- und Transfusionswesen absolvierte. Das alles mit vier Kindern und vielen gesellschaftlichen Aufgaben, damals ging das. Respekt. Aber noch mal zurück zu Buchenwald. Wir waren ja heute beide beim Treffen der Nachkommen der Buchenwalder. Der Schwur von Buchenwald spielte auch da eine wichtige Rolle. Ist er erfüllt bzw. wie schätzt Du den aktuellen Stand ein? Wenn ich die Demonstrationen von Pegida und ihren Ablegern, die Hetze von NPD, AfD und anderen sowie die Übergriffe auf Flüchtlinge, Flüchtlingsheime, Antifaschisten und Politiker betrachte – nein, der Schwur von Buchenwald ist nicht erfüllt. Im Gegenteil. Mir scheint, wir sind davon weiter entfernt als je zuvor. Und das macht mir Angst. Deshalb darf das was in NaziDeutschland passierte, niemals vergessen werden. Wenn wir Alten nicht mehr da sind, müsst ihr Jungen dafür sorgen, die Erinnerung daran wachhalten. • Die Fragen stellte Simone Hock.
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Stadtplanung versus Investoren-Pläne Beispiel Leipziger (Dresden)
Vorstadt
Am Neustädter Hafen in Dresden soll ein neues Wohnviertel entstehen. Das Gebiet ist problematisch: Eisenbahntrasse und kontaminierte Bahnbrachen, die Leipziger Straße als stark befahrene Durchgangsstraße. Und das Neustädter Elbufer, das 2002 und 2013 dermaßen überflutet war, dass eigentlich an eine Wohnbebauung nicht zu denken sein dürfte. Entsprechend feinsinnig versucht nun der Stadtrat, mit einer Fortschreibung des Masterplans für das Quartier unterschiedlichen Bedürfnissen und einer nachhaltigen Entwicklung Vorschub zu leisten. Dass es seit Jahren heftigen Streit um das noch nicht existierende Quartier gibt, ist dem Umstand geschuldet, dass der Immobilienmarkt auch in Dresden boomt. Der Markt schläft nie und überholt auch hier mal wieder kommunale Planungen. Die Stadt selbst rief die Geister, die sie nun plagen. Der Beschluss zum Masterplan war gerade erst gefasst (2009) – noch recht weit und unkonkret –, da warb Dresden bereits auf der Immobilien-Messe Hannover für das neue Quartier „Wohnen am Wasser“. Nach dem Hochwasser 2013 hat sich dieser Slogan scherzhaft-bissig in „Schöner Wohnen in der Elbe“ verkehrt. Eine Bürgerinitiative müht sich seither um die NichtBebauung des Flutgebietes.
Wir haben Mai und in diesem Mai den 8. Mai als einen besonderen Tag. Das ist unwiderruflich der 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus – vom Faschismus der besonders brutalen nationalsozialistischen Prägung. Da beißt die Maus keinen Faden ab, wie man mit dem Volksmund sagen kann. Doch es beißen einige am Faden, der uns mit der Befreiung vom 8. Mai 1945 verbindet. Mittlerweile unüberhörbar verkünden sie, der 8. Mai 1945 sei gar kein Tag der Befreiung, sondern nur der „Tag des Kriegsendes“ gewesen, und entsprechend müsse die Erinnerung ausgerichtet sein. Darüber kann man nicht einfach hinwegsehen. Es sind
Und auch DIE LINKE in Dresden hat es sich zum Ziel gemacht, das Bauen im ausgewiesenen Flutgebiet zu verhindern. Dass ein halb verwitterter Stadtteil wie der, um den es hier geht, nicht ewig unberührt bleiben wird, war wohl allen klar. Überall wird gebaut, saniert und entwickelt. Besonders in der Innenstadt drehen sich seit Jahren die Kräne. Die Dresdner Neustadt wurde schon mehrmals gentrifiziert und es ist deutlich spürbar, dass Dresden-Pieschen nun sehr bald ebenfalls herausgeputzt wird wie eine polierte Perle – Mit teuren Boutiquen und saftigen Wohnungspreisen. Noch sind in der Leipziger Vorstadt äußerlich kaum Verände-
rungen zu sehen. Jedoch haben Immobilienspekulanten und Projektentwickler das Quartier bereits unter sich aufgeteilt. Zwei Firmen teilen sich das Elbufer und wollen hier Luxuswohnungen bauen, der Elbblick steigert die exklusiven Preise (Projekte „Hafencity“ und „Marina Garden“). Dass die Grundstücke im Flutgebiet liegen, gilt höchstens als „technisches Problem“. Das Hochwasser 2013 konnte dem kein Einhalt gebieten. Die Spekulanten fletschen die Zähne und kämpfen verbittert um ihr (Beton-)Gold. Ein erstes Opfer ist zu vermelden: Am Puschkinplatz wurde am 27.2.2015 mit großem Gerät der „Freiraum Elbtal“ geräumt. Der Kulturverein mit Wagen-
platz warb als Zwischennutzer dafür, die Elbe unverbaut zu lassen und stattdessen gewohnt mobil die heimische Industriebrache weiter nutzen zu dürfen. Wenigstens bis Baubeginn. Wenigstens. Nun ist er fort, es gibt ihn nicht mehr. Gebaut wird hier aber so schnell auch nicht. Den Freiraum Elbtal vermissen nun viele schmerzlich. Luxuswohnungen hat hier noch niemand vermisst. Auf einem anderen Grundstück will die Globus GmbH einen Großmarkt bauen. Globus ist ein Dorn im Auge der heimischen Großmarktgilde und so richtig kann sich auch sonst niemand vorstellen, dass ein solcher Großmarkt hier hinpasst. Gleich nebenan jedoch lauert
bereits die Kaufland Co.KG darauf, dass der Konkurrent einknickt. Erst Ende 2013 kaufte Kaufland das Grundstück von Procom, denn Procom wollte Häuser bauen. Als das nicht so einfach ging, wollten sie die Grundstücke schnell wieder loswerden. Auf einem Teil davon hocken sie noch jetzt. Bauen können sie nicht, aber schon mal die Bäume fällen. Der alte Landschaftspark an der Sanitär-Keramikfabrik musste weichen, ebenso die Fabrikruine selber. Man muss doch sehen, dass etwas passiert. Die Klageflut von Projektentwicklern und Spekulanten gegen die Stadt Dresden nimmt zu. Sie werfen der Stadt BauVerzögerung vor und greifen zuweilen zu drastischen Mitteln, wie jüngst die Dresdenbau GmbH. Sie will den Radweg abbaggern, weil ihr ein Baurecht verwehrt wird. Noch im vergangenen Jahr drohte sie mit dem Bau einer Tankstelle, aus dem gleichen Grund. Es ist ein Irrenhaus. Sollte Stadtplanung sich zum willfährigen Erfüllungsgehilfen der absurd schnellen Baubranche degradieren lassen? Ich sage: Nein. Stadtplanung muss dem Ziel folgen, Entwicklungen nachhaltig und kritisch zu begleiten. Wenn Immobilien-Spekulanten längst über alle Berge sind, trägt die Stadt die Verantwortung für mögliche Fehlentscheidungen und deren Konsequenzen. Jacqueline Muth
nämlich „einige“ in mittlerweile nicht unerheblicher Zahl, die solches behaupten und oft wortgewaltig ihre Sprachregelung in die Gesellschaft tragen wollen. Im Vorwort der 4. Auflage des DUDEN - Deutsches Universalwörterbuch (Mannheim 2001) steht: „Sie (die neue Auflage) will dazu beitragen, dass die deutsche Standardsprache weiterhin als Trägerin der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung verlässlich bleibt.“ Ein großes Ziel! Wörterbücher definieren nicht nur Wortbedeutungen, sie sagen uns mit Beispielen auch, wie diese Wörter in alltäglichen Zusammenhängen verwendet werden. Ich suche das Stichwort „befreien“ und der Aha-Effekt lässt nicht lange auf sich warten: „das Volk vom Faschismus, von den Kolonialherren b(efreien)“, lese ich. Das gefällt mir sehr, denn damit ist – und spätere Auflagen dieses Wörterbuches machen das nicht anders – eine politische und kulturelle Entwicklung klar
und deutlich zum Ziel gebracht. Die Welt und auch das deutsche Volk wurden damals vom deutschen Faschismus befreit! Jetzt dämmert mir aber ein Unterschied zum zweiten Beispiel, zur Befreiung von den Kolonialherren. Wer hat denn wen von den Kolonialherren befreit? Das waren doch in einem hohen
mit politischen, ökonomischen, kulturellen und militärischen Mitteln. Wer sich in den ehemaligen Kolonien den Folgen durch Flucht entziehen will, auf die und den warten heute das Mittelmeer und ein neuer europäischer Rassismus. Sich selbst vom Faschismus zu befreien hat das deutsche Volk nicht zustande gebracht. Nachgerade besoffen von der Vorstellung, sich die Welt unterwerfen zu können, folgte es damals den Verbrechern bis hinein in den bis dato schlimmsten, den totalen Krieg. „Und wenn alles in Scherben fällt, ...“. Diese Vision schreckte nicht ab. Sie motivierte vielmehr. Es waren deshalb die anderen Völker in Europa, die sich ihre Befreiung von Unterdrückung, drohender Vernichtung und faschistischem Terror erkämpften – mit ihren Armeen, gemeinsam mit den USA und in aufopferungsvollem, auf sich selbst keine Rücksicht nehmendem Widerstand einfacher Menschen, in Frankreich, in der Sowjetunion, in Jugoslawien, in
Griechenland, in Italien, ... . Natürlich gab es auch Widerstand in Deutschland, kommunistischen, religiösen, bürgerlich-humanistischen und erst sehr spät auch beim Militär. Gerade unter den gegebenen Bedingungen konnte er nur heldenhaft sein. Der Sieg über den Faschismus kam von außen. Dennoch, gerade dieser Widerstand zwingt wiederum, von Befreiung zu sprechen. Es waren die Überlebenden in den Konzentrationslagern, die zuerst die Befreiung erlebten. Eben darum war es auch eine Befreiung für das gesamte deutsche Volk. Ich wurde vor etwas mehr als siebzig Jahren als deutscher Reichsbürger geboren. Am 8. Mai war ich knapp sieben Monate alt. Unendlichen Dank allen Befreiern! Ihr habt mich von einer mir zugedachten Biographie befreit, die ich unter keinen Umständen hätte leben wollen. Diese Befreiung muss nachhaltig bleiben. Wehren wir allen Anfängen der Rückkehr und Akzeptanz von Unmenschlichkeit!
Die Sache mit der Befreiung Maße die von den Kolonialherren unterdrückten Menschen selbst. Sie wurden nicht befreit. Sie haben sich selbst befreit, in einem langen politischen, ökonomischen, kulturellen und oft auch militärischen Kampf. Sie waren Akteure ihrer Befreiung. Eine Leistung, die seither gerade seitens der einstigen Kolonialherren gerne rückgängig gemacht werden will und auch gemacht wird, wiederum brutal
Hintergrund
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Fixe Sternstunde bei Jour fixe Werner Wolf und Anselm Hartinger brillieren im Leipziger Domizil der sächsischen Rosa-Luxemburg-Landesstiftung Das dürften Klaus Kinner und Manfred Neuhaus in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet haben. Erst im Januar hatten die Leipziger Historiker ihren Jour fixe begründet und knapp zwei Dutzend Interessierte zu diesem „unkonventionellen Gesprächskreis“ begrüßen können. Und nun, bei der erst dritten Auflage Thema: „Johann Sebastian Bach und die Musikstadt Leipzig“ schon die erste Sternstunde! Unlängst scharten sich fast 50 wiss- und disputierbegierige Gäste quasi im Doppelkreis um den „Runden Tisch“ im Leipziger Domizil der RosaLuxemburg-Stiftung Sachsen in der Harkortstraße 10. Und wie der neue Teilnehmerrekord in die Annalen von Jour fixe eingehen wird, so auch der Auftritt der beiden brillanten Musikwissenschaftler. Werner Wolf und Anselm Hartinger zauberten ein beglückend atmosphärisches Einssein mit ihrer hellwach-oszillierenden Community. Mit ihren staunenswerten musiktheoretischen und musikhistorischen Darbietungen entfachten sie ein bisher beispielloses Höhenfeuer thematischen und rhetorischen Raffinements. Aktuellen Anlass und Hintergrund des Gegenstands boten Hartingers Monographie über Bachaufführungen und Leipziger Mu-
sikleben im 19. Jahrhundert und die soeben erschienenen beiden Bände „Musikstadt Leipzig in Bildern“ von Michael Maul und Doris Mundus. Klaus Kinner oblag es als erstem Moderator des Abends, Leben und Werk des verdienten
Prof. Dr. Werner Wolf. Foto: Richard-Wagner-Verband Leipzig
Nestors der Leipziger Musikkritik und Mitglied der sächsischen Linken Werner Wolf aus Anlass seines 90. Geburtstages kenntnisreich zu würdigen und ihm weitere schaffensfrohe Jahre zu wünschen. Der bedankte sich mit einer bewunderungswürdigen Stegreifrede zur Historie des Leipziger Musiklebens, die einer erzählenden Dichtung glich, und der die Zuhörer in andächtiger Stille lauschten, als möge kein Ende sein. Undenkbar, den Reichtum der Fakten, Daten, Namen, An-
ekdoten, Schnurren und Legenden wiederzugeben, die der AltStar, längst selbst zur Legende geworden, wie aus einem übervollen Füllhorn ausschüttete. Hier wenigstens ein paar Leipziger Extras: Die Stadtpfeifer, drei Spielleute und ein Geselle, sind 1479 die ersten Berufsmusiker. Das Genie Johann Sebastian Bach kann die zeitgenössische Leipziger Hörgemeinde nicht begeistern. Zu anstrengend seine Werke, zu lang, so die allgemeine Tonart. Leipzigs Gewandhaus im Zentrum der Stadt ist 1743 die Wiege des internationalen Konzertlebens. Im Gegensatz zu Dresdens höfischer Musikkultur prägt in Leipzig eine weitblickende, Europa-orientierte Bürgerschaft die Musikentwicklung. Arthur Nikisch gibt während des Ersten Weltkriegs Konzerte für Arbeiterbildungsvereine, wenn auch erst bei Haupt- und Generalproben. Nirgendwo sonst auf der Welt, außer in Leipzig, tönt am 31. Dezember 1945 um Mitternacht Beethovens „Neunte“. Im damals einzig noch erhaltenen größeren Saal, im Filmtheater „Capitol“ auf der Petersstraße, erklingt die erste Silvesteraufführung nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus. Nachdem Werner Wolf unter tosendem Beifall die Runde verlassen hatte, um im Gewandhaus seiner Profession als Musikkritiker für „Leipzigs Neue“ nachzugehen, führte Moderator Manfred Neuhaus „sei-
nen“ Referenten ein. Anselm Hartinger, Jahrgang 1971, Sohn der namhaften Leipziger Literaturwissenschaftler Walfried
Dr. Anselm Hartinger. Foto: Stadtverwaltung Erfurt / Dirk Urban
und Christel Hartinger, verkörpert als Musikhistoriker die Generation der „Wolfschen“ Enkel im besten Sinne: kenntnisreich, enthusiastisch, selbstbewusst. Einzigartig aber seine rhetorische Artikulation: explosiv wie ein Vulkan, der seine Wortkaskaden mit überströmender Begeisterung als loderndes Feuerwerk ausspeit. Anders unterhaltsam, anders mitreißend also, aber genauso engagiert und fachkundig wie sein Vorredner Werner Wolf, setzt Anselm Hartinger so das zweite Ausrufezeichen des Abends. Und riskiert gleich das Postulat, Leipzig löse sein Erbe als berühmte Musikstadt nicht mehr uneingeschränkt ein. Als ausgewiesener Bachexperte exemplifiziert er das auch am Leipziger Bachfest, dem er konzeptionel-
le Schwächen im Sinne mangelnder Flexibilität und Konsequenz gerade im Bereich einer authentischen Aufführungspraxis bescheinigt. Überhaupt sei vieles im städtischen Musikleben seit allzu langer Zeit gleichsam in Stein gemeißelt, wie Mendelssohns 1840 erlassene und immer noch gültige Organisation für Gewandhaus, Oper und Thomaskirche beweise: Das Gewandhausorchester spiele in seinem Haus exquisit, in der Oper gut, in der Kirche eher schlecht. Nach diesem kritischen Vorspruch, der seinem Verständnis als Historiker entspreche, offeriert Anselm Hartinger ein paar provokante Thesen, die er in seiner 757 Seiten starken Marburger Dissertationsschrift „,Alte Neuigkeiten‘ – Bach-Aufführungen und Leipziger Musikleben im Zeitalter Mendelssohns, Schumanns und Hauptmanns 1829 bis 1852“ anhand neu erschlossener Quellen originell begründet hat. Indem er das 19. Jahrhundert dafür würdigt, Bach wiederentdeckt zu haben, historisiert er kritisch die seitdem Standard gewordene Aufführung seiner Werke durch Massen von Laiensängern, die den originalen Bach nicht singen konnten, sodass dessen geniale Tonschöpfungen teils drastisch vereinfacht wurden. Für Nachdenklichkeit in der Jour fixe-Runde sorgt auch Hartingers zu Widerspruch reizendes Diktum, es gebe im Grunde keine musikalischen Werke, sondern nur musikalische Aufführungen. Der Rest war begeisterter Dialog! Wulf Skaun
Armut in Sachsen: Zwei Beispiele Die Linksfraktion hat in den vergangenen Jahren auf verschiedene Weise deutlich gemacht, dass ein beträchtlicher Teil der sächsischen Bevölkerung von Armut betroffen ist. Neben eigenen Analysen zu verschiedenen Armutslagen fanden bislang sieben Armutskonferenzen statt. Diese Tradition soll fortgeführt werden; so ist die achte Armutskonferenz für Herbst dieses Jahres geplant. In Auseinandersetzung mit den jeweiligen Staatsregierungen und den sie tragenden Koalitionsfraktionen wurde nachgewiesen: Mit einer Armutsquote von fast 20 Prozent liegt Sachsen nicht nur weit über dem Bundesdurchschnitt, sondern ist selbst im Vergleich mit den neuen Bundesländern nur Mittelmaß. Selbst der zwischenzeitliche Aufschwung hat an diesem Befund nichts geändert, weil er Menschen mit Sozialhilfebezug oder im Niedriglohnsektor kaum erreicht hat. Besonders skandalös bleiben die Armutsquote bei sächsischen Kindern von mehr als einem Viertel oder das über-
durchschnittlich hohe Armutsrisiko von Alleinerziehenden. Obwohl in den letzten Jahren auch die Altersarmutsquote beträchtlich angestiegen ist, liegt sie immer noch unterhalb der allgemeinen Armutsquote. Das wird sich allerdings schon in absehbarer Zeit spürbar ändern. Nach wie vor hält sich das von uns mehrfach widerlegte Argument der CDU, dass es in Sachsen bestenfalls verdeckte Armut geben würde, weil man ja die Sozialleistungen des Staates bei Bedürftigkeit beantragen könne. Diese Leistungen liegen allerdings beträchtlich unterhalb der Armutsgrenze. So wäre etwa der Regelsatz beim Arbeitslosengeld II oder beim Sozialgeld auf mindestens 500 Euro monatlich anzuheben. Und selbst der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 pro Stunde führt noch nicht aus der Armut; deshalb ist die Forderung der LINKEN von mindestens 10 Euro keineswegs weltfremd, sondern liegt nur geringfügig über der Armutsgrenze. Bei alledem geht es bei der Ana-
lyse von Armutslagen nicht allein um die Einkommensverhältnisse, obwohl diese in einer Gesellschaft, in der vor allem das Geld regiert, der entscheidende Gradmesser sind. Deshalb war für uns stets wichtig, die Staatsregierung per Anfragen zu nötigen, Auskunft über andere Erscheinungen von Armut zu erteilen. Selbst wenn die Antworten traditionell recht dürftig ausfallen, weil angeblich bestimmte Daten nicht oder nicht ausreichend erfasst werden, wollen wir dennoch auf zwei Beispiele exemplarisch eingehen: Beispiel Stromabschaltungen Im vergangenen Jahr wurde in den drei kreisfreien Städten Sachsens (Angaben zu den Landkreisen liegen angeblich nicht vor) in 10.000 Fällen der Strom bei Privathaushalten abgeschaltet, weil die Betroffenen die Rechnungen nicht bezahlen konnten. Allein in Leipzig kam es 2014 zu 5.637 Stromabschaltungen. Aus unserer Sicht ist
Strom kein Luxusgut, sondern gehört in einer modernen Gesellschaft zur Daseinsvorsorge. Deshalb muss es gerade wegen der Energiewende für Bedürftige zu wirklichen Sozialtarifen kommen. Und solange Hartz IV nicht überwunden ist, gehört Strom endlich zu den erstatteten Kosten der Unterkunft und nicht, wie bislang, zum Regelsatz. Beispiel Sozialbestattungen Ein eindeutiger Beweis für fortschreitende Altersarmut liegt vor, wenn die Kommunen ganz oder teilweise für die Bestattungskosten aufkommen müssen. Im vergangenen Jahr war dies sachsenweit mehr als 2.000mal der Fall; die Kommunen mussten dafür fast drei Millionen Euro aufwenden. Für uns ist es im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis für eine reiche Gesellschaft, wenn Menschen nicht einmal finanziell für „ihren letzten Gang“ vorsorgen können. Angesichts zunehmender Altersarmut dürfte
sich dieser schlimme Trend in Zukunft sogar noch verstärken. Sowohl diese Beispiele als auch die generelle Armutssituation in Sachsen erhärten unsere Forderung an die hiesige Staatsregierung, endlich bei der Bekämpfung von Armut aktiv zu werden und nicht allein an die Verantwortung der Bundesebene zu appellieren oder diese gar weiterhin den Kommunen zuzuschieben. Um dies zu bekräftigen, muss sich DIE LINKE auch künftig als parlamentarische Interessenvertretung der von Armut Betroffenen engagieren. Sie darf sich von diesem Weg auch deshalb nicht abbringen lassen, weil immer mehr arme Menschen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen. Deshalb bleibt es ein Alleinstellungsmerkmal der LINKEN, sich im Sinne von sozialer Gerechtigkeit vor allem für die Interessen von Benachteiligten und Ausgegrenzten einzusetzen, selbst wenn das nicht zu sofortigen Wahlerfolgen führt. Dietmar Pellmann, Susanne Schaper
05/2015 Sachsens Linke!
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Mai 2015
Sachsens Linke
Die Europafraktion präsentiert einen Gastbeitrag von Kostas Chrysogonos (SYRIZA). Juliane Nagel spricht über die derzeit laufende Asyl- und Willkommenstour LINKER ParlamentarierInnen verschiedener Ebenen.
Dazu gibt es eine Vorstellung des LINKEN Bürgermeisterkandidaten für das Städtchen Königstein, Mario Bauch.
Michael Leutert fragt, was uns die CSU eigentlich kostet. Und selbstverständlich setzen wir auch die Strategiedebatte fort.
Aktuelle Infos stets auch
unter
e www.dielinke -sachsen.d
Neu:
In die Offensive gehen!
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Bild: Internationale der Kriegsdientgegner/innen, IDK e.V. / Wikimedia Commons / CC BY-SA 2.0 DE
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Bei Friedensfragen klare Kante zeigen! Welcher Umgang mit den Montagsmahnwachen und dem Friedenswinter ist der richtige? Sowohl in der Friedensbewegung, der Zivilgesellschaft als auch in unserer Partei wird diese Frage kontrovers diskutiert. Leipziger Courage-Preisträger zeigen sich in Sorge und veröffentlichten einen offenen Brief, den wir an dieser Stelle dokumentieren. Wir Preisträger_innen des Courage-Preises beobachten mit großer Besorgnis, dass seit über einem Jahr neurechte Ideolog_innen, Querfrontler_innen und politische Esoteriker_innen verschiedener Art mit Akteur_innen der etablierten Leipziger Friedensbewegung gemeinsame Aktionen durchführen. Mit dem Kalkül, mehr Menschen mit ihren „friedensbewegten“ Inhalten zu erreichen, nahmen diese Friedensaktivist_innen es in Kauf, sich Montag für Montag im Rahmen der sogenannten Mahnwachenbewegung mit Antisemit_innen und Rechtsradikalen das Mikrofon zu
teilen, noch dazu ohne den Menschenfeinden zu widersprechen! Aus unserer Sicht war die Teilnahme klassischer Friedensbewegter an den Montagsmahnwachen und dem anschließenden „Friedenswinter“ ein großer Fehler. Durch ihre Mitgestaltung und Mitorganisation gaben und geben sie der aus Berlin initiierten Bewegung um Lars Mährholz und Ken Jebsen ein Feigenblatt, der fatale Eindruck entsteht: „Die Friedensaktivist_innen sind doch mit dabei und alle kennen sie, so schlimm kann das alles ja gar nicht sein!“ Sie arbeiten zusammen mit einer Bewegung, die angeblich weder rechts noch links sein will aber dabei Ideologien der Ungleichwertigkeit immer wieder Raum lässt; deren Mitglieder sich als „erwacht“ bezeichnen und die Presselandschaft pauschal als „Systemmedien“ diffamieren, Politiker des „Volksverrats“ bezichtigen und Kritiker_innen als „Feinde in diesem Land“ bezeichnen.
Das Kalkül der alten Friedensbewegung, neue Mitglieder zu werben und mehr Menschen für dringend notwendige Friedensarbeit zu begeistern, ist nicht aufgegangen. Objektive Zahlen sprechen eine andere Sprache: Die Teilnehmer_innenzahlen auf dem diesjährigen Ostermarsch haben sich auch in Leipzig nicht erhöht. Im Gegenteil schreckt der Streit um die Beteiligung Neurechter und Querfrontler_innen leider viele Menschen von der Friedensarbeit ab. Genützt haben die letztjährigen „Montagsmahnwachen“ unter dem Motto „Friedliche Revolution“ dagegen ausschließlich völkischen Erweckungsbewegungen. Es ist kein Zufall, dass mehrere zentrale Personen der Leipziger Mahnwachen später als Redner und Funktionäre bei Pegida in Dresden und Legida in Leipzig auftraten. Der „Friedenswinter“ läuft noch bis zum 10. Mai diesen Jahres und wird trotz mehrfach, auch öffentlich, geäußerter Kritik weiterhin vorbehaltlos von Leipziger Gruppen
und Aktivist_innen unterstützt. Kritiker_innen werden als uninformiert abqualifiziert, sachliche Kritik wird als böswillig diffamierend bezeichnet. Eine Friedensbewegung, die es nicht schafft, sich von Verschwörungideologien, Antisemitismus und völkischer Rhetorik abzugrenzen, hat ihre Legitimationsgrundlage verloren. Wir als Courage-Preis-Träger_ innen stellen fest: Mit Neurechten und Antisemit_innen geht eine ernstzunehmende Friedensbewegung nicht gemeinsam auf die Straße. Sie grenzt sich von allem völkischen Gedankengut und Ideologien der Ungleichwertigkeit entschieden ab und zeigt in diesen Fragen klare Kante! Marco Helbig, Richard Gauch, Frank Kimmerle, Roman Schulz, Florian Illerhaus, Sonja Brogiato, Marcel Nowicki, Martin Neuhof. Mit Unterstützung der Ehrenvorsitzenden des Courage e.V. Edda Möller und Sebastian Krumbiegel
Der 1. Mai liegt hinter uns und damit auch der Start unserer bundesweiten Kampagne gegen prekarisierte Lebensverhältnisse „Das muss drin sein“. Einen besseren Zeitpunkt für deren Start hätte es kaum geben können – nicht nur weil wir so am 1. Mai, zu meinem Bedauern für viele Menschen inzwischen wohl ein „ganz normaler freier Tag“, die Notwendigkeit der täglichen Kämpfe für ein besseres Leben und damit die Bedeutung des 1. Mai unterstrichen haben. Vielmehr müssen wir gerade jetzt – nach einer reaktiven Phase, in der Rechtspopulisten den öffentlichen Diskurs bestimmt haben – wieder in die Offensive kommen. Die Verteidigung der Grundrechte aller Menschen und so auch des Asylrechts, der Kampf gegen Rassismus und Fremdenhass ist notwendig und richtig. Das gehört zur politischen DNA unserer Partei. Und doch müssen wir gleichzeitig Punkte setzen. Der Zustand dieser kapitalistischen Gesellschaft und der Lebensverhältnisse, die sie Menschen aufzwingt, sind doch nichts, was wir verteidigen wollen. Vielmehr wollen wir eine Perspektive jenseits von Zwängen und Zumutungen bieten. So fällt die Kampagne auch mit der Strategiedebatte in der Bundes- und Landespartei zusammen. Jetzt müssen wir unsere Strategien und Perspektiven formulieren, gemeinsam und solidarisch abstecken und sie im Rahmen der Kampagne, die uns bis zur Bundestagswahl begleiten wird, in politisches Handeln umsetzen. Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt, wieder in die Offensive zu gehen?
Sachsens Linke! 05/2015
Meinungen Zu „Warum wir zugestimmt haben“ (Sachsens Linke! 04/2015, S. 8) Syriza hat versprochen, die gegen die Interessen der Bevölkerung gerichtete Kürzungspolitik zu beenden und gleichzeitig den Euro zu behalten und in der EU zu bleiben. Die Bundesregierung, die EU-Kommission usw. haben aber immer wieder deutlich gemacht, dass dies nicht gleichzeitig geht. Sie beharren auf ihrem Kürzungs- und Privatisierungsdiktat. Syriza steht nun vor dem Dilemma, dem Diktat beim größtmöglichen Wiederstand zu folgen und damit ihre Wahlversprechen zu brechen oder die versprochene Politikänderung durchzusetzen und dabei einen Bruch mit der EU zu riskieren. Bisher hat sie sich leider mit der Unterstützung eines Großteils der Fraktion der LINKEN für die erste Variante entschieden. Nur eine Minderheit der Bundestagsfraktion hat sich offen gegen die Erpressung Griechenlands durch die EU und die Bundesregierung (neue Kredite nur bei Rückzahlung der alten und Fortsetzung der Kürzungs- und Privatisierungspolitik unter Kontrolle der „Institutionen“) ausgesprochen. Unsere Aufgabe ist nach meiner Meinung, die Bevölkerung ge-
gen dieses erpresserische Diktat zu mobilisieren und so wirklich Solidarität mit Syriza und der griechischen Bevölkerung zu üben. Rita Kring, Dresden Zu „Thomas Piketty: ,Das Kapital im 21. Jahrhundert‘“ (Links! 04/2015, S. 4) Thomas Piketty hat einige interessante Statistiken zusammengetragen. Aber als Anhänger der kapitalistischen Marktwirtschaft bleibt er an den Symptomen hängen. Deshalb ignoriert er, dass Kapitalismus und „Unternehmerinitiative“ auf Profit und Kapitalvermehrung angelegt sind und Kapital mit Macht verbunden ist. Nachhaltiges Wachstum ist in einer beschränkten Welt unmöglich. Deshalb ist nicht nur eine Rückverteilung, sondern die Überwindung des Profitprinzips notwendig. Ein sozial und ökologisch verträglicher Kapitalismus ist somit unmöglich. Wer aber den Kapitalismus erhalten will, muss dies ignorieren. Im Gegensatz zur interessengeleiteten Behauptung von Helga Schulz gibt es grün-linke Zukunftsszenarien, die nicht auf Katastrophen setzen, sondern Ökologie, Soziales und Demokratie mit einer Wirtschaft zur Bedürfnisbefriedigung statt zur
Seite 2 Profiterzielung verbinden. Zustimmen würde ich aber, dass eine Beschränkung und erst recht eine Überwindung der Ungleichheit eine starke Gegenmacht erfordert. Dazu gehören soziale Bewegungen und alternative bedürfnisorientierte Wirtschaftssysteme, die regional und weltweit miteinander vernetzt sind. Uwe Schnabel, Coswig Tarifverhandlungen für Erzieher ohne Ergebnis Eine kleine Nachricht nur, dass die Tarifverhandlungen für Erzieherinnen und Sozialarbeiter im öffentlichen Dienst gescheitert sind. In ihr steckt aber die Botschaft: Dem Staat sind die Leistungen der Beschäftigen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wenig wert! Dabei tragen diese mit ihrer engagierten und aufopferungsvollen Arbeit eine besondere Verantwortung für die Zukunft unserer Zivilgesellschaft. Und Geld für eine angemessene Entlohnung ist in dieser Republik vorhanden. Denken wir nur an die Milliarden für NATO und Bundeswehr. Letztere wendet fast 30 Millionen Euro für Nachwuchswerbung auf, also für die Rekrutierung für künftigen staatlichen Mord- und Totschlag. Ein möglicher Streik der Erzieherinnen und Sozialarbeiter ist nur zu gerecht und im weitesten Sinne vielleicht auch friedensfördernd. Raimon Brete, Chemnitz
Methoden politischer Kommunikation entwickeln Nach den ernüchternden Wahlergebnissen für die LINKE im vergangenen Jahr ist die Ratlosigkeit groß. Ein erheblicher Teil des Wählerpotenzials ist nach rechts gedriftet. Man fühlt sich an die Wählerwanderung auch von Arbeitern zur Nazipartei in der Weltwirtschaftskrise erinnert. Ein weiterer Teil der Wählerschaft übt sich in Enthaltung, von der scheinbaren Alternativlosigkeit des neoliberalen Konzepts beeindruckt. Obwohl ein Großteil dieser Menschen ihrer sozialen Stellung nach eher unseren Zielen zuneigen sollte, haben wir Schwierigkeiten, sie für uns zu aktivieren. Mehrere Fragen tun sich auf: Haben wir die richtigen Probleme in den Mittelpunkt unseres Wahlkampfes gestellt? Haben wir unsere Alleinstellungsmerkmale genügend betont? Welche Rolle spielt die mediale Manipulation, die sich auf erprobte Erfahrungen erfolgreicher antikommunistischer Propaganda in der Alt-BRD stützen kann? Warum wird von zunehmend mehr Leuten die LINKE als ein Teil des politischen Establishments angesehen? Offensichtlich reicht es nicht, die Wahrheit auszusprechen, um neue Wähler zu gewinnen. Wahlkampflosungen, Plakate und Flugblätter – so richtig ihre Aussagen sein mögen – setzen sich auch bei unseren potenziellen Wählern nicht ein-
fach in politische Haltungen und Wählerverhalten um. Erwartungen, die mit der Anwendung von Methoden der Werbepsychologie etwa bei der Gestaltung von Plakaten oder Werbefilmen verbunden waren, haben sich nicht im erhofften Maße erfüllt. Eine besondere Herausforderung ergibt sich für die politische Arbeit in zwei für uns besonders interessanten Wählergruppen, unter den Jugendlichen und unter den Nichtwählern. Gerade für diese gilt Peter Porschs Hinweis, dass wir eine Strategie der politischen Kommunikation benötigen. Die jetzt geführte Debatte über inhaltliche Fragen ist wichtig, reicht aber allein nicht aus. Wir müssen besser verstehen lernen, wie erfolgreiche politische Arbeit in der Öffentlichkeit funktioniert, über welche Mittel, Informationswege und Schaltstellen wir die Wähler besser als bisher erreichen können. Jeder kann sich vorstellen, wie schwierig dieses Feld zu bearbeiten ist, gibt es doch kaum verlässliche Informationen etwa über die Nichtwähler. Gerade deshalb sollte darüber nachgedacht werden, wer sich möglichst bald mit wem diesem Thema widmet. Vielleicht könnte die Rosa-Luxemburg-Stiftung die Verantwortung übernehmen und die an diesem Thema Interessierten zum Dialog und gemeinsamer Arbeit zusammenführen. Reinhard Kluge, Rechenberg-Bienenmühle
Für ein weltoffenes Königstein Der Ratssaal ist voll. Gebannt lauschen alle dem jungen Mann, der sachkundig erläutert, wie man Heimatgeschichte in einer Chronik verewigt. Noch Tage später schwärmen die Chronisten vom Referenten: Mario Bauch aus Königstein. Die Geschichte war schon immer seine große Leidenschaft. Die Kindheit auf der Festung Königstein habe ihn geprägt, sagt er. Nicht zufällig wählte er für seine Diplomarbeit als Vermessungsingenieur ein Geschichtsthema – und erhielt dafür den Erathosthenes-Preis. Er wollte nie weg. Heute ist der 39-Jährige pädagogischer Museumsmitarbeiter in Dresden. In Rosenthal-Bielatal gründete er den Heimatverein Ländliches Leben
im BielaTal e.V. mit und publiziert immer wieder zeitkrische Reflexionen zu heimatgeschichtlichen Themen. Wie kommt so einer dazu, für DIE LINKE zu kandidieren? Der Blick über den Tellerrand habe für ihn stets dazugehört, sagt er. Und dann zog ein junger Linker, der Luxemburger Sascha Wagener, auf die Festung. Die Gleichaltrigen wurden enge Freunde. „Sascha hat mich inspiriert und geprägt“, schildert Mario Bauch seinen Weg in die Politik. 2009 hatten sie sich geschworen, gemeinsam in den Königsteiner Stadtrat einzuziehen. Es kam alles anders … Der frühe Tod seines charismatischen Freundes verursacht Mario noch heute betäubenden Schmerz. Die Verbundenheit zur Familie von Sascha ist geblieben und Mario immer wieder ein gern gesehener Gast in Luxemburg.
Mario Bauch zog als Parteiloser für DIE LINKE in den Königsteiner Stadtrat ein. An der Stadt klebt ein braunes Image, obwohl hier viel passiert gegen rechts. Freilich – links neben Mario Bauch im Stadtrat sitzt ausgerechnet NPD-Frau Carmen Steglich. Bei der Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen hat Königstein Vorbildliches geleistet. Das ist Weltoffenheit, wie sie sich auch Mario Bauch vorstellt. Er kommt ins Schwärmen, wenn er von der unverwechselbaren Landschaft erzählt, verhehlt aber gleichzeitig nicht, wie schwierig die Situation ist. Eingezwängt in Täler könne man praktisch nichts Neues bauen. „Eigentlich müssten wir mit unserer guten Lage ,Zentrum‘ sein. Aber die Finanzkraft der einmaligen Festung Königstein geht z. B. an unserer Stadt vorbei.“ Und dann das Hochwasser:
2002 stand die Elbe 50 cm unter den Bahngleisen. 2010 wieder enorme Schäden. Die alten waren noch nicht beseitigt, als
2013 das nächste Hochwasser kam. Die Häuser schwer in Mitleidenschaft gezogen, Gewerbetreibende entnervt, die Bevölkerung traumatisiert. Ob man hier überhaupt noch leben kann?
Den Rat frustriert das Warten auf Fördermittelbestätigungen. „Es sollte nachhaltig gebaut werden – wird es aber nicht“, beklagt Mario Bauch. Seit der letzten Wahl bildet er mit den Freien Wählern eine Fraktion und erfährt Ermutigung für seine Kandidatur. Fragt man, was er anders machen würde, dann nennt er die Stärkung von Gemeinsinn. Als Bürgermeister möchte er mehr Moderator sein. Offen für Neues. Er würde verstärkt persönliche Gespräche mit Einwohnern und Unternehmern suchen, für mehr Sauberkeit sorgen und das Tourismuskonzept auf breitere Beine stellen. Und dann ist da das Gewerbegelände der ehemaligen WISMUT zu beleben… Mario Bauch ist ein würdiger Kandidat. Wir LINKEN danken ihm und drücken ihm die Daumen. Anja Oehm
Impressum
Kleiststraße 10a, 01129 Dresden
Ralf Richter, Stathis Soudias.
Redaktionsschluss 27.04.2015
Sachsens Linke! Die Zeitung der LINKEN in Sachsen
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Termine der Redaktionssitzungen bitte erfragen.
Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auflage von 15.150 Exp. gedruckt.
Bildnachweise, wenn nicht gesondert vermerkt: Archiv, iStockphoto, pixelio.
Die nächste Ausgabe erscheint voraussichtlich am 04.06.2015.
Der Redaktion gehören an: Ute Gelfert, Jayne-Ann Igel, Thomas Dudzak, Antje Feiks (V.i.S.d.P.), Andreas Haupt,
Kontakt: kontakt@dielinke-sachsen.de Tel. 0351-8532725 Fax. 0351-8532720
Mario Bauch (parteilos) kandidiert als Bürgermeister in der Festungsstadt
Herausgeberin: DIE LINKE. Sachsen Verleger: Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e.V.,
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Willkommen in Sachsen! Im April startete die „Willkommenstour“ der sächsischen B u n d es t ag s a bge o r d n ete n und der Landtagsfraktion, die bis Oktober in alle Landkreise kommt. Sie ist ein Gemeinschaftswerk der Regionalbüros der Landtagsabgeordneten und der Landesgruppe Sachsen der LINKEN im Bundestag. Auch die Europaabgeordnete Dr. Cornelia Ernst ist dabei. Marko Forberger sprach mit der Asyl- und Migrationsexpertin der Landtagsfraktion, Juliane Nagel. Wie kam es zur Namensfindung und zur Kooperation zwischen den verschiedenen parlamentarischen Ebenen? Der Titel bezieht sich auf die Bezeichnung „Willkommenskultur“, die eine positive und diskriminierungsfreie Einstellung von Zivilgesellschaft, Politik, Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Sportvereinen etc. gegenüber MigrantInnen beschreibt. Er ist auch als Kontrast zum Verständnis insbesondere der verantwortlichen CDU-PolitikerInnen gedacht. Dem Sächsischen Ausländerbeauftragten Geert Mackenroth ist dieser Begriff „zu emotional“. In meinen Augen muss Willkommenheißen Normalität werden. Erst wenn Menschen nicht als lästige Eindringlinge verstanden werden, lässt sich ein konfliktfreies und respektvolles Zusammenleben gestalten.
Was sind die Hintergründe? Mit der Tour wollen wir in die Kommunen gehen, dorthin, wo Menschen nach einer oft langen und lebensgefährlichen Flucht und einem unsäglichen Aufnahmeverfahren, zumindest in Sach-
sen, an- und zur Ruhe kommen. Dort leben die Menschen, solange sie auf eine Entscheidung über den Asylantrag warten. Sie beziehen Wohnraum, Kinder gehen in Kita oder Schule, die Menschen kommen in Kontakt mit der Bevölkerung. Wir konnten in den vergangenen Monaten beobachten, dass dies keineswegs reibungslos vonstatten geht. Die schwarze sächsische Landespolitik hat das Thema Asyl stiefmüt-
terlich behandelt. Davon zeugen marode Unterkünfte, eine nicht dem Platzbedarf entsprechende Erstaufnahme, fehlende Angebote zur Inklusion bzw. Integration und fehlende Kommunikationsstrukturen zwischen Land
und Kommunen. So konnten sich tiefe Ressentiments bis hin zu Hass in der Bevölkerung ausbilden. Wir wissen ja, dass dort, wo besonders wenige MigrantInnen leben, die Ablehnung oft am größten ist. Was sind konkrete Ziele? Wir wollen uns die Entwicklungen vor Ort anschauen: Wie leben die Asylsuchenden, entsprechen Unterkünfte qua-
litativen Standards, gibt es Angebote, die den Betroffenen das Leben erleichtern? Außerdem führen wir Gespräche mit UnterstützerInnenstrukturen. Wir finden landesweit ein beeindruckendes ehrenamtliches Engagement für die Belange von Geflüchteten vor. Wir streben an, mit der Tour zumindest einen groben Überblick zu bekommen.
Und das große Ganze? Natürlich müssen wir darüber sprechen, dass Syrien im Chaos versinkt. Der Krieg und die Folgen werden auch als „größte humanitäre Krise“ unserer Zeit bezeichnet. Noch nie seit 1945 waren so viele Menschen auf der Flucht, es sind fast 57 Millionen weltweit. Der größte Teil flieht innerhalb der Heimat- oder in Nachbarländer. Auch die tödliche Abschottungspolitik der EU haben wir im Blick. Nicht zuletzt plant die Bundesregierung mit dem Gesetz zur Neuregelung des Bleiberechtes und der Aufenthaltsbeendigung eine krasse Verschärfung des Asylrechts. All das müssen wir zusammendenken und unsere Position klar formulieren: Offene Grenzen und sichere Fluchtwege für Menschen in Not. Einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der deutschen Asylpolitik durch die Wiederherstellung des Grundrechtes auf Asyl. Gleiche Rechte und Bleiberechtsperspektiven für Geflüchtete.
Eine entsprechende Ausstellung zum Thema Flucht- und Asyl, konzipiert für Plätze und Fußgängerzonen, begleitet uns. Sie soll Raum und Ort für den Dialog bieten. Ergebnisse und Erfahrungen werden auch das parlamentarische Handeln befruchten. Wir haben zum Beispiel ein Gesetz in der Pipeline, das wir noch im Verlauf der Tour präsentieren und dann breit diskutieren wollen.
Tourdaten: 18. Mai, Böhlen und Oschatz 26. Mai, Zwickau 26. bis 29. Mai, Landkreis Mittelsachsen 3. bis 4. Juni, Landkreis Vogtland 23. bis 25. Juni, Kreis Bautzen 11./17./18. Juli, Landkreis Sächsische Schweiz Osterzgebirge 19. bis 25. August, Erzgebirge 26. bis 29. August, Kreis Meißen 2. bis 4. September, Chemnitz Oktober, Landkreis Nordsachsen/Landkreis Leipzig
senschaft und Gesellschaft reden wir inzwischen von der Industrie 4.0. DIE LINKE hat aber bei vielen Diskussionsprozessen noch die Lohnarbeit von vor 20 Jahren vor Augen. Da sind die Piraten in ihrem Programm schon viel weiter als wir. Wenn wir hier nicht den Anschluss verlieren wollen – auch an jüngere Wähler_innenschichten – müssen wir das mit als obersten Punkt auf unsere Agenda setzen. Auch mit anderen Themen müssen wir uns zukünftig stärker beschäftigen und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Sei es im Bereich der solidarischen Ökonomie und der Commons (Gemeingüter), indem konkrete Projekte bei uns in den Städten und Gemeinden mit unterstützt werden, oder bei den Arbeitskämpfen für eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen, vor allem im Bereich der Arbeitsverteilung und Arbeitszeitverkürzung. Mit dem Manifest von Katja Kipping und Bernd Riexinger „Die kommende Demokratie: Sozialismus 2.0“, das beide zu Beginn der Konferenz vorgestellt
hatten, wurde ein erster Schritt zur Zukunftsentwicklung getan, der aber nicht der letzte sein darf. Auch dieses Papier muss weiterentwickelt werden. So müssen meiner Meinung nach auch die Diskussionsprozesse und Ergebnisse aus der jetzt stattgefunden Zukunftswoche einfließen, aber auch das, was in Zukunft noch passieren wird. Horst Kahrs hat es, wie ich finde, am Sonntag ganz richtig formuliert, als er in der Podiumsveranstaltung „Die nächste LINKE. Erfahrungen, Experimente, Visionen“ sagte: „Wir brauchen keine NÄCHSTE Linke, sondern eine weiterentwickelte.“ Wir dürfen nicht bei „Hartz IV muss weg!“ und „Gute Arbeit für gute Löhne!“ stehen bleiben. Wenn wir die Gesellschaft mit gestalten wollen, müssen wir uns auch an ihren stattfindenden Prozessen beteiligen. Darum sollten wir das wagen, was Twitternutzer auf die Frage „Was erwartet ihr von einer LINKEN?“ antworteten: Mehr Utopien entwickeln! Mehr Punkrock wagen! Denn der Mainstream sind schon die anderen. Sabine Pester
Die Zukunft beginnt im Heute... Bericht über die LINKE Woche der Zukunft … doch leider ging sie ohne mich los. Denn über 400 Menschen hatten sich zur LINKEN Woche der Zukunft in Berlin angemeldet, die von der Partei DIE LINKE, der Linksfraktion im Bundestag sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert wurde. Und schon bei den ersten beiden Veranstaltungen am Donnerstag – einer Lesung mit Volker Braun und der anschließenden Soiree mit Frigga Haug, Katja Kipping und Anke Domscheit-Berg – waren so viele Menschen anwesend, dass der Veranstaltungssaal in der Volksbühne wegen Überfüllung schließen musste. Ärgerlich für mich, aber ein positives Zeichen, dass die Konferenz und ihre Themen reges Interesse gefunden hat. In den nächsten drei Tagen war das Angebot mit über 80 Veranstaltungen aber dann so groß, dass sich die Teilnehmer_innen gut verteilt hatten: kapitalismuskritische Veranstaltungen, Podien zu internationaler Politik mit Gästen von Podemos und Syriza, Angebote mit kommu-
nalpolitischen Bezügen, Werkstätten zum Thema Arbeitsund Netzpolitik, und, und, und. Trotzdem muss man auch ein wenig Kritik anbringen: So verliefen einzelne Veranstaltungen nicht wie erwartet, sind zu oberflächlich geblieben und die Tage waren mit vier Veranstaltungsblöcken zu voll. So war ich unter anderem bei den Werkstätten zum Thema fahrscheinloser ÖPNV und Bürger_innenbeteiligung. Bei beiden Veranstaltungen hatte ich mir einen Input für meine kommunalpolitische Tätigkeit erhofft. Das Ergebnis fiel für mich aber persönlich unterschiedlich aus. Während das Thema ÖPNV zwar materialmäßig gut ausfiel – man konnte mehrere Broschüren sowie Studien zum Nachlesen und Vertiefen mitnehmen –, war doch die Diskussion für mich eher unbefriedigend. Die Inputreferate blieben eher oberflächlich, und bspw. auf meine Frage, wie man als Mitglied in einem Verkehrsverbund den fahrscheinlosen ÖPNV anstoßen kann, habe ich keine richtige Antwort erhalten. Hier hätte ich mir gewünscht, dass konkret auf Bei-
spiele eingegangen wird, wo es schon umgesetzt wurde. Das Gegenteil war der Workshop „Alle bestimmen mit – Wie eine Bürger_innenbeteiligung in der Verwaltung funktionieren kann“. Die Diskussionsgruppe war sehr klein, so dass es zu einem regen Austausch gekommen ist. So haben nicht nur die Referent_innen erzählt, was bei ihnen machbar war, sondern auch die Teilnehmer_innen sind oft zu Wort gekommen und konnten ihre Erfahrungsberichte bzw. Fragen anbringen. Aus der Diskussion konnte ich auf alle Fälle mitnehmen, dass Bürger_innenbeteiligung nicht ohne die kommunale Verwaltung geht. Denn die politische Zukunft kann man nur gemeinsam gestalten. Ein weiteres Thema, das die Zukunft bestimmen wird und wo wir als LINKE unbedingt stärker aktiv werden müssen, ist die Netzpolitik bzw. die digitale Revolution. Mehrere Veranstaltungen auf der Zukunftswoche haben sich damit beschäftigt, z. B. die Podiumsdiskussion „Digitalisierung von Arbeit demokratisch veranstalten“ und „Digitale Revolution?“. In Wis-
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Strategiedebatte
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Wo wir stehen und was getan werden sollte Ausgangspunkt jeder Strategiebildung ist die Analyse der Hauptkonfliktlinien und die Prognose der zu erwartenden politischen Brennpunkte. Wir sehen sieben Themen, auf die wir uns konzentrieren sollten. • Haushaltspolitik und öffentliche Investitionen: Die Regierungsparteien werden – die CDU mehr, die SPD weniger – mit ihrer Politik der „Schwarzen Null“ werben; der Streit um den „Soli“ und den Länderfinanzausgleich ist eröffnet. Aber wie sollen die unabdingbaren Zukunftsinvestitionen getätigt werden, wenn an ausgeglichenen Haushalten und der Verweigerung von Umverteilung festgehalten wird? DIE LINKE wird hierzu ein kohärentes, allgemein verständliches Konzept vorlegen müssen.
Wir sehen sieben Themen, auf die wir uns konzentrieren sollten • Fortgang der europäischen Integration: Nach dem Wahlsieg von SYRIZA und möglichen weiteren Linksentwicklungen in Südeuropa spitzt sich die Frage immer mehr zu: Wird die destruktive Verarmungspolitik fortgesetzt, oder gelingt es, die Politik in Richtung „Solidarunion“ zu verschieben? DIE LINKE muss die richtige Balance finden zwischen lautstarker Kritik an den unsozialen und undemokratischen Formen der EU in ihrer heutigen Verfassung und der Formulierung konkreter Alternativen, um die EU progressiv zu verändern. • Internationale Handelspolitik – Ablehnung von TTIP: Das transatlantische Handelsabkommen ist ein wichtiges Projekt, um neoliberal geprägte Internationalisierungsprozesse voranzubringen. Dagegen hat sich breiter Widerstand entwi-
ckelt. DIE LINKE muss ihn unterstützen und Vorschläge einbringen, wie eine an sozialen, umweltpolitischen und demokratischen Standards orientierte Globalisierung aussehen könnte. • Geschlechterpolitik: Eine gerechte Verteilung von Erwerbsund Sorgearbeit, die Durchsetzung eines nicht auf den männlichen „Alleinernährer“ zugeschnittenen „Normalarbeitsverhältnisses“ sowie verkürzte/ flexible Arbeitszeiten im Spannungsfeld der Bedürfnisse von Beschäftigten und Unternehmen ist eine wichtige Kernaufgabe fortschrittlicher Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik. • Energiewende: Es bleibt umkämpft, ob der Umstieg auf erneuerbare Energien zügig vorangebracht oder gedrosselt wird. Dringend nötig ist eine Bundesregierung, die den Fuß von der Bremse nimmt. DIE LINKE muss ein sozialverträgliches Umbaukonzept zu ihrem Markenzeichen machen. • De-Eskalation – Entspannung – Neue Europäische Friedensordnung: Mit der bis vor kurzem nicht mehr für möglich gehaltenen Konfrontation zwischen „dem Westen“ und Russland wächst die Gefahr militärischer Eskalation. DIE LINKE muss Vorschläge präsentieren, wie man – neben der unmittelbaren Einhegung des Ukraine-Konflikts – zu einer neuen europäischen Friedensordnung gelangen könnte. • Flüchtlingspolitik/Einwanderung/Integration: Schon heute ist klar, dass die Frage eines Zuwanderungsgesetzes ein wichtiges Wahlkampfthema werden wird, denn ein Kompromiss innerhalb der Bundesregierung erscheint wenig wahrscheinlich. Damit sind zugleich Grundfragen aufgeworfen: Wie human, wie offen ist unsere Gesellschaft wirklich? Aber auch: Wie sehen Lösungen aus, die den ungeheuren Druck zur Migration in den Krisen- und Kriegsregionen ab-
mildern und damit die Probleme ursächlich angehen? 1. These: Regieren ist kein Selbstzweck, aber lustvolles Verharren in der Opposition ist Mist. DIE LINKE muss zielgerichtet auf Regierung hinarbeiten, immer Politik für den Ernstfall machen und sich den Kopf von Regierenden zerbrechen. Es wäre fatal, wenn sich DIE LINKE unvorbereitet an Regierungen beteiligte und am Praxisschock zugrunde ginge. 2. These: Für den politischen Richtungswechsel muss DIE LINKE stärker werden. Aber ohne SPD und Grüne wird es nicht gehen. Auch DIE LINKE muss hierfür Kompromisse eingehen und von der eigenen Position Abstriche machen. Dennoch muss DIE LINKE dieses Bündnis wollen. Sie muss diesen Willen nach außen erkennbar kommunizieren und nach innen ihre politische Arbeit darauf ausrichten. 3. These: „It‘s the economy, stupid!“ Um die wirtschaftspolitische Verfasstheit der Parteien, die sich dem linken Spektrum zuordnen, ist es nicht allzu gut bestellt. Die Lautstärke LINKER Kritik an der herrschenden Wirtschaftspolitik ist richtig. Aber die eigene Kompetenz der Gesamtpartei steht in keinem guten Verhältnis hierzu. Gegen den Glaubenssatz der „schwäbischen Hausfrau“ muss DIE LINKE klarstellen: Öffentliche Investitionen kurbeln die Wirtschaft an. Es ist richtig, diese auch über Kredite zu finanzieren – zumal bei niedrigen Zinsen. Die Geldpolitik der EZB ist das falsche Feindbild. 4. These: Wenn das rot-rot-grüne Bündnis gesellschaftliche Ausstrahlungskraft haben soll, muss es durch ein gemeinsames inhaltliches Projekt erkennbar werden. Dazu müssen die beteiligten Kräfte sich bereits vor dem Wahlgang auf Inhalte verständigen und dabei Gewerkschaften und fortschrittliche Zi-
Mehr Antipathie wagen Für mehr gesellschaftspolitische Radikalität Das politische System in Deutschland – und damit all seine Akteure – stehen vor einem Problem. Seit 2005 regiert nicht nur Angela Merkel, sondern ganz wesentlich vor allem eines: die Langeweile. Auf der Bühne der politischen Auseinandersetzungen scheinen nicht mehr Grundsätze sich zu beharken, sondern Fachleute und Bürokrat*innen über die besten technischen Lösungen zu streiten. Es kämpfen 50 Cent mehr Mindestlohn gegen
eineinhalb Renteneintrittsjahre, 120 Offshore Windräder gegen 3 Kilometer Stromtrasse, 3 % X gegen 5,5 mehr Y. Wenn das die Debatten der Zukunft sind, ist dies das Ende der Parteipolitik und damit auch des politischen Engagements breiter Teile der Bevölkerung. Merkels CDU regiert nicht mit eigenen politischen Ideen, sondern mit Meinungsumfragen. Gleichzeitig sind Millionen Bürger*innen enttäuscht, weil „die Politik“ sich nicht mehr um „ihre Anliegen“ kümmert. Diese Auffassung, dass politische Parteien, Politiker*innen
und „die Politik“ eher verwaltende Sachbearbeiter*innen denn tatsächlich politische Akteur*innen darstellen, macht die unfassbar unsinnige Annahme, „die Politik“ hätte sich gegen „das Volk“ verschworen, überhaupt erst möglich. Daran sind Bürger*innen wie professionelle Politiker*innen gleichermaßen schuld. Wechselseitig wollen die einen sachkundige, fleißige, aufrichtige und kompetente Verwalter*innen, die „ihre Probleme lösen“, während die anderen nicht müde werden, genau jene geforderte Kompetenz in „allgemeinen Sachfragen“
vilgesellschaft einbinden. Das Bündnis muss für Fortschritt, Gerechtigkeit und Freiheit stehen. 5. These: Fortschritt, Gerechtigkeit und Freiheit gibt es nicht ohne die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Der Sozialismus wird nicht auf den Trümmern des Kapitalismus, sondern aus seinem Schoße entstehen. Der Weg dahin führt über den Kampf für eine solidarische Ökonomie und für eine partizipative Demokratie. 6. These: DIE LINKE fordert zu Recht Umverteilung von Einkommen, mehr öffentliches Eigentum, mehr soziale Dienste, die sich mehr Leute leisten können sollen. Auf absehbare Zeit muss DIE LINKE daher wollen, dass es insgesamt mehr zu verteilen gibt. Sie muss also für Wachstum eintreten – auch nachhaltiges Wachstum ist Wachstum.
Regieren ist kein Selbstzweck, aber lustvolles Verharren in der Opposition ist Mist 7. These: DIE LINKE muss eine Politik einfordern, mit der der Trend zur De-Industrialisierung in Europa umgekehrt wird und der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung auf hochtechnologischer Basis (etwa Industrie 4.0) wieder steigt. Gewiss wird Technik im Kapitalismus zuweilen missbraucht und deformiert, aber im Ganzen ist Technik eher Teil der Lösung als Teil des Problems. Wir brauchen technischen Fortschritt, der Lebensqualität erhöht und Probleme löst. Dazu muss sich DIE LINKE bekennen. 8. These: Technologischer Fortschritt und ökonomischer Strukturwandel haben zu neuen Forbeweisen zu wollen. Eine einstmals weltanschaulich geprägte politische Debattenkultur hat sich mehr oder weniger in einen Wettbewerb entwickelt, wer die bessere Servicehotline zur Verfügung stellt. Die Rechte in der Offensive Seit Gründung der Bundesrepublik bis gefühlt fast vorgestern war es die politische Linke, die auf gesellschaftspolitischem Feld häufig Ton- und Impulsgeber war, wohingegen die Rechte mal mehr, mal weniger erfolgreich nur reagiert hat. Ob die Thematisierung der nationalsozialistischen Verbrechen, die Rechte der Frauen, die Legalisierung der Homosexu-
men der Arbeitsorganisation geführt. In dieser Entwicklung steckt nicht nur Potential zu Entfremdung und Druck, sondern auch zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung. DIE LINKE muss ein Angebot erarbeiten, die neuen Potentiale der Menschen für eine emanzipatorische Politik aufzunehmen und ihre veränderten Lebensläufe sozialpolitisch gerecht abzusichern. 9. These: Europa ist nicht alles, aber ohne Europa ist alles nichts. DIE LINKE kritisiert zu Recht die neoliberale Verfasstheit der europäischen Integration und die abgehobene politische Führung der EU. Aber Hand aufs Herz: Das europäische Bewusstsein der LINKEN musste auch erst durch die wichtigen Abwehrkämpfe gegen die europäische Austeritätspolitik „wachgeküsst“ werden. Die schwierige Situation von SYRIZA und möglichen weiteren linken Regierungen unter dem Merkelschen Austeritätsregime sollte klarmachen: DIE LINKE muss sich entschieden mehr um die Europapolitik kümmern. 10. These: Die Menschenrechte – individuelle Freiheitsrechte und soziale Grundrechte – sind Fundament linker Politik, und dies gilt für Innen- und Außenpolitik gleichermaßen. DIE LINKE muss diesen Anspruch als Menschenrechtspartei verkörpern und leben – nicht mehr und nicht weniger. 11. These: Wie unsere „Weltfriedensordnung“ aussehen soll, bleibt noch zu unbestimmt und auf „Antimilitarismus“ beschränkt. Unsere Forderung, „Frieden mit friedlichen Mitteln“ erreichen zu wollen, muss endlich substantiell gefüllt werden. Den Fragen, wie man im Rahmen der Vereinten Nationen entgrenzter Gewalt entgegentreten kann, werden wir nicht endlos ausweichen können. Alexander Recht, Paul Schäfer, Axel Troost, Alban Werner alität, ökologische Fragen – darunter auch der Protest gegen die Atomkraft –, die Proteste gegen die Wiederbewaffnung und die Demokratisierung der Hochschulen – hier konnte sich in verschiedenem Tempo die Emanzipation gegen die Reaktion durchsetzen. Heute hingegen scheint die Linke mit ihrem Latein am Ende und die Rechte ist wieder in der Offensive. Es geht in Debatten kaum mehr um die Erreichung neuer Standards, sondern um die Verteidigung der alten. Auf der anderen Seite der Barrikade stehen dabei nicht nur AfD und PEGIDA, sondern auch „Abtreibungsgegner“, „Männeraktivisten“ gegen einen vermeintlichen „Genderwahn“,
Kommunal-Info 4-2015 6. Mai 2015 Online-Ausgabe unter www.kommunalforum-sachsen.de
KFS
Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V.
Flüchtlinge Partizipation geflüchteter und asylsuchender Menschen über den Sport Seite 3
Barrierefreie Kommune Kommunalpolitisches Forum konstituiert einen Beirat
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Freiwillige und Pflichtaufgaben Zu den elementaren Rahmenbedingungen kommunalpolitischen Handelns gehört die Bestimmung und Zuordnung der Aufgaben der Kommunen. Für die Städte und Gemeinden heißt es da gleich am Anfang der Sächsischen Gemeindeordnung (SächsGemO) in § 2 Abs. 1: „Die Gemeinden erfüllen in ihrem Gebiet im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit alle öffentlichen Aufgaben in eigener Verantwortung und schaffen die für das soziale, kulturelle, sportliche und wirtschaftliche Wohl ihrer Einwohner erforderlichen öffentlichen Einrichtungen, soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen.“
Allzuständigkeit für örtliche Angelegenheiten Entsprechend dem Grundsatz der Allzuständigkeit steht es den Gemeinden danach frei, alle ihnen zweckmäßig erscheinenden Aufgaben aufzugreifen und sich ihrer annehmen. Die Gemeinden dürfen daher nicht auf die Erfüllung zugewiesener Aufgaben beschränkt werden; ihnen steht ein eigenes Aufgabenfindungsrecht zu. Dieser Grundsatz der „örtlichen Allzuständigkeit“ war bereits in der Stein’schen Städteordnung aus dem Jahre 1808 anerkannt und ist seitdem unbestrittener Inhalt der kommunalen Selbstverwaltung. Dieses Aufgabenfindungsrecht der Gemeinden beschränkt sich freilich auf die örtliche Gemeinschaft und auf die Wahrnehmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind das solche öffentlichen Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder einen spezifischen Bezug zu ihr haben, die also den Gemeindeeinwohnern gerade
als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der (politischen) Gemeinde betreffen. Diese Angelegenheiten bilden keinen ein für allemal feststehenden Aufgabenkreis. Ebenso wenig kann dieser Aufgabenkreis für alle Gemeinden ungeachtet etwa ihrer Einwohnerzahl, flächenmäßigen Ausdehnung und Struktur gleich sein. Die Allzuständigkeit der Gemeinden wird ebenso durch das sogenannte Regionalprinzip begrenzt: d.h., die Gemeinden sind bei der Ausübung ihrer Befugnisse an das Gemeindegebiet gebunden sind. Die Beschlüsse der Gemeinden müssen sich somit auf ihren örtlichen Wirkungskreis beziehen. Weiterhin wird die Zuständigkeit der Gemeinden durch die Kompetenzen der überörtlichen Gemeindeverbände beschränkt. Das sind z.B. die Zweckverbände, auf die Zuständigkeiten der Gemeinden übergegangen sind, oder die Landkreise, die durch Gesetz jene Aufgaben übernehmen, die die Leistungsfähigkeit der kreisangehörigen Gemeinden übersteigen. Diese überörtliche Zuordnung wird allerdings durch den Grundsatz der Subsidiarität eingegrenzt, der besagt, dass diese überörtlichen Gemeindeverbände nur diejenigen Aufgaben übernehmen sollen, die die untere Ebene, die Gemeinden nicht wirksam erfüllen können.1 Eingeschränkt wird das Aufgabenfindungsrecht der Gemeinden ebenso durch einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt. So kann den Gemeinden nach § 2 Abs. 2 SächsGemO die Erfüllung einer Aufgabe zur Pflicht gemacht werden; dabei kann sich der Staat nach § 2 Abs. 3 auch ein Weisungsrecht vorbehalten. Danach werden die Aufgaben der Ge-
meinden nach sächsischem Kommunalrecht unterteilt nach: freiwilligen Aufgaben, Pflichtaufgaben und Weisungsaufgaben. Das mag zunächst als bloße juristische Abstraktion anmuten, aber spätestens wenn es zu entscheiden gilt, was aus dem Gemeindehaushalt finanziert werden kann, wird die Frage der Aufgabenzuordnung ganz praktisch. Das Aufgabenfindungsrecht der Gemeinden wird außerdem durch die Grenzen der Leistungsfähigkeit bestimmt. Sie ergeben sich nicht zuletzt aus den finanziellen Spielräumen der Gemeinde. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben hat die Gemeinde die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten und auf die wirtschaftlichen Kräfte ihrer Abgabepflichtigen Rücksicht zu nehmen. Ferner muss die Erfüllung der Pflichtaufgaben gesichert sein. In diesem Rahmen schafft die Gemeinde die erforderlichen öffentlichen Einrichtungen.2
Freiwillige Aufgaben Aus dem Grundsatz der Allzuständigkeit leiten sich die freiwilligen Aufgaben der Gemeinden ab. Bei freiwilligen Aufgaben gibt es keine gesetzliche Pflicht der Gemeinde, diese Aufgaben nach gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen. Die Gemeinde entscheidet ganz nach freiem Ermessen, ob und wie sie diese Aufgaben zu erfüllen gedenkt. In der Wahrnehmung freiwilliger Aufgaben findet kommunale Selbstverwaltung ihren unmittelbarsten Ausdruck: können doch die Kommunen ganz nach ihrem Willen entscheiden, ob, in welchem Umfang und in welcher Art und Weise sie diese Aufgaben realisieren wollen. Die Kontrolle der Rechtsauf-
sicht beschränkt sich allein darauf, zu prüfen, dass die Übernahme freiwilliger Aufgaben nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen darf. Zu den typischen freiwilligen Aufgaben gehören: die Wirtschaftsförderung (z.B. Ausweisung von Gewerbegebieten, Förderung von Existenzgründern, Bereitstellung einer gewerbefreundlichen Infrastruktur); das Betreiben von Versorgungseinrichtungen (z.B. Gas, Elektrizität, Fernwärme); Verkehrseinrichtungen und ÖPNV, soweit nicht die Landkreise zuständig sind; Wohnungsbauförderung (z.B. Betreiben kommunaler Wohnungsunternehmen, Förderung des Eigenheimbaus); bestimmte soziale Einrichtungen (z.B. Jugendhäuser, Sozialstationen, Altenheime); Erholungseinrichtungen und Fremdenverkehr (z.B. Grün- und Parkanlagen, Wanderwege, Lehrpfade); die Sportförderung (z.B. Bau und Unterhalt von Sport- und Schwimmhallen, Förderung der Sportvereine, Angebote für den Breiten- und Freizeitsport). Unter den klassischen freiwilligen Aufgaben wird in den Lehrbüchern auch die kommunale Kulturarbeit aufgezählt. Hier besteht in Sachsen – als einzigem Bundesland – die Besonderheit, dass die Kulturpflege im Sächsischen Kulturraumgesetz als eine „Pflichtaufgabe der Gemeinden und Landkreise“ bestimmt wird. Die Gemeinden haben das Recht, entsprechend den sich wandelnden öffentlichen Bedürfnissen jederzeit neue Aufgaben zur Förderung des gemeinsamen Wohls der Einwohner zu übernehmen.
Kommunal-Info 4/2015
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Allerdings können Kommunen freiwillige Aufgaben nur dann übernehmen, wenn ihnen nach ordnungsgemäßer Erfüllung der Pflichtaufgaben noch finanzielle Mittel verbleiben. Um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, haben Kommunen bisher nicht selten dazu gegriffen, bei den freiwilligen Aufgaben die eingesetzten finanziellen Mittel zu kürzen. Vor allem jene Kommunen geraten hier in ein Dilemma, die verpflichtet wurden, zur Haushaltskonsolidierung ein Haushaltsstrukturkonzept zu erstellen. Die Rechtsaufsichtsbehörden hatten hier in der Vergangenheit verlangt, freiwillige Leistungen kritisch auf ihre Erforderlichkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls konsequent zu reduzieren und selbst bei den Pflichtaufgaben alle Möglichkeiten einer Reduzierung, etwa durch einen Standardabbau, auszuschöpfen. Um die Erledigung bestimmter freiwilliger Aufgaben auch weiterhin zu erledigen, bleibt mitunter als letzter Ausweg die Privatisierung dieser Aufgaben, sofern überhaupt eine Möglichkeit dafür besteht. Kommunalpolitischen Entscheidungsträgern sollte jedoch bewusst sein: eine Reduzierung freiwilliger Aufgaben oder gar ihre Privatisierung bedeutet letztlich eine Schwächung der kommunalen Selbstverwaltung und einen Verlust kommunaler Einflussmöglichkeiten.
die Landesgesetzgebung bestimmt, z.T. aber auch durch die Bundesgesetzgebung. Während freiwillige Aufgaben unter Umständen vollständig privatisiert werden können, ist bei Pflichtaufgaben eine materielle Privatisierung unzulässig. Materielle Privatisierung bedeutet völlige Entlassung von Aufgaben aus der kommunalen Verantwortung in den privaten Sektor. Beispiele für Pflichtaufgaben in Sachsen sind: die Baulanderschließung (§ 123 Baugesetzbuch); die Aufstellung von Bebauungs- und Flächennutzungsplänen (§ 2 Baugesetzbuch); die Baulastträgerschaft für Gemeindestraßen und Ortsdurchfahrten (§ 44 Sächsisches Straßengesetz); Aufstellung, Ausrüstung und Unterhaltung einer Feuerwehr (§ 2 Sächsisches Brandschutzgesetz); Trägerschaft für öffentliche Schulen (§ 22 Sächsisches Schulgesetz); Beleuchtung, Reinigung, Räumen und Streuen von öffentlichen Straßen (§ 51 Sächsisches Straßengesetz); Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung (§§ 57 und 63 Sächsisches Wassergesetz); Friedhöfe anzulegen und zu erweitern sowie Leichenhallen zu errichten (§ 2 Sächsisches Bestattungsgesetz); Aufgaben der Kulturpflege (§ 2 Sächsisches Kulturraumgesetz).
Pflichtaufgaben
Kultur als Pflichtaufgabe
Nach § 2, Abs. 2 SächsGemO können die Gemeinden „ durch Gesetz zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben verpflichtet werden (Pflichtaufgaben).“ Anders als bei den freiwilligen Aufgaben, wo den Gemeinden deren Wahrnehmung völlig frei überlassen ist, sind die Gemeinden zur Erledigung dieser Aufgaben bindend verpflichtet. Sie haben keine Entscheidungsfreiheit darüber, ob sie diese Aufgaben erfüllen wollen oder nicht. Sie haben nur noch Entscheidungsfreiheit über das „Wie“ der Durchführung der ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben. Die Eigenverantwortlichkeit beschränkt sich bei diesen Aufgaben nur noch auf die Art und Weise der Durchführung und in gewissem Maße auf den Umfang der Realisierung. Zur Erfüllung von Pflichtaufgaben werden die Gemeinden deshalb veranlasst, um eine gleichmäßige infrastrukturelle Mindestausstattung der Gemeinden und elementare Lebensverhältnisse der örtlichen Gemeinschaft zu gewährleisten. „Die Pflichtaufgaben nehmen an Zahl und Bedeutung ständig zu. Die Auferlegung von Pflichten darf aber nicht so weit gehen, dass die freie Initiative der Gemeinde erstickt wird.“3 Die Pflichtaufgaben unterliegen der Rechtsaufsicht durch die Aufsichtsbehörden, sie beschränkt sich auf die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Aufgabendurchführung, nicht jedoch auf die Zweckmäßigkeit getroffener Entscheidungen. Die Rechtsaufsichtsbehörde kann gegebenenfalls durch Zwang die Gemeinde auch dazu veranlassen, die entsprechenden Pflichtaufgaben wahrzunehmen. Welche öffentlichen Aufgaben in den Kommunen den Rang von Pflichtaufgaben erhalten, wird in der Regel durch
Die Erhebung der Kulturpflege zu einer gesetzlichen Pflichtaufgabe der Gemeinden und Landkreise in § 2 des Sächsischen Kulturraumgesetzes (SächsKRG) wird bis heute in der Bun-
desrepublik Deutschland als einmalig und vorbildlich angesehen. Im SächsKRG wird Kultur in ihrer Gesamtheit nur ganz allgemein zur Pflichtaufgabe erklärt, es folgen weder weitere spezialgesetzliche Konkretisierungen noch wird der Um-
fang dessen näher bestimmt, was nun pflichtig an Kultur zu realisieren sei. Während vergleichsweise solche „harten“ Pflichtaufgaben wie Abfall- oder Abwasserentsorgung per se unerbittlich realisiert werden müssen und für die Ausführung spezialgesetzliche Regelungen bestehen, ist die Pflichtaufgabe Kultur im SächsKRG hingegen nur unbestimmt und „weich“ definiert. Demzufolge können die Kommunen Art und Umfang ihres Kulturauftrags im Wege einer „Selbstdefinition“ festlegen. Sie werden durch das SächsKRG weder verpflichtet, ganz bestimmte kulturelle Leistungen anzubieten oder ganz bestimmte Kultureinrichtungen zu unterhalten noch dafür Haushaltsmittel in einer bestimmten Höhe bereit zu stellen. Dementsprechend fehlt anderen Pflichtaufgaben vergleichbar eine Zwangswirkung des SächsKRG, die gegebenenfalls über die Kommunalaufsicht durchgesetzt würde. So gesehen hat die gesetzliche Bestimmung der Kulturpflege als Pflichtaufgabe im SächsKRG nur einen deklaratorischen Charakter. Dennoch bleiben die Festschreibungen des SächsKRG nicht völlig bedeutungslos: durch die Bestimmung der Kulturförderung zur Pflichtaufgabe soll verhindert werden, dass die für Kulturförderung vorgesehenen Haushaltsmittel in finanziell schwierigen Zeiten eine willkommene Manövriermasse für Einsparmaßnahmen darstellen und so auch vor Kürzungsanordnungen der Kommunalaufsicht geschützt bleiben. So können im Rahmen der Kulturraumfinanzierung keine Haushaltssperren verhängt werden.
Weisungsaufgaben Nach § 2, Absatz 3 der SächsGemO können den Gemeinden „Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung auferlegt werden (Weisungsaufgaben)“. Weisungsaufgaben sind Pflichtaufgaben, an die ein Weisungsrecht des Staates gekoppelt ist. Diese Aufgaben liegen außerhalb der institutionell geschützten Selbstverwaltungsgarantie, werden jedoch von den Gemeinden in ihrer Eigenschaft als Träger der kommunalen Selbstverwaltung wahrgenommen. Bei den Weisungsaufgaben hat die Gemeinde weder die Möglichkeit über das „Ob“ noch über das „Wie“ der Aufgabenrealisierung zu entscheiden. Die Gemeinden unterliegen hierbei nicht nur der rechtlichen Aufsicht, sondern auch der Fachaufsicht des Staates. Der Staat kontrolliert sowohl die Rechtmäßigkeit als auch die Zweckmäßigkeit der Aufgabendurchführung. Der Umfang des staatlichen Weisungsrechts muss jedoch durch Gesetz bestimmt werden. Nur Pläne, Programme oder Verwaltungsvorschriften reichen nicht aus.4 Folgende Tätigkeitsgebiete gehören u.a. derzeit in Sachsen zu den Weisungsaufgaben: Denkmalschutz (§ 3 Sächsisches Denkmalschutzgesetz); Bauaufsicht (§§ 57 und 58 Sächsische Bauordnung); Ortspolizeibehörde (§ 64 Sächsisches Polizeigesetz); Pass- und Personenstandsangelegenheiten (§ 1 Sächsisches Personenstandsausführungsgesetz); Meldewesen und Statistik (§ 2 Säch-
sisches Meldegesetz). Für die Erledigung von Weisungsaufgaben ist im Regelfall gemäß § 53 SächsGemO der Bürgermeister (bei Landkreisen der Landrat) zuständig. Jedoch besitzt der Gemeinderat über das Etatrecht und über das allgemeine Kontrollrecht eine gewisse Mitwirkungmöglichkeit.
Aufgaben der Landkreise Wie die Gemeinden können auch die Landkreise freiwillige Aufgaben übernehmen. Ebenso können ihnen Pflichtaufgaben per Gesetz zugeordnet werden und Weisungsaufgaben auferlegt werden. Die Besonderheit der Kreisaufgaben wird in § 2, Abs. 1 der Sächsischen Landkreisordnung bestimmt: „Die Landkreise erfüllen, soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen, alle überörtlichen und alle die Leistungsfähigkeit der einzelnen kreisangehörigen Gemeinde übersteigenden Aufgaben in eigener Verantwortung. Zur Erfüllung dieser Aufgaben schaffen die Landkreise die für das soziale, kulturelle, sportliche und wirtschaftliche Wohl ihrer Einwohner erforderlichen öffentlichen Einrichtungen.“ Die Landkreise sollen einen gerechten Lastenausgleich im kreisangehörigen Raum schaffen. Ausgangspunkt für sogenannte Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben der Landkreise ist eine nicht ausreichende Leistungsfähigkeit der Gemeinden. Zur Erfüllung ihrer Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion erheben die Landkreise von den kreisangehörigen Gemeinden eine Kreisumlage. Ergänzungsaufgaben sind solche, die wegen mangelnder Finanz- und/oder Verwaltungskraft der kreisangehörigen Gemeinden von diesen oder vereinzelten Gemeinden nicht oder nur unwirtschaftlich wahrgenommen werden können. Die Hilfeleistungen können auf einzelne Gemeinden und auf Teilaufgaben beschränkt sein. Mit den Ausgleichsaufgaben soll der Landkreis gezielt lastenverteilende Effekte herbeiführen und dadurch ein einheitliches Leistungsniveau im Kreisgebiet sichern. Der Aufgabenvollzug durch die Gemeinden wird durch finanzielle und administrative Hilfen sichergestellt. Bei der ausgleichenden Unterstützung an Gemeinden sind nur einzelfallbezogene, zweckgebundene Zuweisungen zulässig. Zweckfreie InFortsetzung auf Seite 3
Impressum Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Großenhainer Straße 99 01127 Dresden Tel.: 0351-4827944 oder 4827945 Fax: 0351-7952453 info@kommunalforum-sachsen.de www.kommunalforum-sachsen.de Red., Satz und Layout: A. Grunke V.i.S.d.P.: P. Pritscha Die Kommunal-Info dient der kommunalpolitischen Bildung und Information und wird aus finanziellen Zuwendungen des Sächsischen Staatsministeriums des Innern gefördert.
April 2015
Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag
PARLAMENTSREPORT Der Sachsen-Etat steht – doch sozial gerecht ist er nicht Liebe Leserinnen und Leser, nun stecken sich „die Politiker“ wieder mehr Geld ein! Die Emotionen kochen hoch im Land, im Landtag herrscht dicke Luft. Abgesehen davon, dass es „die Politiker“ nicht gibt: Empörung ist berechtigt. Befeuert wurde sie auch durch Äußerungen wie jener des SPD-Abgeordneten Mario Pecher, der sich in der MDR-Sendung „Fakt ist …!“ mehr Mittel ausbat, um der örtlichen Feuerwehr auch mal ein Fass Bier spendieren zu können. Mit Steuergeld, wohlgemerkt! Mit der Änderung des Abgeordneten gesetzes nach dem Prinzip „Mit dem Kopf durch die Wand“ haben CDU und SPD die Sachkostenpauschale um 1.000 Euro erhöht, ohne eine belastbare Kostenrechnung vorgelegt zu haben. Hinzu kommt die in letzter Minute abgeschwächte, aber noch immer sehr komfortable Rentenregelung. Die Koalition versuchte vergeblich, der Opposition die Schuld am anschließenden Aufschrei zuzuschieben. Nun zanken CDU und SPD um die Frage, wer von ihnen eigentlich mit der ganzen Chose angefangen hat. Ohne Demut, aber mit umso mehr Arroganz haben CDU und SPD zur Politiker-Verdrossenheit beigetragen und Wasser auf die Mühlen derer gegossen, die das System der parlamentarischen Demokratie insgesamt in Frage stellen. Die Rechte der Opposition wurden im Gesetzgebungsverfahren teilweise mit Füßen getreten. Am Ende erleiden das ganze Parlament und die ganze Demokratie einen Ansehensverlust, den wir uns alle nicht leisten können. Wir blieben zwar trotz unserer Kritik bei der Abstimmung in der Minderheit. Wenn Aussicht auf Erfolg besteht, werden wir die Entscheidung aber vor dem Verfassungsgerichtshof in Leipzig angreifen. Mehr zum Thema im Innenteil!
Rico Gebhardt Fraktionsvorsitzender
Es ist der 10. Juli 2014. Wir befinden uns im Plenarsaal, in dem der Ministerpräsident zur letzten Regierungserklärung vor der Landtagswahl anhebt. Sein Thema: „Auf solidem Fundament erfolgreich für Sachsens Zukunft“. Man kennt solche Reden seit Jahren: „Dass Sachsen so gut dasteht, ist ein Riesenerfolg“; „Jetzt, nach 25 Jahren Wiederaufbau, sagen wir selbstbewusst: Uns geht es gut“; „Wir waren dabei in den letzten Jahren sehr erfolgreich“. Und so weiter, und so fort. Die Sachsen kennen keine Probleme, alles in bester Ordnung! Als der Landtagspräsident hernach „unserem Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich“ dankt, schallt es von Karl Nolle, Abgeordneter der damals noch oppositionellen SPD, ironisch: „Hurra! Hurra! Hurra!“ Ein knappes Jahr später und mithin beim April-Plenum des Landtages hielt der Ministerpräsident wieder eine solche Rede, zur Einbringung des Haushaltsentwurfes 2015/2016. Die SPD sitzt inzwischen mit am Kabinettstisch, Karl Nolle ist aus dem Landtag ausgeschieden. Eines aber hat sich nicht geändert: Tillichs Worte strotzen von Heimattümelei, Selbstlob, Gefühlsduselei. „Heute ist unsere Heimat schöner und lebenswerter denn je, und wir sind ein gutes Stück in Richtung Spitze vorangekommen. Was damals Zukunftshoffnung war, haben wir selbst Wirklichkeit werden lassen, indem wir Verantwortung übernommen haben“. Der Staatshaushalt sei, so Tillich, „ein Zukunftswerk für ein modernes Sachsen, das Kräfte freisetzt“. „Hurra“, möchte man auch heute wieder rufen! Bis heute zehrt die sächsische CDU vom „Sachsen-Mythos“, einem spezifischen „Sachsengefühl“, das „König Kurt“ Biedenkopf nach der „Friedlichen Revolution“ entwickelte und das dem Freistaat mindestens in Sachsen eine Vorreiterrolle zuschreibt. Doch neben patriotischen Parolen und bräsiger Feierlichkeit stehen Probleme, über die keine Worte der Welt hinwegtäuschen können. Oppositionsführer Rico Gebhardt fiel deshalb die Aufgabe zu, klarzustellen, dass eben doch nicht alles blinkt und blitzt in Sachsen. Er begann seine Erwiderung mit einem Blick auf das rot-rot-grün regierte Nachbarbundesland Thüringen. Von dort und nicht aus Sachsen kam die Nachricht: „Programm gegen Langzeitarbeitslosigkeit gestartet“. Es soll mindestens eintausend Menschen sofort zugutekommen, die bisher auf
dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr hatten. Insofern ergänzt es das in Thüringen bereits bestehende Landesarbeitsmarktprogramm zur Integration von langzeitarbeitslosen Menschen. In Sachsen seien solche Bemühungen nicht in Sicht, kritisierte Gebhardt. Dabei sei lange bekannt, dass es hier überdurchschnittlich viele Langzeitarbeitslose, ältere Erwerbslose, HartzIV-AufstockerInnen, LeiharbeiterInnen und Menschen mit Hartz-IV-Dauerbezug gibt. „Daraus ergibt sich ein überdurchschnittlicher Handlungsbedarf, dem diese CDU/SPD-Koalition bisher in keiner Weise gerecht wird“. Tatsächlich sei der neue Doppelhaushalt nichts weiter als der Versuch, Schäden zu reparieren, den ein Teil der Koalition – die CDU regiert seit 25 Jahren – selbst verursacht hat. Doch selbst das gelinge nur teilweise, so Gebhardt. Es könne keine Rede davon sein, dass der Haushalt „die Zukunftsmacher in Sachsen stärke“, wie Tillich behauptete. Das zeige sich schon bei der frühkindlichen Bildung. Zwar soll dort in Zukunft mehr Personal eingesetzt werden, der Betreuungsschlüssel schrittweise verbessert werden. Allerdings wich die Koalition nur nach massivem Protest – auch von der Opposition – von ihrem Plan ab, diese Reform mindestens zur Hälfte von den Eltern bezahlen zu lassen. Zu nichts anderem hätte die Erhöhung der prozentualen Obergrenze für Elternbeiträge von 30 auf 33 Prozent geführt. Die ist nun vom Tisch – wurde aber durch eine neue Mogelpackung ersetzt. Im Krippenbereich soll der Personal-Schlüssel von sechs Kindern pro ErzieherIn auf fünf Kinder pro ErzieherIn verbessert werden. Gleichzeitig aber sollen bis zu 20 Prozent Assistenzkräfte ohne pädagogische Ausbildung eingesetzt werden dürfen. Damit wird die Zahl der Fachkräfte trotz des Personal-Zuwachses sinken. Auch auf den beiden größten Baustellen der Landespolitik herrsche Stillstand, bemängelte der LINKENFraktionschef. Der Personalabbau bei der Polizei gehe trotz steigender Kri-
minalität unterm Strich weiter. Auch an den Schulen würden keine Fundamente für die Zukunft errichtet. Entgegen der Ankündigung im Koalitionsvertrag, insgesamt 1.000 zusätzliche LehrerInnen einzustellen, werden langfristig nur die Lehrkräfte ersetzt, die in den Ruhestand gehen. Für zusätzliche LehrerInnen, die die Koalition ankündigt, sind im Haushalt gar keine Personalstellen ausgewiesen. Dabei hatte schon der damalige Kultusminister Roland Wöller seinen Hut nehmen müssen, weil sein Ministerium Pädagoginnen und Pädagogen einstellte, für die gar keine Stellen eingeplant waren. Das Hauptversäumnis der Koalition bleibe, so Gebhardt, dass sie die Kürzungen von 2010 nicht vollständig zurückgenommen hat. Dabei hat es anstelle der von Finanzminister Unland prophezeiten massiven Steuermindereinnahmen sogar leichte Steuermehreinnahmen gegeben. Der oberste Spar-Kommissar aber hat den Freistaat in den vergangenen vier Jahren im Durchschnitt um 750 Millionen Euro jährlich zu arm gerechnet und damit dem Landtag Gestaltungsspielraum entzogen. DIE LINKE will diesen Spielraum nutzen – mit über hundert Änderungsanträgen in den Ausschüssen legten wir, wie schon sieben Male zuvor, unsere Alternativen im Rahmen des Gesamthaushaltes vor, ohne mit Schulden zu planen. Beispielsweise schlugen wir vor, den besseren Kitabzw. Krippen-Personalschlüssel komplett mit Fachkräften umzusetzen. Für den sozialen Wohnungsbau wollten wir 30 Millionen Euro zusätzlich einplanen, die Krankenhausfinanzierung auf ein bedarfsgerechtes Niveau anheben. Hinzu kommen Initiativen für eine bessere Aufnahme von Flüchtlingen, mehr Mittel für Kita-Investitionen oder eine millionenschwere kommunale Investitionspauschale. CDU und SPD schmetterten in gewohnter Weise auch diese Initiativen ab. „Bis Sachsens Landes-Etat in Zahlen gegossene Solidarität ist und wir vielen Menschen eine tatsächliche ,Zukunftshoffnung‘ machen können, haben wir noch Jahre harter Arbeit vor uns“, fasste Rico Gebhardt zusammen. Bis dahin werden wir auch noch viele schöngefärbte Reden von CDU-Vertretern hören. Die werden uns aber nicht davon abhalten, immer wieder Druck zu machen für ein soziales Sachsen.
PARLAMENTSREPORT
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April 2015
Von Demut, Diäten und Deppen „Abgeordnete sind nicht die Deppen der Nation. Wir haben eine Verantwortung für unser Land. Und dieser Verantwortung werden wir gerecht. Und für diese Verantwortung bin ich mir auch wert, ordentliches Geld zu verdienen“. Sichtlich entnervt rechtfertigte sich der Vorsitzende der CDUFraktion, Frank Kupfer, am Tag der Entscheidung über die Abgeordnetenentschädigung. Verantwortung, das ist in vielen Jobs ein Argument für gute Bezahlung, sie sollte es zumindest sein – auch bei Altenpflegern oder Busfahrerinnen. Doch wer kann ermessen, ob Abgeordnete ihrer Verantwortung gerecht werden? Die Folgen von Fehlentscheidungen, die Parlamentarier bekanntlich nicht allein treffen, zeigen sich oft erst später. Selbst dann ist es kaum möglich, sie zur Verantwortung zu ziehen. Doch der Reihe nach. Auch ein emotionales Thema verdient einen sachlichen Blick. Selbstverständlich sollen Parlamentarier genug Geld verdienen, um unabhängig zu sein, auch im Alter. Sie sollen auch genug Mittel für mandatsbezogene Aufwendungen erhalten. Über ihre Einkünfte können sie selbst bestimmen, sie müssen es sogar. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1975 festgestellt. Schon heute haben Sachsens Abgeordnete keinen Grund, sich zu beklagen. Sie erhalten monatlich eine entschädigung (Diät) in Höhe Grund von derzeit 5.212,54 Euro, auf die übliche Steuern und Sozialabgaben zu entrichten sind. Der Betrag wird jährlich angepasst, gekoppelt an die wirtschaftliche Entwicklung. Hinzu kommt
eine steuerfreie Aufwandspauschale, deren Höhe davon abhängt, wie weit entfernt vom Parlamentsgebäude ein Abgeordneter wohnt. Momentan liegt sie zwischen 2.135 und 3.099 Euro, die laut Abgeordnetengesetz für mandatsbedingte Aufwendungen zu verwenden sind – etwa Büromieten, Fahrt- und Kommunikationskosten oder Arbeitsmaterial. Hinzu kommen ein Budget für die Beschäftigung von Mitarbeitern, eine Einmalzahlung für die Büroausstattung und ein jährlicher Betrag für den Empfang von Besuchergruppen im Landtag. Auch besteht ein kompliziertes Altersversorgungssystem. Bei der Reform des Abgeordnetengesetzes sorgten vor allem zwei Punkte für Aufruhr. Der erste ist die drastische Erhöhung der steuerfreien Aufwandspauschale um 1.000 Euro pro Monat. Warum CDU und SPD eine so große Schippe drauflegen wollten, haben sie nie erklärt. Es gibt auch keine Kostensteigerung, mit der dieser Zuwachs zu rechtfertigen wäre. Das Ergebnis ist eine Diätenerhöhung durch die Hintertür, die wir ablehnen. Der zweite Punkt ist die Reform der Altersvorsorgeregelungen. Fünf Minuten vor zwölf rückten CDU und SPD von ihrem Plan ab, Parlamentariern nach 17 Jahren im Landtag die abschlagsfreie Rente mit 60 zu ermöglichen. Der Kompromiss ist aber ebenfalls eine Mogelpackung. Der Anspruch auf Rente mit 63 besteht nun bereits nach 15 Jahren Parlaments-Zugehörigkeit; mit maximal 70 Prozent der Höhe der Diäten liegt er auch weit über dem, was „normale“ Angestellte erwarten dürfen.
Mit den Oppositionsfraktionen wurde über all das nicht verhandelt – obwohl wir das im Interesse des Ansehens des Landtages mehrfach angeboten hatten. So blieben uns nur harsche Kritik und die Ablehnung der Neuregelungen. Die stehen rechtlich auf tönernen Füßen. Der LINKE Rechtsexperte Klaus Bartl führte den Regierungsfraktionen vor Augen, welche politischen und möglicherweise auch gesetzeswidrigen Verstöße sie begangen haben. Die CDU- und SPD-Landtagsmehrheit habe für das Beratungs- und Gesetzgebungsverfahren „einen Zeitund Termindruck“ entwickelt, „der von vornherein Intransparenz, Verletzung von Rechten der Abgeordneten und von Minderheitsrechten der Opposition sowie von Rechten der Fraktionen in Kauf nahm“. Allein, alle Warnungen vor Verfahrensfehlern – auch in den Wochen zuvor – verfingen nicht. Infolgedessen prüft die Fraktion DIE LINKE jetzt rechtliche Schritte, um
das Gesetz vor dem Verfassungsgerichtshof angreifen zu können. Sebastian Scheel, Parlamentarischer Geschäftsführer, rief der Koalition zu: „Am Ende leiden wir auch mit, weil die öffentliche Wahrnehmung des Abgeordneten und seiner Stellung in der Gesellschaft ein ernsthaftes Problem bekommt. Was Ihnen fehlt, sind meines Erachtens die Demut vor der Aufgabe und der Respekt vor dem Parlament!“. Abgeordnete tragen viel Verantwortung, für das Ansehen des Parlaments wie der Demokratie selbst. Mit Blick auf das Gezerre um das Abgeordnetengesetz kann man allerdings nur zum polemischen Schluss kommen: Hier haben sich CDU und SPD – abgesehen von drei standhaften Abweichlern, darunter SPDWissenschaftsministerin Eva-Maria Stange – ordentlich zu Deppen gemacht. Und den Sächsischen Landtag gleich mit.
Sachsen ist nicht arm. Es wird arm gerechnet! im Staat nicht erfüllt werden können, dann ist sie nicht vorteilhaft, sondern nachteilig für alle Bürgerinnen und Bürger“, so der Finanzexperte der Linksfraktion, Sebastian Scheel. 3,13 Milliarden Euro an Steuern hat Sachsen seit 2011 mehr eingenommen als geplant – Geld, das dringend gebraucht wird, etwa für Schulen und Hochschulen oder die Polizei. Der Finanzminister
aber rechnet Sachsen seit Jahren künstlich arm und schafft Milliardenüberschüsse am Landtag vorbei. Dabei rühmt sich die CDU bei jeder Gelegenheit für ihre „solide Finanzpolitik“. Zu einer solchen würde es aber auch gehören, Einnahmen bestmöglich einzusetzen. Das haben wir vorgeschlagen und eine dreistellige Zahl von Änderungsanträgen zum Haushaltsentwurf eingebracht.
Steuern Vergleich von Soll- und Isteinnahmen 13.000 12.140 11.789
11.750 in Mio. EUR
Die sächsische Gesellschaft wird vielfach gespalten – in Arme und Reiche, Menschen mit und ohne Behinderung, Einheimische und Zugewanderte. Diese Spaltungen wollen wir schrittweise überwinden – auch mit unserem alternativen Haushaltsentwurf. Im Sinne des sozialen Ausgleichs beantragten wir, im Jahr 2015 insgesamt 404 und im Jahr 2016 insgesamt 486 Millionen Euro anders einzusetzen, als es die Regierung plant. Das alles ist bezahlbar – durch eine realistische Einschätzung der Einnahmen und den Verzicht auf Unnützes, darunter das Landesamt für Verfassungsschutz (als Frühwarnsystem erwiesenermaßen untauglich), das geplante länderübergreifende PolizeiAbhörzentrum, die Standortkampagne „So geht sächsisch“ oder einen überhöhten Zuschuss für den Katholikentag 2016. Schon mit diesen vier Kürzungen ließen sich mehr als 30 Millionen Euro einsparen. Noch wichtiger aber ist es, Einnahmen stärker als bisher zu investieren, anstatt unverhältnismäßig große Rücklagen anzuhäufen. Sparsamkeit ist gut und wichtig. „Wenn Sparsamkeit aber dazu führt, dass die notwendigen Aufgaben
10.500
11.427 10.553
9.250
11.524
2013
2014
10.217
9.713
8.000
11.325
2011
2012 Kassen-Ist
Haushalts-Soll
Überhaupt sind Katastrophenszenarien über die finanzielle Lage des Freistaates fehl am Platze. Das zeigt ein tieferer Blick auf die Struktur der Staatsverschuldung. Etwa 11,4 Milliarden Euro Staatsschulden hatte Sachsen im Jahr 2013. Die zerfallen in drei ähnlich große Teile. Etwa 3,5 Milliarden bestehen aus schon bewilligten, aber nicht aufgenommenen Krediten, für die also auch keine Zinsen anfallen. Ermächtigungen, diese Kredite aufzunehmen, hat der Landtag dem Finanzminister teilweise schon vor Jahren erteilt. Sie könnten problemlos zurückgenommen werden. Ein zweiter Teil der sächsischen Staatsschulden – 3,8 Milliarden Euro – hat sich der Freistaat bei sich selbst geborgt, also vereinfacht gesagt den Rücklagen entnommen. Zinsen dafür zahlt er sich selbst. „Nur“ vier Milliarden schließlich sind „richtige“ Schulden bei Banken. Klar ist: Sachsen hat kein Schulden-, aber ein Gerechtigkeitsproblem! Der soziale Ausgleich ist bezahlbar. Auf der folgenden Seite haben wir einige unserer konkreten Änderungsvorschläge für wichtige Bereiche überblicksartig aufgeführt.
PARLAMENTSREPORT
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Von unseren insgesamt mehr als einhundert Änderungsanträgen wurde knapp die Hälfte im Plenum behandelt. Damit wollten wir erreichen, dass bestimmte Beträge in den Jahren 2015 und 2016 anders eingesetzt werden. Beispiele gefällig? Hier ein Überblick. Die genannten Zahlen beziehen sich stets auf die jeweilige Gesamtsumme in beiden Haushaltsjahren. Für jeden Posten haben wir Deckungsvorschläge gemacht.
BILDUNG & SCHULE
WIRTSCHAFT & FINANZEN
+ 97.500 Euro zur Schaffung einer Koordinierungsstelle für politische Bildung
+ 10 Millionen Euro für die Zweckverbände des Schienen-Personennah
+ 40 Millionen Euro zusätzlich für den Schulhausbau, vorranging in den
+ 162 Millionen Euro zusätzlich für Investitionen der Städte, Gemeinden und
(Regierungsentwurf: 0 Euro)
kreisfreien Städten (Regierungsentwurf: 80 Millionen Euro)
verkehrs (Regierungsentwurf: 0 Euro)
Landkreise, um Instandhaltungsrückstände abbauen und die Infrastruktur modernisieren zu können. Auch in Asylsuchendenunterkünfte soll investiert werden (Regierungsentwurf: 38 Millionen Euro)
+ 5,8 Millionen Euro zusätzlich für neue Referendariats-Stellen an Grundschulen (Regierungsentwurf: 17,3 Millionen Euro)
+ 53,5 Millionen Euro für Schulsozialarbeit
+ 10 Millionen Euro für die Unterstützung der Kommunen bei der Finanzierung
+ 1,79 Millionen Euro zusätzlich zur Verbesserung der Betreuungsqualität
---------------------------------------------------------------------------------------------= 182 Millionen Euro mehr für die Kommunen zur Förderung von Mobilität und Bildung!
von Lernmitteln (Regierungsentwurf: 0 Euro)
(Regierungsentwurf: 0 Euro)
in Kitas (Regierungsentwurf: 4,81 Millionen Euro)
+ 20 Millionen Euro zusätzlich für Rekonstruktion und Neubau von Kindertagesstätten (Regierungsentwurf: 10 Millionen Euro)
POLIZEI & JUSTIZ
+ 18,35 Millionen Euro zusätzlich für mehr Personal zur Umsetzung der Inklusion (Regierungsentwurf: mindestens 30.000 Euro)
+ 3,495 Millionen Euro zusätzlich, um den Einstellungskorridor für Polizei-
+ 8,01 Millionen Euro zusätzlich zur Verbesserung der Ganztagsangebote entsprechend der gestiegenen Schülerzahlen (Regierungsentwurf: 23,98 Millionen Euro)
-----------------------------------------------------------= 147,5 Millionen Euro mehr für bessere Bildung in Sachsen!
INNERES & INTEGRATION + 750.000 Euro zusätzlich für die
personelle Aufstockung der sächsischen Arbeitsschutzbehörden, damit es wieder mehr Kontrollen geben kann (Regierungsentwurf: 13,4 Millionen Euro)
+ 30 Millionen Euro zusätzlich für
bezahlbares Wohnen auch für einkommens schwache und Familienhaushalte. Bei Neubau, Umbau und energetischer Sanierung soll ein Baukostenzuschuss gezahlt werden (Regierungsentwurf: 89,27 Millionen Euro)
anwärterinnen und -anwärter zu verbreitern. Künftig sollen jährlich mindestens 500 neue Polizistinnen und Polizisten angestellt werden, nicht nur 400 wie nach dem Willen der Staats regierung (Regierungsentwurf: 27,9 Millionen Euro)
LINKE Vorschläge für einen gerechten Sachsen-Etat 2015/16
Investitionsstaus in den sächsischen Sportstätten (Regierungsentwurf: 30,88 Millionen Euro)
+ 137,44 Millionen Euro zusätzlich für die Kommunen, damit sie
--------------------------------------------------------------------------------------------= 190,69 Millionen Euro mehr für ein lebenswertes Sachsen für alle!
+
+ 4,84 Millionen Euro zusätzlich zur Förderung angewandter Forschung
+
(Regierungsentwurf: 0 Euro)
+
an Hochschulen, beispielsweise durch Verstärkung des Mittelbaus, Tutorien, wissenschaftliche Hilfskräfte, Wiedereinstiegsstipendien (Regierungsentwurf: 25 Millionen Euro)
+
+ 15 Millionen Euro zusätzlich für die Stärkung von Lehre und Forschung
+ 900.000 Euro zusätzlich zur Förderung der Musikschulen, weil die Schülerzahlen steigen (Regierungsentwurf: 11,1 Millionen Euro)
+
also für Theater, Orchester und anderes mehr (Regierungsentwurf: 112,6 Millionen Euro)
+
+ 10 Millionen Euro zusätzlich für die Förderung der Kulturräume, --------------------------------------------------------------------------------------------= 33,74 Millionen Euro mehr für Wissenschaft und Kunst!
für Justizsekretäre an den Ordentlichen Gerichten um weitere vier Stellen zu erhöhen (Regierungsentwurf: 96,8 Millionen Euro)
+ 747.300 Euro zusätzlich, um die Zahl der planmäßigen Beamten im Justizvollzug um weitere 20 Stellen zu erhöhen (Regierungsentwurf: 109,75 Millionen Euro)
+ 590.100 Euro zusätzlich, um die Zahl der Stellen für Sozialarbeiter und Psychologen im Justizvollzug um weitere zehn Stellen zu erhöhen (Regierungsentwurf: 29,7 Millionen Euro)
+ 405.000 Euro zusätzlich für sechs neue Angestellte im Landesjungendamt,
+
+ 3 Millionen Euro für Investitionen der Studentenwerke
+ 143.400 Euro zusätzlich, um die Stellen
SOZIALES
WISSENSCHAFT & KUNST an Fachhochschulen (Regierungsentwurf: 15,16 Millionen Euro)
Richterstellen an den Ordentlichen Gerichten um weitere sechs Stellen zu erhöhen (Regierungsentwurf: 288,5 Millionen Euro)
-------------------------------------------------------------------= 5,37 Millionen Euro mehr für eine arbeitsfähige Justiz und eine leistungsfähige Polizei!
+ 22,5 Millionen Euro zusätzlich für den Abbau des
Flüchtlinge menschenwürdig und unter zumutbaren Wohn- und Lebens bedingungen unterbringen und betreuen können (Regierungsentwurf: 242,56 Millionen Euro)
+ 396.600 Euro zusätzlich, um die planmäßigen
um die unzureichende Personalausstattung zu verbessern (Regierungsentwurf: 19,58 Millionen Euro) 5,17 Millionen Euro zusätzlich für die Erhöhung der Jugendpauschale auf den Stand von 2009. Dadurch erhalten die Kommunen wieder mehr Geld zur Förderung der Jugendarbeit (Regierungsentwurf: 30,6 Millionen Euro) 4,14 Millionen Euro zusätzlich für die Jugendhilfe (Regierungsentwurf: 11,9 Millionen Euro) 13 Millionen Euro zusätzlich für eine angemessene Erhöhung des Nachteilsausgleichs nach Landesblindengeldgesetz für gehörlose Menschen ent sprechend des Landesblindengeldes (Regierungsentwurf: 17,6 Millionen Euro) 20 Millionen Euro für Maßnahmen zur Herstellung umfassender Barrierefreiheit im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (Regierungsentwurf: 0 Euro) 18 Millionen Euro zusätzlich für den Ausbau der Telemedizin, also die medizinische Betreuung über Mittel der Telekommunikation (Regierungsentwurf: 2 Millionen Euro) 1,69 Millionen Euro zusätzlich für Einrichtungen, die Opfer häuslicher Gewalt schützen, und für die Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel (Regierungsentwurf: 2,5 Millionen Euro) 30 Millionen Euro zusätzlich für Krankenhausinvestitionen (Regierungsentwurf: 200 Millionen Euro)
------------------------------------------------------------------------------------------------= 92,4 Millionen Euro mehr für ein soziales Sachsen!
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PARLAMENTSREPORT
April 2015
Jetzt bewerben für den Preis „Gelebte Willkommenskultur und Weltoffenheit“ 2015 Um Engagement für ein friedliches Zusammenleben von Geflüchteten und Ein heimischen in Sachsen zu unterstützen, hat die Fraktion DIE LINKE anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni den Preis „Gelebte Willkommenskultur und Weltoffenheit in Sachsen – 2015“ ausgelobt. Der Preis wird in zwei Kategorien vergeben: „Praktische Hilfe“ und „Politisches Engagement“. Beide sind jeweils mit 750 Euro dotiert. Die Finanzierung der Preisgelder erfolgt aus Spenden unserer Abgeordneten. Für den Preis können sich Personen, Gruppen, Initiativen, Vereine oder Verbände bewerben, die sich im Bereich der Arbeit mit Flüchtlingen oder Migrantinnen und Migranten engagieren, sofern sie in Sachsen wohnhaft und tätig sind. Der Preis soll würdigen, dass sie sich vorbildlich und öffentlich wirksam für eine gelebte Willkommenskultur sowie für Weltoffenheit und kulturelle Vielfalt einsetzen. Die Engagierten können sich selbst für den Preis bewerben oder von Dritten vorgeschlagen werden. Der Bewerbung bzw. dem Vorschlag ist eine aussagekräftige schriftliche Beschreibung der jeweiligen Tätigkeit, der Initiative, des Projektes, der Aktion bzw. Leistung beizufügen.
Plenarspiegel April 2015 Die 11., 12. und 13. Sitzung des 6. Sächsischen Landtages fanden vom 27. April bis 30. April 2015 statt. Die Fraktion DIE LINKE war mit folgenden parlamentarischen Initiativen vertreten:
Bewerbungen und Vorschläge können – unter Ausschluss des Rechtsweges – bis zum 30. Mai 2015 an die folgende Adresse eingereicht werden: Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag Stichwort: „Gelebte Willkommenskultur und Weltoffenheit in Sachsen – 2015“ Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Die Auswahl der Preisträger erfolgt durch eine Jury, der neben den Fraktionsmitgliedern Marion Junge, Juliane Nagel und Lutz Richter auch Johanna Stoll von der Jüdischen Gemeinde Dresden und Emiliano Chaimite vom Ausländerrat Dresden e. V. angehören. Die Preisverleihung findet am 19. Juni 2015 statt.
Bei der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag soll frühestmöglich, zum 1. Juni 2015, eine Teilzeitstelle (30-Stunden-Wochenarbeitszeit) als
Parl.-wiss. Berater_in / Jurist_in befristet bis zum Ende der 6. Wahlperiode des Sächsischen Landtages besetzt werden. Als Voraussetzungen werden ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Rechtswissenschaften (Diplomjurist_in) oder 2. Juristisches Staatsexamen (ass. iur.), ausgewiesene berufliche Erfahrungen vorzugsweise auf dem Gebiet des Sozialrechts, Erfahrungen im Bereich der parlamentarischen Beratungstätigkeit und der Parlamentsarbeit sowie ein der Partei DIE LINKE nahestehendes politisches Grundverständnis erwartet. Dienstort ist Dresden. Die Vergütung erfolgt in Anlehnung an den TV-L in der Entgeltgruppe 12 (Tabelle Ost). Detaillierte Auskünfte zu den Anforderungen und Aufgaben finden Sie im Internet unter: www.linksfraktion-sachsen.de Ihre aussagekräftige schriftliche Bewerbung richten Sie bitte mit den üblichen Unterlagen (Lebenslauf, Zeugnisse, Tätigkeitsnachweise etc.) bis zum 15. Mai 2015 an: Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag z.Hd. Fraktionsgeschäftsführer Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden
Dringliche Anträge
Anträge
– Dringlicher Antrag der 27 Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE und der 8 Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN in Drs 6/1241 zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 54 Absatz 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen zum Thema: „Untersuchung möglicher Versäumnisse und etwaigen Fehlverhaltens der Staatsregierung und der ihrer Fach-, Rechts- und Dienstaufsicht unterliegenden Sicherheits-, Justiz-, Kommunal- und sonstigen Behörden im Freistaat Sachsen beim Umgang mit der neonazistischen Terrorgruppe, die sich selbst als ‚Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)‘ bezeichnet, deren personell-organisatorischem Umfeld und etwaigen Unterstützernetzwerken, insbesondere im Hinblick auf ihre Entstehung, Entwicklung und ihr Agieren in bzw. von Sachsen aus sowie bei der Aufklärung, Verfolgung und Verhinderung von Straftaten, die der Terrorgruppe ‚NSU‘ und ggf. den mit ihr verbundenen Netzwerken zurechenbar sind und den hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen (Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen)“ – Dringlicher Antrag der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Drs 6/1399 zur Festlegung der Zahl der Mitglieder des Untersuchungsausschusses „Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen“ Wahlen zum 1. Untersuchungsausschuss „Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen“ (Drs 6/1403, 1404, 1405): – Mitglieder für die Fraktion DIE LINKE im 1. UA sind Kerstin Köditz, André Schollbach, Mirko Schultze und Lutz Richter. – Stellv. Mitglieder sind Klaus Bartl, Sarah Buddeberg, Juliane Nagel, Falk Neubert, Luise Neuhaus-Wartenberg, Janina Pfau, Sebastian Scheel und Enrico Stange Die Fraktion DIE LINKE stellt die stellv. Vorsitzende – Kerstin Köditz.
– Antrag der Fraktion DIE LINKE „Sächsisches Forschungsprojekt zur Schicksalsklärung von sowjetischen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges fortsetzen“ (Drs 6/1218) – Antrag der Fraktion DIE LINKE „Erarbeitung eines ,Sächsischen Aktionsplanes zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention)‘ als ein verbindliches menschenrecht liches Instrumentarium“ (Drs 6/1384)
Aktuelle Debatte Aktuelle Debatte auf Antrag der Fraktion DIE LINKE zum Thema „Keine Vorratsdatenspeicherung 2.0. – meine Daten gehören mir“
Gesetzentwürfe – 2. Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktion DIE LINKE in Drs 6/1094 „Gesetz zur Einführung eines Gedenktages zum Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus am 8. Mai 1945“ zusammen mit Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE in Drs 6/1517 – 1. Lesung des Gesetzentwurfes der Fraktion DIE LINKE in Drs 6/1398 „Gesetz zur Bewältigung des Strukturwandels in den von Braunkohleabbau und -verstromung geprägten Regionen in Sachsen (Sächsisches Strukturwandelfördergesetz – SächsStruktFördG)“
Große Anfrage – „So geht sächsisch‘ – Standortkampagne für den Freistaat Sachsen“ (Drs 6/762), Entschließungsantrag (Drs 6/1586
Entschließungsantrag – Drs 6/1566 zum „Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplanes des Freistaates Sachsen für die Haushaltsjahre 2015 und 2016 und die Festlegung der Finanzausgleichsmassen und der Verbundquoten in den Jahren 2015 und 2016“ in Drs 6/777
Änderungsanträge – Komplexantrag in Drs 6/1564 zum Doppelhaushalt 2015/2016 – Zu den Einzelplänen der Staatsministerien im Doppelhaushalt stellte die Fraktion insgesamt 43 Änderungsanträge (Drs 6/1432 bis1436 und1438 bis1475). – Zum Haushaltsbegleitgesetz 2015/2016: Drs 6/1567 (Art. 17 und 18) und Drs 6/1568 (Art. 16b und 16e)
Sammeldrucksache 6/1393 – Antrag der Fraktion DIE LINKE „Tillichs Chefsache ,Asyl-Gipfel‘ – Erfolgsbilanz des Lenkungsausschusses Asyl im Freistaat Sachsen“ (Drs 6/897)
Auf Empfehlung der Ausschüsse lehnte die Mehrheit im Plenum diese Anträge ab. Drucksachen (Drs) und Redebeiträge unter www.linksfraktion-sachsen.de bzw. http://edas.landtag.sachsen.de
Impressum Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Telefon: 0351/493-5800 Telefax: 0351/493-5460 E-Mail: linksfraktion@slt.sachsen.de www.linksfraktion-sachsen.de V.i.S.d.P.: Marcel Braumann Redaktion: Kevin Reißig
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Flüchtlinge in Sportvereinen Von Konrad Heinze, Chemnitz
Partizipation geflüchteter und asylsuchender Menschen über den Sport Sportvereine sind wichtige, in den Kommunen verankerte Akteure der Zivilgesellschaft. Mit hohem Engagement und überwiegend im Ehrenamt übernehmen sie soziale Verantwortung und bieten eine Vielzahl an Möglichkeiten, einander kennen zu lernen. Dies gelingt mit einer nicht zu verkennenden Breitenwirkung, so zählt der Landessportbund Sachsen (LSB Sachsen) aktuell 623.482 Mitglieder in 4.511 Vereinen. Von daher ist es nur verständlich, dass dem Sport eine wichtige Rolle bei der gemeinschaftlichen Einbindung von geflüchteten und asylsuchenden Menschen zukommt. So befand der Präsident des LSB Sachsen, Ulrich Franzen, anlässlich der Abschlussveranstaltung der Regionalkonferenzen von Kreis-, Stadtsportbünden und Landesfachverbänden am 10.10.2014 in Leipzig, dass Sport eben nicht im gesellschaftsfernen Raum stattfinde. Als großer gesellschaftlicher Akteur sei der organisierte Sport gefragt, gemeinsam mit Politik und anderen Gruppen gesellschaftspolitische Herausforderungen zu gestalten.1 Explizit deutlich wird dies in der Feststellung, dass Sportvereine als informelle Bildungseinrichtungen fungieren können, in denen beispielsweise der Spracherwerb durch die sportliche Betätigung und im Vereinsleben angeregt wird. Aber auch Hilfeleistungen für das Zurechtfinden in der neuen Lebenssituation durch persönliche Kontakte, etwa beim Ausfüllen von Formularen, können über Sportvereine vermittelt werden.2 Gleichsam ist festzuhalten, dass dieser Effekt nicht als einseitiger Prozess zu verstehen ist, sondern ebenso in der ansässigen Bevölkerung über die entstehenden Kontakte Bewusstsein und Sensibilität für die Bedürfnisse und Nöte von Asylsuchenden sowie der Realität von Einwanderung schaffen kann.3 Bislang bestanden für viele Vereine in der Frage des Versicherungsschutzes Unsicherheiten, die sie davon abhielten, Asylsuchende und geflüchtete Menschen einzubeziehen. Mittels einer Neuregelung des LSB Sachsen vom Beginn des Jahres konnten diese jedoch aufgelöst werden. Über einen Zusatzvertrag mit der ARAG Sportversicherung „besteht für Asylbewerber und Flüchtlinge, die an Sportangeboten in LSB-Mitgliedsvereinen teilnehmen, Versicherungsschutz im vollen Umfang der Unfall-, Haftpflicht- und Rechtsschutz-Versicherung. Der Versicherungsschutz gilt auch als Zuschauer oder Begleiter sowie bei der Teilnahme an geselligen und sonstigen Veranstaltungen des Vereins. Er beginnt mit dem Betreten der Sportstätte und endet mit deren Verlassen, spätestens mit Beendigung der Veranstaltung. Mitversichert ist auch der direkte Rückweg von den Veranstaltungen in die Unterkunft.“4 Die Kosten für die Versicherung trägt der LSB, die Abwicklung selbst gestaltet sich unbürokratisch. So müssen die an den Sportangeboten teil-
nicht ohne den grundsätzlichen Willen und eine entsprechende Haltung. Diese zu vermitteln und zu bestärken kann nicht allein Aufgabe der Sportvereine sein, sondern muss auch durch die Kommunalpolitik befördert werden. Das Zusammenführen und die Moderation von Vereinen und Initiativen zur Unterstützung von Asylsuchenden kann dabei ein praktisches Betätigungsfeld engagierter Kommunalpolitiker_innen sein. — 1
nehmenden Asylsuchenden dem LSB nicht gemeldet werden. Im Falle eines Schadens ist dieser wie gewohnt dem zuständigen Versicherungsbüro der ARAG beim LSB Sachsen zu melden. Dort werden auch Auskünfte betreffend der Neuregelung erteilt.5 Darüber hinaus entfällt mit Inkrafttreten des Gesetzes zur „Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern“ ab 01.03.2015 die bislang gültige „Residenzpflicht“. So dürfen sich Asylsuchende und Geduldete nach drei Monaten Aufenthalt frei im Bundesgebiet bewegen6, insofern sie nicht mehr verpflichtet sind, in der Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen. Somit können Asylsuchende und Geduldete grundsätzlich auch an auswärtigen Wettkampfveranstaltungen etc. teilnehmen. Weiterhin haben mit der ebenfalls zum 01.03.2015 in Kraft getretenen Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes leistungsberechtigte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von Beginn des Aufenthaltes an Anspruch auf Leistungen des Bildungs- und Teilhabe-Pakets.7 Die für die Bereiche Kultur, Sport, Spiel und Freizeiten vorgesehenen 10 EUR/Monat für Kinder unter 18 Jahren können also auch von Menschen beantragt werden, die Leistungen nach dem AsylblG beziehen. Gerade im Fußball, der Sparte mit den meisten organisierten Breiten- und Leistungssportler_innen in Sachsen, lassen sich vermehrt Initiativen finden, welche aus einer klaren Haltung heraus direkt geflüchtete Menschen ansprechen und einbinden. So etwa im Integrationsteam des VFC Plauen, der „Refugees United“ von BSG Chemie Leipzig oder der Integrationspreisträger des DFB 2014, der SV Lindenau 1848. Diese Entwicklung wird aktuell von der DFB-Stiftung Egidius Braun unterstützt. Sie stellt für das laufende und das kommende Jahr im Rahmen des Projekts „1:0 für ein Willkommen“ insgesamt 600.000 EUR für Fußballvereine bereit, die sich für Asylsuchende engagieren. Deren Bemühungen können mit jeweils 500 EUR gefördert werden, welche formlos bei der Stiftung zu beantragen sind. Die Förder-
mittel selbst werden nach dem Königssteiner Schlüssel verteilt. Nach diesem Schlüssel stünden diese pro Jahr 31 Vereinen in Sachsen zu.8 Darüber hinaus sei die begleitende Informationsbroschüre des DFB, „Willkommen im Verein“, sehr zur Lektüre empfohlen. Selbige enthält wertvolle Hinweise für die Praxis vor Ort. Eine erfolgreiche Einbindung von Asylsuchenden über den Sport geht Fortsetzung von Seite 2
Freiwillige und Pflichtaufgaben vestitionspauschalen und steuerkraftbezogene allgemeine Zuwendungen sind verboten. Das bedeutet, dass eine Unterstützung nur für bestimmbare Einzelprojekte erfolgen kann. Eine Pflicht zur finanziellen Unterstützung besteht jedoch nicht.5 Ausschließlich den Landkreisen (und kreisfreien Städten) sind u.a. folgende Pflichtaufgaben zugeordnet: die Pflicht zur Bereitstellung von Kindergartenplätzen nach (§ 24 Sozialgesetzbuch VIII); die Schülerbeförderung (§ 23 Abs. 3 Schulgesetz für den Freistaat Sachsen); Schulnetzplanung (§ 23a Abs. 1 Schulgesetz für den Freistaat Sachsen); die Örtliche Trägerschaft der öffentlichen Jugendhilfe (§ 69 Kinder- und Jugendhilfegesetz); die Örtliche Trägerschaft der Sozialhilfe (§ 3 Sozialgesetzbuch XII); die Umsetzung „HARTZ IV“ (Sozialgesetzbuch II). Als Weisungsaufgaben sind ihnen u.a. auferlegt: die Abfallentsorgung und der Bodenschutz, (§§ 13 und 13a Sächsisches Abfallwirtschafts- und Bodenschutzgesetz); der Gewässerschutz (§§ 118 und 119 Sächsisches Wassergesetz); der Naturschutz und die Landschaftspflege (§ 40 Sächsisches Naturschutzgesetz); der Katastrophenschutz (Sächsische Katastrophenschutzverordnung); Hygiene, Gesundheitsschutz und Lebensmittelüberwachung (§ 4 Gesetz über den öffentlichen Gesundheits-
Vgl. LSB berät mit Präsidenten der Mitgliedsorganisationen, 10.10.2014. 2 Vgl. Burrman, Ulrike: Integrationspotenziale des Sports, in: DOSB (Hrsg.): Dokumentation des Kongresses „Starker Sport- Starke Kommunen“, 5./6.3. 2010, S. 25. 3 Vgl. Yilmaz-Günay, Koray/Freya-Maria Klinger: Realität Einwanderung, Hamburg 2014. 4 Vgl. LSB Sachsen: Hinweisblatt zur Aufnahme von AsylbewerberInnen in sächsischen Sportvereinen, 2015, S. 3. 5 Vgl. LSB Sachsen: Versicherungsschutz für Asylbewerber und Flüchtlinge in Sportvereinen, 21.01.2015. 6 Vgl. §59a Abs. 1 AsylVfG und §61 Abs. 1b AufenthG. 7 Vgl. §3 Abs. 3 AsylblG. 8 Vgl. Deutscher Fussballbund: Flüchtlingsinitative „1:0 für ein Willkommen“, 19.03.2015.
dienst im Freistaat Sachsen). Eine Besonderheit der Landkreise und kreisfreien Städte besteht darin, dass sie als untere staatliche Verwaltungsbehörde fungieren. Die Verwaltung und insbesondere die Landräte/ Oberbürgermeister sind in die staatliche Instanzenhierarchie eingeordnet und nehmen damit Aufgaben des Staates wahr, da Bund und Land nicht über ein flächendeckendes Netz örtlicher Dienststellen verfügen. Als untere Verwaltungsbehörde üben die Landratsämter zudem die Rechtsaufsicht über die kreisangehörigen Städte und Gemeinden aus. AG — 1
Vgl. Lübking/Ulbrich/Vogelsang: Kommunale Selbstverwaltung, E. Schmidt Verlag, 3. überarb. Aufl., S. 38. 2 Vgl. Menke/Arens: Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen. Kommentar, 4. Auflage 2004, S. 9. 3 Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen. Ergänzbarer Kommentar mit weiterführenden Vorschriften, Erich Schmidt Verlag, Kommentar zu § 2, Rn. 54. 4 Vgl. Hegele/Ewert: Kommunalrecht im Freistaat Sachsen, R. Boorberg Verlag 2004, S. 52f. 5 Vgl. Sponer/Jacob/Menke: Landkreisordnung für den Freistaat Sachsen. Handkommentar, 2. Aufl. 1999, R. Boorberg Verlag, S. 36f.
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Barrierefreie Kommune
Vorbemerkung
Das Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. hatte vor über 12 Jahren eine kleine Broschüre mit dem Titel „Mobilität für Behinderte“ herausgebracht, die seinerzeit auf nicht allzu großes Interesse stieß. In der vergangenen Dekade haben wir zum gleichen Thema einige Fachforen durchgeführt, die zwar gut besucht waren, ohne jedoch eine bleibende Wirkung zu entfachen. Sowohl unser Bildungsangebot als auch die Nachfrage seitens der Kommunalpolitiker/innen konnten keine Euphorie verbreiten. Nun haben wir kürzlich einen Beirat berufen, der unter dem Thema „Barrierefreie Kommune“ versuchen will, das Verlorene nachzuholen. Dabei möchten wir ein Angebot entwickeln, ein Angebot sowohl für Kreis-, Stadt- und Gemeinderäte als auch für die Verwaltung. Ein Angebot, um dieses Politikfeld aus dem zu lange randständigem Dasein herauszuholen. Denn mittlerweile ist klar: „Inklusion“ ist ein zu wichtiges Anliegen und gehört ins Zentrum kommunalpolitischer Debatten. Bestandteil der Arbeit des Beirates wird auch sein, in loser Folge mit Beiträgen, Artikeln, Meinungen und Erfahrungen zu sensibilisieren, zu informieren und auch zum politischen Handeln aufzufordern, da wo es nötig ist. Horst Wehner, Vorsitzender des Sozialverbands VdK Sachsen e.V. und Vizepräsident des sächsischen Landtages, macht den Anfang. Nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern auch und gerade als politisch Handelnde Person, stellt er eine erste eine Einführung zum Thema vor. Und er ist gern bereit, mit kommunalen Mandatsträger/innen weiterhin im Gespräch zu bleiben und hofft sehr, dass seine Ansage auch ein Echo findet. Von Horst Wehner „Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können“ Man könnte meinen, das Thema „Inklusive Gesellschaft“ steht in Deutschland schon seit Jahren regelmäßig auf der Tagesordnung. Und dennoch scheitert die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung noch viel zu oft an Vorurteilen, Nichtwissen, Treppen oder den beschränkenden Vorschriften zum Denkmalschutz. Im Freistaat Sachsen leben 681.132 Menschen mit Behinderung, davon 449.288 Menschen mit einem Grad der Behinderung ab 50 (Stand per 31.12.2013, Angaben des Kommunalen Sozialverbandes Sachsen). Das entspricht 16,5 % der sächsischen Bevöl-
kerung. Menschen mit körperlichen, geistigen, seelischen und/oder Sinnesbeeinträchtigungen haben dieselben Rechte wie Menschen ohne diese Beeinträchtigungen. Insofern sind an Politik, Staat und Gesellschaft große Erwartungen geknüpft, um Menschen mit Beeinträchtigungen ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben in allen Bereichen der Gesellschaft zu ermöglichen. Zentrale Aufgabe hierbei ist die Schaffung von umfassender Barrierefreiheit mit ihren gleichrangigen Kriterien: auffindbar (erreichbar), zugänglich und nutzbar. Gemeint sind wirklich alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Erste Schritte sind Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung. Menschen mit Beeinträchtigungen, aber auch unsere Seniorinnen und Senioren wollen einen ungehinderten und gleichberechtigten Zugang zu kulturellen und sportlichen Angeboten, sie wollen chancengleiche und diskriminierungsfreie Teilhabe am Arbeitsleben, doch hierzu vielleicht später mehr in einem anderen Beitrag. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) aus dem Jahre 2006 hat seit 26. März 2009 auch für Deutschland einen verbindlichen Rechtscharakter. Das zentrale Ziel der UN-BRK ist es, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Beeinträchtigungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“ (Artikel 1 der UNBRK). Vieles ist auch im Freistaat Sachsen an Bedingungen für Menschen mit Beeinträchtigungen in den letzten Jahren verbessert worden. Um so unverständlicher ist es, das der Freistaat Sachsen im Gegensatz zu den meisten aller Bundesländer in noch keinen Plan über Aktivitäten und Maßnahmen zur verbesserten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf den Weg gebracht hat. Ich wiederhole: Menschen mit Behinderungen haben die selben Rechte wie Menschen ohne Behinderungen!
Eine inklusive Gesellschaft ist kein Akt der Gnade, sondern muss in der heutigen Zeit eine Selbstverständlichkeit sein. Vor allen in der Gesellschaft muss das Bewusstsein für Menschen mit Beeinträchtigungen entwickelt werden und ein neues Denken einsetzen, dass die Würde und die Achtung der Menschen mit Behinderungen in den Mittelpunkt stellt. Ich war in den vergangenen Jahren gemeinsam mit örtlichen Akteuren und Verantwortungsträgern (Stadträten, Bürger- und Oberbürgermeistern, Vertretern von Stadtverwaltungen, Vereinen und Bürgerinnen und Bürgern) in Städten und Gemeinden auf den „Spuren der Barrierefreiheit“ unterwegs. Es ging vor allem darum, Verantwortungsträger auf vorhandene Barrieren hinzuweisen und für die differenzierten Belange der Menschen mit körperlichen, geistigen seelischen oder/und Sinnesbeeinträchtigungen zu sensibilisieren. In der Folge konnten manche Hemmnisse schnell und ohne großen Aufwand beseitigt werden. So wurde z. B. in der Stadt Lichtenstein eine ursprüngliche für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung nicht zugängliche Stadtinformation binnen kurzer Zeit in eine ebenerdige Einrichtung neben dem Rathaus geschaffen. Oder in der Stadt Glauchau erfolgte ein barrierefreier Zugang zum Ratshof. Manche „Kämpfe“ dauern länger, aber wenn sie zum Erfolg führen, haben sie sich allemal gelohnt. Eine Aufgabe sehe ich für unsere kommunalen Mandatsträger darin, alles Erdenkliche in ihren Kreisen, Städten und Gemeinden für Inklusion zu tun. Dort, wo Menschen leben, wohnen, arbeiten und ein Recht auf ein würdevolles Leben haben. Die Behindertenrechtskonvention hat die Weichen gestellt, der Zug steht auf dem Gleis, jetzt ist es an uns, Richtung und Tempo zu bestimmen. Mit Voltaire möchte ich schließen: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun!“ In diesem Sinne lasst uns weiter auf die Spuren der Barrierefreiheit begeben. Ich bin gern dabei.
evangelikale Sekten, Rassistinnen, Sozialdarwinistinnen, Überwacherinnen, Verschwörungstheoretikerinnen und einige mehr. Will die Linke – und damit auch DIE LINKE – wieder den Ton angeben und den Rahmen stellen für relevante gesellschaftliche Debatten, muss sie den Mut haben, Zukunftsmusik zu spielen und auch gewagte Bilder zu zeichnen. Für eine gesellschaftspolitische Offensive von links DIE LINKE muss also wieder polarisieren, auffallen und den Unterschied markieren. Diesen Unterschied zu markieren, setzt aber eine Form erkennbarer Selbstständigkeit voraus. Die Unabhängigkeit auch von SPD und Grünen markieren wir jedoch nicht mit irgendwelchen Haltelinien oder mit besinnungslosem Draufschlagen auf diese beiden Parteien. Diesen Unterschied markiert man auch nicht durch besonders lautes und hy-
05/2015 Sachsens Linke!
Strategiedebatte
Seite 5 sterisches Schreien und Brüllen, nicht durch „Wir haben das aber erfunden!“-Feststellungen und nicht durch „Wir sind die Einzigen, die...“-Sätze. Wer der oder die Einzige ist, der dies oder jenes tut oder will, muss das in der Regel nicht betonen. Große Chancen liegen für uns in dem Bereich politischer De-
Will die Linke wieder den Ton angeben, muss sie den Mut haben, Zukunftsmusik zu spielen und auch gewagte Bilder zu zeichnen batten, die man klassischerweise als gesellschaftspolitische Themen bezeichnen könnte. Nirgends ist es einfacher, etwas
mit entsprechender Mehrheit tatsächlich im Parlament umzusetzen. Nirgends lässt sich eine Reduktion auf Detailfragen in Debatten und Talkshows besser umschiffen. Folgende zwei Themen könnten beispielhaft solche sein, mit denen wir nach außen unsere Differenz zu anderen hervorheben können: 1. Laizismus: In der Bundesrepublik ist über das Verhältnis von Staat und Religion kaum umfassend diskutiert worden. In Einzelfragen gab es hingegen rege Debatten, die jedoch fast jeden roten Faden haben vermissen lassen. In der Bundesrepublik gibt es aber Laizist*innen und Menschen, die welche wären, würde es diese Debatten geben. DIE LINKE als streng laizistische Partei. Das würde die auch in Zukunft zu erwartenden religionspolitischen Debatten für uns einfacher und unsere Positionen verständlicher machen. 2. Radikaldemokratie: DIE LINKE muss ohne Wenn und Aber radi-
kaldemokratische Partei sein. Das schließt die Ausweitung der direkten Demokratie, die stärkere Implementierung des Internets und eine grundlegende Wahlrechtsreform mit ein. Dazu gehört auch: Das bundesrepublikanische Wahlrecht ist überholt und nicht mehr zeitgemäß. Das Wahlrecht darf weder Herkunft noch Alter kennen. Die Altersgrenze bei Wahlen ist (wenn man sich der Debatte stellt) mit einem radikaldemokratischen Anspruch nicht zu rechtfertigen und steht im Widerspruch zur Praxis des Wahlrechts, das aus gutem Grund schließlich auch nach oben hin nicht begrenzt ist. Einige dieser Themen bearbeiten wir bereits, einige Positionen sind so oder so ähnlich bereits Beschlusslage, andere nicht. Wir werden jedoch viel zu wenig über thematisch so angelegte Zuspitzungen wahrgenommen. Um das zu ändern, müssen wir nicht nur diese Themen weiter in den Vordergrund stellen, son-
dern auch mehr Mut entwickeln, auch mal Unverständnis und Antipathie zu provozieren. Für mehr gesellschaftspolitische Radikalität! Wenn alle anderen sich an die allgemeine Langeweile anpassen, wenn die einzigen Grundsatzfragen die politische Rechte stellt, wenn Politik nur mehr Verwaltung ist, dann braucht es Mut zu Veränderung, Mut zu Polarisierung und auch dazu, mal Antipathie zu erzeugen. Dieser Beitrag ist ein Appell für eine radikaldemokratische, libertärsozialistische LINKE, die den Anspruch eines jeden Menschen auf ein selbstbestimmtes und angstfreies Leben, ihre Idee von Gleichheit und Freiheit und ihren Wunsch nach Teilhabe und Solidarität in Zukunft radikal und pragmatisch, zuspitzend und provozierend, mutig und selbstbewusst vertritt. Let there be rock. Tilman Loos
Wie weiter mit der LINKEN in Sachsen? – Maithesen „Die strategische Kernaufgabe der LINKEN besteht darin, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beizutragen, um eine solidarische Umgestaltung der Gesellschaft und eine linke, demokratische, soziale, ökologische und friedliche Politik durchzusetzen.“ Erfurter Programm 2011 Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Sachsen sind eingebettet in eine sich verändernde Welt. Der globale Kapitalismus befindet sich derzeit in einer tiefen Umbruchphase, bei der durch die ungehemmte Fortsetzung des Neoliberalismus immer stärker eine „kannibalische Weltordnung“ (Jean Ziegler) hervortritt. Die Demokratie wird durch diesen Prozess, der von den politischen Eliten gezielt vorangetrieben wird, „marktkonform“ umgestaltet und schrittweise zerstört. Der Grundzusammenhang Kapitalismus – Krise – Krieg – Imperialismus – Armut – Umweltzerstörung – anwachsende Flüchtlingsbewegungen – autoritäre Herrschaftsmuster ist sehr stabil, wird aber auch vielen Menschen zunehmend bewusster und ruft vielfältigen Widerstand hervor. Für die weltweite linke Bewegung ist es eine große Verantwortung, diese verheerende Entwicklung aufzuhalten, zurückzudrängen und mittelfristig eine hegemoniale Gegenbewegung aufzubauen und ein linkes Milieu zu entwickeln. Dabei kommt der europäischen Linken, speziell der Partei DIE LINKE, eine besondere Rolle zu, denn die BRD erfüllt als EU-Hegemonialmacht eine Schlüsselfunktion beim Auf- und Ausbau der neuen Weltordnung. Auf dem bevorstehenden Bun-
desparteitag werden Grundfragen der strategischen Aus-richtung unserer Partei eine wichtige Rolle spielen. Die Debatte dazu strahlt selbstverständlich auch auf die Landesverbände aus und umgekehrt. Schon vor dem Parteitag in Bielefeld findet eine Strategiekonferenz der sächsischen LINKEN statt, der im September ein Landesparteitag folgt. An der in Sachsen begonnenen Strategiedebatte möchte sich der im März 2015 gegründete Liebknecht-Kreis Sachsen auf der Basis des sozialistischen Pluralismus im Sinne des Erfurter Programms von 2011 aktiv beteiligen. Ausgangspunkt unserer Überlegungen sind die sich abzeichnenden organisatorischen und politischen Schwierigkeiten unserer Partei: Aufgrund der demografischen Struktur unserer Mitgliedschaft bröckeln unsere Strukturen vor Ort. Unsere Ausstrahlungskraft in außerparlamentarische Bewegungen schwindet. Seit 10 Jahren sind unsere Wahlergebnisse rückläufig. Auch die zumindest jetzt noch vorhandene Durchsetzungskraft der SPD in der Staatsregierung fordert uns ein Nachdenken über zeitgemäße Oppositionspolitik ab. Angesichts dieser Entwicklungen halten wir eine strategische Neuausrichtung der sächsischen LINKEN für unverzichtbar. Die vorliegenden Thesen sind dafür unser Diskussionsangebot. 1. Die politische Situation in Sachsen ist seit einem Vierteljahrhundert von der stabilen Hegemonie der CDU geprägt, was sich mittelfristig kaum ändern dürfte, sofern die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen grundsätzlich unverändert bleiben.
2. Eine weitere massive politische Rechtsentwicklung, die Forcierung eines rechten Kulturkampfes und der Ausbau autoritär-repressiver Herrschaftsmechanismen sind in Sachsen eine realistische Option künftiger Entwicklung. 3. Die festgefahrenen politischen Strukturen tragen in Sachsen bei einem großen Teil der Bevölkerung zu einer wachsenden Parteien- und Politikverdrossenheit bei, mit der sich die sächsische LINKE allerdings nicht abfinden darf. 4. DIE LINKE hat in den letzten zehn Jahren von ihrem Charakter als einstiger Mitgliederpartei viel verloren und ist insbesondere in den meisten Landkreisen nur noch bedingt personell wahrnehmbar; zudem ist ihre Verankerung in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zurückgegangen. 5. Ein zentraler Aspekt unserer Wahlkämpfe ist die Beachtung allgemeiner wahlstrategischer Erfordernisse. Wahlstrategie ist die Mobilisierung von Mitgliedern, Anhängern und SympathisantInnen einer Partei, sie zu wählen und im Wahlkampf für sie zu werben. 6. Bei Wahlen musste die sächsische LINKE in den letzten zehn Jahren in der Summe erhebliche Einbußen hinnehmen. Die bisherige Auswertung der Landtagswahlergebnisse vom 31. August 2014 erfasst die Ursachen für diese Entwicklung unzureichend. 7. Wenn die LINKE in Sachsen eine tragfähige Zukunftsstrategie beschließen will, dann muss sie Zukunftsstrategie primär als Gesellschaftsstrategie verstehen, als eine aktuelle, mittelfristige und langfristige
Handlungsorientierung, die auf soziale und politische Verbesserungen in der bestehenden Gesellschaft und auf die Schaffung einer neuen Gesellschaft gerichtet ist. 8. Der Platz der LINKEN auf Landesebene besteht in den nächsten Jahren in der Ausprägung und Stärkung ihrer Oppositionsrolle, nicht der als faktischer Regierung im Wartestand. Das heißt aber nicht, dass eine Regierungsbeteiligung generell abzulehnen ist, sofern dafür die gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind. 9. Anstatt den (finanz)politischen Rahmen, den die Staatsregierung vorgibt, vorbehaltlos zu akzeptieren, sollten wir uns aus der Opposition heraus als radikal-reformerische und glaubwürdige Gestaltungskraft profilieren.
Anstatt den (finanz)politischen Rahmen vorbehaltlos zu akzeptieren, sollten wir uns als radikal-reformerische Gestaltungskraft profilieren 10. DIE LINKE muss als eigenständiger und unverzichtbarer Teil der Gesellschaft erkennbar sein und deshalb ihre inhaltlichen und personellen Alleinstellungsmerkmale als Partei des demokratischen Sozialismus, insbesondere gegenüber der SPD und den Grünen, ausprägen.
11. Als linke Partei geht es darum, sich schwerpunktmäßig bestimmten gesellschaftlichen Zielgruppen zuzuwenden, was insbesondere im Sinne von sozialer Gerechtigkeit für Ausgegrenzte und Benachteiligte aller Generationen gilt. 12. DIE LINKE muss wieder dazu kommen, sich stärker im außerparlamentarischen Bereich, insbesondere im Bündnis mit Gewerkschaften sowie verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv zu verorten und das parlamentarische Handeln dem deutlich unterzuordnen. 13. Um den künftigen Herausforderungen gerecht zu werden, muss sich die sächsische LINKE stärker zu einer kämpferischen und pluralistischen Mitgliederpartei entwickeln, in der möglichst viele Mitglieder in der Lage sind, die im Zeitalter der modernen digitalen Massenkommunikation angemessenen Gestaltungsmöglichkeiten umzusetzen. 14. Gestoppt werden muss der bislang stetige Mitgliederrückgang durch Gewinnung von Menschen aus allen Generationen, jedoch insbesondere aus der arbeitenden Bevölke-rung, um die inneren Ressourcen des Landesverbandes wieder zu erhöhen. Liebkecht-Kreis Sachsen (LKS) Erläuterungen zu den Thesen finden sich in der 2. Broschüre des LKS und unter www.dielinkesachsen.de/strategiedebatte. Diese und viele weitere Beiträge zur Strategiedebatte finden sich ungekürzt unter www.dielinke-sachsen.de/ strategiedebatte
Sachsens Linke! 05/2015
Jugend
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Viel Geschrei um … wenig Vom 17. bis 19. April kam die Linksjugend [‚solid] in Erfurt zu ihrem jährlichen Bundeskongress zusammen. Sachsen gehörte wie jedes Jahr mit seiner 20-köpfigen Delegation zu den „großen Fischen“, auch wenn der Landesverband Bayern mit 22 und NordrheinWestfalen unangefochten mit 44 Delegierten noch stärker in den 250-köpfigen Buko eingehen. Traditionell geht es auf Bundeskongressen hoch her. Dies liegt sicher auch daran, dass die Linksjugend sich aus mindestens ebenso pluralen und oft widersprüchlichen Quellen speist wie die LINKE seit der Parteigründung aus PDS und WASG. Doch nicht nur grundsätzliche politische und traditionelle Konflikte bestimmten die Debatten im Bundesverband der Linksjugend [‚solid]: Ganz entscheidend zur Härte verschiedener Auseinandersetzungen trägt bei, dass die Linksjugend in ihrer mittlerweile achtjährigen Existenz in der realen, täglichen politischen Arbeit kaum gemeinsame Nenner zwischen den 16 Landesverbänden und ihren Hunderten Ortsgruppen hat herstellen können. Dies schafft die Ausgangslage, in der die Landesverbände den Großteil des Jahres vor sich hin wurschteln, einige wirkungsmächtiger (wie der vergleichsweise großzügig ausgestattete und personell stark aufgestellte LV Sachsen), andere nahe an der politischen Kleingruppe (wie ein Großteil der West-Landesverbände, deren Budgets kaum für anfallende Fahrtkosten ausreichen) – bis, ja bis man sich trifft zum Bundeskongress, um die alten, leidenschaftlich gepflegten Auseinandersetzungen auszutragen. Auf diesem Bundeskongress kamen einige kontroverse Anträge zur Abstimmung. Ein
Kampffeld war zum Beispiel der Projektantrag des BSPR, der die politischen Schwerpunkte für das nächste Jahr der Verbandsarbeit festhalten sollte. So zielte ein Antrag darauf, den Text um 50 % aufzublähen, um in einer Präambel
[‚solid] zeichnete sich auf diesem Buko jedoch ab, dass derartige Positionen konsequent keine Mehrheiten für ihre Anträge finden konnten. Ein anderer Antrag hingegen, eingereicht vom LV Sachsen, fand eine knappe Mehrheit. Es war
Trotz aller Aufregung im Nachhinein: Klar ist, dass beschlossene Texte kaum mehr sind als flüchtige Momentaufnahmen der jeweiligen Mehrheit im Plenarsaal, so lange sie nicht mit politischer Praxis untersetzt werden. Die Bundesebene der
Termine 08.05.2015, Dresden: „Wir haben den Krieg verloren“ – Feier in der Wir AG 10.05.2015 – 12:00 Uhr, Dresden: Sitzung des Beauftragtenrates in der WahlFabrik 17.05.2015, weltweit: Internationaler Tag gegen Homound Transphobie 22.05.2015 – 25.05.2015, Doksy: Pfingstcamp – Wo leben wir denn 01.06.2015, AnnabergBuchholz: Gegendemo zum „Marsch für das Leben“ 06.06.2015, Dresden: Demo & Straßenfest des Christopher Street Day 17.06.2015 – 08:00 Uhr: Gedenkstättenfahrt nach Krakau und Oswiecim
den Katechismus innerparteilicher Phrasen und Bekenntnisschwüre abzuleisten. Ein anderer folgte der Queste, die Linksjugend vor einem „rein bürgerlichen“ Feminismus zu retten, der übersähe, dass Sexismus (wie Rassismus übrigens auch) eigentlich nur zur Spaltung der revolutionären Volksmassen da sei, nach dem Motto divide et impera. Innerlinken Sexismus gebe es zwar, doch dürfe man ihn nicht herausgehoben erwähnen, da auch dies nur die Schwächung der eigenen Bewegung zur Folge habe. Zum wohl ersten Mal in der Geschichte der Linksjugend
dies ein Positionierungsantrag, der klar benennen wollte, wo Antisemitismus beginnt und damit die absolute Grenze legitimer Äußerungen in linken Kontexten erreicht ist. Notwendig wurde dies aus unserer Sicht insbesondere angesichts der Welle antisemitischer Ausbrüche und Gewalttaten im Sommer 2014, als Deutschlandweit Synagogen angegriffen wurden und aus großen Demonstrationen heraus „Kindermörder Israel“Rufe und Hitlergrüße zu vernehmen und beobachten waren – vielerorts zumindest in direkter Nähe zu Strukturen der Linksjugend.
Linksjugend besitzt eine solche Praxis bisher kaum – trotz einiger wichtiger Projekte wie dem Frauenkampftag und daraus folgend dem Kampf gegen reaktionäre Lebensschützer, wie hier in Sachsen. Es wird dies auch im kommenden Jahr der größte Prüfstein sein, unabhängig von allem strömungspolitischen Schattenboxen: ob es gelingt, eine gemeinsame, schlagkräftige Praxis zu entfalten und damit überhaupt erst als eine Organisation wirksam zu werden – oder nicht. Dem neuen BSPR, dem mit Josephine Michalke in ihrer mittlerweile dritten Amtszeit als Bundes-
Gegen den „Marsch für das Leben“ in Annaberg-Buchholz In Deutschland versammeln sich fundamentalistische Gegner*innen von Schwangerschaftsabbrüchen seit einigen Jahren zu so genannten „Märschen für das Leben“, die in Münster, Berlin und AnnabergBuchholz stattfinden. Jährlich tragen so tausende christliche Fundamentalist*innen ihren Hass auf sexuelle Vielfalt, das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und eine plurale Gesellschaft – ergo ihre reaktionären und menschenfeindlichen Ideologien – auf die Straße. Während die Aufmärsche in Münster und Berlin
sprecherin auch ein Mitglied des LV Sachsen angehört, sei dabei jedenfalls alles Gute gewünscht! Steffen Juhran
nicht ohne Proteste stattfanden, blieb der Annaberg-Buchholzer Schweigemarsch in den fünf Jahren seines Bestehens überwiegend unwidersprochen. Kirchliche Einrichtungen üben nicht nur starke Einflussnahme im Erzgebirge aus, es bestehen auch Verbindungen in die Politik. Die „Christdemokraten für das Leben“ (CDL), Organisator*innen des Schweigemarsches, verfügen in Sachsen bereits seit 1990 über einen eigenen Landesverband innerhalb der CDU. Erklärtes Ziel der CDL ist es, ihren Einfluss in der CDU
zu nutzen, um Schwangerschaftsabbrüche nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu kriminalisieren. Im letzten Jahr gab es zum ersten Mal Proteste gegen den Schweigemarsch in Annaberg, mit nur wenigen Beteiligten und massiven Einschränkungen des friedlichen Protests durch die Polizei. Wir haben da versprochen: „Uns ist kein Weg zu weit, wir kommen wieder nach AnnabergBuchholz!” – am 01.06. ist es so weit. Mit einer Veranstaltungsreihe, sachsenweiter Mobilisierung, dem Druck
von Info-Material und gemeinsamer Anreise soll der diesjährige Schweigemarsch mit größerem Protest konfrontiert werden. Es wird jeweils Busse aus Dresden (über Chemnitz) und Leipzig geben, die am 1. Juni nach Annaberg und wieder zurück fahren. Weitere Informationen unter: www. schweigemarsch-stoppen.de Kommt am 01.06. mit nach Annaberg-Buchholz, lasst uns den Schweigemarsch zum Desaster machen! Josi Michalke, Beauftragenrat der linksjugend [‘solid] Sachsen
19.06.2015 – 21.06.2015, Dresden: Bunte Republik Neustadt 26.06.2015 – 18:00 Uhr, Dresden: gemeinsame Sitzung des Beauftragtenrates mit dem geschäftsführenden Landesvorstand 27.06.2015 – 12:00 Uhr, Dresden: Sitzung des Beauftragtenrates in der Wahlfabrik 04.07.2015, Pirna: Christopher Street Day 07.07.2015 – 08.07.2015, Elmau: Stop G7 18.07.2015, Leipzig: Demo & Straßenfest des Christopher Street Day 25.07.2015 – 12:00 Uhr, Leipzig: Sitzung des Beauftragtenrates 03.08.2015 – 09.08.2015: Sommercamp der Linksjugend 14 .0 8 . 2015 -16 .0 8 . 2015 , Rheinland: Anti-Braunkohleaktion 22.08.2015 – 12:00 Uhr, Chemnitz: Sitzung des Beauftragtenrates im Büro der Linksjugend Chemnitz, Rosenplatz 4 Mehr Infos unter linksjugendsachsen.de
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DIE LINKE im Europäischen Parlament
05/2015 Sachsens Linke!
Gastbeitrag von Kostas Chrysogonos (SYRIZA): Zur Lage in Griechenland wird, ist er nicht in der Lage, die anstehenden Zahlungen an seine internationalen Kreditgeber von etwa 22 Mrd. Euro im Laufe des Jahres 2015 durch eigene Mittel zu leisten. Deswegen bleibt er von neuen Kredite ihrerseits abhängig. Als Voraussetzung für solche Krediterneuerungen verlangen aber der IWF und die Europäische Kommission das Treffen weiterer kontraproduktiver Austeritätsmaßnahmen – und zwar solche, die keine fiskalische Bedeutung haben, sondern einfach die Arbeit zugunsten des Kapitals benachteiligen. Beispielsweise werden die völlige „Freiheit“ (!) des Arbeitgebers, seine Arbeitsnehmer nach seinem Ermessen massiv zu entlassen, wie auch ein praktisch allumfassendes Streikverbot gefordert. Die Weigerung der SYRIZARegierung, sich diesen Forderungen zu beugen, hat die europäischen und andere internationalen Massenmedien zu einer großangelegten Einschüchterungskampagne gegen Griechenland veranlasst. Das Land wird mit Bankrott und „Grexit“ aus der Eurozone (eventuell auch aus der Europäischen Union) bedroht, obwohl die EURegularien einen solchen (unfreiwilligen) Austritt nicht vorsehen. Noch wichtiger ist, dass zumindest einige der Forderungen der europäischen Kommis-
sion und der EZB sowohl jetzt wie auch während der letzten fünf Jahren der Austerität (ab Mai 2010) inhaltlich gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen. Dieses Thema wurde wiederholt durch schriftliche Fragen der SYRIZA-Abgeordneten im
(und IWF) sei, worüber die europäischen Grundrechte keine Anwendung finden! Im Wesentlichen zeigt die Haltung der europäischen „Eliten“ gegenüber dem griechischen Volk eine neokolonialistische Mentalität. Nicht nur der Grundrechtschutz, sondern auch der
europäischen Parlament aufgeworfen. Die Antwort der Kommission war immer, dass das „Memorandum of Understanding“ kein europäisches Recht, sondern ein bilateraler Akt zwischen Griechenland und den übrigen Mitgliedern der Eurozone
durch die letzten Parlamentswahlen ausgedrückte Volkswille, keine Austerität mehr zu dulden und einen anderen Weg für die Rekonstruktion der griechischen Wirtschaft und für die weitere Sanierung der Staatsfinanzen (z. B. durch Bekämpfung
Foto: Flickr.com/KostasChrysogonos
Die griechischen Parlamentswahlen vom 25.1.2015 haben ein neues Kapitel in der Geschichte des Landes eröffnet, da die Mehrheit der Wähler sich von den Austeritätsparteien („Neue Demokratie“ und PASOK) verabschiedete und sich der Radikalen Linken (SY.RIZ.A) zuwandte. Die neue Regierung wurde von SYRIZA (mit Unterstützung der kleinen AN.EL. Partei, die ebenfalls gegen das Austeritätsprogramm Stellung bezieht) unter der Führung des Ministerpräsidenten Alexis Tsipras gebildet. Das neue Parlament hat bereits mehrere wichtige Gesetzesvorlagen dieser Regierung angenommen, wie z.B. das Gesetz zur Bekämpfung der humanitären Krise (Beihilfe für Obdachlose, Verhungerte u.s.w.) und die Steuerverwaltung hat die ersten Erfolge gegen die Steuerhinterziehung der ökonomischen Oligarchie erzielt (z. B. haben die Bobolas-Brüder, Eigentümer des größten Baukonzerns und mehrerer Massenmedien, vor wenigen Tagen 9,8 Mio. Euro bezahlt). Das wichtigste Problem für die neue Regierung ist freilich die Überschuldung Griechenlands. Obwohl der griechische Staat 2014 einen primären Überschuss (also vor dem Schuldendienst) von etwa 0,5 % des Bruttoinlandsproduktes hatte, der im Jahre 2015 noch höher sein
der Steuerhinterziehung) zu betreten, wird grob missachtet. Es geht freilich nicht nur um Griechenland, das wegen seiner Überschuldung leichter erpressbar ist. Die innere Logik der „Reformen“, die die europäischen Eliten verlangen, ist überall gleich: Es geht um Deregulierung des Arbeitsmarktes und zwar so, dass die einzelnen Arbeitnehmer einem allmächtigen Kapital schutzlos ausgeliefert werden, es geht um die Herabstufung der sozialen Versicherung zur Philanthropie. Die Älteren und Kranken überleben nur, anstatt wirklich zu leben. Und es geht um die weitest mögliche Privatisierung nicht nur des öffentlichen Vermögens (d. h. Ausverkauf), sondern auch der öffentlichen Ausgaben und Infrastrukturen. Der rücksichtslose Neoliberalismus funktioniert gemäß der Maxime von Matthäus (Evangelium, Kapitel 13, Paragraph 12): „Denn wer da hat / dem wird gegeben / dass er die Fülle habe / Wer aber nicht hat / Von dem wird auch genommen / das er hat“. Die europäische Linke soll gemeinsam mit der Arbeitswelt gegen den Neoliberalismus kämpfen. Nur wenn dieser Kampf sich als erfolgreich erweist, kann der europäische Einigungs-Prozess wirklich weitergehen. Kostas Chrysogonos, MdEP, SYRIZA/GUE
100 Meter Papier mit den Namen toter Flüchtlinge Es ist nicht leicht, das Gerede von Ratspräsident Donald Tusk zu hören, der in der Hauptdebatte der Plenartagung in Straßburg verkündete, man müsse Flüchtlinge von Wirtschaftsflüchtlingen trennen, weil letztere nichts in der EU zu suchen hätten. Ebenso deutlich formulierte es ein EUROPOL-Vertreter unmittelbar nach der Katastrophe, bei der in einer einzigen Woche 1200 Menschen im Mittelmeer starben. Es gehe nun darum, so EUROPOL, Schlepperbanden auf dem Mittelmeer zu jagen, weil diese am Tod der Flüchtlinge Schuld seien. Deren Infrastruktur solle militärisch zerstört werden, damit gar nicht erst Flüchtlinge übers Meer kommen. Bei dieser Logik kriegt man wirklich Schluckauf, werden doch Ursache und Wirkung verwechselt. Schlepper sind die brutale Konsequenz der Tatsache, dass aufgrund der EU-Gesetzgebung Flüchtlingen legale und sichere Wege nach Europa weitgehend versperrt sind. Die katastrophale Situation ihrer Herkunfts-
staaten, Kriege und Hungernöte zwingen aber viele, ihre Dörfer und Regionen zu verlassen. Wenn aber nicht über Fluchtursachen und deren Bekämpfung gesprochen wird, dann wird der Exodus ganzer Regionen nicht aufzuhalten sein. Der absolute
Eritrea ist ein der übelsten Diktaturen, in der Menschen verschwinden, Korruption und Ausrottungsfeldzüge an der Tagesordnung sind, tausende Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Flüchtlingen aus Eritrea und aus Syrien
Skandal im EP war jedoch, dass in einem – Whistleblowern sei Dank! – geleakten Papier des Europäischen Rates syrische Flüchtlinge als „irregulär“ und Eritreer als „Wirtschaftsflüchtlinge“ eingestuft werden.
sollte stattdessen unverzüglich verkürzte Verfahren zur Asylanerkennung gewährt werden! Dieser unverbesserliche Starrsinn der EU-Führungscrew war es, der uns zur Weißglut gebracht hat. Unsere Fraktion
beschloss, die Plenumswoche mit Protesten gemeinsam mit Flüchtlingen zu begleiten, vor und im Parlament. Flüchtlingsverbände aus mehreren Mitgliedsstaaten demonstrierten gegen die inhumane Politik der EU vor dem Straßburger Parlament. In akribischer Suche nach der Identität der nahezu 22.000 toten Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen hatten sie ein riesengroßes ca. 100 m langes Transparent erstellt, auf dem Namen, Geburtsdaten, Herkunft der Flüchtlinge und das Datum ihres Todes verzeichnet worden ist. Auf 100 Metern Namen von tausenden Flüchtlingen aus ganz Afrika, Menschen, die mit Hoffnungen auf ein besseres Leben ihre Heimat verließen, weil sie ihre Heimat längst verloren hatten. Die meisten von ihnen bleiben jedoch in Afrika, werden von Land zu Land wie Schachfiguren verschoben, in Flüchtlingscamps mit 30.000 Menschen in Ostafrika, Camps, die sie ihr Leben lang nicht verlassen können, denn die Frage „Wohin?“
beantwortet niemand. Fakt ist, dass nach menschenwürdigen Lösungen gesucht werden muss. Die EU ist und bleibt dabei in zentraler Verantwortung. Dazu gehört auch, endlich ernsthaft über eine sinnstiftende Entwicklungshilfe nachzudenken, die es bislang eben nicht gibt. Entwicklungshilfe, die hilft, bedeutet nachhaltiges Wirtschaften zu fördern, junge Menschen auszubilden, Jobs zu schaffen, Unternehmen zu unterstützen. Und heißt eben nicht „Chicken schicken“, lediglich neue Absatzmärkte für europäische Globalplayer zu erschließen. Damit erwürgt man die einheimische Wirtschaft. Unsere Fraktion hat einen alternativen 10-Punkte-Plan für eine Neuausrichtung der EU-Asylpolitik entwickelt. Wir bleiben dran. Cornelia Ernst
Sachsens Linke! 05/2015
DIE LINKE im Bundestag
Was kostet uns die CSU? Ende März konnte man im Plenum des Bundestages ein interessantes Schauspiel beobachten. Während der Debatte zur Einführung der PKW-Maut war den Gesichtern vieler Koalitionsabgeordneter von CDU/ CSU und SPD anzusehen, dass sie am liebsten mit der Entscheidung nichts zu tun haben wollten. Selbst bei der Rede von CSU-Verkehrsminister Dobrindt gab es gerade so Pflichtapplaus – wenig, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Maut um ein Ker nvor ha ben der CSU handelt. Der Grund für die reservierte Haltung selbst des Regierungslagers liegt auf der Hand: Auch den Abgeordneten der Großen Koalition ist bewusst, dass die Maut außer der Schaffung eines Bürokratiemonsters keinen spürbaren Effekt erzielen wird. Den überschaubaren jährlichen Einnahmen – sie liegen laut unabhängigen Experten bestenfalls bei 350 Millionen Euro jährlich, möglicherweise aber auch weit darunter – stehen Verwaltungskosten zwischen 200 und 300 Millionen Euro pro Jahr gegenüber. Hinzu kommt eine Anschubfinanzierung von 450 Millionen für das CSU-Wunschprojekt. Am Ende können wir also schon froh sein, wenn die Maut auf ein Nullsummenspiel hinausläuft und für die
öffentliche Hand keine zusätzlichen Kosten entstehen. Warum wurde die Maut dann aber überhaupt eingeführt? Dafür gibt es nur einen Grund: Sie dient dazu, die CSU als kleinsten Koalitionspartner in Berlin zu befriedigen und ruhig zu halten. Und das ist kein Einzelfall: Beim Betreuungs-
geld, auch „Herdprämie“ genannt, hat es sich nicht anders verhalten. Nicht weniger als 900 Millionen Euro sind im Bundeshaushalt 2015 für ein bildungspolitisch reaktionäres Programm eingestellt, das Kinder vom Bildungsangebot der Kindertagesstätten fernhält, obwohl unumstritten ist, wie wichtig frühzeitiges Lernen und der soziale Kontakt mit anderen Kindern sind. Zudem liegt dem Gesetz ein Frauenbild zugrunde, das selbst im konser-
vativen Bayern überholt sein dürfte. Niemand außer der CSU wollte die „Herdprämie“. In der Bevölkerung wird sie abgelehnt, und das Bundesland Hamburg strengte gar eine Verfassungsklage gegen sie an. Es half alles nichts: 2013 wurde das Betreuungsgeld auf Betreiben der CSU eingeführt. In diesen Wochen nun verhandelt das Bundesverfassungsgericht die Klage. Erste Zeichen deuten darauf hin, dass das Betreuungsgeld keinen Bestand haben wird. Die Reaktion der CSU ließ nicht lange auf sich warten. Sie droht damit, die Beteiligung des Bundes am Kita-Ausbau zu streichen – eine ideologisch motivierte Retourkutsche statt verantwortungsvoller Politik. Wollte man weitere Beispiele anführen, man müsste nicht lange suchen: Die Pendlerpauschale oder die Senkung der Hotelsteuer – welche die CSU damals mindestens so stark wollte wie die FDP – sind weitere Stichworte. Sie alle stehen für politisch falsche Entscheidungen, die den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern insgesamt Milliardenkosten aufbürden. Es ist an der Zeit zu fragen, was uns die Regierungsbeteiligung der CSU eigentlich kostet. Und es an der Zeit zu fragen, wie lange dieses Land sich eine solche Partei an der Regierung leisten kann. Michael Leutert
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Textilkonzerne haften! Reisen von Parlamentariergruppen – das heißt meist Treffen mit ParlamentarierInnen, MinisterInnen und Würdenträgern des Gastlandes. Begegnungen mit Gewerkschaften und unorganisierten ArbeiterInnen sind sonst nicht vorgesehen. Umso mehr freue ich mich, dass sich meine Parlamentariergruppe auf meinen Vorschlag hin mit linken Gewerkschaften sowie Opfern und Angehörigen der Katastrophe in der KIK-Fabrik treffen konnte. Die Angehörigen der Opfer sind meistens Frauen, die Mann oder Sohn und damit den „Haupternährer“ verloren haben. Denn pakistanische Frauen können außerhalb der Heimarbeit kaum einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Viele brachen in Tränen aus, als sie berichteten, dass sich die Entschädigungsverhandlungen mit KIK bis heute hinziehen. Hoffnung machte mir das Treffen mit dem linken Gewerkschaftsverband NTUF, der eine Gewerkschaft für Frauen in der Heimarbeit und im informellen Sektor gegründet hat. Der Großteil der pakistanischen Wirtschaft findet im informellen Sektor statt. Nur ca. 2 % der pakistanischen ArbeiterInnen sind gewerkschaftlich organisiert. Die NTUF hat uns mit Blumengirlanden und Geschenken empfangen. Eine ausländische Delegation wurde offenbar als große Wertschätzung empfunden, denn in Pakistan sind Gewerkschafter/-innen Repressionen ausgesetzt. So frustrierend es ist, dass die Opfer noch heute auf die vollständige Entschädigung warten – die Textilbranche ist alarmiert und fürchtet um ihr Image. Zum Besuch der Fabrik, in der KIK heute produzieren lässt, waren eigens Vertreter von KIK ange-
reist. Und auch die Gesetzeslage ist besser geworden: Die EU hat die Einfuhrzölle für Pakistan gesenkt, dafür musste das Arbeitsrecht verbessert werden. Problematisch sind Einhaltung und Kontrolle. Staatliche Aufsicht in den Fabriken gibt es nur bei wenigen registrierten Vorzeige-Unternehmen. So konnte es passieren, dass die abgebrannte Fabrik zertifiziert zwar – von einem Unternehmen, das für seine Gefälligkeitsgutachten bekannt ist. Noch düsterer sieht es im restlichen Teil der Lieferkette aus: Subunternehmen, Heimarbeit, Produktion und Weiterverarbeitung der Rohstoffe sind komplett öffentlicher Kontrolle entzogen. Deshalb ist es auch kaum möglich, als Verbraucher eine gute Einkaufsentscheidung zu treffen. Verlässliche Siegel gibt es nicht. Dabei haben wir in den Industrienationen eine Verantwortung dafür, wie in den Ländern des Südens produziert wird. Wir brauchen in Deutschland ein Unternehmensstrafrecht, damit deutsche Firmen, die im Ausland produzieren lassen, haftbar geE macht werden können. Ich habe keine Gelegenheit ausgelassen, pakistanische Politiker mit der Brandkatastrophe zu konfrontieren. Da wird einem die Legende aufgetischt, es habe sich um einen Terroranschlag einer anderen Partei gehandelt. Entscheidend ist aber gar nicht die Ursache des Brandes. Scheinbar waren die Türen verschlossen und die Fenster vergittert, damit die Arbeiter keine Jeans klauen konnten. Dass die Opfer bis heute auf ihr Recht warten müssen, ist beschämend. KIK muss den berechtigten Forderungen endlich nachkommen! • Caren Lay
Immer mehr ältere Erwerbslose im Hartz IV-Bezug Die Beschäftigung über 55-Jähriger ist seit 1999 in Sachsen deutlich gestiegen, von 166.323 auf 301.478 im Jahr 2014. Leider liegt dies nicht an fundamental verbesserten Chancen Älterer am Arbeitsmarkt, wie von Regierungsseite oft frohlockt wird, sondern überwiegend am Alterungsprozess der Belegschaften in den Betrieben. Im selben Zeitraum hat nämlich die Altersgruppe der Beschäftigten in der Spanne von 25 bis 50 Jahren von 1.030.153 auf 885.468 abgenommen. Ein Blick auf die Hartz IV-Statistik zeigt, dass sich die Arbeitsmarktchancen Älterer sogar verschlechtert haben. Im Jahr 2010 wurden in Sachsen im Jahresdurchschnitt 26.939 Erwerbslose im Hartz IV-System betreut, die 55 Jahre und älter waren. 2014 sind es
28.779 gewesen, ein Anstieg um 1.840 Personen bzw. 6,83 Prozent. Auch hat sich deren Anteil im Vergleich zum SGB III in dieser Altersgruppe von 51,9 Prozent 2010 auf 59,3 Prozent 2014 erhöht. Aktuell (März 2015) gibt es in Sachsen 30.122 Erwerbslose, die 55 Jahre und älter waren. Zudem ist die Anzahl der älteren Erwerbslosen im Hartz IV-System stark unterzeichnet. Über 58-Jährige Hartz IV-Beziehende werden nämlich nicht mehr als arbeitslos gezählt, wenn ihnen ein Jahr lang keine Arbeit angeboten wird. In dieser Regelung befinden sich in Sachsen aktuell (März 2015) 12.669 Über58-Jährige. Zudem werden per gesetzlicher Regelung ältere SGB II-Leistungsberechtigte ab 63 verpflichtet, einen Rentenantrag zu stellen, und werden
im Regelfall zwangsverrentet. Die Arbeitslosenstatistik wird dadurch weiter geschönt. Diese Zahlen zu älteren Erwerbslosen im Hartz IV-Bezug, die ich kürzlich von der Bundesagentur für Arbeit angefordert hatte, belegen, dass ältere Erwerbslose und ältere Arbeitnehmer nach wie vor die großen Verlierer am Arbeitsmarkt sind. Bei den Arbeitgebern hat bislang kein Umdenken stattgefunden, auch Älteren verstärkt eine Chance zu geben. Selbst in Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs haben sich die Chancen für ältere Langzeiterwerbslose weiter verschlechtert. Anstatt die Augen vor der Realität zu verschließen, müssen die Bundes- und Landesregierung deutlich mehr für ältere Erwerbslose tun. Die Förderpolitik der Jobcenter ist verstärkt
auf diese Gruppe auszurichten, anstatt sie aufs Abstellgleis zu schieben. Dafür muss den Jobcentern aber vom Bund mehr Geld zur Verfügung gestellt und der Kahlschlag bei den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit beendet werden. Über 58-Jährige Hartz IV-Beziehende per gesetzlicher Regelung aus der Arbeitslosenstatistik zu streichen, wenn ihnen ein Jahr lang kein Jobangebot gemacht wurde, ist ein Anreiz zur Nichtförderung und muss, auch aus Gründen einer ehrlichen und transparenten Arbeitsmarktstatistik, abgeschafft werden, ebenso wie die Zwangsverrentung. Aber auch die Landesregierung ist in der Pflicht, für ältere Erwerbslose Beschäftigung zu schaffen und entsprechende Programme aufzulegen und zu
unterstützen. Einerseits geht es bei guter öffentlich geförderter Beschäftigung darum, gesellschaftlich sinnvolle und notwendige Tätigkeiten zu befördern, andererseits vor allem auch älteren Erwerbslosen eine Perspektive zu geben. In Zeiten der Diskussion um Fachkräftebedarfe sind die praktizierte Abstellgleispolitik und der Verzicht auf wertvolle berufliche Erfahrungen umso weniger nachvollziehbar. Sabine Zimmermann
Geschichte
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05/2015 Links!
Wer befreite Buchenwald? Gedanken zu den Feierlichkeiten aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald Der Termin stand schon lange fest, am Wochenende 11./12. April wollte ich in Weimar sein, denn an diesem Wochenende wurde der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald vor 70 Jahren gedacht. Breit gefächert war das Veranstaltungsangebot: Feierstunden und Festveranstaltungen mit viel, besonders europäischer, Prominenz (Präsident Gauck und Kanzlerin Merkel hatten wohl Wichtigeres vor!), Führungen durch die Gedenkstätte besonders für Jugendgruppen, Zeitzeugengespräche, Filmvorführungen, eine Baumpflanzaktion und eine große Kundgebung auf dem ehemaligen Appellplatz. Auch die Medien hatten diesem Jubiläum viel Aufmerksamkeit gewidmet. Nicht zuletzt kam die Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ – einem Film, den wohl jede/r gesehen und auch das Buch gelesen hatte, um diesen Termin herum zu Ausstrahlung. Verschiedene Dokumentationen vor und nach dem Film und auch am „Buchenwald-Themen-Tag“ des MDR am 12. April stellten die Selbstbefreiung des Konzentrationslagers am 11. April 1945 in Frage – eigentlich hätten die eintreffenden amerikanischen Truppen die Häftlinge befreit. Die Wachmannschaften der SS waren schon Stunden vorher geflohen, das Tor war unbewacht und die Häftlinge marschierten in mili-
tärischen Formationen hinaus, außer den Tausenden, die zu schwach dafür waren und apathisch in den Baracken lagen. Überhaupt wurde die Rolle der Kommunisten in Buchenwald in Frage gestellt, da diese in ihren Funktionen als Lager- oder Blockälteste, im Krankenrevier oder den Kleiderkammern nur eigene Vorteile suchten und sich mit den SS-Schergen arrangierten. Ich empfand viele dieser Versionen als antikommunistisch eingefärbt, verunglimpfend und beleidigend. Si-
durch Arnold Zweig bekannt), die durch die Verzögerung der Räumungstransporte und des Verschickens auf die Todesmärsche vielen Häftlingen das Leben retteten? Und waren es nicht gerade die Kommunisten, die durch ihre Organisation und ihre Disziplin Informationen über den Kriegsverlauf und über geplante Aktion der Nazis weitergaben und Hoffnung auf ein baldiges Ende des Grauens weckten und aufrecht erhielten, bei vielen auch den Lebensmut? Vieles davon ging mir bei
ganz eigenen Kranzniederlegung. Einige Rosen an der jüdischen Gedenkstätte; zwei an der Barackennachbildung für die Sinti und Roma; Rosen an der Kinder-Baracke und an der mit den Häftlingen, an denen Gelbfieber-Experimente durchgeführt wurden; einige mehr auch an den Baracken der sowjetischen Gefangenen. Dort sahen wir auch einige schwarzgelbe Georgsbändchen. Beim Betreten des Krematoriums konnte ich Tränen nicht mehr unterdrücken und der Anblick
cher waren auch zu DDR-Zeiten einige Darstellungen einseitig, aber waren es nicht gerade die kommunistischen Gefangenen, die 904 Kindern im KZ Buchenwald das Überleben sicherten (ein Beispiel wurde
meinem ganz persönlichen Rundgang durch die Gedenkstätte gemeinsam mit meiner Schwester durch den Kopf. Sie hatte einen großen Strauß Rosen mitgebracht und so geriet der Rundgang zu unserer
der Genickschussanlage, in der über 8.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden, schnürte mir den Hals zu. Wir verharrten an der Gedenktafel für Ernst Thälmann im Hof des Krematoriums. Eine Grup-
pe von einigen Hundert Menschen versammelte sich, der „Revolutionäre Freundesbund „Ernst Thälmann“ e.V.. Auch wir sangen das Thälmann-Lied mit – nicht mehr ganz textsicher – aber bei der Internationale klappten wieder alle drei Strophen. Den Abschluss bildete dann die Kundgebung auf den Appellplatz. Die Fahnen der Länder, aus denen Gefangene in Buchenwald eingekerkert waren, wurden hereingetragen. Bertrand Herz, Vorsitzender des Internationalen Buchenwaldkomitees, der als 14-Jähriger im KZ inhaftiert war, erinnerte an den Schwur von Buchenwald und verwies auf die aufkeimenden neonazistischen Bedrohungen in ganz Europa. Überlebende berichteten aus der Zeit vor 70 Jahren. Etwas Unmut kam bei den Versammelten auf, als ein jüdischer Überlebender davon sprach, dass es keine Selbstbefreiung des KZ gegeben habe, weil ja kein einziger Schuss gefallen sei, da SS-Wachen abgezogen waren; auch war es ihm viel schlechter ergangen, hatte er sehr großen Hunger gelitten, weil er kein Kommunist gewesen war. Eine „bestellte“ Rede? – sie wurde von Prof. Dr. Volkhard Knigge, dem Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald dann sofort als individuelle Meinung relativiert. Eine traurige Episode und doch – meine Schwester und ich sind froh, an diesem Tag in Buchenwald gewesen zu sein. Heiderose Gläß
„Kameraden, hört ihr mich? Wir sind frei! FREI!“ So schallte es am 11. April 1945 um 15:30 Uhr durch die Lautsprecheranlage des Konzentrationslagers Buchenwald. Nach einem Aufstand durch bewaffnete Widerstandsgruppen der Häftlinge hatten diese die Kontrolle über das Lager übernommen und sicherten es bis zum Eintreffen der amerikanischen Truppen zwei Tage später. Ich war am 29. September 1987 zum ersten Mal in der Mahnund Gedenkstätte Buchenwald. Damals, als 13-Jährige, fand dort im Glockenturm in Vorbereitung der Jugendweihe unsere Aufnahme in die FDJ und die DSF statt. Der Besuch und vor allem die Erzählungen eines ehemaligen Häftlings haben mich tief bewegt. Anfang der 90er Jahre war ich erneut dort und nun, rund 20 Jahre später, fuhr ich mit dem VVN-BdA zur Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers. Ich war neugierig auf die Veranstaltungen und auch da-
rauf, wie sich die Gedenkstätte verändert hat. Der Tag in Buchenwald begann mit dem Treffen der Nachkommen der ehemaligen Häftlinge. Eine bewegende Veranstaltung, bei der so mancher schlucken musste. Texte Ehemaliger, die Lautsprecherdurchsage, dass das Lager nun frei sei, die musikalische Untermalung von Barbara Thalheim, Reden, die zum Nachdenken anregen. So verwies der stellvertretende Oberbürgermeister von Weimar darauf, dass dieser Tag bei allem Gedenken ein Tag der Befreiung und somit ein Feiertag sei. Und er forderte die Nachkommen auf, die Stadt in die Pflicht zu nehmen, das Andenken zu bewahren und lebendig erhalten. Viel zu lange habe man sich davor gesträubt und nicht akzeptiert, dass Buchenwald nicht Fremdkörper sondern Teil Weimars ist. Bemerkenswert auch die Worte des Vertreters des Zentralrats der Sinti und Roma, Sohn
einer Sintisa, die selber das KZ überlebte. „...Über 500.000 Sinti und Roma wurden im Holocaust ermordet. Doch die Menschheit hat nichts daraus gelernt, sonst würde sie heute anders mit uns umgehen...“ Er machte deutlich, dass die Überlebenden nicht nur an den physischen und psychischen Qualen der Vergangenheit zu tragen haben, sondern dass die aktu-
elle Hetze (z. B. NPD-Plakate: „Lieber Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ etc.) unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit alte Wunden und Ängste wieder aufreißen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie diese rassistische Hetze auf Überlebende und ihre Angehörigen wirken muss. Trauriges Fazit ist leider, dass wir von der Erfüllung des Schwurs weiter ent-
fernt sind als je zuvor. Die Pegida-Demonstrationen überall im Lande, NPD- und AfD-Vertreter in den Parlamenten und das Erstarken rechter und nationalistischer Parteien in ganz Europa trauriger Beweis dafür. Emotionaler Abschluss dieser Veranstaltung war das gemeinsame Singen des Buchenwaldliedes, Gänsehaut pur – jedenfalls für mich. Auf dem Gelände hat sich einiges getan. Gedenksteine an verschiedenen Orten im ehemaligen KZ sind dazu gekommen und auch das Gelände des sogenannten Kleinen Lagers, in dem vorwiegend sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren, ist nun begehbar und nicht mehr verwildert. Das Mahnmal mit Glockenturm und Straße der Nationen indes wirkte verwaist, schade. Hier wünsche ich mir die Herstellung der Barrierefreiheit – die breiten Treppen geben das her – und natürlich die Nutzung zu solchen Festveranstaltungen. Simone Hock
Links! 05/2015
Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Termine Dresden, 8. Mai, Freitag, 17.00 Uhr Lesung zum Tag der Befreiung Cпасибо-Thank You-Merci Szenische Lesung zum Tag der Befreiung***. Mit MdL Annekatrin Klepsch, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im sächsischen Landtag. Eine gemeinsame Veranstaltung des WIR e.V. und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Dresden, 12. Mai, Dienstag, 19.00 Uhr Inputreferate und Diskussion Die Kunst des Aushaltens -Von der Ambivalenz Kunst zu machen und davon leben zu müssen*** Veranstaltungsreihe „Kreatives Sachsen - Potentiale der Kultur- und Kreativwirtschaft im Freistaat” Mit Jürgen Schieferdecker, Maler, Grafiker und Objektkünstler, Ralf Kukula, Filmemacher und Regisseur (BalanceFilm) und einer VertreterIn der Initiative art but fair; Moderation: MdL Annekatrin Klepsch. Eine gemeinsame Veranstaltung des BürgerInnenbüro der MdL Annekatrin Klepsch und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen riesa efau, KulturForum Dresden, Dachsaal, Wachsbleichstraße 4a, 01067 Dresden In der Kultur- und Kreativwirtschaft tätigen Menschen haben häufig ein Problem. Sie wollen kreativ sein, müssen aber davon auch davon leben können. Wir fragen im Rahmen der Veranstaltung nach: Wie gehen die „Kreativen“ mit diesen Ambivalenzen um? Welchen Weg haben sie sich gesucht, ihre Kreativität unter dem Druck der Wirtschaftlichkeit nicht zu verlieren? Was erwarten sie von der Gesellschaft und der Politik? Was muss passieren, dass beide Seiten vereinbar sind?
Impressum Links! Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Herausgeber: Dr. Monika Runge, Verena Meiwald, Prof. Dr. Peter Porsch, Dr. Achim Grunke Verleger: Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e. V., Kleiststraße 10a, 01129 Dresden
Chemnitz, 13. Mai, Mittwoch, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion Homer Simpsons Mutter und anderes Lehrreiches aus der Geschichte der USA. Mit Daniel Kulla, Schriftsteller (Berlin). Mediencafé m54, AJZ Chemnitz, Chemnitztalstraße 54, 09114 Chemnitz Leipzig, 13. Mai, Mittwoch, 20.00 Uhr Vortrag und Diskussion REIHE: Absolute Gegenwart Erschöpfung – eine Pathologie der Gegenwart?*** Mit Greta Wagner, Soziologin (Universität Frankfurt a.M.). Eine Reihe von EnWi mit Unterstützung der RLS Sachsen. Institut für Zukunft, An den Tierklinken 38-40, 04103 Leipzig Dresden, 17. Mai, Sonntag, 17.30 Uhr Rainbowflash Sachsen. Eine Veranstaltung des Lesben- und Schwulenverbandes Sachsen, mit Unterstützung Different People e.V. aus Chemnitz, AIDS-Hilfe Chemnitz e.V., Schwusos Chemnitz; Die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Chemnitz, CSD Dresden e.V., Gerede - homo, bi und trans e.V. aus Dresden, AIDSHilfe Dresden e.V., Die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Dresden, Netzwerk für Demokratie & Courage Dresden, CSD Leipzig e.V., Frauenkultur e.V. Leipzig, StuRa der HGB Leipzig, StuRA der HMT Leipzig, CSD Pirna e.V., Die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Plauen, Kulturzentrum Goldene Sonne e.V. Schneeberg, Alternatives Kultur- und Bildungszentrum Sächsische Schweiz (AKuBiZ) in Pirna, Kunst Forum Plauen e.V., der RLS Sachsen und vieler Anderer. Goldenen Reiter, Neustädter Markt, 01097 Dresden Leipzig, 18. Mai, Montag, 18.00 Uhr Film und Diskussion. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auflage von 15.150 Exemplaren gedruckt.
„CECTRA – Schwester“*** Dokumentarfilm (2014) in deutscher Sprache mit russischen und englischen Untertiteln. Anschließend Gespräch mit der Regisseurin Claudia Krieg. RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Dresden, 19. Mai, Dienstag, 18.00 Uhr Film und Diskussion „Häuser erhalten! Räume eröffnen.“ Mit Holger Lauinger, Regisseur (Berlin). Eine gemeinsame Veranstaltung des WIR e.V. und der RLS Sachsen. WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Chemnitz, 19. Mai, Dienstag, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion TTIP - Das Freihandelsabkommen und seine Gefahren*** Mit Thomas Fritz, Autor (Berlin). Eine gemeinsame Veranstaltung der Volkshochschule Chemnitz, des Agenda-21-Beirats und der Rosa-LuxemburgStiftung Sachsen. Veranstaltungssaal, das Tietz, Moritzstraße 20, 09111 Chemnitz Dresden, 20. Mai, Mittwoch, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion Naturschutz FAIRlangt Entschuldung! Arten-, Biotop- und Klimaschutz unter globalen Marktinteressen***. Mit Jürgen Kaiser, erlassjahr. de. Eine gemeinsame Veranstaltung des HdK, der Bildungsinitiative „Sachsen im Klimawandel“, der Arbeitsstelle Eine Welt in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsen, des BUND – Regionalgruppe Dresden und der Rosa – Luxemburg – Stiftung Sachsen. Altes Wettbüro, Antonstraße 8, 01097 Dresden Redaktion: Kevin Reißig (V.i.S.d.P.), Jayne-Ann Igel, Ute Gelfert, Ralf Richter. Kontakt: redaktion@linke-bildung-kultur.de Tel. 0351-84389773 Redaktionschluss: 27.04.2015 Die nächste Ausgabe erscheint am 04.06.2015.
Die weltweit gestiegene Warenproduktion und der zwischen 1960 und 2008 um das 15-fache gestiegene Warenexport haben einen einmaligen Verlust an biologischer Vielfalt zur Folge. Dies führt zu einer Zerstörung natürlicher Puffersysteme und verschärft die globale Erwärmung. In seinen Ausführungen nimmt Jürgen Kaiser Bezug auf die Frage, wie derartige Entwicklungen wirkungsvoller angeprangert und möglichst verhindert werden können. Dresden, 21. Mai, Donnerstag, 16:40-18:10 Uhr Ringvorlesung: „Wir sind nicht rassistisch, aber ...“ „A Ghost That Keeps Haunting Us“ (in Englisch) Mit Grada Kilomba. TU Dresden, Zeunerbau, George-Bähr-Str. 3c ZEU/160/H Leipzig, 26. Mai, Dienstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion Sportives Doping und Enhancement. Zu ethischen und rechtlichen Fragen der aktuellen Sportpolitik*** Mit PD Dr. Volker Caysa, Philosoph (Universität Leipzig). Moderation: Dr. Peter Fischer. RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Leipzig, 28. Mai, Donnerstag, 18.00 Uhr Offener Gesprächskreis Blechtrommel und Deutschstunden. Jour Fixe. Ein unkonventioneller Gesprächskreis. Mit Klaus Pezold (Leipzig) und Horst Nalewski (Leipzig). Moderation: Klaus Kinner, Historiker (Leipzig) und Manfred Neuhaus, Historiker, Vorsitzender des Wissenschaftsbeirates der RLS Sachsen (Leipzig) RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Leipzig, 28. Mai, Donnerstag, 18.30 Uhr Die Zeitung „Links!“ kann kostenfrei abonniert werden. Wir freuen uns jedoch über eine Spende, mit der Sie das Erscheinen unserer Zeitung unterstützen. Kostendeckend für ein Jahresabo ist eine Spende in Höhe von 10 Euro. Sollten Sie an uns spenden wollen, verwenden Sie bitte folgende Kontodaten:
REIHE: ROSA L. IN GRÜNAU Das Spiel zwischen Lust und Moneten - Kommerzialisierung im Fußball. Mit Adam Bednarsky, Geschäftsführer Roter Stern Leipzig. Klub Gshelka, An der Kotsche 51, 04207 Leipzig Leipzig, 28. Mai, Donnerstag, 20.00 Uhr Vortrag und Diskussion REIHE: Absolute Gegenwart Verkaufte Zukunft***. Mit Ralph Heidenreich, Programmierer und Kommunalpolitiker (Biberach) und Stefan Heidenreich, (Universität Basel und Center for Digital Cultures der Universität Lüneburg). Eine Reihe von EnWi mit Unterstützung der RLS Sachsen. Institut für Zukunft, An den Tierklinken 38-40, 04103 Leipzig Chemnitz, 29. Mai, Freitag, 18.00 Uhr Filmvorführung und Diskussion Häuser erhalten! Räume eröffnen***. Mit Holger Lauinger, Regisseur (Berlin). Eine Veranstaltung der RosaLuxemburg-Stiftung in Kooperation mit dem Lesecafé Odradek und der Urbanen Polemik e.V. Lesecafé Odradek, Leipziger Straße 3, 09113 Chemnitz Leipzig, 30. Mai, Sonnabend, 10.00-13.00 Uhr Ständiges Seminar zur politischen Kommunikation. Wie Linke sprechen und wie sie sprechen sollten. Mit Prof. Dr. Peter Porsch und Dr. Ruth Geier. RLS, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig *** in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e. V. Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e.V. IBAN: DE83 8509 0000 3491 1010 07 BIC: GENODEF1DRS Bank: Dresdner Volksbank Raiffeisenbank Aboservice: www.links-sachsen.de/abonnieren, aboservice@links-sachsen.de oder 0351-84 38 9773
Rezensionen
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05/2015 Links!
Leipziger Bismarck-Fahrt Zum 200. Geburtstag des eisernen Kanzlers. 1890 ging der „Lotse“ von Bord Obwohl sich Otto von Bismarck während einer langen und außergewöhnlichen politischen Karriere nie allgemeiner Beliebtheit erfreuen konnte, avancierte er nach seinem Sturz 1890 binnen weniger Jahre zum populärsten deutschen Staatsmann. Nicht nur von konservativen Deutungseliten als »Reichsgründer« glorifiziert, wurde Bismarck in seinen letzten Lebensjahren eine geradezu kultische Verehrung breiter Bevölkerungsschichten zuteil. Eine Zeitlang war er im Alltagsleben vieler Deutscher allgegenwärtig: Sein koloriertes Porträt zierte die Sofaecke, das Konterfei die Heringsdose. Bismarcks 80. Geburtstag am 1. April 1895 galt als eines der größten Medienspektakel des scheidenden Jahrhunderts. Wie Robert Gerwarth in seiner Studie »Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der eiserne Kanzler« (Berlin 2007) unter anderem berichtet, musste das kleine Postamt von Friedrichsruh, dem Alterssitz des legendenumwobenen Kanzlers nahe Hamburg, 23 zusätzliche Arbeitskräfte einstellen, um der Flut von 9875 Telegrammen und 450000 Briefen und Postkarten zwischen dem 25. März und dem 2. April 1895 Herr zu werden. Es hagelte Ehrenbür-
gerschaften, und noch heute künden 146 Bismarcktürme, nicht selten bizarre Artefakte der Architekturgeschichte, von einem einzigartigen Personenkult in Deutschland. In Leipzig trieb der Bismarckkult am Ausgang des 19. Jahrhunderts wahre Blüten. Als vieler Orten Wallfahrten zum Recken im Sachsenwald für Schlagzeilen sorgen, bilden auch Leipziger Honoratioren einen »Ausschuss für die Bismarck-Fahrt«. Unter dem Ehrenvorsitz von Oberbürgermeister Georgi koordinieren Bankiers, Bauherren, Handwerks o b e r m e i s t e r, Industrielle, Journalisten, Schulrektoren, Theologen, Verwaltungsbeamte und Universitätsprofessoren, darunter noch heute bekannte Namen wie Roßbach, Sack, Tröndlin und Wislicenus, den Mikrokosmos des vaterländisch gesinnten Vereinswesens, um Seiner Durchlaucht Fürst Bismarck am Himmelfahrtstage 1895 zu huldigen. Leipziger Sozi-
aldemokraten? Fehlanzeige. Mit besonderem Eifer ist Oberlehrer Otto Geyer bei der Sache. Seine noch im gleichen Jahr veröffentlichte Dokumentation »Die Bismarck-Fahrt« irritiert den modernen Leser durch hurrapatriotisch-nationalistische Topoi: »Wahrlich, nicht müßige Neugierde ist es, die uns hintreibt nach dem Sachsenwalde.
Es ist eine Pflicht, eine heilige Pflicht. Nicht Denkmal, nicht Adressen, nicht Festakte allein sind rechte Huldigungen; erfolgreicher und schöner ist es, wenn Tausende persönlich den Fürsten begrüßen und ihm dankbar zujubeln. Und solche Augenblicke haben höchste Bedeutung auch für die nationale Erziehung.« (S. 89.) Noch bemerkenswerter ist allerdings, was der gehuldigte Fürst seinen kritiklosen Leipziger Bewunderern ins Stammbuch geschrieben hat: Er gehöre durch seine mütterliche Abstammung zu den Blutsverwandten von Leipzig. Die Vorfahren seines mütterlichen Großvaters hätten drei oder vier Generationen hindurch in hervorragender wissenschaftlicher und juristischer Stellung in Leipzig gestanden. Und nun folgt es schwarz auf weiß: »Es muß in dem Grund und Boden etwas Anziehendes und eine Treibkraft liegen, die nicht überall im deutschen Lande vorhanden ist. Wie kommt es, daß Leipzig eine Stadt von dieser Bedeutung geworden ist, ohne daß es an einem schiffbaren Flusse liegt, ohne daß es die Residenz eines großen Fürstenhauses und unter dessen Segnun-
gen aufgeblüht ist, rein aus sich selbst heraus aus der Ebene, neben Flüssen, die, wie ich glaube, nicht schiffbar sind, ohne Residenz zu sein und nach den schweren Schicksalen, die es fast in jedem Jahrhundert bisher erlebt hat? Leipzig ist im dreißigjährigen Kriege von Schweden und Kaiserlichen, im siebenjährigen Kriege von Preußen und Österreichern, im Freiheitskriege von Franzosen und Verbündeten außerordentlich schwer heimgesucht worden, notwendig also in seinem Erwerbsleben schwer gedrückt worden.« (S. 154/155). Leipzig habe sich, so Bismarcks Überzeugung, jedoch stets wieder aus eigener Kraft aufgebaut. Und demnächst werde sich an seinen Namen die welthistorische Erscheinung der großen Völkerschlacht von 1813 knüpfen. Den heutigen Leser mag vielleicht überraschen, dass der »Russlandversteher« Bismarck in diesem Kontext für »die Pflege der guten Beziehungen zu unserem östlichen Nachbarn« plädiert: »Und deshalb knüpfe ich an Ihren heutigen Besuch und an die Erinnerung an die Leipziger Schlacht auch die Erneuerung des Andenkens an die guten Beziehungen, in denen wir früher mit Rußland gelebt haben« (S. 157, 158). Weise Worte. Daniel Sieben Der Beitrag erschien in LEIPZIGS NEUE, April 2015. S. 18.
Mit Turbopoesie gegen den Turbokapitalismus Anmerkungen zu Kramer/ Mießner/Pohl/Schittko et al.: „my degeneration“ My degeneration – wer denkt da nicht zu allererst an den Song „My Generation“ aus den 60er Jahren, der auf dem gleichnamigen Album der Band The Who zu finden ist und vom Lebensgefühl der jungen Generation zu jener Zeit Kunde gibt, von ihrem Überdruss an den überkommenen Verhältnissen, an einer biederen Bürgerlichkeit, für die auch damals der Kapitalismus ohne Alternative war. Tatsächlich verweist der Herausgeber des vorliegenden Bandes in einer Fußnote zum Intro auf diesen Bezug. In jenem Song heißt es sinngemäß: „Warum verschwindet ihr nicht einfach/Versucht euch keinen Reim auf das zu machen, was wir sagen/Ich versuche erst gar nicht, was Großes zu starten/Ich rede nur von meiner Generation.“ Was da aufleuchtet, scheint in Grundzügen auch symptomatisch für die heutige Generation der Mittdreißiger bis -vierziger, die in der Vergangenheit als „Generation Praktikum“ oder „Generation
Null Bock“ durch die Medien geisterte. So ist es sicherlich kein Zufall, dass das Herausgeber- und Autorenteam um Kai Pohl und Clemens Schittko ihrem Sammelband mit Texten, die zwischen 2004 und 2013 entstanden sind, den Titel „my degeneration“ verpasst haben. Was in diesen Texten vor allem statthat, ist die Dekonstruktion der neoliberalen Verschleierung von Machtgefälle und Abhängigkeiten, wie sie sich auf sprachlicher Ebene im öffentlichen Raum darstellt (Werbung, Politik, Wirtschaftspublizistik), im kulturellen Kontext der 90er und 2000er Jahre. Womit wir es hier zu tun haben, könnte man aber auch als Turbopoesie bezeichnen, mithin eine geniale Antwort auf das gegenwärtige Erscheinungsbild des Kapitalismus, den sogenannten Turbokapitalismus. Denn das Politiker-, Manager- und Alltagssprech wird wiederholt in eine Zentrifuge gegeben, ordentlich durchmischt, de-generiert sozusagen, im Sinne des neoliberalen Neusprechs, dessen Verfahren dadurch transparenter wird. So wie sich etwa im Zeichen
der Agenda 2010-Politik unterm Diktum von Flexibilisierung und Selbstvermarktung gewonnene Freiheiten zu neuer Unfreiheit und subtileren Abhängigkeitsverhältnissen wenden, denen der Typus des neuen Arbeitnehmers dann oft vereinzelt gegenüber steht. „Fremdbestimmung heißt jetzt Selbstbestimmung und Durchsetzungsvermögen“ (Pohl, S. 126). Seit zwei Jahrzehnten wird global seitens einflussreicher Akteure in Politik und Wirtschaft die Umwertung aller Werte und mittels Deregulierung auch deren Pervertierung betrieben. Am Anfang dieses Prozesses in Deutschland standen solch zentrale Begriffe wie etwa jener der „Reform“. Just in jenem Zeitraum, in dem die im vorliegenden Band vertretenen Autoren groß geworden und literarisch in Erscheinung getreten sind, politisch hoch sensibilisiert. Außer Kai Pohl (Jg. 1965), Initiator und Kopf dieser Unternehmung, sind alle Kombattanten in den 70er Jahren geboren und quasi in diese laufende Umetikettierungsaktion hineingewachsen, die sich dem
ersten Anschein nach, mitsamt der Anglizismen, die Verwendung finden, so innovativ wie harmlos gibt. Indem sie diese Vorgänge auf der Sprachebene durchspielen und verfremden, wird nachvollziehbar, dass mit all den fortwährenden Umbenennungen und Umwidmungen von Firmen, Ämtern, Behörden oder Bezeichnungen sich nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch unsere Wahrnehmung davon verändert. Kai Pohls „Auweia heißt jetzt Ai Weiwei“ (S. 117 ff.) mag auch als neodadaistische Textperformance mit dem Transformationsschutt aus der Sprache von Werbewirtschaft und Politik begriffen werden. In seinem Kompilierungsverfahren verknüpft er verschiedene Bedeutungsund Sinnebenen. „Erwartung heißt jetzt Entwaldung“ ist da etwa zu lesen, oder: „beschleunigte Verschwendung heißt jetzt Zukunftsverbrauch oder Wachstumsbeschleunigungsgesetz“. Und spart dabei die Niederungen des politischen Alltags nicht aus: „FDP heißt jetzt fast drei Prozent“, „Hohn heißt jetzt Hoeneß“. Lars-Avid Brischke lässt mittels Versatz-
stücken aus Pressemeldungen, Schlagzeilen und Statements, die er gelegentlich lakonisch kommentiert, die Szenarien von Mauerfall, Nachwendezeit, Finanzkrise und FukushimaKatastrophe Revue passieren. Robert Mießner verbucht in seiner Enzyklopädie diverse Sinnverschiebungen: „separat bleibt separat doch siehe/kontakt unter kontrakt/intellektuell unter integriert/anpassung unter sachzwang“ (S. 88). In Benedikt Maria Kramers Variationen zum Drifting von Dingen, Begriffen und Namen nach Kai Pohl finden sich beispielsweise diese Zeilen: „Abzocke heißt jetzt Marketing./Propaganda heißt jetzt Advertising.“ (S. 98). Ja, es besteht Gefahr, irgendwann selbst in Kai Pohls Namedropping-Trommel oder den Fokus seiner Mitstreiter zu geraten und sich unvermittelt in einem illustren Kontext wiederzufinden. Jayne-Ann Igel Kramer/Mießner/Pohl/Schittko et al.: my degeneration: the very best of WHO IS WHO. Greifswald (freiraum verlag) 2014. 151 Seiten. 14,95 Euro.
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Links! 05/2015
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Tillichs seltsame Feier am „Todesort“ Strahlend blauer Frühlingshimmel über der Gohrischheide, einem Gebiet bei Riesa gelegen, fünf Kilometer entfernt von der ehemaligen „Stahlstadt“. Sachsens blitzende Landtagskarossen sind schon lange vor dem Beginn der offiziellen Feierlichkeiten in den „Ehrenhain Zeithain“ eingebogen. Angesichts der großen Autos und der herausgeputzten Menschen – selbst zwei Männer im Schottenrock sind gekommen – würde ein Nicht-Eingeweihter sich kaum wundern, wenn hier ein opulentes Picknick stattfinden würde. Jedenfalls ertrinkt die Szenerie in einem Blumenmeer, herbeigeschafft von den Botschaften der USA, Russlands, Italiens, Turkmenistans, Kasachstans, Belarus, Ukraine, Polen … Zwei Blöcke sitzen sich im Freien gegenüber, auf der einen Seite links vorn die Honoratioren des Freistaates, dahinter ihre Bürgermeister und ganz hinten die Bundeswehrangehörigen. Im anderen Block sieht man russische Uniformen mit vollem Lametta und Kopftücher, viele gealterte Gesichter in der ersten Reihe. Dahinter sitzt „das Volk“. In der Mitte ein 15 Meter hoher roter Obelisk mit Sowjetstern, Hammer und Sichel und der Zahlenkombination 1941 – 1945. Links und rechts sind Kränze aufgestellt, bewacht von bulligen Bundeswehrposten. Dem sorbisch-sächsischen Katholiken und Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich steht kein einfacher Termin bevor – er muss über Befreiung reden und Tod. Denn das Gelände hier ist kein „unschuldiger“ Platz. Im
satten Grün stehen viele Schilder mit kyrillischen Namen von tausenden, vornehmlich sowjetischen Soldaten, die man hier im wahrsten Sinne des Wortes krepieren ließ. Am Anfang gab es nur Stacheldraht, keine Unterkunft, kein Essen, kein sauberes Trinkwasser – insgesamt kamen 300.000 Menschen auf dem in der Heide versteckten, heute vollkommen unbekannten Bahnhof Jacobstal an. Zeithain war ein Außenlager des heute im Brandenburgischen gelegenen Lagers Mühlberg. Fast 30.000 Tote liegen auf dem Feld der Zeithainer Ehrenhains. Immer zum 8. Mai zogen bis 1989 die Schulklassen aus der Dorfschule hinaus zur Ehrung der Toten, dabei waren Kompanien sowjetischer Soldaten aus der angrenzenden Kaserne der sowjetischen Armee. Allerdings: Die Opfer blieben namenlos, denn Stalin hatte seinen Soldaten verboten, vor den Faschisten zu kapitulieren. Daher konnte es nach sowjetischer Lesart keine sowjetischen Kriegsgefangenen geben – die 5,3 Millionen, die es tatsächlich gab, waren offiziell von der Sowjetunion aufgegeben worden. Von der Wehrmacht wurden sie nicht wie Kriegsgefangene behandelt, sondern wie „Untermenschen“ – man ließ die meisten schlicht und einfach verhungern. Tillich spricht dann auch vom „Todesort“ Zeithain und erwähnt, dass eigentlich das Schlimmste gewesen sei, dass in der Sowjetunion viele sowjetische Kriegsgefangene nach dem Krieg wieder in Gefangenenlager gekommen seien. Ei-
ne Befreiung nach 1945 wie in Westdeutschland habe es hier leider nicht gegeben – mit den sowjetischen Truppen habe nur eine neue Periode der Unfreiheit begonnen. Das Hauptproblem war also die Sowjetunion und
jetverwaltung kritisch gegenüber, die Wehrmacht setzte von Anfang an auch auf „Kooperation“ – um später gemeinsam mit ukrainischen Freiwilligen gegen „die Bolschewisten“ vorzugehen.
nicht Stalin. Zum Beweis lässt man einen Enkel eines ukrainischen Kriegsgefangenen sprechen. Der berichtet von seiner Mutter, die in Kiew als kleines Mädchen von den einrückenden Wehrmachtssoldaten Süßigkeiten geschenkt bekam – „Es waren also nicht alle Deutschen schlecht“, meint der Enkel, der offenbar nicht die Richtlinien für die einrückende Wehrmacht in der Ukraine kannte, die Order hatte, am Anfang die Zivilbevölkerung „zu gewinnen“. Schließlich, so glaubte man, stünden zahlreiche Ukrainer der Sow-
In Zeithain zelebriert der sächsische Ministerpräsident gemeinsam mit dem Landtagspräsidenten Matthias Rößler (ebenfalls CDU) die Spaltung der Opfergemeinschaft. Dort also die guten Polen und die guten Ukrainer und dort die bösen Sowjets. Keine Erwähnung findet in den Reden von Tillich und Rösler, dass die sächsische Landesregierung das Areal zwischen 1991 und 1999 vollkommen verwahrlosen ließ. So nimmt man es Tillich ab, wenn er sagt, dass er „heute das erste Mal hier“ ist.
Endlich ist der unschöne offizielle Teil vorbei und man kann zur Enthüllung einer Gedenktafel schreiten, mit neuen Namen: Ein Pulk von Geistlichen hat sich versammelt. RussischOrthodoxe, Griechisch-Orthodoxe, ein Imam und ein Rabbi sowie ein katholischer und ein evangelischer Pfarrer weihen die neue Tafel ein. Rößler und Tillich wirken erleichtert. Im kleinen Festzelt neben der Kriegsgefangenenbaracke, die als Museum eingerichtet ist, gibt es Wein, Musik und Mittagsgerichte. Es war Weihnachten 1942, als ein Offizier von der Wachmannschaft die Festtagsrede hielt: Luther habe das Volk durch die Reformation gespalten, so dass es dem „Führer“ vorbehalten war, es wieder zu einen. So dachte ich als ehemaliger Sozialdemokrat damals, schrieb ein sächsischer Lehrer, dessen Name heute noch geschwärzt ist. Er fotografiert und schreibt in seinem Nachlass, dass die Baracken so dicht belegt waren, dass die Insassen darin nachts nur stehen konnten. Um nicht zu erfrieren, bewegten sie sich – „aber das half ihnen nicht, denn weil sie kaum Essen bekamen, hatten sie keine Kraft mehr und starben dann um so schneller“. „Gereicht“ wurde den Gefangenen damals „Russenbrot“, das zum Teil aus Sägemehl und Laub bestand. Eine Entschädigung von der Bundesregierung hat kein Gefangener je erhalten – schließlich war an ihrem Schicksal ja Stalin schuld, wie man in Zeithain 2015 wieder lernen kann. Ralf Richter
Mauri A. Numminen, finnischer Tango-Anarchist Seit Jahrzehnten ist ein Name aus der Reihe der Großen in der finnischen Tangoszene nicht mehr wegzudenken. Sein Gesangstil ist mitunter gewöhnungsbedürftig, seine Gratwanderung zwischen den musikalischen Genres durchaus originell, verträumt und doch stets experimentell. Mit seinen eigenwilligen Projekten hat er nicht nur in der finnischen Musikszene die Aufmerksamkeit auf sich und seine künstlerische Arbeit gezogen. Der in Lempääla in Finnland lebende Sänger, Komponist, Ethnologe, Kolumnist, Filmemacher, Autor, Sprachwissenschaftler und Entertainer Mauri Aintero Numminen, der bereits in den sechziger Jahren durch seine schrägen Interpretationen finnischer Schlager Aufsehen erregte, revolutionierte die heimische Tangotradition mit absurden Textinhalten und wusste so Althergebrachtes
neu zu definieren. Der Tango gelangte schon 1915 über lange Umwege nach Finnland, nachdem er bereits Jahre zuvor die Herzen der Europäer eroberte. Die Lieder, die ausschließlich in finnischer Sprache vorgetragen wurden, besangen den Seelenschmerz und umschrieben meist betrübt-melancholisch die Zeichen der jeweiligen Zeit. So blieb es auch nicht aus, dass die Lieder während des Zweiten Weltkrieges von Durchhaltevermögen, Trennung oder gar Verlust der in den Krieg gezogenen „Heldenehegatten“ handelten, zumal erwähnt werden muss, dass Finnland gemeinsam mit Hitlerdeutschland einen barbarischen Feldzug gegen die Sowjetunion führte. Nach Kriegsende und Kapitulation befand sich Finnland dementsprechend in tiefster Depression. Während die Tangomusiktradition im Nachkriegseuropa weitgehend durch moderne Trends
wie Rock’n’Roll oder die Beatwelle verdrängt wurde, erwies es sich, dass speziell in Finnland die Beliebtheit des Tangos erhalten blieb. Zu tief waren die schwermütigen Lieder in den Herzen der einsamen ländlichen Bevölkerung manifestiert. Doch auch Finnland kam an 1968 nicht vorbei, und eine neue Generation begann, aktiv zu werden. In den Studentenclubs traten erste Rockgruppen auf, die sich musikalisch von amerikanischen oder englischen Vorbildern inspirieren ließen. Merkwürdigerweise war festzustellen, dass es den „jungen Wilden“ nicht gelang, der in ihren Seelen schlummernden Tango-Manie zu entfliehen, woraus erstaunliche Synthesen entstanden. Da verwundert es nicht, dass zeitgleich ein junger Mann die Szene betrat, der alsbald als Geheimtipp und als „enfant terrible“ der kulturellen Under-
ground-Bewegung Finnlands betitelt wurde. Er provozierte den konservativen Kulturapparat, indem er schockierend frech über Sex und freie Liebe sang oder amtliche Stadtverordnungen und Dienstvorschriften des Militärs vertonte. Sein Chanson „Lied von der täglichen Pflege eines Pferdes“ wurde wegen „Lächerlichmachung der Armee“ verboten. Ebenso erging es dem Couplet „Ich bin mit meiner Braut im Parlamentspark“, weil es sich über das Parlament lustig mache und den Alkoholismus fördere. Letzteres trug er übrigens in deutscher Sprache vor, da es in den 68er Studentenkreisen als schick galt, sich der Originalsprache des „Manifests von Marx und Engels“ zu bedienen. Numminen konnte nichts mehr aufhalten, er kreierte sehr erfolgreich den „neorustikalen Jazz“, eine bis dahin noch nie bestehende Musizierweise. Er
schrieb sehr originelle Kinderbücher und Romane und überraschte immer wieder mit neuen musikalischen Projekten. So scheute er sich nicht, 1983 Texte von Ludwig Wittgenstein zu vertonen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. 2006 produzierte er eine Heinrich-Heine-CD bei „Trikont“, auf der er ausschließlich in deutscher Sprache „singt“. Doch am wichtigsten bleibt für den Fünfundsiebzigjährigen der finnische Tango – wie er einmal formulierte: „Wir Finnen sind ein Mollvolk, und der eigentliche Sinn des Lebens ist Tango!“ JensPaul Wollenberg P.S.: Wer ihn live erleben möchte, dem bietet sich eine einmalige Gelegenheit in Deutschland. Im Rahmen des „FIN-Tango-Festival“ am 28. Mai 2015 im Ballhaus Berlin, Chausseestraße 102, gibt er um 20 Uhr ein Konzert.