LINKS! Ausgabe 10/2016

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„Der Osten darf keine Einöde der Armut werden“ Die sächsische Bundestagsabgeordnete der LINKEN, Susanna Karawanskij, hat die Rolle als Ost-Koordinatorin der Linksfraktion übernommen.

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Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Oktober 2016

Wie kommt es, dass Sie sich für die Belange der Ostdeutschen stark machen wollen? Ich wurde 1980 in Leipzig geboren. Dadurch habe ich in meinen ersten zehn Lebensjahren die DDR erlebt. Ich gehöre also zur „Dritten Generation Ost“, die in zwei gegensätzlichen politischen und sozialen Systemen aufgewachsen ist. Die Umbruchszeit bekam ich natürlich vor allem in der Schule mit, plötzlich fehlten Lehrerinnen. In meinem direkten Umfeld merkte ich, was die gewaltigen Umbrüche mit vielen Menschen machten. Bis heute muss man leider feststellen, dass die Menschen im Osten in einigen Bereichen benachteiligt werden oder mit strukturellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Dafür genügt ein Blick auf den Arbeitsmarkt oder aufs Rentensystem. Es kommen genügend Menschen ins Wahlkreisbüro, die ganz persönliche Benachteiligungen erfahren oder erfahren haben. Allzu oft wird vergessen, dass es in der DDR auch Dinge gab, die nicht einfach in Vergessenheit geraten sollten. Das fängt bei der Bildung an und geht bis zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. der Möglichkeit für Frauen, in Vollzeit erwerbstätig zu sein. Es gibt noch viel zu tun, um Ost und West wirklich auf eine Stufe stellen zu können. Das möchte ich mit anpacken, ohne West gegen Ost auszuspielen. Das Rentensystem ist beispielsweise nicht nur ein ostdeutsches Problem, was z.B. die Rentenüberleitung betrifft, sondern es bedarf in Ost wie West einer Reform. Das Rentenniveau muss überall auf 53 % angehoben werden. Und wir brauchen eine solidarische Mindestrente. Ist es 26 Jahre nach 1990 überhaupt noch notwendig, die Probleme der Ostdeutschen näher in den Blick zu nehmen? Ja, auf alle Fälle. Es existieren noch große Ungleichgewichte. Die Löhne sind im Osten meist

deutlich niedriger, Renten aus DDR-Zeiten wurden oft gekürzt und nicht ins gesamtdeutsche Rentensystem übergeleitet, das Geldvermögen ostdeutscher Haushalte ist eindeutig niedriger, und im Osten fehlt es immer noch an wirtschaftsstarken Regionen. Nicht nur im Kontext mit Digitalisierung und Industrie 4.0 besitzt Ostdeutschland Standortpotenziale, die allerdings strukturpolitisch gefördert werden müssen. Es braucht gute Arbeitsmöglichkeiten, um die Abwanderung gerade junger Menschen in den Westen zu verhindern. Der Osten darf keine Einöde der Armut werden. Wir sind als LINKE eine gesamtdeutsche Partei. Aber unsere Ursprünge sind klar. Der Osten ist gewissermaßen die Lebensversicherung der Partei, Substanz und Quelle ihrer Weiterentwicklung. Wir wollen die Belange und Bedürfnisse der ostdeutschen Bevölkerung nicht untergehen lassen. Denn was im Grundgesetz verankert ist, ist noch lange nicht Wirklichkeit: die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Was sind Ihre Ziele? Ich muss das Rad nicht neu erfinden, denn mein Vorgänger Roland Claus hat über zehn Jahre sehr gute Arbeit geleistet. Darauf möchte ich aufbauen und gleichzeitig eigene Akzente setzen. Einer wird sein, gegen die Diskriminierungen der Ostdeutschen im Rentenrecht anzukämpfen. Dies wird auch im Bundestagswahlkampf Thema sein. Weiterhin werde ich in unserer Fraktion Sprecherin für Kommunalfinanzen bleiben. Daher werde ich mich für stabile und bessere Finanzen der Kommunen einsetzen. Da Ostdeutschlandpolitik ein Querschnittsthema ist, werde ich sicherlich auch auf die Felder Gesundheit, ländliche Räume, Arbeitsmarkt und Frauen schauen. Dabei darf man nicht die gleichstellungspolitische Vorreiterrolle des Ostens unter den Teppich kehren. Wichtig ist es, reelle Zukunftsperspektiven zu entwickeln, um alsbald wirklich gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Es darf nicht noch mal ein Vierteljahrhundert vergehen!


Links! im Gespräch

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„Für Resozialisierung ist ein Gefängnis ungeeignet“ Mit einer Überraschungsmeldung begann MDR-Figaro am ersten Tag der diesjährigen Leipziger Buchmesse die 7-Uhr-Nachrichten. Der bis dahin unbekannte Autor Thomas Galli habe vom Justizministerium ein Verbot erhalten, in der JVA Leipzig aus seinem Buch zu lesen. Galli ist Gefängnisdirektor der JVA Zeithain bei Riesa. Ralf Richter wollte von ihm wissen, wie es zum Verbot kam, was er am Strafvollzug kritisiert und ob er nach seiner Elternzeit weiter in Zeithain arbeiten wird. Schreibende Gefängnisdirektoren sind ja eher selten. Haben Sie sich an Vorbildern orientiert? Gefängnisleiter schreiben in der Tat – wenn sie denn schreiben – eher Fachbücher. Ein solches ist mein Buch „Die Schwere der Schuld“ gewiss nicht. Vorbild war für mich eher Ferdinand von Schirach, der als Rechtsanwalt Geschichten aus seiner Praxis erzählt. Ich wollte meinerseits nun Fallgeschichten aus meiner Praxis präsentieren, anhand von Beispielen einzelner Straftäter, und damit das System Gefängnis in Frage stellen sowie Probleme des Strafvollzugs ansprechen. Was Ihnen ja auch ausgezeichnet gelungen ist. Man hat bei der Lektüre das Gefühl: Der Mann musste einfach dieses Buch schreiben, zu viel hatte sich da über die Jahre aufgestaut. Dieser Eindruck stimmt zu hundert Prozent! In der Tat hat sich in fünfzehn Jahren Dienst im Strafvollzug viel in mir aufgestaut. Bei mir wurde die Überzeugung immer stärker, dass es unglaublicher Unsinn ist, was wir da machen. In den ersten Jahren war es mehr eine Emotion: Nur so ein Gefühl dafür, dass es nicht sinnvoll ist, was wir hier tun. Vieles, was in der JVA geschieht, ist schlicht menschenunwürdig. Jahre später begann ich dann, mich bewusst mit dem System Gefängnis auseinanderzusetzen. Um es besser zu verstehen, habe ich mich in den Bereichen Kriminologie und Psychologie weitergebildet. Dies hat mich letztlich in die Lage versetzt, dass Handeln der verschiedenen Akteure im Strafvollzug in größere Zusammenhänge einzuordnen. Wie ist der Titel des Buches „Die Schwere der Schuld“ entstanden? Ich habe das Buch so genannt, nachdem mir klar geworden war, dass ich mich selber schuldig mache, wenn ich weiter dort mitwirke, ohne grundsätzlich etwas verändern zu können. Unter dem Mäntelchen der großen

Resozialisierungsidee werden alle möglichen „Maßnahmen“ durchgeführt. Es ist ja auch richtig, dass man nichts unversucht lässt, um Straftäter auf einen guten Weg zu bringen. Das Problem ist nur: Es wird dadurch der Anschein erweckt, dass alles bestens läuft in den Gefängnissen und die Insassen dort wirklich sehr gut resozialisiert werden – genau das ist aber keineswegs der Fall. Für eine Resozialisierung ist ein Gefängnis ein denkbar ungeeigneter Ort, mit all seinen Repressionsmechanismen, die vom Aufstehen bis zum Schlafengehen auf den Gefangenen einwirken, ihn entmündigen und bevormunden. Ich wollte einfach die Karten auf den Tisch legen. Wenn man das nicht tut, macht man sich selbst mitschuldig. Als ich Sie auf der Buchmesse schwarz gekleidet sah, musste ich unweigerlich an Johnny Cashs Lied „Man in Black“ denken, das er den Strafgefangenen gewidmet hat. (lacht) In der Tat! Als ich dort für ein Gespräch zum Stand des nd kam, wurde genau dieses Lied von Johnny Cash gespielt – es war aber reiner Zufall, ich hatte bei der Wahl meiner Garderobe wirklich nicht an Cash gedacht. Das sächsische Justizministerium schien „not amused“ zu sein, dass Sie in der Leipziger JVA lesen wollten, und erteilte Ihnen kurzerhand ein Leseverbot. Ursprünglich war alles abgesprochen und genehmigt. Man wusste Bescheid, dass es sich bei dem Buch nicht um Kritik am

sächsischen Vollzug handelt. Mir ging es von Anfang an darum, eine grundsätzliche philosophische Diskussion zum Thema Strafvollzug anzustoßen – das alles war bekannt. Man hat das Ganze auch so akzeptiert und auf dieser Basis die Genehmigung erteilt. Natürlich wollte ich auch dort nicht nur eine Lesung durchführen, sondern zudem mit Gefangenen diskutieren. Dann aber kamen die ersten Medienberichte über mein Vorhaben, und ich denke, dass es dem Justizministerium zu heiß wurde. Vielleicht wollte man auch die Diskussion vermeiden, weil man damit politisch keine Punkte machen konnte. Die Begründung für das Leseverbot lautete, dass man mir in der JVA kein Podium bieten wolle, um Werbung für ein Buch zu machen – was aus meiner Sicht aber Unsinn ist, weil eine Lesung vor 20 Gefangenen und vielleicht fünf Besuchern keine große Werbung ist. Ich kann es aber nachvollziehen, dass man keinen Rummel um das Thema in einer JVA haben wollte. Ist es Ihnen inzwischen möglich gewesen, das Buch vor Gefangenen in anderen Justizvollzugsanstalten in Sachsen oder außerhalb vorzustellen? Nein. In Bayern war es genauso – dort hatte ich auch Kontakte zu zwei JVA und der dortigen Justizvollzugsschule, die Lesungen waren bereits vereinbart. Dann hat das bayerische Ministerium das Ganze mitbekommen und untersagt. Die wollen dort erst recht nicht diese Diskussion haben, und in anderen Bundesländern habe ich es noch nicht

Galli auf der Buchmesse. Bild: Ralf Richter

probiert. Hinten herum habe ich gehört, dass man in Bayern keine Lesung aus „vollzugsfeindlichen Schriften“ genehmigen möchte, aber das hat man mir nicht direkt ins Gesicht gesagt. Es entspricht ja auch nicht den Tatsachen. Ihnen wird der Vorwurf des „Häftlingsverstehers“ gemacht. Diesen Vorwurf höre ich oft. Ich hätte zu viel Verständnis für die Straftäter und würde angeblich nicht an die Opfer denken. Ich versuche dann klar zu machen, dass es mir nicht darum geht, falsch verstandenes Mitgefühl mit den Tätern zu entwickeln, sondern ich möchte lediglich dazu beitragen, dass Zusammenhänge deutlich und begreifbar werden. Denn ich denke, nur wenn wir soziale Zusammenhänge verstehen, können wir die Kriminalität reduzieren. Und das sollte doch das Hauptziel sein. Im Zeitalter der einfachen Lösungen ist es doch bestimmt sehr schwer, ein offenes Ohr für die Erklärung komplexer Zusammenhänge zu finden. Klar – die Mehrheit sagt: Ach schau, jetzt kommt der Verrückte, der die Gefängnisse abschaffen will! Wenn man aber tiefer einsteigt in das Thema, finden fast alle, dass bislang etwas grundsätzlich schief läuft. Die Leute beginnen dann, zu fragen: Warum tut sich nichts in Sachen grundsätzlicher Reform des Strafvollzugswesens? Es ist ja wirklich fragwürdig, dass manche Taten mit Gefängnis bestraft werden – selbst der ehemalige sächsische Justizminister Ma-

ckenroth hat in einer Diskussion gesagt, er müsse mir darin recht geben, dass viel zu viele Leute in den Gefängnissen sitzen. Sachen wie Schwarzfahren müssten aus seiner Sicht nicht mit einer Freiheitsstrafe bedroht werden – dieser Konsens geht über Parteigrenzen hinweg. Einsicht ist das eine – Handeln das andere … Die Justizministerkonferenz hat bei ihrer letzten Tagung zumindest schon einmal eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit Alternativen zur Haft beschäftigt. Es wird ein sehr langer Prozess werden, um von Haftstrafen wegzukommen. Ein Beginn sollte aber unbedingt bei den Kurzstrafen von ein, zwei Jahren gemacht werden. Diese kosten den Steuerzahler viel und schaden den Tätern und letztlich der Gesellschaft mehr, als sie nutzen – hier wäre es angebrachter, die Täter zu gemeinnütziger Tätigkeit, zum Beispiel zwei Tage in der Woche über einen bestimmten Zeitraum, heranzuziehen. Das würde letztlich allen nützen: der Gesellschaft und den Tätern. In Finnland gibt das schon seit 1991: Gemeinnützige Arbeit als Hauptstrafe. Kommen wir abschließend noch einmal zu Ihrem Hauptanliegen. Warum gehören die Haftstrafen abgeschafft? Haftstrafen sind letztlich eine allgemeine Vergeltung, die den Inhaftierten schaden und der Allgemeinheit, weil das gegebene Resozialisierungsversprechen mit Haftstrafen in Gefängnissen nicht eingelöst werden kann. Selbst wenn dort alle Beteiligten guten Willens sind: Das bestehende System lässt es einfach nicht zu. Straftaten müssen und sollen geahndet werden, nur sind die Gefängnisse und Haftstrafen in den meisten Fällen einfach ungeeignet. Es gibt Alternativen in anderen Ländern, die auch bei uns eingeführt werden können. Sie wollen weiter arbeiten als Gefängnisdirektor? Was ich voran schicken will: Ich habe durch das Buch keinerlei Repressalien durch meinen Dienstherrn bekommen. Ich habe jetzt von mir aus meine Entlassung aus dem Staatsdienst beantragt. In den letzten Monaten ist mir klar geworden, dass ich guten Gewissens nicht mehr Teil dieses Systems Strafvollzug sein kann. Ich wäre ja auch vollkommen unglaubwürdig, wenn ich gegen das System anschreibe und dann doch damit gutes Geld verdiene. Ich werde nun versuchen, als Rechtsanwalt zu arbeiten. Ein neues Buch von mir wird übrigens nächstes Jahr im Frühjahr erscheinen ...


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Auch neue Erbschaftsteuer wohl verfassungswidrig

Da fällt mir zunächst die Volksweisheit ein, dass man vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand sei. Das sagt allerdings mehr über Gerichte aus, als über die hohe See und die Schiffe darauf. Weil das Meer voller Gefahren ist, darf das Boot auch nicht zu voll sein. Wenn es heißt, „das Boot ist voll“, passt niemand mehr hinein, bei Strafe des Untergangs. Das wissen Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen. Ihre Boote sind nicht nur voll, sie sind übervoll und deshalb sehr leicht dem Untergang geweiht. Umso mehr müssen sich solche Menschen doch wundern, wenn sie – weil ihrer Meinung nach in Gottes Hand gewesen

Erben (jeweils nach den individuellen Freibeträgen) regulär Erbschaftssteuer zahlen müssen, kommen ausgerechnet die Erben von Unternehmen (welche die großen Vermögen ausmachen) fast komplett steuerfrei davon. Laut einer Untersuchung des DIW wurden zwischen 2011 und 2014 ganze 144 Milliarden Euro Firmenvermögen steuerfrei übertragen. Wenn ausgerechnet die reichsten Erben steuerfrei bleiben, sinkt natürlich das Steueraufkommen. Ende 2014 erklärte das Bundesverfassungsgericht die aktuelle Begünstigung von Firmenerben gegenüber sonstigen Erben für illegitim und forderte bis Ende Juni 2016 eine neue Regelung. Diese Frist hielt die

Bundesregierung nicht ein. Das Vorhaben wurde zum einen sehr spät angegangen, zum anderen lehnten SPD, Grüne und LINKE im Bundesrat vor der Sommerpause einen Vorschlag als zu großzügig und wohl ebenfalls nicht verfassungsgemäß ab. Beispielsweise schrieben die Pläne erst bei Erbfällen ab einem Betriebsvermögen von 26 Millionen Euro die vom Verfassungsgericht geforderte Bedürfnisprüfung vor, was nur etwas mehr als ein Prozent der Unternehmen betreffen würde. Auch das Wirtschaftsforschungsinstitut DIW sah „allenfalls moderate Mehrbelastungen“ und durch neue Begünstigungen in etlichen Fällen sogar Entlastungen gegenüber dem bisherigen Recht.

Nach monatelangem Streit im Vermittlungsausschuss haben sich Bund und Länder auf ein Modell zur Neufassung der Steuerprivilegien von Betriebserben einigen können, über das bald in Bundestag und Bundesrat abgestimmt wird. Leider sieht der Kompromiss weiterhin vor, Firmenerben weitestgehend zu verschonen, wenn sie das Unternehmen länger fortführen und Arbeitsplätze erhalten. Nur die Voraussetzungen dafür wurden leicht verschärft. Aber bei den wirklich entscheidenden Regeln zur Bewertung von Unternehmen, zur Stundung der Erbschaftsteuer und zur Verschonung gibt es nur minimale Einschränkungen der vom Verfassungsgericht monierten Privilegien.

Auch Luxusgüter wie Yachten und Gemälde bleiben weiterhin von der Erbmasse ausgenommen. Die Regelungen sind noch unübersichtlicher geworden, die Mehreinnahmen werden voraussichtlich bei gerade einmal 0,1 Milliarden Euro liegen. Auch die neue Erbschaftsteuer bliebe damit eine Bagatellsteuer und verstieße wahrscheinlich ebenfalls gegen das Grundgesetz. DIE LINKE fordert, „die bestehende rot-rot-grüne Mehrheit in Bundestag und Bundesrat zu nutzen, um die rechtswidrige Bevorzugung reicher Firmenerben zu beenden. SPD, Grüne und LINKE müssen hier an einem Strang ziehen, um die wachsende massive Ungleichheit zu stoppen“. Für mich ist die Reform der Erbschaftsteuer deshalb ein politischer Lackmustest: Wie ernst sind der SPD Gleichheit und Gerechtigkeit als Prüfsteine sozialdemokratischer Politik? Was kann sie in einer großen Koalition bewirken? Gibt es ansatzweise eine Verständigung zwischen RotRot-Grün oder können sich die Unternehmensverbände und CSU erneut durchsetzen? Leider zeichnet sich ab, dass die SPD diesen ungerechten und verfassungsrechtlich problematischen Entwurf mittragen wird. Wahrscheinliche Folge wäre, dass das Bundesverfassungsgericht auch dieses Gesetz kassieren und der Bundesregierung im Wahljahr 2017 erneut die Leviten lesen wird. Dr. Axel Troost

ner“ zu erschwinglichen Preisen überall hin in der Welt; mit Radau, Müll und Gestank. Letztere verschlucken aber das Meer und die Luft darüber. Das Meer freilich verschluckt auch noch anderes. Und jetzt wird es auf sehr traurige Art Ernst mit der christlichen Seefahrt. Das Meer verschluckt Menschen. Kaum die Kreuzfahrtpassagiere, es sei denn

cherheit ausnutzen und ihnen für viel Geld eine Überfahrt im vollen Schlauchboot zum vollen Boot Europa versprechen. Diese Boote haben von Anfang an keinen Kapitän und keine Mannschaft. Viel zu gefährlich! Ein Abgeordneter der österreichischen FPÖ meint zwar in diesem Zusammenhang, „eine Seefahrt, die ist lustig“, weil er Bilder von Selfies knipsenden Passagieren eines solchen schwankenden Bootes gesehen hat. Lustig ist das aber gar nicht. Die Selfies sind oft das letzte Bild, das von diesen Seefahrern (Frauen, Männer und Kinder) aufgenommen wurde. Es sei denn, jemand fotografiert noch die toten Körper der als Strandgut Angeschwemmten. Jetzt drängt es mich wieder zurück zur christlichen Seefahrt. Seinen Ursprung hat der Begriff in der Abwehr arabischer und nordafrikanischer Piraterie im Mittelalter und später. Seefahrer konnten schnell in die Hände dieser Seeräuber geraten. Dann war nicht nur die Ladung beim Teufel, sondern man landete, ehe man es sich

versah, auch noch in der Hölle der Sklaverei. Die Reedereien schützten ihre Leute dagegen nicht nur mit Priestern an Bord, nein, sie legten auch so genannte „Sklavenkassen“ an. In diese zahlte jeder Seefahrer ein, und es stand dann das Geld zum Freikauf aus der Sklaverei zur Verfügung. Piraten kommen keine mehr aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum, wohl aber Menschen in Not. Wenn sie unterwegs nicht ertrinken, landen sie meist in neuer Not, nicht selten auch in moderner Sklaverei. Vor allem wird ihnen hässliche Ablehnung zuteil: „Das Boot ist voll!“ Ist es aber tatsächlich voll und deshalb dem Untergang geweiht? Die Wirklichkeit sieht anders aus: Zu viele haben nur Angst, zu viel in die „Flüchtlingskasse“ einzahlen zu müssen. Die Flüchtlinge hält man deshalb für angelandete Piraten und Feinde der christlichen Seefahrt auf den abendländischen Dampfern. Der Reichtum ihrer Eigner und Kapitäne steht jedoch nicht zur Debatte.

Bild: Jochen Zick, action press / flickr.com / CC BY-ND 2.0

Die Reform der Erbschaftssteuer ist aus mehreren Gründen das aktuell wichtigste steuerpolitische Projekt. In Deutschland sind die Vermögen im internationalen Vergleich besonders ungleich verteilt: Zehn Prozent der Deutschen besitzen 60 Prozent des Gesamtvermögens. Der Großteil ist in Form von Unternehmen, Immobilien und Finanzanlagen gewinnbringend angelegt und vergrößert sich ständig. Wird nicht durch vermögensbezogene Steuern umverteilt, entstehen Finanzdynastien. Die bayerische Verfassung enthält einen dazu passenden Satz: „Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern“. Trotz gewaltiger Erbschaften lag das deutsche Erbschaftssteuer-Aufkommen, das allein den Ländern zusteht, zuletzt bei gerade einmal knapp sechs Milliarden Euro im Jahr – nicht einmal ein Prozent der Gesamteinnahmen aus allen Steuern! Gerade reiche Erben beteiligen sich damit so gut wie nicht an der Finanzierung des Gemeinwesens. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei vermögensbezogenen Steuern (Einkommen, Vermögen, Erbschaften) mittlerweile deutlich unter dem Durchschnitt der Industrieländer (einschließlich sogar der USA). Zudem trifft die Besteuerung die Erben höchst ungleich: Während normale

– lebend in Europa angelandet sind, und plötzlich mit vermeintlich festem Boden unter den Füßen hören, „das Boot ist voll“. Europa bekennt sich zur christlichen Seefahrt und hat auf einmal Angst, dass der gesamte Kontinent untergehen könnte, wenn zu viele Flüchtlinge einsteigen, noch dazu keine christlichen, sondern islamische. Aber, die „christliche Seefahrt“, so lese ich, meint gar nicht die Personenschifffahrt. Zu ihr gehören nur die Handelsschiffe. Natürlich können diese auch zu voll sein. Dann hilft aber nicht Gott, sondern das Kapital und seine Schiffsbauer. Wachsende Ladung heischt nach größeren Schiffen. Das war zunächst ein frommer Wunsch der christlichen Seefahrer. Der Wunsch wurde zur Wirklichkeit. Die Container- und Tankschiffe baute man immer größer. Auch wenn die Personenschifffahrt nicht zur christlichen Seefahrt gehört, so gelang das Gleiche bei Kreuzfahrtschiffen. Mittlerweile fahren mittlere Städte über See und bringen ihre „Einwoh-

Von der christlichen Seefahrt ein angeberischer Kapitän fährt zu nahe ans Ufer, um seiner Geliebten zu gefallen. In so einem Fall geht das Schiff kaputt und es gibt Tote. Das ist jedoch eine Ausnahme, und der Kapitän gehört nicht zu den Ertrunkenen, denn er verlässt zuerst das Schiff. Das hat er gemein mit jenen Schiffseignern und „Kapitänen“, die die Not von Menschen und deren Sehnsucht nach Lebensqualität und Si-


Hintergrund

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„Ich war, ich bin, ich werde sein!“ Hat uns Rosa Luxemburg noch etwas zu sagen? Ihre Revolutionsprophetie „Ich war, ich bin, ich werde sein!“ hätte, für sie selbst und ihr Werk genommen, als Antwort getaugt und leitmotivisch über dem Kolloquium am 1. September 2016 in der nach ihr benannten Stiftung am Berliner Franz-Mehring-Platz stehen können. Denn die, auch von roten Widersachern, bereits zu Lebzeiten desavouierte marxistische Theoretikerin bietet mit atemberaubenden sozialökonomischen Prognosen noch 100 Jahre später vielfältig opportunes Rüstzeug für modernes linksdemokratisches Denken und Agieren. Das Generalthema des Kolloquiums hieß „Rosa Luxemburg ante portas. Vom Leben Rosa Luxemburgs nach ihrem Tode“. Rosa total. Rosa radikal. Rosa genial. Den aktuellen Anlass boten zwei Jubiläen: Band 20 der Edition „Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus“, bekannt als Rote Reihe des Karl Dietz Verlages Berlin, und der 70. Geburtstag ihres Begründers, des Leipziger Historikers Klaus Kinner. Das nd vom 9. September 2016 hat über die zehn Referenten und ihre „Luxemburg“-Beiträge berichtet. Hier sollen jene zwei reflektiert werden, die den innovativ-kühnen Forschergeist der Revolutionärin und dessen unverminderte Strahlkraft für

die entschiedene Linke, ihre natürlichen Erben, am deutlichsten manifestieren. Der Leipziger Philosoph Volker Caysa begründete, dass und warum die landläufige Interpretati-

tischen Edition der Breslauer Gefängnismanuskripte zur Russischen Revolution, von Klaus Kinner und Manfred Neuhaus initiiert und 2001 in Leipzig erschienen, müsse es richtig hei-

on von Luxemburgs Demokratieauffassung notwendig einer Erweiterung bedürfe. So basiere ihr Demokratieverständnis „in der Rücksichtnahme auf die Volksstimmung und die Gewährung öffentlicher Freiheit“. Nur so scheine es ihm möglich, den Antagonismus zwischen ökonomisch-funktionaler Ratio der politischen Elite und den stimmungsgeladenen Energien der Massen zu überwinden. Caysa monierte, dass Luxemburgs berühmte These „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ verkürzt wahrgenommen werde. Nach der textkri-

ßen: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern“. Er wies die Auffassung zurück, die Anfügung „sich zu äußern“ schränke den Luxemburgischen Freiheitsbegriff ein oder sei gar eine verfälschende Belanglosigkeit. Denn hier ginge es nicht „nur“ um Meinungsfreiheit, sondern um öffentliche Freiheit, also um einen semantischen Unterschied ersten Grades. Es gäbe keine Handlungsfreiheit ohne öffentliche Freiheit. „Der demokratischen Sozialistin Rosa Luxemburg geht es also nicht nur um das Verhältnis von Sozialismus und

Demokratie, sondern auch um das von Sozialismus und Freiheit“. Dies erweitere die Sozialismusauffassung grundlegend. „Ein demokratischer Sozialismus ist nach der Idee von Rosa Luxemburg ein freiheitlicher Sozialismus, und der freiheitliche Sozialismus ist Bedingung für einen demokratischen Sozialismus“. Marx habe erkannt, dass der Kapitalismus an der sozialen Frage scheitern könnte. „Rosa Luxemburg erkannte in der Auseinandersetzung mit Lenin, dass der Sozialismus an der Frage der Garantie von Demokratie und Freiheit scheitern könnte“. Der Berliner Philosoph Michael Brie interpretierte Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie, die das orthodox-marxistische Verständnis sprengte, als Ausgangspunkt einer radikalen Reformulierung der Kapitalismuskritik. Das Dogma von einst, alles werde durchkapitalisiert, löse sich in der Erkenntnis auf, wonach sich der Kapitalismus langfristig nur über Nichtkapitalistisches reproduzieren könne. Luxemburg habe den Kapitalismus nicht einseitig als Profit- und Ausbeutungssystem, sondern auch als Zivilisationsmodell begriffen. „Im Unterschied zu Marx wählte sie als Prämisse ihrer Idee über die Akkumulation des Kapitals nicht die Ware als Elementarform des Reichtums, sondern

die Erhaltung der Gesamtgesellschaft. „Sie fragt vom Ganzen der Gesellschaft her und untersucht die Bedrohungen, denen dieses Ganze und vor allem seine schwächsten Glieder durch die Kapitalakkumulation ausgesetzt sind“, erklärte Brie. Für sie seien es immer Zivilisationen, die sich „reproduzieren“, und nicht nur technologische und ökonomische Verhältnisse. Marx habe nur die „eine Seite“ dieser Akkumulation, die zwischen Kapital und Arbeit zur Mehrung des Mehrwerts, betrachtet. Die andere vollziehe sich nach Luxemburg zwischen dem Kapital und allen nichtkapitalistischen Produktionsformen. Damit verändere sich auch der Blick auf den Sozialismus. Er sei nicht als bloßes Industriesystem in den Händen der Arbeiterklasse zu denken, sondern als Beginn einer neuen, „höheren“ Zivilisation: mit Produktion für die wirklichen Bedürfnisse aller Gesellschaftsmitglieder, demokratischer Selbstbestimmung der Produzenten und direkter Demokratie. Luxemburgs Ideen sind lebendiger und wirkmächtiger denn je. Sie orientieren auf ein gewandeltes Bild von Kapitalismus und Sozialismus und auf die strategische Aufgabe für die heutige demokratische Linke. Wulf Skaun

derausstellung haben Buddeberg und die EU-Abgeordnete Ernst auf große Tafeln gebracht, worüber sonst niemand gern redet. Zum Beispiel darüber, dass 40 Prozent aller Frauen in Deutschland bereits Gewalt in einer Beziehung erlebt haben. Nach Hamburg sei Dresden die

erste Stadt bundesweit, die das Konzept „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ umsetzen wolle, sagte die Gleichstellungsbeauftragte der Landeshauptstadt. „Jetzt geht es an die Planung mit einem Modellstandort“, so Dr. Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah. Uta Gensichen

Hinsehen, wenn es nebenan knallt Um das Thema Häusliche Gewalt aus der privaten Nische zu holen, ist die Wanderausstellung „Hinter verschlossenen Türen“ in Sachsen unterwegs. Initiatorinnen sind Sarah Buddeberg, gleichstellungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Landtag. sowie die LINKE EU-Abgeordnete Dr. Cornelia Ernst. Dass das Thema nun auch bei Politik und Verwaltung ernst genommen wird, zeigte ein Fachtag am 19. September im Dresdner Rathaus. Dort präsentierte die Landeshauptstadt neben der Ausstellung auch das Hamburger Gewaltschutz-Konzept „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“. Entwickelt hat es Prof. Dr. Sabine Stövesand von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. In zwei Hamburger Vierteln läuft es bereits erfolgreich – 2017 auch in Dresden. Ziel ist es, mithilfe von sozialen Trägern Nachbarschaftsgruppen in einem Stadtteil zu bilden, die selbständig über Häusliche Gewalt informieren, Öffentlichkeitsarbeit betreiben und Menschen ansprechen. Denn wo Menschen einander helfen, gebe es weniger tödliche Beziehungskonflikte, so Stövesand.

Als „StoP!“ im Rathaus vorgestellt wurde, waren sich die Gäste aus Politik und Praxis einig, dass dringend etwas gegen Häusliche Gewalt getan werden müsse. „Dresden ist trauriger Spitzenreiter in Sachsen, was die Zahl der Fälle Häuslicher Gewalt angeht“, sagte Sozialbür-

germeisterin Dr. Kristin Kaufmann (LINKE). Deshalb müsse das Motto lauten: „Augen auf! Mund auf!“. „Häusliche Gewalt darf nicht länger ein Tabuthema sein. Die Betroffenen sollen wissen, dass sie mit ihrem Leid nicht alleine sind“, fordert auch Sarah Buddeberg. In ihrer Wan-


Geschichte

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Das MfS gegen Nazi- und Kriegsverbrecher Alle Nazi- und Kriegsverbrecher, die den Raub-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg zu verantworten hatten, sollten gemäß der Schwere ihrer Verbrechen verurteilt werden. Auf der 3. Interalliierten-Konferenz am 13. Januar 1941 in London hatten die bis dahin von Deutschland besetzten Länder bekundet: „Zu den Hauptzielen der Alliierten gehört die Bestrafung der für diese Verbrechen Verantwortlichen“. Diese Forderung wurde am 1. November 1943 in die „Moskauer Erklärung“ von Roosevelt, Churchill und Stalin aufgenommen. Am 30. September 1946 erfolgte die Urteilsverkündung im Nürnberger Prozess. Die Edition „Im Namen des Volkes. Ermittlungs- und Gerichtsverfahren in der DDR gegen Nazi- und Kriegsverbrecher“ vermittelt einen Überblick über die in diesem Sinne in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR erfolgten Gerichtsverfahren. Die Statistik weist für die Zeit von 1945 bis 1990 insgesamt 12.890 Verurteilungen wegen Nazi- und Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus. Das sind, wie die Autoren betonen, fast doppelt so viele wie in den westlichen Zonen und der Bundesrepublik, obgleich dort drei Mal so viele Menschen lebten und sich ohnehin ein Großteil der Täter in den Westen abgesetzt hatte. Ebenso wurden in der sowjetischen Besatzungszone 390.478 Nazis aus führenden Positionen in Politik, Justiz, Bildung, Wirtschaft und anderen Bereichen entfernt. Die Autoren verschweigen nicht, dass die Kommissionen zur Entnazifizierung auch mit Falschaussagen und Denunziationen konfrontiert waren, die zur Verhaftung von Unschuldigen geführt haben. Beide Autoren waren in der DDR Mitarbeiter des MfS: Dieter Skiba, Diplomjurist, war von 1958 bis 1990 und zuletzt als Oberstleutnant Leiter der Hauptab-

teilung IX/11, die zuständig für Ermittlungsverfahren gegen Nazi- und Kriegsverbrecher war. Reiner Stenzel, letzter Dienstgrad Major, gehörte ebenso dieser Hauptabteilung an. Die Staatsanwältin der Ludwigsburger „Zentralstelle für die Untersuchung von NS-Verbrechen“, Ursula Solf, hatte die vom MfS durchgeführten Ermittlungen gegen Nazi- und Kriegsverbrecher überprüft und war zu dem Schluss gelangt, „dass die Ermittlungsergebnisse des MfS von höchster Akribie und Ernsthaftigkeit“ gekennzeichnet seien, wie sie 2002 in einem Vortrag auf dem 7. Historikertreffen der Wehrmachtsauskunftstelle in Berlin erklärte. Die Ermittlungsverfahren des MfS waren breit gefächert. Sie waren gerichtet gegen Täter in faschistischen Haftstätten, Angehörige der Waffen-SS, der Gestapo, des SD und der Geheimen Feldpolizei, gegen Angehörige faschistischer Justizorgane, Polizeieinheiten, Feldgendarmerie, Hilfskräfte und Kollaborateure sowie Ermittlungen wegen „Euthanasie“-Verbrechen und Denunziationen mit Todesfolge. Hierzu werden jeweils anhand

einer exemplarischen Auswahl durchgeführte Ermittlungen ausführlich dokumentiert. Eine besonders wichtige Quelle war die beweiskräftige Veröffentlichung „DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen“. Diese unter der Federführung von Prof. Dr. Christian Frederik Rüter und Dr. Dick W. de Mildt von der Universität Amsterdam 2010 abgeschlossene Dokumentation umfasst 14 Bände sowie einen Registerband. Rüter hatte sich sofort bereit erklärt, das Projekt von Skiba und Stenzel zu unterstützen. Eine ausführliche Betrachtung nehmen die Prozesse ein, die zwischen dem 21. April und 29. Juni 1950 im Zuchthaus von Waldheim stattfanden. 3.442 Personen wurden angeklagt, 3.324 verurteilt. Meist erhielten sie Haftstrafen von 15 bis 25 Jahren. Von den Todesurteilen wurden 32 bestätigt und 24 vollstreckt. Diese Prozesse resultierten aus der Entscheidung der sowjetischen Besatzungsmacht, ihre Internierungslager auf dem Territorium der DDR aufzulösen und der DDR die Ver-

antwortung für die noch internierten Personen zu übertragen. Die Inhaftierten wurden mit der Maßgabe nach Waldheim überstellt, dass sie von einem deutschen Gericht zügig und konsequent zu verurteilen seien. Die DDR-Justiz wurde angehalten, keine eigenen Untersuchungen vorzunehmen, da die sowjetischen Untersuchungsorgane bereits alles Notwendige ermittelt hätten. Eine Beurteilung dieses Vorganges erfordert es, zu beachten, dass der Kalte Krieg bereits weitgehende Auswirkungen auf die Weltlage hatte. In dieser sich verschärfenden Situation gab es neben formaljuristischen Verfahrensfehlern auch Überspitzungen und Fehlurteile. Wie Skiba im nd-Interview am 17./18. September 2016 erklärte, wurden diese später durch die DDR-Justiz korrigiert. Ab 1952 erfolgten sukzessive vorfristige Entlassungen. Todesurteile wurden aufgehoben, Haftstrafen reduziert. „Das kann durchaus als Indiz für die Annahme gelten“, schreiben Skiba und Stenzel, „dass sich die DDRJustiz der Irregularität der Waldheim-Verfahren bewusst geworden war und hier korrigierte“.

Waldheimer Prozesse. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-S98084 / CC-BY-SA 3.0

Dieter Skiba/Reiner Stenzel: Im Namen des Volkes. Ermittlungsund Gerichtsverfahren in der DDR gegen Nazi- und Kriegsverbrecher. Eulenspiegel Verlagsgruppe, Edition Ost 2016, 464 Seiten, 29,99 Euro.

Vor 135 Jahren geboren: Arthur Lieberasch

Geboren am 20. Oktober 1881 in Döbeln als drittes der zehn Kinder eines Zigarrenmachers, und von Beruf Werkzeugschlosser, trat Arthur Lieberasch 1900 dem Deutschen MetallarbeiterVerband (DMV) und 1905 der SPD bei. Als DMV-Vertrauensmann und Mitglied von Arbeiterausschüssen wurde er wiederholt gemaßregelt. Aus Protest gegen die von der SPD betriebenen „Burgfriedenspolitik“ schloss er sich 1917 der USPD an, zu deren Gründern in Sachsen er gehörte. Im April 1917 zählte er zu den Führern des Leipziger Massenstreiks gegen

Skiba und Stenzel stellen generell fest: „Die DDR und ihre Justiz- und Sicherheitsorgane waren nicht frei von Irrtümern und Fehlentscheidungen“. Dennoch bleibt, dass in der SBZ bzw. in der DDR – im Unterschied zur BRD – bei der Ahndung faschistischer Verbrechen im Sinne des Völkerrechtes Grundlegendes geleistet worden ist. Die Seiten 146 bis 445 bieten eine Übersicht über die durch ostdeutsche bzw. DDR-Gerichtsentscheidungen aufgeklärte und untersuchte Nazi- und Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in deren Ergebnis die Täter rechtskräftig verurteilt worden sind. Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gingen die Unterlagen ins Bundesarchiv über. Noch nicht abgeschlossene Ermittlungen wurden nicht weitergeführt. Einsitzende in der DDR verurteilte Nazitäter versuchten insbesondere in Verbindung mit der „Vereinigungsamnestie“, ihre Freilassung und Rehabilitierung zu erzwingen. Vielen gelang das. Urteile wurden revidiert und selbst überführte Nazi-Verbrecher rehabilitiert. So ließ sich auch das Bundesbesoldungsgesetz von1992 davon leiten, alle Dienstjahre in Institutionen des „Dritten Reiches“ uneingeschränkt für Gehalt und Rente anzuerkennen, während es im Beitrittsgebiet für „Systemnähe“ zum sozialistischen Staat Rentenabzüge gibt. Selbst den in der DDR als Kämpfer gegen den Faschismus Geehrten wurde ihre VdN-Rente gekürzt. Den Autoren ist für eine weitere Auflage zu empfehlen, ausgewiesene Zitate zu belegen. Prof. Dr. Kurt Schneider

den Krieg. Das daraufhin gegen ihn angestrengte Verfahren wegen Hochverrats scheiterte am Ausbruch der Novemberrevolution. Im November 1918 gehörte er führend dem Leipziger Arbeiter- und Soldatenrat an. 1920 kam Lieberasch mit der linken USPD zur KPD. Ab 1921 war er Mitglied des Leipziger Stadtrates und wurde 1927 Vorsitzender der KPD-Stadtratsfraktion. Zugleich gehörte er seit 1922 dem Sächsischen Landtag an, in den er 1926 erneut gewählt wurde. Als Mitglied der KPDBL Westsachsen war er deren Sekretär für Gewerkschaftsfra-

gen. Bereits 1923 hatte der VIII. KPD-Parteitag ihn als Mitglied der Gewerkschaftskommission gewählt. Die enorme Zuspitzung der innerparteilichen Auseinandersetzungen hatte im Januar 1929 seinen Ausschluss aus der KPD zur Folge. Er wurde Mitbegründer der KPD-Opposition und blieb auch nach deren Spaltung in der KPD(O). Auf Beschluss der Reichsleitung der Partei emigrierte er im März 1933 in die Schweiz, lebte dort in ärmlichsten Verhältnissen, hielt sich „auf kümmerlichste Weise über Wasser“. Solange ihm das mög-

lich war, unterstützte er jedoch die illegale antifaschistische Arbeit in Deutschland als Mitarbeiter der Schaffhausener Arbeiterzeitung und Organisator der Versendung von Material nach Deutschland. Im Juni 1948 kehrte Lieberasch nach Leipzig zurück und wurde Mitglied der SED. Von ihm war dazu zu hören: „Ich bin politisch heute noch Kommunist und werde es bleiben, wenn auch der Name der Partei, zu der ich mich angemeldet habe, ein anderer ist“. Da er es ablehnte, sich von der KPD(0)-Politik, deren Gründung für ihn „kein Fehler, son-

dern nur ein Verstoß gegen die Disziplin“ war, zu distanzieren, wurde er 1952 aus der SED ausgeschlossen. Bereits 1951 hatte ihn der damalige SED-Landesvorsitzende, Ernst Lohagen, als „professionellen Parteifeind“ bezeichnet. Kontakte zu ihm hatten Parteistrafen zur Folge, verschiedentlich den Parteiausschluss. Im Zuge der „Entstalinisierung“ wurde er 1957 wieder aufgenommen. 1958 erhielt er die ihm bis dahin verweigerte Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“. Am 10. Juni 1967 verstarb Arthur Lieberasch in Leipzig. Prof. Dr. Kurt Schneider


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Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Termine Schneeberg, 11. Oktober, Dienstag, 17.00 Uhr Vortrag und Diskussion: „In jeder Ehe gibt’s mal Krach...“ Mythen zu häuslicher und sexualisierter Gewalt und ihre Wirkungsmacht***. Mit Susanne Köhler (Fachanwältin für Familienrecht). Moderation: Sarah Buddeberg (Gleichstellungsund Queerpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Landtag) Kulturzentrum „Goldene Sonne”, Fürstenplatz 5, 08289 Schneeberg

sophen Helmut Seidel. Manfred Neuhaus und Jörn Schütrumpf erinnern an den Historiker Manfred Kossok.

Chemnitz, 11. Oktober, Dienstag, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Klasse machen?! Klassentheorien in unsicheren Zeiten.*** Mit Henning Behrends, Soziologe. Eine Veranstaltung der RLS in Kooperation mit dem Rothaus e.V. Veranstaltungssaal Rothaus, Lohstraße 2, 09111 Chemnitz

Leipzig, 17. Oktober, Donnerstag, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Die Identitären - „Klassiker“ und Kernthemen. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme***. Mit Volkmar Wölk (Publizist) und Peter Porsch (RLS Sachsen). Pögehaus, Hedwigstraße 20, 04315 Leipzig

12. Oktober, Mittwoch, 19.00 Uhr Präsentation und Podiumsdiskussion: Den Opfern eine Stimme geben - Zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex. Veranstaltung im Begleitprogramm des HansGrundig-Kolloquiums 2016 in Dresden***. Mit Esther Dischereit (Wien/Berin), Hannah Maischein (München) und Regina Weiss (Berlin). Moderation: Denise Ackermann (Riesa Efau). Begrüßung: Susann Scholz-Karas (Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen). Eine gemeinsame Veranstaltung mit der Hansund-Lea-Grundig-Stiftung, dem riesa efau und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. riesa efau Kultur Forum Dresden (Konzertkeller), Wachsbleichstraße 4a, 01067 Dresden Leipzig, 13. Oktober, Donnerstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion: „Genosse Sokrates und Don Manfredo“ – zwei große Leipziger Gelehrte. Mit Volker Caysa, Steffen Dietzsch, Manfred Neuhaus und Jörn Schütrumpf. Moderation: Monika Runge, Klaus Kinner. RLS, Harkortstr. 10, 04107 Leipzig Volker Caysa und Steffen Dietzsch erinnern an den Philo-

Impressum Links! Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Herausgeber: Dr. Monika Runge, Verena Meiwald, Prof. Dr. Peter Porsch, Dr. Achim Grunke Verleger: Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e. V.,

Leipzig, 13. Oktober, Donnerstag, 20.00 Uhr Film und Diskussion: Die Stadt als Beute. Globalisierungskritisches Filmfestival Leipzig – globaLE***. Eine Veranstaltung von globaLE e.V. mit Unterstützung u.a. der RLS Sachsen. naTo, Karl-Liebknecht-Straße 46, 04275 Leipzig

Dresden, 18. Oktober, Dienstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion: GleichGestellt ? - Frauenbewegung in der DDR. REIHE: Junge Rosa. Diese richtet sich speziell an Jugendliche und junger Erwachsene***. Mit Barbara Feichtinger (Freiberufliche Beraterin und Bildungsreferentin). WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Leipzig, 18. Oktober, Dienstag, 19.00 Uhr Schreibwerkstatt: Europa. Zuversicht ist ein professionelles Werkzeug. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme***. Eine Veranstaltung der Gruppe PS – Politisch Schreiben in Kooperation mit der RLS Sachsen. Wir bitten um formlose Anmeldung: PSredaktion@yahoo.com RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Dresden, 19. Oktober, Mittwoch, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Gemeinwohl-Ökonomie und Linke Unternehmer. Gehört das zusammen?*** Mit Dr. Rolf Sukowski, Vorsitzender des OWUS Berlin-Brandenburg e.V. WIR-AG, Martin-Luther-.Straße 21, 01099 Dresden Kleiststraße 10a, 01129 Dresden Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus gedruckt.

Leipzig, 20. Oktober, Donnerstag, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Was ist die Europäische Union und wie kann sie kritisiert werden?. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme*** Mit Ingar Solty, Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-LuxemburgStiftung. Eine Veranstaltung der Gruppe Marxexpedition in Kooperation mit der RLS Sachsen. Hörsaalgebäude (HSG) der Uni Leipzig, HS 10, Universitätsstraße 3, 04109 Leipzig Leipzig, 20. Oktober, Donnerstag, 20.00 Uhr Film und Diskussion: Llévate mis amores (All of me). Globalisierungskritisches Filmfestival Leipzig – globaLE***. Eine Veranstaltung von globaLE e.V. mit Unterstützung u.a. der RLS Sachsen. Passage Kinos, Hainstraße 19a, 04109 Leipzig Leipzig, 21. Oktober, Freitag, 19.00 Uhr Minisymposium: „Linke Bildung gegen Kapitalismus, Nationalismus und Patriarchat“. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme*** Mit Bildungsaktivist*innen aus der Ukraine, Russland und Deutschland. Eine Veranstaltung der AGRU der RLS Sachsen. Die Arbeitssprachen werden Deutsch und Englisch sein. Flüsterübersetzungen in Russisch bzw. Deutsch werden angeboten. Interim, Demmeringstr. 34, 04177 Leipzig Leipzig, 22.-23. Oktober, Sonnabend, Sonntag, ab 11.00 Uhr Diskussionsplattform Postvostok. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme. Mit Expert*innen für internationale Bildungsarbeit, Stiftungvertreter*innen. Eine Veranstaltung der AGRU der RLS Sachsen. RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Leipzig, 25. Oktober, Dienstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion: PhiRedaktion: Kevin Reißig (V.i.S.d.P.), Jayne-Ann Igel, Ute Gelfert, Ralf Richter. Kontakt: redaktion@linke-bildung-kultur.de Tel. 0351-84389773 Redaktionschluss: 28.09.2016 Die nächste Ausgabe erscheint voraussichtlich am 03.11.2016.

losophische Dienstagsgesellschaft. Hinduistische Tradition und Gewaltfreiheit bei Mahatma Gandhi*** Mit Prof. Dr. Lars Göhler (Leipzig), Moderation: Prof. Dr. Karl-Heinz Schwabe. RLS, Harkortstr. 10, 04107 Leipzig Leipzig, 25. Oktober bis 30. Oktober, Dienstag - Sonntag Ausstellung: Nach Heute. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme***. Eine Veranstaltung des Xvoja-Projekts in Kooperation mit der RLS Sachsen. Projekt und Hörgalerie „A und V“, Lütznerstrasse 30, 04177 Leipzig Leipzig, 25. Oktober, Dienstag, 19.00 Uhr Vernissage: Nach Heute. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme*** Mit den Künstler*innen und am Projekt Beteiligten. Eine Veranstaltung des Xvoja-Projekts in Kooperation mit der RLS Sachsen. Projekt und Hörgalerie „A und V“, Lütznerstr. 30, 04177 Leipzig Leipzig, 26. Oktober, Mittwoch, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Politische Krise (in) der Europäischen Union und autoritäre Bewegungen. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme*** Mit Daniel Keil (Publizist). Eine Veranstaltung der Gruppe Marxexpedition in Kooperation mit der RLS Sachsen. Hörsaalgebäude (HSG) der Uni Leipzig, HS 11, Universitätsstraße 3, 04109 Leipzig Dresden, 26. Oktober, Mittwoch, 19.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Mit Antonio Gramsci für gesellschaftliche Alternativen im 21. Jahrhundert. Mit Prof. Dr. Uwe Hirschfeld (EHS Dresden). WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Leipzig, 27. Oktober, Donnerstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Über Madrid nach Deutschland. Das Lexikon deutscher SpanienDie Zeitung „Links!“ kann kostenfrei abonniert werden. Wir freuen uns jedoch über eine Spende, mit der Sie das Erscheinen unserer Zeitung unterstützen. Kostendeckend für ein Jahresabo ist eine Spende in Höhe von 12 Euro. Sollten Sie an uns spenden wollen, verwenden Sie bitte folgende Kontodaten:

kämpfer wird vorgestellt. Reihe: Linkes Europa? – Themenwochen zur kritischen Bestandsaufnahme***. Mit Werner Abel und Enrico Hilbert (Autoren). Eine Veranstaltung des VVN/BdA Leipzig in Kooperation mit der RLS Sachsen. RLS Sachsen, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Leipzig, 27. Oktober, Donnerstag, 18.30 Uhr Vortrag und Diskussion: 1917 - Beginn der europäischen Räterevolution. Rosa L. in Grünau***. Mit Boris Krumnow, Osteuropawissenschaftler. Klub Gshelka, An der Kotsche 51, 04207 Leipzig Leipzig, 27. Oktober, Donnerstag, 18.00 Uhr Vortrag und Diskussion: Die Herrschaftsformel. Wie Künstliche Intelligenz uns berechnet, steuert und unser Leben verändert***. Mit Kai Schlieter, Autor und Journalist. Campus der HTWK, 04277 Leipzig Leipzig, 27. Oktober, Donnerstag, 20.00 Uhr Film und Diskussion: Bahn unterm Hammer - Unternehmen Zukunft oder Crashfahrt auf den Prellbock? Globalisierungskritisches Filmfestival Leipzig – globaLE***. Mit Carl Waßmuth (Gemeingut in BürgerInnenhand und Attac AG Privatisierung). Eine Veranstaltung von globaLE e.V. mit Unterstützung u.a. der RLS Sachsen. Schaubühne Lindenfels, KarlHeine-Straße 50, 04229 Leipzig Leipzig, 31. Oktober, Montag, 16.00 Uhr Petzow – Villa der Worte. Das Schriftstellerheim in Erinnerungen und Gedichten. Lesung im Rahmen des 20. Literarischen Herbstes. Mit Wolfgang Eckert (Autor), Christel Hartinger (Herausgeberin), Manfred Jendryschick (Autor), Harald Kretzschmar (Herausgeber/ Karikaturist), Bernd Rump (Autor), Burkhard Raue (Moderation). Eine gemeinsame Veranstaltung des verlages für berlin-brandenburg und der RLS Sachsen. RLS Sachsen, Harkortstr. 10, 04107 Leipzig Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e.V. IBAN: DE83 8509 0000 3491 1010 07 BIC: GENODEF1DRS Bank: Dresdner Volksbank Raiffeisenbank Aboservice: www.links-sachsen.de/abonnieren, aboservice@links-sachsen.de oder 0351-84 38 9773


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Geschichte/Rezensionen

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Unbequeme Wahrheiten zur Ökonomie des Teilens Erlauben wir uns zunächst einen kleinen Rückblick: „Nutzen statt besitzen – Wohnungen, Autos, Ideen … Eine Idee verzaubert das Land. Es ist die Idee von der Sharing Economy, der Wirtschaft des Teilens, und sie kommt zur richtigen Zeit. Einerseits nimmt sie das Wirgefühl von Social-Media-Diensten wie Facebook und Twitter auf, deren Nutzer es gewohnt sind, etwas miteinander zu teilen: Fotos, Meinungen, Neuigkeiten. Andererseits bietet sich Sharing als Projektionsfläche für sämtliche Alternativen zum Kapitalismus an. Ob Autos, Bohrmaschinen, Bücher oder Schlafplätze: Teilen ist das neue Haben! Nutzen wird wichtiger als Besitzen! Das Ende des Eigentums steht bevor!“. So phantasiert sich der Zeit-Autor Marcus Rohwetter am 7. März 2013 in eine neue Welt hinein, und die angeblich mächtigste Frau der Welt sekundiert ihm: Sie ruft das Zeitalter des Teilens aus! Das alles auf der CeBIT vor drei Jahren … Wer schon ein wenig länger auf der Welt war, konnte sich nur verwundert die Augen reiben: Hatten sich nicht gleich Anfang der 90er Jahre „Mitwohnzentralen“ und „Mitfahrzentralen“ in den Großstädten wie Dresden und Berlin etabliert? Es ging damals ganz ohne Internet. Man rief an, unterschrieb Verträge, faxte oder ging persönlich vorbei. So wurden Wohnungen über Wochen, Monate oder Jahre vermietet, so organisierte man sich seine MitfahrerInnen auf der Strecke Dresden–Wien seit 1990 – gut 23 Jahre bevor die Bundeskanzlerin die

Welt des Teilens entdeckte (Kurze Zeit später, es war der 19. Juni 2013, erkannte Merkel bei einer Pressekonferenz mit Obama: „Das Internet ist Neuland für uns alle!“ – woran man erkennen kann, dass Angela Merkel schon immer zu den Blitzmerkern gehörte.). Schon in der DDR standen junge Menschen mit dem Schild: „Berlin“ vor den Dresdner Autobahnauffahrten – die Fahrerin oder der Fahrer nahm ein paar nette junge Leute mit und reiste die lange Strecke nicht allein, Geld floss nicht – aber jeder erfuhr eine Menge vom anderen. Die Welt teilt, seitdem der erste Steinzeitjäger dem anderen seinen Speer überließ – umso verdächtiger ist es, wenn Konzerne, Internetfirmen und Spitzenvertreter die „Welt des Teilens“ ausrufen. Jeder ahnte Verrat an der Idee, der schon lange in der Welt des Teilens lebte. Der Kanadier Tom Slee hat sich in seinem informationsreichen Buch, das in diesem Jahr im Verlag Antje Kunstmann erschien, dezidiert all der Probleme angenommen, die entstehen, wenn nun plötzlich, statt der vielen kleinen Firmen wie Mitfahr- oder Mitwohnzentralen, Konzerne das Teilen organisieren. Es fehlen in dem Buch natürlich die von vielen er- und durchlebten deutschen Beispiele. Man denke z. B. ganz klassisch an Mitfahrgelegenheiten.de, das einst von drei Würzburger Studenten als kleines Mitfahrportal gegründet wurde, dann zu einem Monopolisten aufstieg, schließlich ins Visier von Autokonzernen geriet und zum Beispiel dafür wurde, wie eine

wunderbare Idee für tausende zu einem großen Geschäft für wenige werden kann. Von einem Tag zum anderen wurden die Nutzer gezwungen, sich zu registrieren. Direkte Kontakte zwischen Fahrern und Mitfahrern wurden praktisch gewaltsam unterbunden – das einst kostenlose Portal, dass sich über Werbung finanzierte, wurde durch den Konzern, der sich nun dazwischen schob, zu einer profitorientierten Platt-

form, die obendrein tausende Daten einsammelte. Wer fährt wann mit wem von wo nach wo? Dazu aber kam noch mehr: die Bewertungspflicht! Mitfahrer hatten Fahrer zu bewerten und umgekehrt. Tom Slees Verdienst ist es nun, dieses Beispiel von „Mitfahrgelegenheit“ im großen Rahmen dazustellen – bei Airbnb, Uber usw. Hier höhlen Großkonzerne komplette Arbeitsbereiche aus (das Taxi- oder Reinigungs-

gewerbe), man unterläuft etablierte Standards, die Gewerkschaften einmal ausgehandelt haben, bis hin zu Sicherheitsstandards, etwa was die Sicherheit von Autos betrifft. Diese Sharing Eonocmy etabliert sich auf allen Ebenen. Egal, ob es um die Vermittlung von Hundesittern oder Putzkräften geht. Nicht die Kleinen profitieren von der Schlafplatzvermittlung in teuren Großstädten, sondern es sind längst Investoren, die gezielt und ausschließlich über Airbnb Plätze anbieten. Tom Slee aber bleibt nicht dabei stehen, zu schildern, wie Arbeitsmärkte durch die Sharing Economy der großen Internetkonzerne wie Google oder Amazon erodieren. Er beschreibt auch Beispiele solidarischer Gegenwehr: So haben sich in New York oder San Francisco Mietervereine und Nachbarschaftsvereinigungen zu Share Better-Vereinigungen zusammengeschlossen oder in Wien Katzenhalter, die sich gegenseitig Katzensitter vermitteln. Solche Graswurzelbewegungen halten Konzerne draußen, stärken die lokale Ökonomie und verhindern, dass Datensammelkraken unser Verhalten ausforschen. „Deins ist meins“ richtet sich nicht gegen das Teilen an sich, sondern gegen dessen Kommerzialisierung, wie Merkel und Großkonzerne sie im Blick haben, wenn sie plötzlich das „Zeitalter des Teilens“ ausrufen. Das Buch kostet teure 22,95 Euro – doch man muss das Buch ja nicht kaufen: Man kann es sich mit anderen in einer Bibliothek teilen! Ralf Richter

Inlandsgeheimdienstes war“. Mit diesem Ausgangspunkt entlarvt der Autor nicht nur die gravierenden Schwächen der Einzeltäterthese, sondern auch welche enorme Deutungsmacht die NS-Seilschaften noch lange nach 1945

hatten. Das Buch ist eine beeindruckende geschichtswissenschaftliche Leistung, die mit umfangreichen, teilweise sensationellen Enthüllungen aufwartet. Dazu zählt die Unterschlagung von Beweismaterial durch Tobias, wie eines Briefs von Ex-Gestapo-Chef Rudolf Diels, der den ehemaligen SA-Führer und Spezialisten für den Einsatz selbstentzündlicher Stoffe Hans Georg Gewehr für „den Haupttäter bei der Reichstagsbrandstiftung“ hielt. Volker Külow

Brennendes Geheimnis Zahlreiche Historiker, insbesondere solche westdeutscher Herkunft, hielten das Thema für abgehakt. Doch jetzt bekommt einer der wichtigsten politischen Kriminalfälle des 20. Jahrhunderts wieder erhöhten Aufmerksamkeitswert. Es geht um die Brandstiftung im Berliner Reichstag am 27. Februar 1933, die von den Nazis zum Vorwand genommen wurde, die verfassungsmäßigen Grundrechte per Notverordnung außer Kraft zu setzen. Die Mär vom vermeintlichen Einzeltäter, dem holländischen Maurer Marinus van der Lubbe, setzte das von Rudolf Augstein herausgegebene Magazin „DER SPIEGEL“ in den Jahren 1959 und 1960 in die Welt. Über die vielteilige Artikelserie des bis dahin unbekannten Autors Fritz Tobias

urteilte Augstein: „Über den Reichstagsbrand wird nach dieser ,Spiegel‘-Serie nicht mehr gestritten werden“. Mit dieser apodiktischen Feststellung gelang es Augstein tatsächlich, die Version vom alleinigen Täter van der Lubbe in der bundesdeutschen Historiographie fest zu verankern. Die wissenschaftliche Weihe verlieh dieser kühnen These bald darauf der Historiker Hans Mommsen, seinerzeit Angestellter des Instituts für Zeitgeschichte in München. Als die Behauptung vom alleinigen Brandstifter in Umlauf kam, ging es geradezu kriminell zu. Das entnehmen wir jetzt detailgenau dem Buch „Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens“, das nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegt.

Der US-amerikanische Historiker Benjamin Carter Hett, Professor an der City University of New York, hat sich darin dem Thema unbefangen genähert und überraschende Sichten auf Bekanntes entwickelt, vor allem aber viel bisher Unbekanntes herausgefunden. Letzteres betrifft vor allem die Methoden von Fritz Tobias und die Hintergründe sowie Zusammenhänge seines umtriebigen Wirkens. Tobias, der sich gern als „Hobbyhistoriker“ darstellen ließ, fungierte als leitender Beamter im Verfassungsschutz Niedersachsens. Seine Aktivitäten in Sachen Reichstagsbrand entwickelte er allerdings nicht im Nebenberuf. Hett sieht den Schlüssel für Tobias‘ Rolle vielmehr darin, „daß er ein Angehöriger des westdeutschen

Foto: Wikipedia Commons/Jungpionier/CC BY-SA 3.0

Benjamin Carter Hett: Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens. Aus dem Englischen von Karin Hielscher. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, 633 Seiten, 29,95 Euro, ISBN 9783498030292


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„Volkes Lied und Vater Staat“ Ein allumfassendes Buch über die DDR-Folkszene liegt vor Wie groß war die Freude, als ich von einer guten Bekannten des Musikjournalisten Wolfgang Leyn erfuhr, dass seine Publikation über die DDR-Folkbewegung von 1976-1990 erscheinen sollte! Mir war schon damals klar, dass gerade dieser Autor kompetent genug schien, sich mit jener beinah in Vergessenheit geratenen Szene auseinanderzusetzen, zumal er von den Anfängen an aktiv in ihr mitmischte. Als Student gründete er mit Gleichgesinnten die Formation „Folkländer“ und wirkte später auch als Organisator, Moderator und Programmgestalter für Folkfeste bzw. Werkstätten. Er kümmerte sich um Nachwuchsförderung und ist bis zum jetzigen Zeitpunkt beim Rundfunk beschäftigt. Die Idee für eine längst überfällige Dokumentation im Buchformat kam ihm wohl schon 1997 in den Sinn, als er mit dem Leipziger Sänger und Grafiker Jürgen B. Wolff (einst charismatischer Frontmann der „Folkländer“, heute „Duo Sonnenschirm“ mit Dieter Beckert) die Ausstellung „Die frühen Jahre der DDR-Folkszene“ mir reichhaltigem Archivmaterial wie Fotografien, Plakaten, Interviews, Stasiakten und Biografien zusammenstellte. Sie wurde in mehreren Städten, die einst als „Hochburgen“ jener eigenwilligen Bewegung bezeichnet wurden, präsentiert. Das Buch erschien pünktlich zur Eröffnung des RudolstadtFestivals im Juli 2016 und trägt den vielversprechenden Titel „Volkes Lied und Vater Staat“. Wolfgang Leyn gelingt ein vielschichtiges Werk, das nicht nur Insider und folkbesessene Leser erreicht. Es ist spannend, ja auch unterhaltsam in einer sachlich verständlichen Sprache erzählt und beleuchtet sehr eindringlich den Werdegang unterschiedlicher Bandentwicklungen: etwa die der damals angesagten Gruppen „Wachol-

der“ aus Cottbus, „Brummtopf“ aus Erfurt, „Notentritt“ aus Halle, um nur einige zu nennen, die der Autor in Form von Interviews, die er mit den Protagonisten führte, zu Wort kommen lässt. Die Gespräche führte er zwischen 1996 und 2015 mit Volkhard Brock, Klaus „Eumel“ Jorke (beide „Notentritt“), Matthias Kießling („Wacholder“), Stephan Krawczyk (damals „Liedehrlich“, jetzt Liedermacher und Buchautor), Reiner Luber („Brummtopf“), Manfred Wagenbreth („Folkländer“, später „Sieben Leben“), Andy Wieczorek („Polkartoffel“, „Jams“, „Gundermanns Seilschaft“), Jürgen B. Wolff („Folkländer“, „Der Sonnenschirm“) und mit meiner Wenigkeit („Münzenberger Gevattern Kombo“, jetzt „Pojechaly“), sowie mit anderen Vertretern des Genres, die leider nicht im Buch vertreten sind. Wenn der Leser die Resulta-

rer zunehmenden Popularität zuzutrauen war, die Rolle der staatlich geförderten FDJ-Singebewegung zu mindern, die spätestens Ende der Siebziger ihren Höhepunkt an Nichtigkeit erreichte. (Viele Folkgruppen entwickelten sich übrigens aus der Singebewegung, andere auch aus oppositionellen Kirchenkreisen. Unerwähnt im Buch bleiben aber jene, die ohne jegliche Konfession ganz privat zusammenfanden.) Dann schaltete sich das Ministerium für Staatssicherheit ein, und nicht nur eine einzige Band geriet in ihr Visier. Auftrittsverbote wurden erteilt, Beschattungen waren die Folge, doch die Szene ließ sich nicht unterkriegen. Auch dieses Thema findet im Buch große Resonanz. Bereichert wird das Werk durch den Co-Autor Reinhardt „Pfeffi“ Ständer, der einst Klubhausleiter in Hoyerswerda war und

„Duo Sonnenschirm“

te der Interviews zusammenfasst, wird ihm deutlich, unter welch teilweise recht abenteuerlichen Umständen sich die Wegbereiter mit den staatlichen Kulturbehörden herumschlagen mussten, um Anerkennung zu erlangen, welche Steinen ihnen in den Weg geworfen wurden, um autonome Kreativität zu verhindern. Viel zu suspekt erschien die Eigenwilligkeit einer Kulturströmung, die quasi ganz plötzlich wie von selbst aus dem Boden spross. Den Funktionären war schon bewusst, dass es den „Folkies“ aufgrund ih-

heute das Gundermann-Archiv behutsam betreut. Seine umfangreichen Recherchen, archivierte er im Laufe seiner jahrzehntelangen intensiven Beschäftigung mit der DDRFolkszene. Ein weiterer Co-Autor lieferte Beiträge über den Umgang mit den begehrten Dudelsäcken. Ralf Gehler, selbst ein Virtuose auf diesem anarchisch anmutenden Instrument, berichtet im Kapitel „Das Fahrrad neu erfinden – Dudelsackspiel und Dudelsackbau“, dass der Dudelsack bereits in den Siebzigern

eine wesentliche Rolle in der Szene spielte. Da jedoch schottische oder irische Instrumente in der DDR kaum käuflich zu erwerben waren, besann man sich auf die sozialistischen Bruderländer, in denen das Dudelsackspiel in ländlicher Volksmusik noch präsent war, wie beispielsweise in Bulgarien oder in der nähergelegenen CSSR. Dort bestand die Möglichkeit, an die begehrenswerten Sackpfeifen zu gelangen. Oder man baute sie eben selbst. Da beschreibt Gehler sehr unterhaltsam, mit welchem Geschick und mit welcher Raffinesse die neuen Dudelsackkonstrukteure dieses Instrument spielbar machten. Eine ebenfalls wichtige Rolle im Buch spielt die Wiederbelebung des Volkstanzes als rebellische Antwort auf die Kommerzialisierung der an den achtziger Jahren aufkommenden Disko-Welle. Alte, oft schon vergessene Dorftänze wie Ländler oder Zwiefacher wurden von Folkgruppen gesammelt, geprobt, einstudiert und instrumental umgesetzt. Dazu wurde, oft unter Anleitung eines Tanzmeisters bzw. einer Tanzmeisterin, munter getanzt. „Was machen denn die Gammler jetzt?“, wunderten sich etliche in die Jahre gekommene Klubhausleiter oder Kulturfunktionäre. „Das sind doch dieselben, die eben noch Rock’n’Roll hotteten!“. Es war schon amüsant, anzusehen, wie sich Langhaarige in Jeans und Fleischerhemden im Reigen drehten oder sich der Polka hingaben. Die Folktanzbewegung wurde übrigens hauptsächlich aus Ungarn importiert, wo das sogenannte Tanzhaus (Tanczas) von sich reden machte. Ungarn hatte eine wichtige Folkszene, weil sich in diesem Land eine sehr intensive Rückbesinnung auf die ländliche Volksmusik etablierte. Außerdem, auch das kommt im Buch zur Sprache, gingen den Folkies nach und nach die Texte aus. Feldforschung war so gut wie abgeschlossen, die Quellen ausgeschöpft, besonders die aus der

sogenannten „Folk-Bible“ (Gemeint waren die beiden Bände von Wolfgang Steinitz aus den Jahren 1954 und 1962, „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“). Einige Gruppen spielten hernach nur noch instrumental zum Folktanz, andere, z. B. „Notentrott“ aus Halle, wandten sich dem musikalischen Kabarett zu. Jürgen B. Wolff gründete zusammen mit dem Liedermacher Dieter Beckert das „Duo Sonnenschirm“ und kreierte den Begriff „Brachial-Romantik“. Wieder andere versuchten sich im Bereich von Lied und Chanson oder mittelalterlicher Musik. „Volkes Lied und Vater Staat“ von Wolfgang Leyn besteht aus mehreren Kapiteln, die sehr übersichtlich gegliedert sind und einen Gesamteindruck über die DDR-Geschichte liefern, nicht nur in kultureller Hinsicht. Ich könnte mir vorstellen, dieses Werk auch in pädagogischen Einrichtungen zu präsentieren, zum Beispiel im Geschichtsunterricht, da hier Nischen beleuchtet werden, die es in diesem ganz speziellen Format in keiner anderen Enzyklopädie gibt, die sich mit DDRHistorie auseinandersetzt. Nicht zuletzt war diese Folk-Bewegung Nährboden unter anderem für die politische Wende im Land. Dem Buch ist übrigens eine sehr hörenswerte CD beigelegt, die die Vielfalt der Folkgruppen dokumentiert. Es handelt sich um privat aufgenommene Konzertmitschnitte, Aufnahmen des DDR-Rundfunks und AMIGA sowie Neueinspielungen älteren Materials. Erschienen ist das Buch im Ch. Links Verlag. Es hat 378 Seiten, inklusive der CD mit je einem Song von zwanzig Folkgruppen. Es lohnt sich sehr, dafür 35 Euro zu investieren! Jens-Paul Wollenberg Bandportraits, Chronik und ein Szenelexikon sind auch online nachzulesen: www.folkszeneddr.de

Ein Zwischenruf: Revoluzzer gegen Revoluzzer will Leipzig verlassen, oder hat es schon, wie zu hören ist. Während Mike N. weiter agiert und streitet, ab und an in den subjektiven (sozialen) Medien mal sein Fett weg kriegt, ist bei Volly T. die Sache brutaler. Steine krachten gegen den Stadtteilladen in der Plagwitzer Karl-Heine-Straße, in dem Bauwilligen kostenlos geholfen wird, die ruinöse Häuser im Viertel nicht dem weiteren Verfall preisgeben wollen. Da brennt durchaus die Luft. Die Werfer skandieren: Wir wollen

Strukturen zerschlagen, die dafür sorgen, dass wir unsere Mieten nicht mehr zahlen können und auf die Straße fliegen. Als sich Volly Tanner gegen diese Steinwürfe aussprach, tauchten im Stadtteil Aufkleber auf, die ihn als Zerstörer des Stadtteils brandmarken. Er und seine Familie ziehen nunmehr aus Leipzig weg, weil sie sich um ihre Sicherheit sorgen. Bist Du nicht meiner Meinung, so bist Du mein Feind ... wird von den Jungen auf Leipziger „Kampfbaustellen“ gerufen.

Hat der Recht, der am lautesten brüllt und den größten Stein Bild: Corwin von Kuhwede / Wikimedia Commons / CC BY 3.0

Jede Szene sucht sich über die Zeiten ihre Etiketten. Wo obiges R-Wort, das aus dem Italienischen abgeleitet ist, derzeit in Mode ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Der Duden behauptet „abwertend für Revolutionär“. Nur, wer richtet sich schon nach dem? In Leipzig verpasste eine Zeitung mal Mike Nagler aus Connewitz dieses R-Etikett, lange galt auch der umtriebige Volly Tanner aus Lindenau als so einer. Beide sind stadtbekannt, beide sind unbequem, letzterer

wirft? Oder: Werden Revoluzzer auch mal alt? MIZO


10/2016 Sachsens Linke!

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Oktober 2016

Sachsens Linke

Bei Amazon in Leipzig wird gestreikt – wir werfen wieder einen Blick ins Innere. André Hahn berichtet von seiner Reise zu den Olympischen Spielen nach Rio. Auch werfen wir einen Blick nach China, nach Russland und nach Polen.

Cornelia Ernst erklärt, weshalb Kernfusionskraftwerke nicht Energielieferant Nr. 1 werden können. Und im Kampf gegen Kinder-

und Jugendarmut pädieren Katja Kipping und Sabine Zimmermann nicht nur für eine Neuberechnung des „Regelbedarfs“.

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Ein Schritt nach dem anderen

Vorbereitung der Bundestagswahl: Lasst uns streiten. Um Inhalte! Mit der ersten Kreiswahlversammlung am 8.10. im Landkreis Meißen begann die Nominierung unserer sächsischen KandidatInnen für die Bundestagswahl 2017. Bereits im Juni hatte der Landesparteitag die Regularien für die Aufstellung beschlossen. Der Parteivorstand will nach Anlaufschwierigkeiten nun im Oktober hoffentlich eine Debattengrundlage für die Wahlstrategie auf den Weg bringen, welche den Rahmen vorgibt, mit welcher Tonalität, mit welchen Zielen, in welcher Art und Weise wir den Bundestagswahl bestreiten wollen. Zeitgleich beginnt die Erarbeitung des Bundestagswahlprogramms. Am 6.11. fand eine von fünf Anhörungen zum Bundestagswahlprogramm in Leipzig statt. Es war die einzig bislang geplante im Osten. Gesellschaftliche AkteurInnen, Betroffene und PolitikerInnen sollten darüber ins Gespräch kommen, was die wichtigsten politischen Bereiche sind, in denen Veränderungen erreicht werden müssen. Im Januar 2017 soll der erste Entwurf des Wahlprogramms vorliegen. Der Wahltermin für die Bundestagswahl rückt mit riesigen Schritten näher. Dass wir viel zu verlieren haben, dürfte auf der Hand liegen. In der Diskus-

sion zum Wahlprogramm müssen wir daher klären, wie wir gewinnen wollen. Wir müssen uns verständigen, ob es reicht, zu wissen, wogegen wir sind. Oder ob wir den Schritt wagen und deutlicher als bisher machen, wofür wir stehen. Wir müssen klären, ob wir bei den althergebrachten Themen verharren oder bereit sind, gesellschaftlich aktuelle Themen aufzugreifen. Drei Stichworte dabei: Freiheit, Digitalisierung, Arbeit 4.0. Wir müssen mit unserem Wahlprogramm unsere Ostkompetenz wieder stärker in den Fokus rücken und die Punkte aufgreifen, die nach 26 bzw. 27 Jahren die Gemüter hierzulande bewegen. Selbstverständlich sind auch Lösungen gefragt, wie wir Menschen, die benachteiligt werden, z. B. nach 14 Jahren Hartz IV, eine machbare Alternative zum untragbaren IstZustand anbieten. Wir müssen glaubhaft machen, wie die Arbeitnehmerschaft, die sog. Normal- und GeringverdienerInnen, entlastet werden können. Inwieweit sind wir bei diesen sozialen Themen bereit, die Debatte um das „Wie?“ zu vertiefen? In der Debatte zum Parteiprogramm haben wir im Landesverband gezeigt, dass wir Dis-

kussion führen können, dass wir gemeinsam – trotz aller Unterschiede – konstruktiv ringen und Impulse setzen können. Der Landesvorstand wird im Oktober darüber diskutieren, wie wir die Debatte konkret ausgestalten. Die Bundespartei bietet Online-Mitwirkungsmöglichkeiten für die Erarbeitung des Wahlprogramms an. Hier in Sachsen wird es unterschiedliche Angebote geben, sich an der Diskussion zu beteiligen. Alle Planungen dazu werden hier in der Landeszeitung veröffentlicht. Die Debatte zum Wahlprogramm bietet eine Chance. Die Partei hat im Kern ihren Konsolidierungsprozess abgeschlossen. Wir sind nicht mehr „neu“ und allein dadurch spannend. Wir müssen uns als Partei weiter entwickeln, gesellschaftliche Entwicklungen gehen sonst an uns vorbei. Wir müssen neue Rahmenbedingungen von Politik und Informationsverwertung gestalten. Oft hat man das Gefühl, dass sich bei uns Personen oder Lager starr gegenüber stehen. Themen werden mit Personen verbunden. Es zählt nicht, was gesagt oder vorgeschlagen wird, sondern wer dies tut. Das macht eine Partei krank und handlungsunfähig. Umso wichtiger ist ein offener Debat-

tenprozess um das Wahlprogramm, um aus diesem Dilemma rauszukommen. Es muss breit, also mit vielen, diskutiert und gerungen und nicht wie bisher zwischen den üblichen AkteurInnen Kompromisslinien erarbeitet werden. Mehr noch sollten durch die Diskussionen Themen neu gesetzt und vielleicht auch anders angepackt werden. Wir haben nur alle vier Jahre die Möglichkeit, so umfassend zu diskutieren. Deshalb müssen wir diese Möglichkeiten im Sinne der Entwicklung unserer Partei, der Weiterentwicklung unserer richtigen Positionen nutzen und dabei im Hinterkopf haben, dass wir eine bunt zusammengesetzte Organisation sind. Unsere Themen und auch die Vorstellungen ihrer Ausgestaltung sind entsprechend vielfältig. Ich hoffe, dass ihr alle mitdiskutiert und wir aus Sachsen Impulse setzen können. Lasst uns darüber reden, wie wir solidarischen Zusammenhalt fördern wollen, wie soziale Gerechtigkeit konkret gestaltet werden kann, wie man unsere an so vielen Stellen in Schieflage geratene Gesellschaft so gestalten kann, das alle Menschen sich sicherer fühlen. Antje Feiks, Landesgeschäftsführerin

Von Querelen um Spitzenkandidaturen für die Bundestagswahl ist in den Medien zu lesen. Von „Selbstkrönung“ ist die Rede – was so nicht stattgefunden hat –, Namen werden gestreut. Der erste Ansatz für eine Wahlstrategie des Bundeswahlkampfleiters wurde vom Parteivorstand abgelehnt, ohne einen einzigen Änderungsantrag zu stellen. Das ist, vorsichtig ausgedrückt, befremdlich. Bisher wurden Vorschläge diskutiert, verändert und dann beschlossen. Wenn wir eine Grundlage für eine Strategie hätten, wäre der nächste Schritt, darüber zu reden, welche Inhalte von welchen Person(en) in diesem Rahmen am besten vertreten werden können. Es stünde uns gut zu Gesicht, die wir doch anders sein wollen als andere Parteien, über neue Wege statt große und kleine Teams zu reden. Ein*e Kanzlerkandidat*in – da sind wir uns wohl einig – schicken wir sicher nicht ins Rennen. Im Kern ist zu beantworten: Wie wollen wir uns generell aufstellen? Wie wollen wir Menschen in Großstädten und auch wieder im ländlichen Raum gewinnen? Diese Fragen bleiben seit Jahren unbeantwortet ,und der Wahltermin rückt näher. Dabei ist klar, dass äußere Einflüsse eine Wahlstrategie überholen können, man nachsteuern können muss. Dafür ist die Einigung auf einen Rahmen nötig. Die letzte Landtagswahl ist das beste Beispiel. In Berlin wurde kurzfristig die Strategie angepasst – mit Erfolg. Deshalb: Lassen wir den Wahlkampfleiter seinen Job machen und beteiligen uns an der Debatte. Scheindebatten und Verweigerung sind das Gegenteil von Politikentwicklung.


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Meinungen

Zum Leserbrief von Joachim Loos zur Braunkohle (Sachsens Linke! 09/2016, S. 2) Braunkohleverbrennung schadet den Menschen durch den Kohlendioxidausstoß und den damit verbundenen Klimawandel, den Schadstoffausstoß, die Landschaftszerstörung, Probleme mit der Wasserregulierung usw. Die Schäden durch Energiegewinnung aus Sonne, Wind, Wasser, Erdwärme und Biomasse entstehen nur, wenn sich Großkonzerne diese zur Profiterzielung aneignen. Eine dezentrale Energiegewinnung in Bevölkerungshand ermöglicht kleinere Anlagen und ist für die Bevölkerung kostengünstiger. Diese Energiequellen heißen übrigens erneuerbar, weil sie im Gegensatz zu den fossilen auch bei Nutzung noch über Jahrmillionen zur Verfügung stehen. Herr Loos ignoriert auch die schon vorhandenen (z. B. Pumpspeicherkraftwerke, Kompression) und die noch zu entwickelnden Speichertechnologien (z. B. mittels Wasseraufspaltung Umwandlung in chemische Energie, Schwungräder). Schon heute exportiert die BRD sehr viel Strom. Teilweise sind die Strompreise an den Strombörsen negativ, weil es für die konventionellen Kraftwerkskonzerne billiger ist, zuzuzahlen als ihre Kraftwerke runterzufahren. Ein Blackout droht somit nur durch die vorhergehende Liberalisierung des Strommarktes und den damit verbundenen überregionalen Handel sowie die Überlastung des Stromnetzes, das eher auf regionale Versorgung ausgelegt ist. Somit wäre es im Interesse der Bevölkerung, schnellstmöglich auf 100 % regionale Energieversorgung aus erneuerbaren Energiequellen in Bevölkerungshand umzusteigen, statt das Profitinteresse der Konzerne zu wahren. Ein Gesetz kann dann die Umwandlung der Erwerbsarbeitsplätze regeln. Uwe Schnabel, Coswig Zu „Liebe Leserinnen und Leser“ (Parlamentsreport August 2016, S. 1) und zu „Anmerkungen zum Weißbuch 2016“ (Sachsens Linke! 09/2016, S. 4)

Sicherheit heißt zuerst, dass die Bevölkerung auch zukünftig ihre Bedürfnisse befriedigen kann. Somit wird die Sicherheit zuerst durch eine Wirtschaftspolitik im Interesse der Konzerne und damit verbundene Kürzungen und unzureichende Versorgung im Sozial- (z.B. Hartz IV, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Renten), Bildungs- und Kulturbereich gefährdet. Hinzu kommt die Zerstörung sozialer Beziehungen, z. B. um den Arbeitsmarkt überregional zur Verfügung zu stehen und das ganze Leben auf den Konsum auszurichten. Wie Rico Gebhardt erwähnte, schaden auch Ausgrenzung und Benachteiligung größerer Bevölkerungsgruppen. International gefährden die Ausplünderung und Zerstörung anderer Länder, Waffenexporte und die Auslandseinsätze der Bundeswehr die Sicherheit. Damit wir nicht diese Sicherheitsbedrohungen erkennen und bekämpfen, werden dagegen andere Bedrohungen erfunden und Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufgehetzt. So können die Herrschenden die Bevölkerung bei nur geringem Widerspruch stärker bespitzeln und oppositionelle Bestrebungen bekämpfen. Die Vorschläge der CDU-Innenminister sind somit nicht unausgegoren, sondern zielgerichtet und planvoll. Und die Wiedervereinigung der Krim mit Russland war im Gegensatz zum Anschluss der DDR an die BRD das Ergebnis einer Volksabstimmung mit sehr großer Zustimmung und eines vorhergehenden vom Westen unterstützten Putsches in der Ukraine mit Verfolgung und teilweiser Ermordung russischsprachiger und oppositioneller Personen. Auch die Aggressionspolitik gegenüber Russland gefährdet die Sicherheit. Rita Kring, Dresden

Deutschland rückt, nicht nur an der Wahlurne, nach rechts. Sachsen scheint vorweg zu gehen: Freital, Clausnitz, Heidenau, Bautzen – immer wieder kommt es gerade in Sachsen zu rechten Ausschreitungen. Fast alltäglich sind Angriffe auf Abgeordnetenbüros unserer Partei, allein die Büros von Caren Lay wurden in den letzten fünf Jahren 26 Mal attackiert. Was tun wir gegen den Rechts-

ruck? Wie gehen wir mit organisierten Neonazis und wie mit den Rechtspopulisten der AfD um? Stimmt es, dass Sachsen besonders rechts ist und wenn ja, was sind die Gründe? Warum sind immer wieder Polizei und Justiz in der Kritik? Diese und weitere Fragen sollen an diesem Abend diskutiert werden: Welche Rezepte haben wir gegen rechte Ausschreitungen auf der Straße und ihre Folgen? Wie gehen wir mit Rassisten und Nazis auf der Straße und einem weiter erstarkenden Rechtsextre-

mismus um? Kurz: Wie und mit wem zusammen kann DIE LINKE ihrem antifaschistischem Anspruch gerecht werden?“ Gastgeber sind die Linksjugend Mittelsachsen und DIE LINKE Rochlitz-Geringswalde, zu Gast wird die stellvertretende Parteivorsitzende und Bundestagsabgeordnete Caren Lay sein.

Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus gedruckt.

Bildnachweise, wenn nicht gesondert vermerkt: Archiv, iStockphoto, pixelio.

Die nächste Ausgabe erscheint voraussichtlich am 03.11.2016.

Der Redaktion gehören an:

Kontakt:

Ute Gelfert, Jayne-Ann Igel, Thomas Dudzak, Antje Feiks (V.i.S.d.P.), Andreas Haupt, Ralf Richter, Stathis Soudias.

kontakt@dielinke-sachsen.de Tel. 0351-8532725 Fax. 0351-8532720 Redaktionsschluss 28.09.2016

Diskussion zum Umgang mit rechten Ausschreitungen, mit MdB Caren Lay

Vortrag zu TTIP von MdB Caren Lay 26.10., 19 Uhr, Bürgerbüro Bautzen, Schülerstraße 10

TERMINHINWEISE „Was tun gegen den Rechtsruck?“ 24.10., 18 Uhr; Begegnungszentrum Altgeringswalde Obere Dorfstraße 60 in 09326 Geringswalde

Impressum

Kleiststraße 10a, 01129 Dresden

Sachsens Linke! Die Zeitung der LINKEN in Sachsen

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Termine der Redaktionssitzungen bitte erfragen.

Herausgeberin: DIE LINKE. Sachsen Verleger: Verein Linke Bildung und Kultur für Sachsen e.V.,

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Hier spricht die Amazon-Belegschaft Ende 2015 verkündete Amazon Leipzig stolz, dass der Mutterkonzern ca. eine Million Euro in den Standort Leipzig investiere. Dieses Geld wollte die Standortleitung nutzen, um eine neue Förderbandanlage zu bauen. Damit würden sich aber auch einige Arbeitsprozesse grundlegend verändern. Zu Beginn dieses Jahres lud das Management des Standortes die betreffenden Abteilungen zu Informationsveranstaltungen ein. Dort konnten die Mitarbeiter Fragen zum Arbeitsablauf stellen, sie nutzten die Gelegenheit aber auch, um Bedenken zu äußern. Eines war beispielsweise, dass durch den veränderten Arbeitsablauf ein höherer Aufwand für den einzelnen Mitarbeiter anfällt. Im Klartext heißt das, dass der einzelne Mitarbeiter mehr laufen muss. Diese Befürchtung wollte das Management mit dem Argument zerstreuen, dass das eingeplant sei und aus diesem Grund mehr Mitarbeiter eingestellt werden würden.

Die Bandanlage wurde im Laufe des Jahres fertiggestellt und ans Laufen gebracht. Daraufhin wurden seitens des Managements Beobachtungen und Auswertungen zur Produktivität gemacht. Diese sollten in den Mitarbeitermeetings kommuniziert werden. Die Schlussfolgerung aus der Auswertung, sowie die Ansage des Managers selbst, brachten einen riesigen Unmut in die Belegschaft. Die Aussage des Managers lautete sinngemäß wie folgt: Mit dem Bau der Bandanlage wurde eine Produktivitätssteigerung von 35 % angestrebt, amortisieren würde sie sich bei einer Produktivitätssteigerung von 15 %. Die Produktivität sei aber um 4 % gesunken. Das lohne sich nicht. Der Grund dafür ist, dass die Beschäftigten stets zu früh in die Pause gehen würden. Außerdem sinke die Produktivität in der letzten Stunde vor Feierabend dramatisch. Wenn sich das nicht ändere, könnte Amazon das als Grund sehen, den Standort zu schließen.

Das Band regiert

Einige Mitarbeiter wollten das nicht auf sich sitzen lassen und stellten den Manager zur Rede. Dieser behauptete dann, das so nie gesagt zu haben. Der Unmut war jedoch am ganzen Standort, in allen Abteilungen

spiel, dass diese Aussage nie getroffen worden sei. In anderen Meetings wurde behauptet, dass der Manager seine Äußerung zurückgenommen und sich entschuldigt habe. Das ist aber nicht wahr.

zu spüren. Aus diesem Grund versuchte man in den anderen Abteilungen, etwas zu schlichten und behauptete zum Bei-

Konsequenzen gab es für die Mitarbeiter von Amazon bereits. Es kommt zu verstärkten Kontrollen zur Pause, und in

der letzten Arbeitsstunde gibt es massive Arbeitsbereichskontrollen seitens des Managements. Letzteres bedeutet, dass Manager durch die Hallen laufen und gezielt Mitarbeiter ansprechen, die scheinbar unproduktiv sind. Hier stellt sich die Frage, warum diejenigen Manager nicht selbst einmal produktiv sind und mit anpacken, anstatt nur im Hintergrund zu stehen, zu überwachen und gegebenenfalls zu drohen. Ebenfalls bedenklich ist die Tatsache, dass es Infoveranstaltungen gibt, in denen sich engagierte Mitarbeiter bemühen, Probleme aufzuzeigen, um Lösungsvorschläge zu erarbeiten, an welche die Manager nicht gedacht haben. Stattdessen wird die Schuld denen gegeben, die sich am wenigsten dagegen wehren können, und gleichzeitig noch weitere Vorwürfe erhoben. Schade, dass ein Weltkonzern nicht versteht, dass man mit seinen Angestellten arbeiten sollte und nicht gegen sie. Christian Rother

„Der Spitzensport hat spätestens jetzt seine Unschuld verloren“ André Hahn, Bundestagsabgeordnete der LINKEN, war mit einer Delegation des Sportausschusses bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro. Wir sprachen mit ihm darüber. Was macht ein LINKER bei Olympia in Rio? Der Bundestag ist für den Leistungssport in Deutschland zuständig, stellt die dafür notwendigen Gelder bereit und kontrolliert, wie effektiv diese Mittel eingesetzt werden. Deshalb besuchte eine kleine Delegation des Sportausschusses die Spiele, und als sportpolitischer Sprecher meiner Fraktion war ich dabei. Für mich ging es vor allem darum, den deutschen Athletinnen und Athleten den ihnen gebührenden Respekt zu erweisen. Bei mehr oder weniger bedeutenden Fußballspielen lassen sich der Bundespräsident, die Kanzlerin und der Innenminister gern medienwirksam ablichten, zu den Olympioniken ist keiner von ihnen gekommen. Das wurde heftig kritisiert. Deshalb war es richtig, dass wir dort waren und mit vielen Sportlern, Trainern und Verbandsfunktionären Kontakt hatten. Zudem gab es zwei inhaltliche Schwerpunkte. Nach den durch Volksentscheide abgelehnten Bewerbungen für Olympische Winterspiele in München und die Sommerspiele in Hamburg wollten wir uns in Rio informieren, welche positiven oder negativen Auswirkungen die Austragung derartiger

Sportgroßereignisse wirklich auf die jeweilige Stadt und deren Infrastruktur hat. Das zweite Thema, an dem niemand vorbeikam und das auch mir die Vorfreude Olympia ziemlich verhagelt hat, war die DopingProblematik. Was dort in den letzten Monaten ans Licht gekommen ist, hatte eine völlig neue Dimension. Der Spitzensport hat spätestens jetzt seine Unschuld verloren. Es wird Jahre dauern, um seinen Ruf und das Vertrauen in die Leistungen der Athleten wieder herzustellen. Was sagen Sie zum Ausschluss russischer Sportler? Ganz klar: Die Dopingvorwürfe gegen russische Sportler, Trai-

ner und Funktionäre wiegen schwer. Jeder Einzelfall muss geprüft und gegebenenfalls mit entsprechenden Sperren geahndet werden. Wer nachweisbar gedopt hat – aus welcher Nation auch immer –, hat bei den Spielen nichts verloren. Aber es darf weder eine Sippenhaft für eine bestimmte Sportart noch für alle Sportler eines ganzen Landes geben. Deshalb war ich froh darüber, dass der Ausschluss des gesamten russischen Olympiateams vom IOC abgelehnt wurde. Nach dieser Entscheidung mit Augenmaß habe ich überhaupt nicht verstanden, dass Russland für die Paralympics komplett gesperrt wurde. Es ist absurd, gerade bei den Behin-

dertensportlern ein derartiges Exempel zu statuieren. Wie war Ihr Gesamteindruck von Rio? Ambivalent. Da waren auf der einen Seite tolle Sportstätten und viele spannende Wettkämpfe, vor allem auch in Sportarten, die sonst leider nicht die mediale Aufmerksamkeit erfahren, die sie eigentlich verdienen. Auf der anderen Seite bleibt festzustellen, dass die Kosten für die Spiele das Land wohl überfordert haben, dass zehntausende Menschen für den Bau neuer Straßen und Sporteinrichtungen aus ihren angestammten Wohnbereichen verdrängt wurden. Und natürlich ist es höchst gewöh-

Im weltberühmten Maracana-Stadion beim beim Fußballendspiel der Frauen Deutschland gegen Schweden (2:1)

nungsbedürftig, wenn wegen der Terrorgefahr vor den Stadien Schützenpanzerwagen und an den Zuschauereingängen schwer bewaffnete Soldaten stehen. Zum Glück ist in Brasilien alles friedlich geblieben. Hierzulande wird gerade über die Förderung des Spitzensports debattiert. Innenminister De Maiziere hat erst vor wenigen Tagen sein Konzept im Sportausschuss des Bundestags vorgestellt, und das hat mich doch ziemlich schockiert, zumal es wie das Papier einer Unternehmensberatung daherkam. Schon auf dem Deckblatt der Präsentation folgte auf die Überschrift „Ziel der Neustrukturierung“ das Wort „Podiumsplätze“. Aus meiner Sicht ist diese fast ausschließliche Orientierung auf Medaillen der völlig falsche Weg, denn auch ein 6. Platz im Endkampf ist immer noch Weltklasse. Ich wundere mich sehr, dass die Spitze des Deutschen Olympischen Sportbunds diesen Kurs offenbar mitträgt, denn der ist schließlich Dachverband für 28 Millionen Mitglieder im organisierten (Breiten-)Sport und nicht nur Interessenvertreter des Hochleistungsbereichs. Das Parlament blieb im Übrigen bei der Erarbeitung der Konzeption völlig außen vor, soll aber nun die für die Umsetzung erforderlichen Mittel in Millionenhöhe aus Steuergeldern bereitstellen. Hier wird es noch heftige Auseinandersetzungen geben.


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„,Handelskrieg‘ zwischen China und der EU hilft niemandem“ wirkungen auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität in China und zugleich auf die

Der G20-Gipfel in Hangzhou ging unlängst zu Ende. Warum hat China eine so große Bedeutung für die EU? China ist neben den USA heute der wichtigste Handelspartner, hinsichtlich der Importe und der Exporte. Die deutsche Automobilbranche beispielsweise erzielt in China den Großteil ihrer Gewinne; Computer, Smartphones und Flachbildfernseher wurden erst durch die günstigen Produktionskosten in China erschwinglich für viele Haushalte in der EU. Chinesische Unternehmen sind mit ihren günstigen Preisen aber zugleich Konkurrenz für alle Unternehmen, die noch in Europa produzieren lassen. Und das, obwohl die Mindestlöhne in China aufgrund politischer Beschlüsse gegenwärtig jährlich um ca. zwölf Prozent steigen. Der durchschnittliche Industrielohn lag im 2. Quartal 2016 bei 7408 Yuan (617 Euro) pro Monat und ist damit inzwischen höher als das Einkommen vieler Beschäftigter in den baltischen Staaten, Bulgarien, Rumänien oder Ungarn. Zugleich hat die seit 1980 vorangetriebene Entwicklung des Landes mit Kurs auf die entschiedene Steigerung des Lebensniveaus nach den verlorenen Jahren der „Kulturrevolution“ enorme Aus-

Weltwirtschaft. Globale Wertschöpfung und Produktion ist heute in allen Regionen der Erde auch mit der rasanten und nicht widerspruchsfreien Entwicklung Chinas eng verbunden. Die entschiedene Steigerung des Lebensstandards der chinesischen Familien bleibt erklärtes Ziel von KP Chinas und Nationalem Volkskongress. Das ist eine zentrale Achse des neu festgelegten Kurses auf die weitere Mo-

dernisierung und Umstellung der volkswirtschaftlichen Strategie. Ziele sind die Stärkung der Bin-

Das EU-Parlament hat im Frühjahr den Marktwirtschaftsstatus für China abge-

nennachfrage sowie wissensbasierte und ressourcensparende Wirtschaftsentwicklung. Somit gewinnen auch der Ressourcenverbrauch, technologische Entwicklungen und die Stärkung wirtschaftlicher Zukunftsfähigkeit gewaltige Bedeutung für die konkrete Ausgestaltung der künftigen Wirtschafts- und Handelszusammenarbeit –übrigens sowohl für China wie auch für die EU.

lehnt. Widerspricht das nicht der Notwendigkeit, Zusammenarbeit zu entwickeln? Das Parlament hat versucht, einen bereits lange ausstehenden Prozess der Erneuerung der

Handelsschutzinstrumente der EU anzuschieben und vom Rat eine Veränderung seiner Haltung einzufordern. Hintergrund ist, dass am 11. Dezember ein 15-jähriger Übergangsprozess, der sich aus dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisationen 2001 ergab, ausläuft. Es gibt ein Protokoll zu diesem Beitritt, in dem die spezifischen Bedingungen der Preisbildung verankert sind, und das hatte zur Folge, dass China kein Marktwirtschaftsstatus zuerkannt wurde. Es hieß, China sei eine planwirtschaftliche, mit staatlichen Eingriffen verbundene Wirtschaft. Eine Mehrheit der EU-Staaten – und auch der EU-Abgeordneten – glaubt das noch immer. Dabei muss mitgedacht werden, dass die EUMitgliedsstaaten fürchten, dass der Marktwirtschaftsstatus für China dazu führen könnte, dass ihre Wirtschaft mit chinesischen Waren unter Druck gesetzt wird. Dieser Konflikt lässt sich nur auf dem Wege eines konstruktiven Dialogs lösen. Mit einem „Handelskrieg“ zwischen China und der EU ist niemanden geholfen.

Peter Porsch: Linke Dispute. Anregungen, Polemiken und Kopfnüsse aus linker APO-Zeit. 162 S., 12,99 Euro,

ISBN 978-3-945187-62-3. Das Büchlein erschien Ende Juni 2016 im verlag am park. Sämtliche Verkaufserlöse

Bild: Casa Rosada (Argentina Presidency of the Nation)

„SachsensLinke“ sprach mit dem LINKEN EU-Abgeordneten Helmut Scholz.

Duma-Wahlen in Russland Nicht nur in Berlin, sondern auch in Moskau wurde am 18.09.2016 gewählt. So wichtig die Abgeordnetenhauswahlen auch gewesen sein mögen: dass die Moskauer Duma-Wahlen in den deutschen Medien zum Randthema gerieten, haben sie nicht verdient. Circa 111 Millionen Bürger entschieden an diesem Tag über 40.000 Mandate. Im Mittelpunkt dürfte die Entscheidung über die Staatsduma gestanden haben, wo 450 Sitze für neue „Platzhalter“ gesucht wurden. Bei einem Podum im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das sich Anfang September den Wahlen in Russland widmete, verwies die Stiftungsvorsitzende, Dr. Dagmar Enkelmann, auf die gravierenden Veränderungen, die sich in Russland und in der übrigen Welt seit den letzten Duma-Wahlen (2011) vollzogen haben – zu nennen ist nicht nur die Finanzkrise. nd-Redakteur René Heilig war zum Schluss gekommen, dass sich die Regierung nur halten könne, weil sie die Opposition unterdrücke. Das Volk hungere, man veranstalte „Panzerolympiaden“. Der Journalist Viktor Timtschenko hatte einen bitteren Blick zurück

in vergangene Sowjetzeiten geworfen: Damals gab es in den Wahllokalen Wurst, die es in den Geschäften nicht gab. Nicht nur das hat sich geändert. Die Oligarchen haben ausgesorgt und die 20 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben und mit weniger als 300 Euro im Monat auskommen müssen, suchen dort jetzt vergeblich ihr Wurstpaket. Am Wahlabend verkündete „Vremja“ (Zeit), so heißt die Sendung der Hauptnachrichten im 1. Russischen Fernsehen, das erste vorläufige amtliche Endergebnis. Klarer Gewinner wurde die Putin-Partei „Einiges Russland“. Sie holte 54,2% (343 Sitze), die Kommunisten (KPRF) erzielten noch 13,4% (42), die Shirinowski-Liberalen 13,2% (39) und „Gerechtes Russland“ (GR) errang immerhin 6,2 % (23). Ohne die Absenkung der Sperrklausel von 7 % auf 5% hätte letztere es nicht in die Duma geschafft. Die Wahlleiterin Pamfilova kündigte schon am Wahlabend an, dass weiter sehr genau nachgezählt und nachkontrolliert würde. Unregelmäßigkeiten und Fälschungsversuche würden weiter untersucht, diese seien von geringem Ausmaß und

würden die Wahlergebnisse weder verfälschen noch verändern können, meinte sie. Zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale hatten nur ca. 40 Prozent ihr Stimmrecht genutzt. Wenn die Hälfte der WählerInnen fernbleibe, müssen sich alle Parteien sowie die Regierung fragen, ob sie die Krise, die Unzufriedenheit und Unsicherheit der Leute richtig verstanden und ihr entgegengearbeitet haben. Der Wahlsieger, Präsident Putin, bezeichnete das Wahlergebnis als „Vorschuss der Bevölkerung, der nun erst abzuarbeiten“ sei. Soziale Probleme sollten nicht in der Statistik, sondern im konkreten Leben der Familien festgestellt und gelöst werden. Womöglich belegen die Verluste von KPRF und von GR, sowie der Gewinn von Shirinowski auch hier, dass populistische wie vaterländisch-nationale Rhetorik nichts bringen außer mehr Stimmen für Parteien im rechten Spektrum, schätzt Kerstin Kaiser, Büroleiterin der RosaLuxemburg-Stiftung in Moskau, ein. So sind wir gedanklich wieder mitten in Deutschland, wo das gesamteuropäische Problem Rechtspopulismus angekommen ist. René Lindenau


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Realistische Träumerei Zurück zu Marx und mit ihm gemeinsam vorwärts zu neuen Ufern der gesellschaftlichen Erkenntnis. Der Autor Holger Lorenz hat sich intensiv mit der Denkmethode von Karl Marx befasst und sie auf die heutigen chaotischen spätkapitalistischen Verhältnisse angewendet. Herausgekommen ist ein Buch, das es in sich hat. Die Marx‘schen Kategorien von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen werden auf die Begriffe Zivilisation, technischer Fortschritt und Humanität angewendet. Das Ergebnis sind völlig neue Erkenntnisse bezüglich der „entfremdeten Arbeit“, dem Hauptproblem eines erneuten sozialistischen Aufbauversuchs. Des Weiteren wird auf die hemmungslose Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus Bezug genommen, die die heutigen chaotischen Zustände erst zur Folge hat. Die Zivilisation (patriarchalische Klassenherrschaft) als Übergangsperiode verbindet wiederum die ausbeutungslose Urgesellschaft

(Matriarchat) mit einem zukünftigen ausbeutungsfreien Kommunismus, einem modernen Matriarchat, das sich aus der gesellschaftlich notwendigen Auflösung der „heiligen Familie“ zwangsläufig ergibt. Dieser Auflösungsprozess von der patriarchalischen Großfamilie des Altertums zur proletarischen Kleinstfamilie der Neuzeit erzeugt eine neue Selbstorganisation der, die ohne Ausbeutung, ohne Herrschaft und deshalb ohne Staat auskommt. Als Quintessenz des Buches ergibt sich die Erkenntnis, dass die gegenwärtige Stärke der Rechten allein aus der theoretischen Schwäche der Linken herrührt, die keine praktischen Visionen mehr aufzeigen. Und diese Schwäche wiederum ergibt sich aus dem Verzicht auf den Klassenkampf von unten, so wie ihn Marx als das Herzstück zur proletarischen Befreiung von Lohnarbeit und Kapital entdeckt hatte. Ein einzigartiges Buch, das wieder ganz bei Marx ist und zugleich ein Lehrbuch des Marxismus und

ein Aufruf zum Klassenkampf von unten. Die Zukunft sieht Lorenz in einem modernen Matriarchat, einer herrschaftsfreien Gemeinschaft, die auf der einen Seite aus regional produzierenden und regional konsumierenden Agrarstädten besteht, die sich selbst verwalten und über ihr Leben selbst bestimmen, und die auf der anderen Seite alles Wissen kostenlos globalisiert (Abschaffung des Patentschutzes), um überall auf der Welt eine gleich hohe Arbeitsproduktivität zu erreichen; kurz, in der umfassenden Regionalisierung von Produktion und Konsumtion, in der Wiederaneignung von Politik durch Selbstorganisation der Menschen vor Ort. Raimon Brete Holger Lorenz: „Die kommende Welt der mütterlichen Vernunft. Kommunistisches Manifest für das 21. Jahrhundert.“ 384 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-946568-00-1. Druckund Verlagsgesellschaft Marienberg.

„Kritik der Grünen Ökonomie“ Ich war mal wieder „stiften“. Wieder ging es nach Berlin zu einer Veranstaltung im Roten Salon der Rosa-LuxemburgStiftung. An diesem Sommerabend brachte das Thema Umwelt bzw. Ökologie Publikum und Podium zusammen. Ein Buch, das Barbara Unmüßig (Heinrich-Böll-Stiftung) mit anderen Autoren vorlegte, wurde gemeinsam mit Dr. Dagmar Enkelmann (Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Prof. Michael Brie (Institut für Gesellschaftsanalyse) vorgestellt und diskutiert. Vorab: Im späteren Verlauf des Abends stellte Unmüßig klar, dass Ökologie und Umwelt verschiedene Dinge seien. Während die Umwelt das umgebende Land, die umgebende Welt meint, so heißt Ökologie (ursprünglich oikos) „Haushalt“. Naturgemäß ging es darum, wie wir mit unserem (Natur)Haushalt umgehen. Angesichts der Tatsache, dass etwa zwei Milliarden Menschen noch immer von der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse ausgeschlossen sind, lautet die Antwort: schlecht! Es gibt also viel zu tun, wobei es nicht nur mit CO2-Reduktion und ökologischer Landwirtschaft u.a. getan wäre. Debattiert wurde die Frage nach einem sozialen wie ökologischen Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter, oder

auch, ob man dem öffentlichen Nahverkehr per Entgeltfreiheit Beine machen kann. Deutlich wurde: Ohne Richtungsänderung in der Steuerpolitik wird man den anstehenden sowie schon den gegenwärtigen ökologischen Herausforderungen und Bedrohungslagen nicht gerecht. Wozu sind Steuern auch da, wenn nicht zum „umsteuern“? Podium wie Publikum machten auch nicht davor halt, die Eigentumsfrage und die Systemfrage zu stellen. Brie machte mit einem Werbeblock für das Buch, wie er selbst sagte, den Anfang. Es sei gut und verständlich geschrieben, verständlicher als manches der Rosa-Luxemburg-Stiftung, meinte der Professor. Klug und informativ waren weitere Attribute, die er der „Kritik der Ökonomie“ anheftete. Wir müssten einfach weg von der gegenwärtigen fossilen, Ressourcen fressenden Zivilisation. Als gemeinsamen Begriff beider Stiftungen nannte er den einer über den Kapitalismus hinaus gehenden „sozial-ökologischen Transformation“. Andererseits nannte Brie es ein schrecklich enttäuschendes Buch. Warum? Das Buch mache deutlich, dass die schöne „Grüne Ökonomie“ sich nicht verallgemeinern und für jeden gleichermaßen erleben lässt. Zudem mahnte er, die „Grüne Ökonomie“ als Zi-

vilisationskomplex zu begreifen. Und die Machtkritik ginge ihm nicht weit genug. Zum Abschluss fragte der Philosoph: Und jetzt? Was heißt das strategisch für die Gesellschaft und für die Parteien, wenn ein „grüner Kapitalismus“ und ein „Green New Deal“ nicht aufgehen? Dann kam Unmüßig zu Wort. Sie stellte gleich klar: Wer glaubt, mit ein bisschen mehr Effizienz und technologischer Innovation ließen sich die globalen Krisen wie die Umweltkrise und die Gerechtigkeitsfrage lösen, auch die Armut bekämpfen, der sitze einer Illusion auf. Vielmehr steht die Frage: Wo müssen wir unser Produktions- und Konsumverhalten ändern? Ein „Weiter so“, das uns die Protagonisten der „Grünen Ökonomie“ glauben machen wollen, u.a. mit Einsatz von Großtechnologien, sei keine Alternative. Der Begriff „Grüne Ökonomie“ suggeriere, man könne einfach so weiter wachsen. Diese Einstellung verbannte sie in das Reich der Illusionen. Sie, so gab die Politologin zu, hätte auch noch keine Antwort darauf, wie unsere Gesellschaft, obendrein mit ihren Sozialsystemen ohne Wachstum auskommen soll. Fest steht aber für sie: Weiter expandieren könne man aus ökologischen Gründen auch nicht. Schon steckt man

in einer Zwickmühle. Schwierig! Des Weiteren berichtete die Autorin, dass Vertreter der „Grünen Ökonomie“ noch stärker auf den Markt setzten wollten. Wer jedoch trotz Marktversagens weiter auf den Markt setze, habe nicht begriffen, womit wir es heute zu tun haben. Heftig kritisierte die Grüne die jüngste Novelle des Gesetzes der Erneuerbaren Energien (EEG). Es sei naiv gewesen, anzunehmen, wir hätten mit diesem Gesetz schon die Energiewende geschafft. Bei dieser Novellierung ging es nämlich eher um die Sicherung von Gewinnmargen und Renditen, aber nicht um die Stärkung der Erneuerbaren. Was wir zurzeit erlebten, seien gigantische neue Monopole im Lebensmittel-, Agrar-, Pharma-, Energiesektor, die den Alltag der Menschen berühren. So hätten wir kaum Gegenmittel, außer einem zahnlosen Kartellrecht. Dennoch forderte der Gast der Böll-Stiftung dazu auf, widerständiger zu werden und mit mehr Esprit an theoretischen Konzepten zu arbeiten. Es ist schon fraglich, ob eine „Begrünung des Kapitalismus“ gelingen kann. Vielleicht mit viel Konsequenz kann sie bestenfalls ein erster Schritt sein. Zumal Brie noch sechs Bösewichte ausmachte, die eher Bremsklötze statt

Schrittmacher in einem ökologischen Wandel sind: der Rohstoff-Energiesektor, das Agrarbusiness, die Lebensmittelwirtschaft, der militärischindustrielle-Komplex und der Verkehrssektor verbunden mit der Finanzwirtschaft. Die Autoindustrie bezeichnete er mit Blick auf ihre Naturzerstörung sogar als Massenvernichtungsmittel. Als Hauptschwäche der jetzigen Gesellschaft erkannte der Wissenschaftler, dass Räume für wirkliche Experimente in Richtung einer anderen Zivilisation geschlossen und nicht offen sind. Hätte man diese Räume heute, wäre man möglicherweise mit der Gestaltung einer sozial-ökologischen Transformation heute schon weiter. Kommen wird sie, betonte Unmüßig. Wir müssen die Menschen mit Alternativen darauf vorbereiten und verstärkt mit ihnen reden, ob als Stiftungen, soziale Organisationen oder Nichtregierungsorganisationen. Zum anderen plädierte sie in Zeiten von Klimawandel, Biodiversität, Stickstoffbelastung u.a. für eine klare Grenzziehung der Politik. Aber das meist kurzfristige Denken in Legislaturperioden lässt Politiker oft in die Falle geraten. Bleibt zu hoffen, dass sie dort schnell genug heraus finden, ohne uns mit hinein zu reißen. René Lindenau


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Jugend

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Ukraine – ein schwarzer Fleck in Europa Die Ukraine ist das flächenmäßig größte Land innerhalb der Grenzen Europas und hat über 42 Millionen Einwohner/ innen. Für die meisten ist es allerdings wie ein schwarzer Fleck. Ein Land mit bewegter Geschichte, die sich auf einem ganz anderen Kontinent abzuspielen scheint. Als ich mich auf das Abenteuer einließ, für fünf Tage in die Ukraine zu einem Jugendcamp zu fahren, schien es mir zumindest so. Von linken Kräften innerhalb der Ukraine wusste ich ehrlich gesagt gar nichts. Wie stehen die Menschen zum Maidan? Zur Annexion der Krim? Was ist ihre Haltung zum Krieg? All das beschäftigte mich. Angekommen in Odessa ging es zu einem Ferienort ans Schwarzen Meer. Dort trafen sich zehn Tage lang junge, progressive Linke aus der Ukraine, die letzten fünf Tage mit internationalen Gästen.

So konnte ich Menschen aus allen Teilen der Ukraine, aus Kasachstan, Weißrussland und Aserbaidschan kennen lernen. Jeden Tag gab es von früh bis spät Workshops zu verschiedenen Themen. Das spannende daran war nicht nur die Diversität der Diskussionsteilnehmer/innen. Viel interessanter war es, die Ähnlichkeit zu den Diskussionen zu sehen, die wir hier bei uns führen. Kapitalismuskritik, Ökologie, Feminismus, Queer-Theorie, Laizismus, EU-Skepsis etc. – irgendwie fühlte es sich an wie auf einem Pfingstcamp am Schwarzen Meer zu sein. Nur, dass wir eben nicht in Doksy, sondern in der Ukraine waren. Besonders

das Erstarken der rechten Strukturen seit dem Maidan war erschreckend. Kurz nach unserer Ankunft erfuhren wir, dass sich die Truppen an der Grenze zur Krim aufeinander zu bewegen. Ein paar hundert Kilometer weiter weg herrscht

Krieg und es ist keine Lösung in Sicht. Trotz einer schier aussichtslosen Situation sah ich alles, nur keine Resignation, sondern Entschlossenheit, Mut und trotzdem Spaß daran, sich mit Politik zu befassen. Die Ukraine war und ist für

Termine

Zu Gast beim Verbandswochenende der Jusos Sachsen Vom 26. August bis zum 28. August fand das Verbandswochenende der Jusos Sachsen im vogtländischen Grünheide statt, fernab von Handyempfang und inmitten von idyllischem Nichts. Das Wochenende stand unter dem Motto „Besser zusammen leben mit Rot-Rot-Grün“, weshalb auch Vertreter*innen von Grüner Jugend und der Linksjugend eingeladen waren. Samstagmorgen machten wir uns also zu dritt auf den Weg und platzten direkt in die erste Panelphase hinein. Diese bot zwei verschiedene Workshops an. Einer beschäftigte sich mit der Frage, welche Alternativen es fernab der Behörde für Verfassungsschutz

gibt – die spätestens seit dem Versagen rund um den NSU in der Form untragbar ist –, um vor allem in der Verfassung geregelte Grundrechte in Zukunft besser schützen zu können. Hier wurden bereits unterschiedliche Ansichten in den Verbänden sichtbar. Der zweite Workshop ging der Frage nach, wie man sich politische Bildung, gerade auch mit dem Blick auf eine erstarkende Rechte, in Zukunft vorstellt. Nach dem Mittagessen ging es mit der zweiten Panelphase weiter. Wählen konnte man diesmal zwischen einem Vortrag zur Entwicklung und der Ideologie der „Neuen Rechten“ – welchem die Frage nach einem Umgang mit

den jeweiligen Gruppen und Vordenker*innen vorangestellt wurde – sowie einem Workshop zu stetig wachsenden Städten und den Umgang mit (negativen) Begleiterscheinungen. Eine genaue inhaltliche Auswertung seitens der Jusos ist noch in Arbeit und wird, wenn sie fertig ist, auch über unsere Verteiler einzusehen sein. Neben der Vernetzung mit neuen Menschen möchte man aus solch einem Wochenende natürlich auch etwas mitnehmen. Was macht man mit den gesammelten Eindrücken? Vor allem hat sich gezeigt, dass es viele Bereiche gibt, in denen sich die Jugendverbände sowohl in Problemanalyse als

Bildungswochenende in Oberau Vom 23. Bis zum 25. September veranstaltete die linksjugend [‘solid] Sachsen als Kooperationspartner des Rings Politischer Jugend Sachsen e. V. ihr Bildungswochenende im idyllischen Dorf Oberau nahe Meißen. Mit Blick auf die Ruine des historischen Wasserschlosses ging es ein Wochenende lang mit etwa 25 interessierten jungen Leuten um den Themenkomplex der Hochschul- und Bildungspolitik. Inhalt war neben einer Einführung in die Grundstrukturen der Hochschulpolitik auch die Frage nach der Möglichkeit, emanzipatorisches linkes Engagement an den Hochschulen zu gestalten. Mit Referent*innen wie Paul Hösler, Sprecher der

Konferenz Sächsischer Studierendenschaften, Christian Schaft, hochschulpolitischer Sprecher der thüringischen Linksfraktion im Landtag und Werner Kujat, Stadtrat für DIE LINKE in Leipzig, der eine Einführung in die Inklusion bot, aber auch ein*e Vertreter*in des sich aktuell breit aufstellenden Bündnisses „Lernfabriken … meutern!“ konnten wir uns ein umfangreiches Bild der Thematik erarbeiten. Neben der Hochschulpolitik fanden auch die Landesarbeitskreise „Ökologie“ und „Shalom“ Raum, um sich zu vernetzen und Programm zu gestalten. Insgesamt war es ein äußerst gelungenes Wochenende, an dem sich junge Menschen aus

mich ein Land, das weit weg vom meinem normalen Umfeld liegt. Ein Land, in dem sich Konflikte abspielen, bei denen viele am liebsten wegsehen wollen, bevor man sich daran die Finger verbrennt. Durch meinen Besuch dort bin mir mehrerer Dinge jedoch mehr denn je bewusst: Es gibt nicht nur schwarz und weiß, gut und schlecht, richtig und falsch. Uns sollte es darum gehen, linke Menschen zu unterstützen und ihnen nicht nur das Gefühl, sondern auch die Gewissheit zu geben, dass sie nicht alleine dastehen. Mein letzter Besuch in der Ukraine war es sicherlich nicht. Franziska Fehst

ganz Sachsen auch außerhalb der Workshops treffen und vernetzen konnten und Neumitglieder die Chance hatten, den Landesverband kennen

auch in der Problembehandlung nahe stehen. Ich würde sogar so weit gehen, dass es Fragen gibt, in denen sich die drei Jugendverbände näher stehen, als das bei Jugendverband und jeweiliger Partei der Fall ist. Deshalb und gerade in Anbetracht zunehmender rechter Stimmungsmache in unserer Gesellschaft und den Parlamenten sollten wir auch in Zukunft Plattformen, wie ein solches Verbandswochenende nutzen, um gemeinsam für eine coole, progressive Politik zu streiten. Jedoch gilt es auch und gerade in den Jugendverbänden, klare Linien zu ziehen, die nicht überschritten werden dürfen. Andy Sauer

zu lernen. Wir freuen uns auf jeden Fall auf unser nächstes Bildungswochenende, das im November ansteht! Jakob Müschen

08.-09. Oktober: Stadtjugendplenum und -tag in Leipzig. Kulturbüro von Franz Sodann, Mariannenstr. 101, Leipzig. Das Stadtjugendplenum berät über neue Verwaltungs- und Kommunikationsstrukturen. Beim Stadtjugendtag werden Nominierungen für die Jugenddelegierten zum Landesparteitag ausgesprochen. Infos: gleft. de/1tb 15. Oktober: Regionaljugendplenum Westsachsen. Borna. Das Regionaljugendplenum ist das höchste Organ auf Kreisebene. Die linksjugend [‘solid] Westsachsen berät über ihre Satzung und die Wahl ihrer Jugenddelegierten für den Kreisverband der LINKEN. 25. Oktober: Ökotalk mit Marco Böhme. Interim, Demmeringstr. 32, Leipzig. Thema dieses Mal sind Ökonazis – also die Vereinnahmung von Natur-, Umwelt- und Tierschutz von rechts. 28.-30. Oktober: Landesjugendplenum + Landesjugendtag. Haus der Stadtmission, Demmeringstr. 18, Leipzig. Landesvollversammlung aller, die die Linksjugend Sachsen super finden. Auch dieses Mal mit vollem Programm: Wahlen für den Landesparteitag, den Landesrat, den Länderrat, dem Jugendvotum zur Bundestagswahl und den Beauftragtenrat, außerdem wird eine Debatte über eine mögliche Bundestagswahlkampfkampagne geben – es lohnt sich! 11.-13. November: Bildungswochenende. Wo? Lasst euch überraschen! Was? Alles noch voll in Planung.


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DIE LINKE im Europäischen Parlament

10/2016 Sachsens Linke!

Energie für 5.000 Jahre? Dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, muss in manchen Fällen erst noch bewiesen werden. So saß ich neulich im Industrieausschuss und hörte mir begeisterte Ausführungen von Miguel Arias Cañete, EU-Kommissar für Klimaschutz und Energie, an. Es ging um den Stand des Forschungsprojekt ITER (lat. der Weg) an. Die EU will gemeinsam mit Russland, den USA, Japan, Südkorea und Indien für die nächsten 5.000 Jahre „saubere Energie“ aus Kernverschmelzung gewinnen. In Frankreich wird gegenwärtig an einem bislang 15 Mrd. schweren Programm gearbeitet.

weil sie darin angeblich Wettbewerbsverzerrung sieht. Aber es geht nicht nur ums Geld, es geht auch darum, dass umwelt- und energiepolitisch jetzt gehandelt werden muss, wenn dem Klimawandel etwas entgegengesetzt werden soll. Dass zentralisierte Lösungen mit gewaltigen Atomreaktoren die Lösung sein sollen, wird in der Fachwelt zutiefst bezweifelt. Nicht nur Greenpeace fordert die sofortige Einstellung dieses irrsinnigen Projektes mit dem Namen ITER. Als problematisch wird auch die Sicherheit solcher Projekte ein-

geschätzt. Es wird nie und zu keiner Zeit absolute Sicherheit geben. Kaum auszudenken, wenn ein solcher Reaktor angegriffen würde! Aggressive Parteinahme für fossile Energieträger Jetzt Mittel in die Erneuerbaren zustecken, auch in die Forschung, ist viel effizienter und spart Geld. Insbesondere Photovoltaik ist lange noch nicht an die Grenzen ihrer Möglichkeiten angelangt. Forschung ist zweifelsfrei noch notwendig, um effizienter zu werden.

Schnittmodell des ITER-Reaktors. Rechts unten eine Person zum Größenvergleich. Bild: Fabien1309 / Wikimedia Commons / CC BY-SA 2.0 FR

Kernfusion als künftiger Energielieferant Nr. 1?

Dabei auf dezentrale und multiple Lösungen zu setzen, ist der Rat vieler Wissenschaftler. Aber gerade die Erneuerbaren stehen im Fokus der kontraproduktiven und leider auch verlogenen Politik der Mitgliedsstaaten. Ihre offene Parteinahme für fossile Energieträger drückt sich in einer aggressiven Bekämpfung der Erneuerbaren aus, etwa durch die Einführung ominöser Sonnensteuern. Jährlich werden in der EU 140 Milliarden Euro für fossile Energieträger verplempert. Deutschland gab 2015 ganze 49,2 Milliarden Euro Beihilfen und Subventionen speziell für Kohle, Öl und Gas aus, während gerade einmal 6,5 Milliarden in den Klimaschutz flossen. Gigantische Subventionen

Gebaut werden soll ein riesiger Atomreaktor, vier Stockwerke hoch, wovon eines unterirdisch liegen soll. Darin soll die Kernverschmelzung erfolgen, die nur wenig Atommüll produzieren würde. Ein Plasma soll damit in Umlauf gebracht werden, das eine Temperatur von 100 Millionen Grad hat, also ungefähr die Wärme der Sonne. Das soll der zukünftige Energielieferant Nr. 1 in der Welt sein, andere Energieproduktion würde damit hinfällig. Momentan wird an der Ummantelung des Plasmas geforscht. Bis 2035 wird der Probelauf erwartet, ein vollständiger Einsatz weltweit 2050. Milliarden und Abermilliarden soll das Projekt verschlingen, während die Kommission, unterstützt von einer Mehrheit des Parlamentes, keinerlei Subventionen mehr für Erneuerbare Energien ausgeben lassen will,

Weltweit werden fossile Brennstoffe mit etwa 550 Milliarden Dollar im Jahr direkt subventioniert. Rechnet man die indirekten Subventionierungen dazu, kommt man auf eine gigantische Summe von 5,3 Billionen Dollar. Das sind 6,5 % der Wirtschaftsleistung in der Welt. Ähnlich gigantomanisch ist der Glaube der Kommission an Gas. Durchs Mittelmeer sollen zwischen Ägypten, Israel, Griechenland und Zypern Gasleistungen entstehen, milliardenschwere Projekte. Die von der Kommission verkündete Energieunion entpuppt sich als Gas-Union zulasten preiswerter und dezentraler Lösungen mit erneuerbaren Energien. Neben all dem blühen die unsinnigsten Vorhaben in leuchtenden Farben, wie der Bau des AKW-Hinkley in England. Man kann nur hoffen, dass die geplante 35-jährige EU-Subven-

tionierung von Point Hinkley jetzt wegfällt, das wäre zumindest ein Vorteil des Brexit. Wirklich sicher bin ich mir aber nicht. Statt sich den anstehenden Aufgaben konsequent zu stellen, rennt die EU irren Projektideen hinterher, wofür sich unsere Enkel europaweit schämen werden. Ökologische und soziale Frage verbinden! Wichtiger ist es jetzt, Infrastrukturprojekte auf die Erneuerbaren auszurichten, Energiearmut zu bekämpfen, die Energieeffizienz von Gebäuden und Anlagen zu forcieren und sich schlicht auch die Einsparung von Energie auf die Fahnen zu schreiben. Ein ungarischer Kollege, der in der Europäischen Linken verankert ist, erzählte uns kürzlich, dass relevante Teile der Bevölkerung in Ungarn, besonders im ländlichen Bereich, so arm sind, dass sie mit Holz heizen. Wenn wir die ökologische Frage nicht mit der sozialen verbinden, werden uns die besten Konzepte nichts nützen. Wir haben daraufhin beschlossen, einen Arbeitsgruppe „Energiearmut“ ins Leben zu rufen, gemeinsam mit Vertretern der Bundestagsfraktion und der Europäischen Linkspartei. Wir benötigen ein EU-bezogenes Konzept zur Bekämpfung von Energiearmut. Denn eines ist klar: ITER ist kein Weg, sondern ein Irrweg. Cornelia Ernst

Dunkle Tage für Frauenrechte Am 3. Oktober stellten sich hunderte Frauen der restriktiven und frauenfeindlichen Politik der polnischen Regierung entgegen. Am diesem sogenannten „Schwarzen Montag“ fanden überall in Polen Demonstrationen statt. In Form eines Frauen-Generalstreiks und durch gezielte Abwesenheit sollte gegen das Vorhaben der Regierung, die Abtreibungsrechte weiter zu beschneiden, lautstark protestiert werden. Abwesenheit heißt: die Frauen gingen weder zur Schule, zur Arbeit noch zur Universität und entzogen sich auch allen sonstigen Verantwortlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens. Der „Schwarze Montag“ ist die Folge der landesweiten Protest-

aktion „Schwarzer Protest“ in Polen gegen den Gesetzesvorschlag und die damit verbundene Einschränkung der Selbstbestimmungsrechte der Frauen. Nach wie vor sind Schwangerschaftsabbrüche in Polen nur nach einer Vergewaltigung möglich, wenn das Leben der Mutter bedroht ist oder bei einer schweren Behinderung des Kindes. Der auch von der Pro-Life Bewegung unterstützte Gesetzesvorschlag sieht vor, Abtreibung gänzlich unter Strafe zu stellen. In einer ersten Lesung wurde dieser bereits genehmigt. Als wäre das nicht schlimm genug, ist es auch wichtig, sich vor Augen zu halten: Das alles passiert nicht im luftleeren Raum oder weit weg, sondern auch hier.

Erst vor wenigen Wochen propagierten in Berlin tausende Abtreibungsgegner*innen ihr rückschrittliches Weltbild. In Sachsen erleben wir das jedes Jahr in Annaberg-Buchholz. Zusammen mit Vertreter*innen aus unterschiedlichen Ebenen unserer Partei und mit unseren Bündnispartnern*innen sind wir als LINKE jedes Jahr vor Ort, um den Erzkonservativen laut und deutlich zu widersprechen. Für Conny Ernst ist der Gesetzesvorschlag ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich für eine freiheitliche und gleichberechtigte Gesellschaft einsetzen. „Der Vorschlag der polnischen Regierung, angefeuert von der dortigen erzkonservativen Pro-Life Bewegung, konterkariert die

jahrzehntelangen Kämpfe um die Selbstbestimmungsrechte der Frauen und erklärt sie für unmündig“, so die Europaabgeordnete. Umso wichtiger ist es, Gesicht zu zeigen für die Selbstbestimmung der Frauen und gegen den vehementen Versuch von AfD und Co., Freiheits-und Grundrechte zu deinstallieren. Aus diesem Grund müssen wir uns solidarisch zeigen mit den Frauen in Polen, hier und überall. In Berlin fand anlässlich des „Black Monday“ eine Soli-Demo statt. Auch in Sachsen werden wir uns weiterhin für das Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung stark machen. Wir dürfen den antifeministischen und demokratiefeindlichen Bewegungen nicht das Feld überlas-

sen, gerade und auch wenn es um das Prinzip der Gleichheit und das Recht auf ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben für alle Menschen geht. Frauenrechte sind Menschenrechte! Die Idee eines eintägigen Frauen-Abwesenheitsstreiks am Montag ist übrigens durch die Schauspielerin Krystyna Janda entstanden. Auf ihrer Facebook-Seite hatte sie zum Protest aufgerufen, hunderte Frauen folgten ihr. Dabei orientierte sie sich am so genannten Schwarzen Donnerstag in Island im Jahr 1975. Damals nahmen 95 Prozent der isländischen Frauen am Streik für Gleichberechtigung und Frauenrechte teil und legten das Land lahm. Anja Eichhorn


Sachsens Linke! 10/2016

DIE LINKE im Bundestag

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Murks! Aber Murks mit wohlbedachten Folgen! Der Öffentlichkeit liegt ein Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Berechnung neuer Regelbedarfe für alle Grundsicherungen vor – von Hartz IV über die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bis zur Hilfe zum Lebensunterhalt. Was kommt raus? Statt 404 Euro Regelsatz nunmehr 409 Euro für einen Alleinstehenden. Ähnlich sehen die Veränderungen bei den Regelbedarfen für Paare und Alleinerziehende mit Kindern aus. Ein Skandal. Andrea Nahles tritt mit dieser Regelsatzberechnung in die Fußstapfen ihrer Vorgängerin Ursula von der Leyen. Wie wird eigentlich bisher der Regelbedarf errechnet? Die Bundesregierung nutzt die sogenannte Statistikmethode. Im Rahmen der Einkommensund Verbrauchsstichprobe werden die Ausgaben einer erfassten Einkommensgruppe ermittelt. Diese Ausgaben der so genannten Referenzgruppe sind die Grundlage der Ableitung der Regelbedarfe. Genutzt werden, um bei dem Beispiel der Alleinstehenden zu bleiben, die unteren 15 Prozent in der Einkommenshierarchie als Referenzgruppe. Diese Personen sind aber alle einkommensarm. Sie haben ein Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze und können daher auch nur sehr geringe Ausgaben haben. Wenn man von diesen die Regelbedarfe ableitet, kann nur Einkommensarmut für die Grundsicherungsbeziehenden

herauskommen. Das nennt man den großen Zirkelschluss bei der Regelbedarfsberechnung – von Armen ableiten, was Arme zur Sicherung der Existenz und Teilhabe bekommen sollen. Zweitens werden aus der Referenzgruppe vorab zwar bisherige Grundsicherungsbeziehende herausgerechnet, aber nicht die Aufstockenden, auch nicht die verdeckt Armen oder die

veau zukünftig sein soll. Dazu kommt drittens, dass von den Ausgaben der Armen und Ärmsten dann auch noch Abschläge vorgenommen werden, als sogenannte nicht regelbedarfsrelevante Ausgaben nicht bei der Berechnung des Regelbedarfs berücksichtigt werden. Sieht man sich allein diese drei grundsätzlichen Kritikpunkte an der Statistikmethode an, wird klar:

kritisiert. Sie ist Murks! Aber Murks mit wohlbedachten Folgen. Warum? Erstens, weil mit dieser Methode alle Grundsicherungshöhen politisch als angeblich existenz- und teilhabesichernd definiert werden und damit größere Anstrengungen zur Bekämpfung von Armut nicht nötig sind. Zweitens, weil von den Grundsicherungshöhen die steuerli-

Murks ist also deswegen folgenreich und die Regelbedarfe werden deswegen mit der Statistikmethode weiterhin niedrig berechnet, weil damit keine hohen Ausgaben zur Bekämpfung von Armut und zur Entlastung unterer Einkommensschichten entstehen, somit natürlich auch keine große Notwendigkeit der Umverteilung von oben nach unten gegeben ist.

Studierenden, die ein Einkommen unterhalb des bisherigen Grundsicherungsniveaus haben. Das nennt man dann den kleinen Zirkelschluss: von Personen mit Einkommen auf dem Grundsicherungsniveau oder darunter wird abgeleitet, wie hoch das Grundsicherungsni-

Das ist Murks! Das kann nur dazu führen, dass Hartz IV Armut und Ausgrenzung per Gesetz ist und bleibt. Unsere Fraktion hat schon vor einem Jahr im Antrag „Für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum“ die Statistikmethode grundsätzlich

chen Grundfreibeträge abgeleitet werden. Wenn sie höher ausfallen, entlasten sie untere Einkommensschichten. Das führt zu Einkommenssteuerausfällen und, wie die Erhöhung der Regelbedarfe, zur Notwendigkeit der Umverteilung von oben nach unten. Der

Die Höhe der Regelbedarfe hat also eine immense Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung. DIE LINKE setzt sich ganz klar für eine sanktionsfreie Mindestsicherung ein, die Armut wirklich abschafft. Katja Kipping

Bild: efa

Die Regelbedarfsfestlegung für die Grundsicherungen

Ein Aktionsplan gegen Kinder- und Jugendarmut ist überfällig! Kinder und Jugendliche bekommen häufig zu spüren, was Armut bedeutet. Kinderarmut ist nach wie vor eines der prägendsten und gravierendsten Probleme in diesem Land. 3,4 Millionen Kinder und Jugendliche (Unter-18-Jährige) lebten im Jahr 2014 in einem Haushalt, der es sich nicht leisten kann, einen Urlaub woanders als zu Hause verbringen. Das waren 23,8 Prozent aller Unter-18-Jährigen in Deutschland. Ein weiteres Indiz für finanzielle Probleme ist folgender Fakt: 5,5 Millionen und damit 38 Prozent aller Unter-18-Jährigen lebten in einem Haushalt, der im Jahr 2014 Schwierigkeiten hatte, unerwartete Ausgaben in Höhe von mindestens 980 Euro aus eigenen Mitteln zu bestreiten, 260.000 mehr als 2013. 1,2 Millionen Unter-

18-Jährige lebten 2014 in einem Haushalt, der Schwierigkeiten hat, die Miete oder Rechnungen für Versorgungsleistungen rechtzeitig zu bezahlen. Dies geht aus einer Sonderauswertung zur so genannten materiellen Entbehrung (Deprivation) hervor, die ich vom Europäischen Statistikamt Eurostat angefordert hatte. Materielle Deprivation ist ein Indikator einer regelmäßigen amtlichen Haushaltsbefragung, der Personen benennt, deren Lebensstandard aufgrund fehlender Mittel stark eingeschränkt ist. Kinder- und Jugendarmut lässt sich aber auch noch an anderen Zahlen ablesen: Waren 2012 laut Eurostat 2,13 Millionen Kinder von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, waren es 2014 2,27 Millio-

nen, 140.000 mehr. Der Anteil dieser armen Kinder an der Gesamtzahl der Kinder in Deutschland stieg von 18,2 Prozent im Jahr 2012 auf 19,3 Prozent in 2014. Im Durchschnitt des Jahres 2015 war rund jedes siebte Kind (nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte unter 15 Jahren) auf Hartz IV angewiesen. In absoluten Zahlen waren dies im Jahr 2015 durchschnittlich 1.542.310 Unter-15-Jährige, im Vergleich zu 2014 ist ihre Zahl um 33.712 bzw. um 2,2 Prozent angestiegen. Für eines der reichsten Länder der Erde ist es beschämend, dass Kinder und Jugendliche überdurchschnittlich von finanziellen Problemen und Einschränkungen betroffen sind. Statt unbeschwert aufwachsen zu können, lernen sie Entbehrungen kennen. Die Bun-

desregierung muss endlich ein Konzept gegen Kinder- und Jugendarmut vorlegen, verharrt aber in Untätigkeit. Das Problem der Kinderarmut ist seit vielen Jahren bekannt. Doch anstatt die soziale Sicherung für Kinder endlich existenzsichernd auszugestalten, wurde mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ein bürokratisches Monstrum geschaffen, dessen Verwaltung aufwändig ist. Die sozialen Leistungen müssen Armut verhindern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Die Regelsätze für Kinder müssen erhöht werden, nicht diskriminierende soziale Infrastrukturen sind aufzubauen und perspektivisch ist eine Kindergrundsicherung als eigenständige Leistung zu entwickeln. Genau betrachtet geht es beim Thema Kinderarmut

nicht unmittelbar um die Armut der Kinder, sondern um die Armut ihrer Eltern und deren Auswirkung auf die Kinder. Es gibt zu wenig gute Arbeit. Prekäre Beschäftigung wie Leiharbeit, Teilzeit und Minijobs muss zurückgedrängt, der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht werden. Ebenso müssen aber auch bessere Kinderbetreuungsangebote geschaffen werden, insbesondere in den so genannten Randzeiten. Um Kinderarmut zu bekämpfen, fordern wir einen mehrjährigen und mehrdimensionalen Aktionsplan. Sabine Zimmermann


Kommunal-Info 8-2016 5. Oktober 2016 Online-Ausgabe unter www.kommunalforum-sachsen.de

KFS

Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Integration Den Flüchtlingen bei der Gestaltung ihrer Lebensumstände eine mitbestimmende Rolle geben Seite 3

Freifunk Wie kostenloses WELAN angeboten wird Seite 3

Neuer Vorstand Jahreshauptversammlung des Kommunalpolitischen Forums wählte Vorstand

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Ausschüsse in Gemeinderat und Kreistag Die Sächsische Gemeindeordnung (SächsGemO) sieht vor, dass nach § 41 beschließende und nach § 43 beratende Ausschüsse durch die Gemeinde- bzw. Stadträte gebildet werden können. Für die Kreistage enthält die Sächsische Landkreisordnung (SächsLKrO) in den §§ 37 und 39 eine gleichlautende Bestimmung. Nach der Gesetzeslage in Sachsen steht es im freien Ermessen der „Kommunalparlamente“ (der Stadt- und Gemeinderäte und Kreistage) solche Ausschüsse zu bilden oder davon abzusehen. Ausgenommen vom freien Ermessen ist bei Kommunalwahlen die Bildung von Gemeinde-, Stadt- oder Kreiswahlausschüssen, wozu § 8 des Sächsischen Kommunalwahlgesetzes verpflichtet. Ebenso besteht für Landkreise und Kreisfreie Städte nach Bundesgesetz (§ 71 Sozialgesetzbuch VIII) die Pflicht, einen Jugendhilfeausschuss einzurichten. Ansonsten wurde im sächsischen Kommunalrecht im Unterschied zu anderen Bundesländern den „Kommunalparlamenten“ keine Verpflichtung auferlegt, weder Ausschüsse ganz allgemein noch ganz bestimmte Ausschüsse zu bilden. In Gemeinden bestehen die Ausschüsse aus dem Vorsitzenden und mindestens 4 weiteren Mitgliedern des Gemeinderats, in Kreistagen aus dem Vorsitzenden und mindestens 10 vom Hundert der Mitglieder aus dem Kreistag. In beschließenden Ausschüssen haben der Bürgermeister bzw. der Landrat den Vorsitz. Für beratende Ausschüsse kann nach § 43 Abs. 3 SächsGemO bzw. § 39 Abs. 3 SächsLKrO die Hauptsatzung bestimmen, dass der Ausschuss den Vorsitzenden aus seiner Mitte wählt. Jedoch besteht kein allgemeiner Zu-

stimmungsvorbehalt des Landrates wie in der Hauptsatzung des Landkreises Meißen beschlossen wurde, wo nur mit „seiner Zustimmung… der jeweilige Ausschuss den Vorsitzenden auch aus seiner Mitte wählen (kann).“ Der Kreistag kann in der Hauptsatzung mit einer qualifizierten Mehrheit (also der Mehrheit seiner Mitglieder einschließlich Landrat) nur beschließen, dass beratende Ausschüsse ihren Vorsitzenden aus ihrer Mitte wählen oder gänzlich auf diese Regelung verzichten.

Bedeutung und Funktion Würden die „Kommunalparlamente“ ganz auf die Einrichtung von Ausschüssen verzichten, müssten alle Beratungen und Entscheidungen in diesen großen Gremien stattfinden. Deshalb besteht die Funktion von Ausschüssen gerade darin, den Gemeinderat1 zu entlasten und seine Arbeit effektiver zu gestalten, damit er sich auf die für die Gemeinde wesentlichen Aufgaben konzentrieren kann. Gerade in größeren Gemeinden, in denen auch die Gemeinderäte eine größere Mitgliederzahl aufweisen, kommt der Ausschusstätigkeit eine erhebliche Bedeutung zu. Gleiches gilt für die Kreistage, die ja nur relativ selten zusammentreten und nunmehr nach der letzten Kreisgebietsreform von 2008 eine beträchtliche Größe erreicht haben. Mit der Spezialisierung des Ausschüsse auf bestimmte Sachgebiete kann der Erwerb und die fortlaufende Vertiefung der notwendigen und nützlichen Fachkenntnisse durch die Ausschussmitglieder erreicht werden. In den Ausschüssen können auch bereits vorhandene Spezialkenntnisse der

Ausschüsse intensiver zur Geltung gebracht werden, um zu qualifizierten Entscheidungen zu kommen bzw. für den Gemeinderat wichtige fachliche und gemeindepolitische Fragen sachkundig vorzuklären.

Unterschiede in der Gestaltung In der Muster-Hauptsatzung des Sächsischen Städte- und Gemeindetages wird empfohlen, einen Verwaltungsausschuss und einen Technischen Ausschuss als beschließende Ausschüsse und einen Kultur- und Sozialausschuss als beratenden Ausschuss einzurichten. Vom Sächsischen Landkreistag ist eine Musterhauptsatzung für die Landkreise zumindest nicht öffentlich bekannt. Mustersatzungen der kommunalen Spitzenverbände sind jedoch immer nur Anregungen und Empfehlungen. Im Rahmen ihres kommunalen Selbstverwaltungsrechts nehmen die Städte, Gemeinden und Landkreise ihr Recht der Organisationshoheit wahr und bestimmen aufgrund ihrer Größe und konkreter Gegebenheiten, welche Ausschüsse sie bilden. Am Beispiel der sächsischen Landkreise zeigt sich hier folgendes Bild. Landkreis Nordsachsen Beschließende A.: Kreisausschuss Vergabeausschuss Gesundheits- und Sozialausschuss Jugendhilfeausschuss Beratende A.: Schul- und Kulturausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt und Technik Landkreis Leipzig Beschließende A.: Kreisausschuss

Bau- und Vergabeausschuss; Ausschuss für Soziale Infrastruktur Jugendhilfeausschuss Ausschuss für Wirtschaft, Kreisentwicklung und Umweltschutz Betriebsausschuss im Bereich kreiseigene kulturelle Einrichtungen des Landkreises Leipzig Beratende A.: Haushaltsausschuss Landkreis Mittelsachsen Beschließende A.: Verwaltungs- und Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt und Technik Jugendhilfeausschuss Landkreis Zwickau Beschließende A.: Hauptausschuss Ausschuss für Wirtschaft, Bau und Umwelt Ausschuss für Beteiligungen Ausschuss für Soziales und Gesundheit Ausschuss für Bildung und Kultur Jugendhilfeausschuss Erzgebirgskreis Beschließende A.: Kreis- und Finanzausschuss Technischer Ausschuss Ausschuss für Familie, Bildung, Gesundheit und Soziales Jugendhilfeausschuss Betriebsausschuss Vogtlandkreis Beschließende A.: Kreisausschuss Gesundheits- und Sozialausschuss Ausschuss für Bildung, Kultur und Sport Jugendhilfeausschuss Ausschuss für Umwelt, Bau, Vergabe und Landwirtschaft Krankenhausausschuss Ausschuss für Wirtschaft, Verkehr und Tourismus Fortsetzung auf folgender Seite


Kommunal-Info 8/2016 Fortsetzung von Seite 1

Ausschüsse...

Beratende A.: Haushalts- und Finanzausschuss Abfallwirtschaftsausschuss Landkreis Meißen Beschließende A.: Verwaltung- und Finanzausschuss (Verwaltungsausschuss) Technischer Ausschuss Sozialausschuss Jugendhilfeausschuss Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge Beschließende A.: Kreisausschuss Wirtschafts-, Tourismus- und Vergabeausschuss Sozialausschuss Jugendhilfeausschuss Petitionsausschuss Beratende A.: Bildungsausschuss Landkreis Bautzen Beschließende A.: Kreisausschuss Sozial- und Generationenausschuss Technischer Ausschuss Kultur- und Bildungsausschuss Jugendhilfeausschuss Landkreis Görlitz Beschließende A.: Hauptausschuss Technischer Ausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziales Jugendhilfeausschuss Beratende A.: Ausschuss f. Kreisentwicklung, Wirtschaft, Tourismus, Umwelt und Energiefragen Finanzausschuss Ausschuss f. Bildung, Kultur und Sport

Seite 2 werden, die nach § 28 Abs. 2 SächsGemO in die ausschließliche Zuständigkeit de Gemeinderats fallen oder für die nach § 53 Abs. 2 der Bürgermeister kraft Gesetzes zuständig ist (z.B. Geschäfte der laufenden Verwaltung). Werden bestimmte Aufgabengebiete (z.B. das Schulwesen oder die Sozialplanung) beschließenden Ausschüssen zur dauernden Erledigung übertragen, muss das nach § 41 Abs. 1 SächsGemO in der Hauptsatzung geregelt werden. Bei diesen ständigen Ausschüssen sind die zugeordneten Aufgabengebiete in der Satzung zu benennen, die Zuständigkeitsgrenzen (z.B. Vergabe von Aufträgen nach Vergaberecht bis zu einem Wert von 1,5 Mill. EUR) zu bestimmen und der Ausschuss ist mit einer seinen Aufgabengebieten entsprechenden Bezeichnung auszuweisen (z.B. Ausschuss für Bildung, Kultur und Soziales). Werden beschließenden Ausschüssen neue Aufgabengebiete übertragen oder bisherige Aufgabengebiete weggenommen, erfordert das eine präzisierende Bestimmung in der Hauptsatzung. Sind jedoch nur einzelne Angelegenheiten auf einen bereits bestehenden beschließenden Ausschuss zu übertragen, genügt hierfür ein einfacher Gemeinderats- bzw. Kreistagsbeschluss.

schließenden Ausschuss zu dem Ergebnis, dass eine Angelegenheit für die Gemeinde von besonderer Bedeutung ist, kann die Angelegenheit dem Gemeinderat zur Beschlussfassung zurückgegeben werden. Für eine Rückgabe an den Gemeinderat reicht es, wenn ein Fünftel aller Mitglieder eines beschließenden Ausschusses dies verlangt. Da in § 41 Abs. 3 SächsGemO Mitglieder des Ausschusses genannt sind, ist bei der Feststellung des Mindestquorums die Stimme des Bürgermeister mitzuzählen. Unberücksichtigt bleiben aber die nicht stimmberechtigten sachkundigen Einwohner im Ausschuss. Eine Rückgabe an den Gemeinderat ist nur in einer einzelnen Angelegenheit möglich, jedoch nicht für ein gesamtes Aufgabengebiet. „Die Angelegenheit muss für die Gemeinde von besonderer Bedeutung sein, sei es, dass die Einzelaufgabe für sich genommen, sei es, dass die mögliche Entscheidung wesentliche Auswirkungen auf die örtliche Gemeinschaft zeitigen kann. Darin liegt auch die Rechtfertigung für die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Rückgabe. Sie soll erreichen, dass an der Diskussion und Entscheidung einer besonders bedeutsamen Angelegenheit auch diejenigen kleineren Fraktionen, Gruppen und einzelnen Gemeinderäte teilhaben können,

Mit einzelnen Angelegenheiten sind solche Anliegen oder Geschäfte gemeint, die nur einmal anfallen und mit deren Erledigung kein weiterer Handlungsbedarf besteht. Während eine einzelne Angelegenheit einen Einzelfall betrifft, sind unter Aufgabengebieten hingegen breiter angelegte Kompetenzbereiche zu verstehen, in deren Rahmen sich stets aufs neue zu lösende Probleme stellen und wiederkehrende Angelegenheiten zu erledigen sind.3 Für die Erledigung einer einzelnen Angelegenheit kann im Bedarfsfall auch ein zeitweiliger (Sonder-)Ausschuss durch einen einfachen Gemeinderats- bzw. Kreistagsbeschluss gebildet werden. Hat dieser Ausschuss die ihm zugewiesene Einzelangelegenheit erledigt und damit seinen Zweck erfüllt, wird er funktionslos und verliert seine weitere Daseinsberechtigung. Es bedarf dann allerdings noch eines einfachen Beschlusses durch Gemeinderat bzw. Kreistag zur ausdrücklichen Auflösung dieses Ausschusses. Kommen Mitglieder in einem be-

die im Ausschuss nicht vertreten sind.“4 Ob jedoch tatsächlich eine Angelegenheit mit besonderer Bedeutung für die Gemeinde vorliegt, bleibt dagegen unerheblich. Denn der Gemeinderat kann unabhängig von einer besonderen Bedeutung der Angelegenheit für die Gemeinde eine Behandlung ohne weitere Begründung ablehnen, womit die Entscheidung beim zuständigen beschließenden Ausschuss verbleibt. In umgekehrter Weise kann der Gemeinderat als Hauptorgan der Gemeinde nach § 41 Abs. 3 SächsGemO durch einfachen Beschluss jede Einzelangelegenheit an sich ziehen und Beschlüsse der beschließenden Ausschüsse, solange sie noch nicht vollzogen sind, ändern oder aufheben. Der Gemeinderat kann dann die Angelegenheit von neuem beraten und sie durch eine eigene Entscheidung zu erledigen. Das schließt ein, die zuvor durch den Ausschuss gefasste Entscheidung zu ändern oder ganz aufzuheben. Die Rückholung einer Angelegenheit kann durch den Gemeinderat auch erfolgen, wenn

Beschließende Ausschüsse Beschließende Ausschüsse entscheiden im Rahmen ihrer Zuständigkeit anstelle des Gemeinderats, sind selbst aber keine Organe der Gemeinde. Dies sind nach § 1 SächsGemO nur der Gemeinderat und der Bürgermeister. Den beschließenden Ausschüssen kommt eine funktionale Zuständigkeit zu, nämlich die ihnen vom Gemeinderat übertragenen Aufgaben zu erledigen, aber sie besitzen keine eigenständig wirksame Organisationszuständigkeit. So ist es ihnen verwehrt, eine eigene Geschäftsordnung zu erlassen. Ebenso sind sie nicht berechtigt, eigene Unterausschüsse zu bilden, denen sie einzelne Angelegenheiten zur Beschlussfassung zuweisen, mit einem anderen Ausschuss gemeinsame Entscheidungen zu erlassen, Aufgaben auf einen anderen Ausschuss weiter zu übertragen oder gar sich selbst aufzuheben. Aber es ist zulässig, gemeinsame Sitzungen von Ausschüssen abzuhalten; dabei haben Beschlussfassungen getrennt nach Ausschüssen zu erfolgen. Beschließende Ausschüsse haben auch keine außenwirksame Organkompetenz; ihre Beschlüsse werden im Außenrechtsverhältnis dem Gemeinderat zugeordnet, denn die von ihnen getroffenen Entscheidungen stehen grundsätzlich in jeder Hinsicht Gemeinderatsbeschlüssen gleich.2 Auf beschließende Ausschüsse können die Aufgaben nicht übertragen

der Ausschuss bereits dazu beschlossen hat. Eine Änderung oder Aufhebung des Beschlusses eines beschließenden Ausschusses ist dem Gemeinderat jedoch grundsätzlich versagt, wenn der Beschluss bereits vollzogen wurde. Maßgebend aber dafür ist, ob sich der von dem Beschluss Begünstigte auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann. Soweit der Vollzug in schutzwürdiger Weise das Vertrauen Dritter berührt, bleibt es dabei, dass der Gemeinderat die Entscheidung des beschließenden Ausschusses nicht mehr ändern oder aufheben kann.5 Der Gemeinderat kann den beschließenden Ausschüssen allgemein oder im Einzelfall Weisungen erteilen. Das können allgemeine gemeindepolitische Zielvorgaben oder Kriterien sein, die für das Handeln des Ausschusses im Rahmen seiner Zuständigkeit richtungweisend sein sollen. Auch können es etwa Weisungen zur Beseitigung von Rechtsfehlern sein oder Auflagen zur Erfüllung bisher unerledigter Aufgaben. Für Angelegenheiten, deren Entscheidung dem Gemeinderat vorbehalten ist, soll in den beschließenden Ausschüssen innerhalb ihres Aufgabengebiets eine Vorberatung stattfinden. Durch die Hauptsatzung kann bestimmt werden, dass Anträge, die nicht vorberaten worden sind, auf Antrag des Vorsitzenden oder eines Fünftels aller Mitglieder des Gemeinderats den zuständigen beschließenden Ausschüssen zur Vorberatung überwiesen werden müssen. Die Vorberatung dient dazu, die Spezialkenntnisse der Ausschussmitglieder nutzend den Sachverhalt der betreffenden Angelegenheit für den Gemeinderat zu sondieren und vorzuklären, Handlungsmöglichkeiten auszuloten und verschiedene Entscheidungsvarianten zu bewerten, um so dem Gemeinderat die Beratung und Beschlussfassung zu erleichtern und die Grundlagen seiner Entscheidungen zu qualifizieren. Sitzungen beschließender Ausschüsse, die der Vorberatung dienen, sind nach § 41 Abs. 5 in der Regel nichtöffentlich. Damit unterliegen die vorberatenen Angelegenheiten und die dazu gehörigen Sitzungsunterlagen der Verschwiegenheitspflicht, solange dazu nicht zu einer öffentlichen Sitzung des Gemeinderats eingeladen wird. In Abweichung von der Regel kann Fortsetzung auf Seite 3

Impressum Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Großenhainer Straße 99 01127 Dresden Tel.: 0351-4827944 oder 4827945 Fax: 0351-7952453 info@kommunalforum-sachsen.de www.kommunalforum-sachsen.de Red., Satz und Layout: A. Grunke V.i.S.d.P.: P. Pritscha Die Kommunal-Info dient der kommunalpolitischen Bildung und Information und wird aus finanziellen Zuwendungen des Sächsischen Staatsministeriums des Innern gefördert.


Kommunal-Info 8/2016

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Integration braucht Beteiligung

Trotz des politischen Streits um die zukünftige Migrations- und Flüchtlingspolitik sollte unstrittig sein, dass die Geflüchteten, die heute in Deutschland leben, neben dem Anrecht auf Schutz und Hilfe auch einen Anspruch auf Beteiligung haben. Das Netzwerk Bürgerbeteiligung stellt in einem aktuellen Impulspapier klar: Nur wenn die Geflüchteten selbst als aktiv Handeln-

de gewonnen und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, kann das neue Zusammen leben auf Dauer gelingen. Etwa eine Million Menschen sind seit dem „Sommer des Willkommens“ 2015 nach Deutschland gekommen. Wie viele der Geflüchteten dauerhaft bleiben werden und wie viele in absehbarer Zeit hinzukommen werden, wis-

Was steckt hinter „Freifunk“? Von Freifunk haben viele kommunale Verantwortliche schon gehört. Aber was ist das genau und kann man mit einer „Community“ zusammenarbeiten, um etwa kostenloses WLAN in Fußgängerzonen zu bringen? Freie Kommunikation in digitalen Datennetzen, öffentlich zugänglich, nicht kommerziell, im Besitz der Gemeinschaft und unzensiert – das ist die Idee, die hinter dem Gedanken des „Freifunk“ steht. Freifunker sind Initiativen, die Bürger in die Lage versetzen, freien Netzzugang selbst zu machen, auch indem sie einen Teil ihres Internetanschlusses freigeben. Die Motivation ist die Freude, etwas Sinnvolles zu tun, sowohl für andere als auch mit anderen. Freifunker waren zum Beispiel schnell dabei, bundesweit bisher über 370 Flüchtlingsnotunterkünfte mit Internetzugang zu versorgen. Freifunker arbeiten dezentral ohne bestimmte Organisationsstrukturen. „Communities“ (www.freifunk.net) mögen für Gemeinden ungewohnt sein, gleichen aber dem Ehrenamt: Projekte funktionieren dann, wenn genügend Freiwillige bereit sind, sie durchzuführen. Das kann sich mit dem Interesse der Gemeinde decken, insbesondere wenn sie bürgerschaftliches Engagement aktivieren möchte, um den öffentlichen Raum in einer Straße oder eine ganze Fußgängerzone mit freiem WLAN zu versorgen. Dazu müssen

dann nur genug Bürger zum Mitmachen motiviert werden, sodass alle 50 bis 100 Meter ein Freifunk-Router bereitgestellt wird. Das klingt ehrgeizig, ist aber möglich. Zumal es auch Landesinitiativen gibt, die Freifunk unterstützen: In Nordrhein-Westfalen hat der Landtag beschlossen, dass öffentliche Flächen für Bürgernetze genutzt werden können und hat erste Fördermittel zur Umsetzung bereitgestellt. In Hamburg ist die Unterstützung ähnlich. Da Freifunker Spaß an Technik haben, kann man mindestens konkrete Tipps erhalten, wie ein Projekt realisieren werden könnte, das Bürger oder Gemeinden planen. Allerdings bekommt man Freifunker nicht für alles an Bord. Denn unter „frei“ verstehen sie mehr als nur gebührenfrei: Unzensierte Nutzung, ohne um Erlaubnis zu fragen oder mit persönlichen oder personenbeziehbaren Daten zu „bezahlen“, steht im Vordergrund der Freifunkidee. Anmeldeseiten, Inhaltsfilterung und Aufzeichnen von Nutzerdaten werden wenig Anklang finden. Für Fußgängerzonen-WLAN-Projekte, die Kundenstromanalysen oder Werbung ermöglichen sollen, wird man also Freifunker kaum begeistern. Übrigens: Bei drittfinanzierten kostenlosen WLANs sollten auch Gemeinden hinterfragen, welche Daten Fortsetzung auf Seite 4

sen wir nicht. Der längst begonnene Integrationsprozess konzentriert sich bislang zumeist auf Sprache, Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt. Ohne diese Herausforderungen gering zu schätzen, spricht sich das Netzwerk Bürgerbeteiligung in einem zehn Punkte umfassenden Impulspapier für eine Erweiterung der Handlungsfelder und für einen Perspektivenwechsel aus. Klar ist: „Integrationsprozesse können nur gelingen, wenn die Geflüchteten diese mitgestalten“. Für diesen geforderten Perspektivenwechsel gibt es nach Ansicht des Netzwerks Bürgerbeteiligung zahlreiche gute Argumente. So sei es gerade für Menschen, die aus Regionen mit diktatorischen Regimen fliehen, wichtig, dass sie hierzulande „Demokratie leben und lernen“ können. Formen der Beteiligung und des freiwilligen Engagements böten hierfür wichtige Impulse. Die so gemachten praktischen Selbstwirksamkeitserfahrungen seien zudem eine wichtige entwicklungspolitische Mitgift, wenn die Geflüchteten in ihre Heimatländer zurückkehrten. Um den Integrationsprozess zu unterstützen, ist es aus Sicht des Netzwerks Bürgerbeteiligung grundsätzlich wichtig, die „Handlungsfähigkeiten der Geflüchteten von Beginn an“ zu stärken, zum Beispiel durch die Einrichtung von „Flüchtlingsparlamenten“. Die Förderung der Beteiligung und des Engagements sollte künftig ein wichtiges Kriterium bei der Ausschreibung von Gemeinschaftsunterkünften sein. Jede Initiative für Flüchtlinge müsse sich überlegen, wie sie den Geflüchteten selbst eine aktive und mitbestim-

mende Rolle verschaffen kann und welche unterstützenden Schritte dafür notwendig sind. Dies gelte auch für die zahlreichen Stiftungen und Bürgerstiftungen, die Förderprogramme für Geflüchtete aufgelegt haben – oft noch ohne Beteiligung der Betroffenen. Begegnungen und persönliche Kontakte zwischen Einheimischen und den Neuangekommenen können dabei helfen, Fremdheit und Vorurteile abzubauen. Dafür brauche es „niedrigschwellige Kommunikationsorte und ­angebote“. Zugleich gehe es um den oft spannungsreichen „Abgleich mit den Normen und Werten der Aufnahmegesellschaft“. Vor diesem Hintergrund sei es wichtig, die „Bereitschaft und Fähigkeit zum Dialog zu stärken“. Gelingende Integration erfordert nicht zuletzt eine engagierte Kommunalpolitik. Das Netzwerk Bürgerbeteiligung spricht sich dafür aus, kommunale flüchtlingspolitische Qualitätsstandards zu entwickeln, bei denen Engagement und Beteiligung eine zentrale Rolle spielen. Auf kommunaler Ebene sollte zudem eine wirksame Interessenvertretung von Geflüchteten entstehen, die an bereits bestehende Instrumente wie Integrationsräte oder Ausländerbeiräte anknüpfen kann. Das Impulspapier und der vollständige Videovortrag von Prof. Dr. Roland Roth zum Impulspapier befinden sich im Netz unter: www.mitarbeit.de/ roth_vortrag_integration_2016

Fortsetzung von Seite 2

ten oder zu einzelnen Angelegenheiten für den Gemeinderat beratend tätig zu sein, insbesondere die Beschlüsse für die Gemeinderatssitzung vorzubereiten. In der Sache selbst darf ein beratender Ausschuss keinen Beschluss fassen. Aber im Ergebnis der Beratung zu einer Angelegenheit fasst der Ausschuss einen Beschluss in Gestalt eines Entscheidungsvorschlags für den Gemeinderat. Dieser Beschluss ist für den Gemeinderat jedoch nicht bindend, sondern hat nur empfehlenden Charakter. AG ——

Ausschüsse...

ein beschließender Ausschuss im Einzelfall auch für die Vorberatung die Öffentlichkeit der Sitzung beschließen, wenn er der Auffassung ist, dass ein besonderes Interesse der Einwohner daran besteht, bereits die Vorberatung im Ausschuss verfolgen zu können. Eine Abweichung von der Regel muss jedoch unterbleiben, wenn durch die öffentliche Sitzung das öffentliche Wohl oder die berechtigten Interessen Einzelner dadurch beeinträchtigt würden.

Beratende Ausschüsse Für beratende Ausschüsse gilt nach § 43 SächsGemO analog wie für die beschließenden Ausschüsse, dass durch die Hauptsatzung der Gemeinderat zur Vorberatung auf bestimmten Gebieten beratende Ausschüsse bilden kann. Durch Beschluss kann der Gemeinderat bestehende beratende Ausschüsse mit der Vorberatung einzelner Angelegenheiten beauftragen oder für ihre Vorberatung beratende Ausschüsse bilden. Die Sitzungen der beratenden Ausschüsse sind prinzipiell nichtöffentlich; hier besteht keine Möglichkeit, für den Einzelfall in einer Angelegenheit eine öffentliche Sitzung abzuhalten. Die Funktion beratender Ausschüsse besteht darin, durch Vorberatung auf den zugewiesenen Aufgabengebie-

Aus: mitarbeiten Nr. 3/2016, Informationen der Stiftung Mitarbeit.

1

Wenn nachfolgend Aussagen stets auf den Gemeinderat bezogen sind, dann gilt das in gleicher Weise für den Stadtrat und für den Kreistag, sofern nicht auf Besonderheiten der letztgenannten Gremien verwiesen wird. 2 Vgl. Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen. Ergänzbarer Kommentar mit weiterführenden Vorschriften, G § 41, Randnummer (Rn) 7ff und 76ff. 3 Vgl. ebenda, Rn 39. 4 Ebenda, Rn 93. 5 Vgl. ebenda, Rn 102.


Kommunal-Info 8/2016

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Jahreshauptversammlung 2016 des KFS wählte Vorstand neu

Veranstaltungen des KFS Oktober – November 2016

Intensivseminar für junge Kommunalpolitiker*innen 14.-16.10.2016, Freitag ab 17:00 Uhr bis Sonntag ca. 14:00 Uhr Rhetorik und Öffentlichkeitsarbeit für Gemeinderätinnen „Alte Schule Cunnersdorf“, Schulweg 10, Schönteichen

Kommunalpolitischer Tag Landkreis Zwickau Sonnabend 15.10.2016, 10:00 bis 18:00 Uhr Kommunalpolitik für den ländlichen Raum Marienthaler Straße 164 b, Zwickau

Das Kommunalpolitische Forum Sachsen e.V. kam am 23. September in Dresden zu seiner Jahreshauptversammlung zusammen. Nach zweijähriger Tätigkeit wurde der bisherige Vorstand entlastet. Dem neugewählten Vorstand gehören an (v.l.n.r.): Lars Kleba (stellv. Vorsitzender/LK Mittelsachsen) Susanna Karawanskij (Beisitzerin /LK Nordsachsen) Sabine Pester (stellv. Vorsitzende/Chemnitz) Carola Goller (Schatzmeisterin/Dresden) Konrad Heinze (Beisitzer/Chemnitz) Klaus Tischendorf (Vorsitzender/LK Erzgebirge) Mirko Schultze (stellv. Vorsitzender/LK Görlitz)

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... Freifunk ihrer Bürger erhoben und genutzt werden, bevor sie ihren Namen hergeben, damit sich solche Dienste „Stadtnetz“ nennen können. Freifunker werden zu solchen, indem sie einen Freifunk-Router aufstellen und – wenn sie eine Flatrate haben – auch einen Teil ihres Internetanschlusses freigeben. Das Aufbauen eines solchen Routers dauert mit durchschnittlichen Technikkenntnissen und Anleitungen aus der Community einen Abend. Benutzt werden ausgewählte Standard-Router, die es im Handel ab etwa 25 Euro gibt. Outdoor-Geräte sind ab 70 Euro zu haben. Mitmachen soll auch ohne IT-Studium möglich sein. Deshalb haben die Freifunker eine Software entwickelt, die man auf geeignete Router nur aufspielen muss, damit dieser die komplizierten Dinge größtenteils „von alleine“ beherrscht. Freifunk-Router können sich untereinander direkt verbinden, Geräte ohne eigenen Netzzugang haben dann ebenfalls Internet. Man nennt das Mesh-Netzwerke. Mit Freifunktechnik kann man also Internetzugänge teilen und die Reichweite von Internetzugängen erhöhen. Den Breitbandausbau ersetzen können die Meshs aktuell nicht. In einem kleinen Dorf ohne „letzte Meile“ können ein schneller Internetzugang, ein Turm und ein paar Router an den Hauswänden für eine preiswerte Selbstbaulösung aber schon ausreichen. Und wer funkt schon frei? Freifunk Chemnitz e.V. sind netzaffine Menschen, die in ihrer Freizeit seit 2011 ein offenes und anonymes WLAN in Chemnitz und Umgebung

(z.B. Augustusburg, Frankenberg, Flöha, Zwickau, Plauen) aufbauen. Das Freifunk-Netz Dresden ist ein freies WLAN Netzwerk, welches von Freiwilligen betrieben wird. Initiert wurde es von freifunk.net, wo die meisten Informationen zum Einstieg zu finden sind. freifunk-dresden.de ist für das Dresdner Freifunk Netz die Anlaufstelle. Ziel ist es Dresden flächendeckend mit Freifunk zu versorgen, so dass man z.B. auch auf der Prager-Straße surfen und auf Inhalte im Freifunk oder Internet (optional) zugreifen kann. Freifunk Leipzig ist ein WLAN-basiertes, freies, nicht kommerzielles Funknetzwerk, das von den Teilnehmern selbst verwaltet wird. In Leipzig beteiligen sich momentan rund 200 Nodes. Alle Leute, AnwohnerInnen und auch Stadtverwaltung, Gewerbetreibende und andere Projekte sind ausdrücklich eingeladen, sich an diesem Gemeinschaftprojekt zu beteiligen. Die Ziele von Freifunk Vogtland sind die Vernetzung des gesamten Vogtlands zur Steigerung der Lebensqualität und zur Verbesserung der Attraktivität. Freifunk ist völlig kostenlos und wird durch Spenden finanziert. Mit Freifunk können auch Laden- und Gaststättenbesitzer ihren Kunden und Gästen ohne großen finanziellen Aufwand und verbunden mit dem Schutz vor der sogenannten Störerhaftung einen echten Mehrwert bieten. In Berlin haben Bezirke Dachflächen und Kirchengemeinden Kirchtürme zur Verfügung gestellt. Die Freifunker bauten so in Teilen der Innenstadt ein Funknetz auf, mit dem jedermann ungefragt weitere Router verbinden kann. (www.treffpunkt-kommune.de/wennder-buerger-funkt/, 07.09.2016)

Themen: Kommunalpolitische Herausforderungen 2016-2019 Zukunft Mobilität im ländlichen Raum Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum Kommunale Finanzen Beteiligungsmöglichketen in der Kommune

Kommunalpolitischer Tag Landkreis Mittelsachsen Sonnabend 22.10.2016, 10:00 - 17:00 Uhr Kommunalpolitik für den ländlichen Raum „Treibhaus e.V.“, Bahnhofstraße 56, Döbeln

Themen: Kommunalpolitische Herausforderungen 2016-2019 Flüchtlingsarbeit im Landkreis Mittelsachsen Zukunft Mobilität im ländlichen Raum Kommunalpolitische Beteiligungsmöglichkeiten Öffentliche Daseinsvorsorge: Krankenhäuser & Ärztezentren im Landkreis

Jugendseminar Teilhabe junger Menschen in der Kommune (Teil II) 18.-19.11.2016, Freitag ab 17:00 Uhr bis Sonnabend ca. 17:00 Uhr Jugendherberge, Augustusburger Straße 369, Chemnitz Themen: Was passiert im Jugendhilfeausschuss? Jugendbeteiligung ganz praktisch Beteiligung von Kinder und Jugendlichen bei der Planung von Spiel- und Freizeitanlagen Was geht alles noch?“- Einblick in die Arbeit der Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung Wie kommt Jugendbeteiligung überhaupt an? Haben Jugendliche das Gefühl beteiligt zu werden? Wie gestaltet man Jugendbeteiligung effektiv?

Kommunalpolitischer Tag Landkreis Nordsachsen Sonnabend, 19.11.2016, 10:00-16:00 Uhr „Bürgerhaus Eilenburg“, Franz-Mehring-Straße 23, Eilenburg Themen: Über die Zusammenarbeit von Fraktionen in kommunalen Vertretungen Wirksame Maßnahmen zur Integration von Flüchtlingen

Um die organisatorische Vorbereitung zu erleichtern, wird um rechtzeitige Anmeldung gebeten. Anmeldungen und weitere Informationen unter: Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Großenhainer Straße 99 01127 Dresden Tel.: 0351-4827944 oder 4827945 Fax: 0351-7952453 info@kommunalforum-sachsen.de www.kommunalforum-sachsen.de


September 2016

Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag

ParlamentsReport Armut schadet – vor allem Kindern

Liebe Leserinnen und Leser, schon wieder. Ein Sprengstoffanschlag, diesmal in Dresden-Cotta, traf – Tage vor dem Einheitsfeier-Pomp – eine Moschee. Der Täter stellte einer Zeugin zufolge einen Beutel vor den Eingang. Das wirkte gewöhnlich, denn jahrelang hinterließen Bekannte des Imams abends Tüten mit Spenden. Diesmal befand sich darin ein Sprengsatz. Niemand wird bestreiten, dass das Leben des Imams und seiner Familie absichtlich gefährdet wurde. Der Anschlag richtete sich gegen die Muslime in Sachsen, eine ethnisch-religiöse Minderheit. Er drückt meines Erachtens militante Islam- und Fremdenfeindlichkeit aus. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Möglicherweise geriet die Moschee in Cotta ins Visier, weil sie zur Vereinigung DITIB gehört. Die wird direkt von der islamistischen AKP-Führung in Ankara gesteuert. Die Debatte auch über solche politisch-religiösen Konstellationen ist nötig. Sie muss aber friedlich geführt werden! Der Staat hat religiöses Leben zu schützen, auch muslimisches, solange niemandes Grundrechte verletzt werden. Wir verteidigen die offene Gesellschaft, ob heimische Fremdenfeinde sie angreifen oder Fundamentalisten gleich welcher Glaubensrichtung. Wir wehren uns deshalb dagegen, muslimisches Leben unter Generalverdacht zu stellen. Terroristen und Fanatiker leben davon, dass wir andere ausgrenzen. Das treibt Menschen in die Radikalisierung. Wir sollten auf Verständigung setzen. Artikel 1 des Grundgesetzes besagt: „Das deutsche Volk bekennt sich […] zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“. Damit sind nicht nur Deutsche gemeint. Wer unsere Nachbar*innen angreift, attackiert uns alle. Ich hoffe, wie bei allen Anschlägen, auf schnellen Ermittlungserfolg.

Rico Gebhardt Fraktionsvorsitzender

Täglich eine warme Mahlzeit, frisches Obst und Gemüse. Altersgerechte Bücher. Spielzeug für‘s Freie. Regelmäßige Freizeitaktivität. Geld für Schulausflüge oder einige neue – nicht abgelegte – Kleidungsstücke. Die Möglichkeit, ab und zu Freunde und Freundinnen einzuladen, Geburtstage zu feiern. Das sind laut einer UNICEF-Studie Beispiele für Dinge, die arme Kinder täglich entbehren. In Deutschland muss fast jedes elfte Kind auf mindestens zwei dieser Punkte verzichten. Wer in Armut aufwächst, hat lange mit den Folgen zu kämpfen, nicht nur gesundheitlich. Armut ist kein abstraktes Phänomen, sondern schadet ganz konkret. Für Sachsen muss davon ausgegangen werden, dass bis zu 150.000 Kinder unterhalb der Armutsschwelle leben. 2014 war fast jedes vierte Kind betroffen, der Freistaat liegt über dem Bundesdurchschnitt. In Leipzig waren es 27, in Chemnitz 23 und in Dresden 19 Prozent. Die Eltern erhalten Hartz IV, Sozialhilfe nach SGB XII, Wohngeld oder

Asylbewerberleistungen. Hinzu kommen jene, die von der Entrichtung der Kita-Beiträge befreit sind, ebenfalls ein Indiz für Einkommensarmut. „Wenn wir ,Kinderarmut‘ hören, haben wir vielleicht Straßenkinder aus Indien und halb verhungerte afrikanische Kinder vor Augen. Gemessen an Ländern, aus denen Menschen vor Armut und Hunger fliehen müssen, um dann hier als Wirtschaftsflüchtlinge diffamiert zu werden, geht es hier allen gut“, bekennt die LINKEN-Abgeordnete Sarah Buddeberg. Es sei aber falsch, daraus zu schließen, dass alle gleichermaßen am Reichtum teilhaben würden. Sprösslinge von Eltern mit geringen Einkommen litten besonders, und Kinder seien in ganz Deutschland noch immer ein Armutsrisiko, vor allem für Alleinerziehende und Kinderreiche. 2014 betrug die Armutsquote der Alleinerziehenden 47 %, ihnen stehen also weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Armut sei auch regional: „Die Großstädte sind stärker betroffen

als der ländliche Raum. Leipzig behält den traurigen Titel als ,sächsische Armutshauptstadt‘“. Armut könne nicht pauschal beseitigt werden. Ein differenzierter, am Sozialraum orientierter Maßnahmenplan sei nötig. Die Linksfraktion hatte per Prioritätenantrag (Drs 6/6501) gefordert, lebenslanger Benachteiligung durch Kinderarmut entgegenzuwirken. Das beginnt beim Zugang zu schulischer und außerschulischer Bildung, die Waffen gegen Kinderarmut sein können – wenn sie Chancenunterschiede ausgleichen. Das fordert Cornelia Falken, Bildungsexpertin der Linksfraktion. „Es ist nachweisbar, dass arme Kinder nicht so viel Betreuungszeit in den Einrichtungen erhalten wie andere Kinder. Es ist klar, dass wir allein mit Schul- und Kitahausbau nicht weiterkommen“. Falken kennt die Probleme aus ihrer Heimatstadt Leipzig. Es erschrecke sie immer wieder, Familien und Kinder zu erleben, die noch nie aus ihrem Stadtbezirk herausgekommen sind. In bestimmten Stadtteilen lebten sehr viele arme Kinder. „Aber diese Klassen und Gruppen sind genauso stark wie anderswo“. In diesen Regionen müsse gezielt mehr Personal eingesetzt, oder Kita-Gruppen bzw. Klassen müssten verkleinert werden. Es sei problematisch, dass an sächsischen Schulen kaum noch Förderunterricht angeboten wird, weil nur gutverdienende Eltern in der Lage sind, Nachhilfestunden zu finanzieren. „So haben wir an den Förderschulen prozentual viel mehr arme Kinder als andere. Sie sind nicht von Geburt an dümmer als der Rest, sondern dort fehlt einfach die Zuwendung durch den Staat“, also durch die Solidargemeinschaft, so Falken. Kinderarmut sei nicht vorrangig ein Problem der Eltern, sondern der Gesellschaft. „Ein Kind, das wir zurücklassen, ist für die Gesellschaft verloren und wird übrigens am Ende wesentlich teurer als Investitionen in Kitas, Schule und Freizeitangebote“. Trotz der guten Haushaltslage lehnten CDU und SPD – wie auch die AfD – das Begehren der Linksfraktion ab. Die Ausführungen der CDU-Abgeordneten Ines Saborowski-Richter lassen sich, zugespitzt, so zusammenfassen: Es gibt in Sachsen keine armen Kinder. Wenn wir welche hätten, wären die Eltern schuld. Und: Es werden flächendeckend genug Schulen und Kindergärten gebaut. Problembewusstsein sieht anders aus. In Artikel 3 der Kinderrechtskonvention steht: „Soziale Sicherheit ist ein soziales Menschenrecht und unverzichtbar für das Erreichen von Kindeswohl“. Das scheint bei der Koalition noch nicht angekommen zu sein. Mit dieser Regierung bleiben die Entbehrungen also erhalten.


PARLAMENTSREPORT

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September 2016

Das Recht darf nicht dem Unrecht weichen

„Gewalt darf nicht erfolgreich sein! Lehren aus den Vorfällen von Bautzen ziehen“. Das war der Titel einer Debatte im Landtag, von der Linksfraktion Ende September beantragt. Lutz Richter, Sprecher für Demokratiepolitik, hat im Freistaat ein „Nazi- und Rassismusproblem“ ausgemacht. „Solange wir das nicht benennen, werden wir es nicht ändern können. Wir können das Thema nicht begreifen, wenn wir uns immer wieder auf Begriffe wie ,besorgte Bürger‘ oder ,eventbetonte Jugendliche’ zurückziehen“. Die Öffentlichkeit frage zu Recht: Warum immer wieder Sachsen? Die Antwort findet sich Richter zufolge in der Politik der CDU-geführ-

ten Regierungen. „Die Szene konnte sich im Schatten von Verharmlosung, Untertreibung oder sogar Leugnung hervorragend entwickeln. Die Antwort kann nicht sein, man müsse jetzt akzeptierende Jugendarbeit oder, wie man in den Neunzigern gesagt hat, ,Glatzenpflege‘ betreiben“. Die Regierung müsse Haltung zeigen, wie in Bremen. Dort konterte man einen

wurde und in der Region aufgewachsen ist, plädiert für eine realistische Analyse. „Das gravierendste Problem für Bautzen und seine Einwohner sind nicht die Flüchtlinge und auch nicht die unbegleiteten minderjährigen Ausländer, obwohl es unter ihnen einzelne gibt, die Gesetze nicht einhalten und dafür zur Verantwortung gezogen werden müssen“. Das sei übrigens

Foto: Unukorno / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0

„Eventbetonte“ Jugendliche seien es gewesen, die sich auf dem Bautzener Kornmarkt mit jungen Asylsuchenden geprügelt und sie durch die Stadt gejagt haben. So nannte Bautzens Polizeichef Uwe Kilz bei einer Pressekonferenz die teilweise extrem rechten Schläger, deren Integration in die zivilisierte Gesellschaft offensichtlich gescheitert ist. Dass die jugendlichen Asylsuchenden ihrerseits aggressiv auftraten, macht die Sache nicht besser. Es ist aber nachrangig, wer angefangen hat: Sachsen steht wieder im Fokus, eine offenbar gezielte Eskalationsstrategie der zu dieser Gelegenheit gern anreisenden rechten Szene geht auf. Gegenmaßnahmen wie eine Ausgangssperre oder ein Alkoholverbot richteten sich vor allem gegen die Asylsuchenden – den Nazis zur Freude.

Brandanschlag auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Huchting vor wenigen Tagen: „Wer sich von dieser feigen Tat verspricht, dass Bremen sich weniger um die Aufnahme von Flüchtlingen kümmert, erliegt einem schweren Irrtum“. Auch der LINKEN-Abgeordnete Heiko Kosel, der in Bautzen geboren

Aufgabe des Rechtsstaats und nicht der „besorgten Bürger“. „Das gravierendste Problem sind die über Jahre verfestigten rechtsradikalen Strukturen“. Deren Ziel sei es, den öffentlichen Raum und den politischen Diskurs zu erobern. Ihre Opfer seien nicht nur Geflüchtete, sondern längst Menschen mit Behinderung, Obdachlose, alternative Jugendliche, Sorben, Linke,

Homosexuelle, engagierte Demokraten oder konsequente Christen. Deshalb müsse über die Gründe dieser Vernetzung nachgedacht werden. Die Schließung zahlreicher Jugendklubs sei einer. Lehren aus Bautzen ziehen – für Enrico Stange, Innenpolitischer Sprecher, ist der Auftrag klar: Integration! Das betreffe nicht nur Geflüchtete, sondern auch andere Ausländer, ebenso allerdings jene hier lebenden Deutschen, die offensichtlich Probleme mit den Grundsätzen einer offenen und demokratischen Gesellschaft haben. „Für den Prozess der Integration sind zwei Dinge vonnöten: der Integrationswille derer, die hierher kommen, und der Integrationswille derer, die hier sind“. Der Kulturwissenschaftler Matthias Vogt schrieb unlängst in der Sächsischen Zeitung: „Wir müssen nicht nur Menschen anderer Länder in unsere Grundgesetz-Kultur aufnehmen. Sondern auch Deutsche, die sich aus ihr verabschiedet haben“. Sie alle müssen sich an Grundsätze halten, die auch den jungen Jura-Studenten Heiko Kosel in den Neunzigern geprägt haben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und „Das Recht darf nicht dem Unrecht weichen“. Es ist deshalb gefährlich, wenn Neonazis in Bautzen ihren „Nazikiez verteidigen“ wollen und die Stadtgesellschaft ihnen tatsächlich nachgeben würde. Oder die Polizei, vielleicht ungewollt, das Problem verniedlicht.

Müssen reiche Straftäter bald zittern?

Ob bei Ladendiebstahl, Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, bei Hasspropaganda in sozialen Netzwerken, Steuerhinterziehung oder – nun neu – Unterhaltsschulden: Seit Jahren geistern Vorschläge durch die politische Landschaft, Fahrverbot und Fahrerlaubnisentzug zur allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung einzusetzen. Dabei kommen diese Nebenstrafen oder „Zusatzreaktionen“ bisher nur zum Einsatz, wenn bezweifelt wird, dass Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet sind. Sie die-

nen also vorrangig der Verkehrssicherheit. Das soll sich den Plänen der Bundesregierung zufolge nun ändern. Für den Rechtsexperten der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, Klaus Bartl, wäre eine solche Neuregelung „der blanke Humbug“. Es sei mit atemberaubender Geschwindigkeit Mode geworden, auf gesellschaftliche Phänomene oder aktuelle Probleme mit Gesetzesänderungen zu reagieren, die vermeintlich populär sind. „Beim näheren Hinschauen nimmt die Popularität aber nicht selten an Stammtischen ihren Ausgangspunkt und hat dort den breitesten Unterstützerkreis“. Fahrverbote und Führerscheinentzug seien nur bei Verkehrsdelikten angemessen. Als Allgemeinstrafen würden sie nicht alle Täter gleichermaßen treffen: Großstädter würden darunter weniger leiden als Landbewohner, Autofahrer mehr als Nicht-Autofahrer, Reiche weniger als Arme. Wo der öffentliche Nahverkehr noch funktioniert, gibt es schließlich Alternativen zum PKW. Und wer viel Geld hat, kann mit dem Taxi fahren oder einen Fahrer engagieren. Die Reform würde auch ein Sonderrecht für Fahrerlaubnisinhaber schaffen. Der Entwurf aus Maas‘ Ministerium weist ausdrücklich darauf hin, dass eine Freiheitsstrafe künftig in

bestimmten Fällen durch eine Kombination aus Fahrverbot und Geldstrafe ersetzt werden könne. Auch sollen Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt werden können, wenn gleichzeitig ein Fahrverbot verhängt wird. Darüber dürften sich Straftäter mit Fahrerlaubnis freuen – der „Lappen“ bringt ihnen dann bessere Chancen, dem Knast zu entgehen.

Foto: Harald Bischoff / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0

Uli Hoeneß hätte seine Steuererklärung sicher korrekt ausgefüllt, wenn diese Debatte früher gekommen wäre. Spaß beiseite: „Um eine Alternative zur Freiheitsstrafe und eine Sanktion bei Personen zu schaffen, für die eine Geldstrafe kein fühlbares Übel darstellt, werden wir das Fahrverbot als eigenständige Sanktion im Erwachsenen- und Jugendstrafrecht einführen“. Darauf haben sich CDU und SPD auf der Bundesebene verständigt. Justizminister Heiko Maas (SPD) will das Strafgesetzbuch ändern. Straftätern, die über eine Geldstrafe lächeln, soll demnächst das Führen eines Kraftfahrzeuges verboten werden können. Pikant: Das soll auch möglich sein, wenn das jeweilige Vergehen gar nichts mit dem Straßenverkehr zu tun hat.

Absurd ist auch das Ansinnen, Unterhaltsschuldner per Fahrverbot zur Räson bringen zu wollen. Auch Bartl ist

bewusst, dass säumige Unterhaltszahler ein großes Problem sind. „Ich weiß aber als Familienrechtler auch, dass etwa zwei Drittel der Unterhaltsschuldner den Unterhalt nicht entrichten, weil sie mit ihrem Einkommen unter den Selbstbehaltsgrenzen liegen“. Es sei schlichtweg sinnlos, einem zahlungsunfähigen Schuldner die Fahrerlaubnis wegzunehmen, die er jedenfalls in der Regel braucht, um seinen Beruf auszuüben. Bartls Fazit: „Das Fahrverbot als Allzweckstrafe beschädigt unser Rechtssystem. Es ist unpraktisch, weil es sich nur schwer kontrollieren lässt. Es ist ungerecht, weil es manche Verurteilte härter träfe als andere. Und es ist unangemessen, weil es die innere Verbindung zwischen Tat und Strafe aufgeben würde“. Die Linksfraktion fordert (Drs 6/6061), Fahrverbot und Fahrerlaubnisentzug nicht zur allgemeinen Kriminalstrafe zu machen. Sachsens Staatsregierung soll sich in Berlin gegen die Pläne einsetzen. Der Landtag lehnte es allerdings ab, sie damit zu beauftragen. Künftig könnten also auch vermögende Steuerhinterzieher wie Uli Hoeneß mit Fahrverboten bedroht werden. Ein „fühlbares Übel“ dürfte das für sie allerdings nicht werden.


PARLAMENTSREPORT

September 2016

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Pläne und Polikliniken gegen Ärztemangel

Die Staatsregierung lässt derzeit ein „Gutachten zur Entwicklung des ambulanten Versorgungs- und Arztbedarfs“ erarbeiten. Dabei bleibt allerdings die Krankenhausplanung außen vor. Sowohl Arztpraxen als auch Krankenhäuser müssen erreichbar, ambulante und stationäre Behandlungen flächendeckend möglich sein! Die Linksfraktion will beides sichern. Ein Antrag (Drs 6/6123) sieht vor, Krankenhauslandschaft und ambulanten Sektor gemeinsam zu planen. So soll ein „Integrativer Gesundheits-/Arztversorgungs-Maßnahmenplan Sachsen 2017“ entstehen, der stationäre und

ambulante Angebote verbindet und in Regionen mit akutem Ärztemangel die Versorgung sichert. Ein Kernpunkt: Die Krankenhäuser sollen zu „Allgemeinen Gesundheitlich-Medizinischen Versor-

Menschen sollen den gleichen Zugang zum Gesundheitswesen erhalten, unabhängig von Wohnort oder Geldbeutel. Überversorgung, Unterversorgung und Fehlversorgung können wir uns nicht

sich über die Unterstützung von Expertenseite. Allerdings ließ sich die Regierungskoalition auch durch sie nicht bewegen, Maßnahmen gegen den Ärztemangel anzupacken – sie lehnte den

leisten. Ähnlich sieht es die Landesärztekammer: „Dem Antragsbegehren der Fraktion DIE LINKE ist grundsätzlich zuzustimmen, wenn es um die Sicherung der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung geht“. Susanne Schaper, Sprecherin für Sozial- und Gesundheitspolitik der Linksfraktion, freut

Antrag ab. Schaper hat dafür kein Verständnis. Für einen Gesunden spiele es wahrscheinlich wirklich keine Rolle, ob ein Arzt in einer halben Stunde oder in zehn Minuten erreichbar ist. „Für den Notfallpatienten hingegen ist jede Minute entscheidend“. Auch Landbewohner brauchen Sicherheit!

Foto: Laura Appleyard /flickr.com / CC BY-NC-SA 2.0

Das Leben auf dem Land hat Vorteile: Es ist oft ruhig und entspannt. Das gilt aber nur, solange man sich darauf verlassen kann, bei gesundheitlichen Problemen zügig Hilfe zu bekommen. In den letzten zehn Jahren sind Hausund Fachärzte aber vielerorts seltener, die Wartelisten länger geworden. Statistisch gesehen kommen beispielsweise auf 1.000 Einwohner in Neustadt nur 0,78 Ärzte, in Oschatz sogar nur 0,54. Gleichzeitig herrscht in den größeren Städten eher eine Überversorgung. Indes wird die medizinische Versorgung durch den demografischen Wandel immer wichtiger. Praxen auf dem Land bleiben immer häufiger ohne Nachfolger, wenn Ärzte in den Ruhestand gehen. Die meisten sächsischen Hausärzte sind bereits 50 Jahre alt oder älter. Sie erreichen bis 2030 das Rentenalter. Die Zeit bis dahin muss genutzt werden, um vorzusorgen. Das scheitert bislang schon an einer wichtigen Voraussetzung: Die Bedarfsplanung funktioniert nicht.

Bewährtes aufpolieren!

gungszentren (AGMV)“ ausgebaut werden, an die man sich auch ohne Überweisung vom Hausarzt wenden kann. In der DDR kannte man sie als „Polikliniken“. Ziel einer landesweiten Planung ist es, Ungleichgewichte zu beseitigen. Alle

Steter Tropfen höhlt den Stein Sachsen muss um jede einzelne Lehrkraft kämpfen. Das kann nicht erfolgreich sein, solange die Arbeitsbedingungen unattraktiv bleiben. Die Linksfraktion macht deshalb bei jeder Gelegenheit Druck. Titel der Debatte im August: „Keine Lehrkräfte – kein Unterricht. CDU-Versagen stoppen – Bildungsnotstand verhindern!“ Auch Cornelia Falken, Bildungsexpertin der LINKEN, weiß um den Wiederholungscharakter solcher Diskussionen. Sie können ermüden, sind aber notwendig – im Sinne von „Steter Tropfen höhlt den Stein“. „Denn von Jahr zu Jahr wird die Situation an den sächsischen Schulen katastrophaler“. Die Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und der Staatsregierung, die sich auf Maßnahmen gegen den Lehrermangel verständigen wollten, sind unlängst gescheitert. Immer neue Aspekte der Bildungsmisere kommen ans Licht. Schon die Nachricht, dass fast jede zweite Lehrkraft, die zum Beginn des Schuljahres eingestellt worden ist, keine pädagogische Ausbildung hat, schlug ein. Nun hat das Kultusministerium einräumen müssen, dass es nicht einmal gelingt, neu eingestellte Lehrkräfte im Schuldienst zu halten. Zum Schuljahresbe-

ginn 2016/2017 haben 37 schon wieder gekündigt, 17 ihren Dienst nicht angetreten. Darunter leidet die Unterrichtsqualität zusätzlich. Die Einstellungspolitik des Freistaates muss verändert werden. Das Jammern über die Fehler der Vergangenheit, wie es von der Kultusministerin zu hören ist, bleibt müßig. Klar, das Kultusministerium wusste spätestens seit dem Auslaufen des Bezirkstarifvertrages für die Gymnasial- und Mittelschullehrer im Jahr 2006/2007, was aufgrund der Altersstruktur auf uns zukommt. Schon damals hätten mehr Lehrkräfte eingestellt werden müssen, als unmittelbar benötigt wurden, um vorzusorgen. Zudem wäre Zeit geblieben, um die Lehramtsausbildung aufzustocken. Es hätte auch die Chance bestanden, für attraktive Arbeitsbedingungen und konkurrenzfähige Gehälter zu sorgen. Das alles ist nicht geschehen. „Wie sieht es nun aus?“, fragt Falken, und antwortet: „Keine Reserven, gar keine Reserven. Ich habe einen Lehrer der Leipziger Petri-Mittelschule getroffen. Er sagte: Stell‘ Dir vor, bei uns bricht die Katastrophe aus. Drei Wochen vor Schuljahresbeginn sind von 25 Lehrern, die wir an der Schule

haben, fünf krank. Das bedeutet Kürzung der Stundentafel, Zusammenlegung von Klassen, große Schüler müssen nach Hause“. Das sei nur ein Beispiel von vielen. Diese Situation habe Ministerpräsident Tillich zu verantworten. Er lässt seinen CDU-Finanzminister Georg Unland gewähren, der seit Jahren gebetsmühlenartig betont, für die kommenden Generationen Geld zurücklegen zu müssen. So steuerte der Freistaat in die personalpolitische Misere. Falken fragte Unland: „Was ist eigentlich mit der Generation, die wir zurzeit an unseren Schulen haben?“ Konkrete Vorschläge sind gefragt. Die Linksfraktion liefert sie seit Jahren, schon 2006 warnte sie vor Lehrkräftemangel. Der Freistaat muss endich ein Lehrerpersonalentwicklungskonzept bekommen! Neben einer attraktiven Einstellungspraxis – bisher bekommen Bewerberinnen und Bewerber nur ein einziges Einstellungsangebot für eine einzige Schule –, muss gleichwertige pädagogische Tätigkeit über alle Schularten hinweg per Tarifvertrag mit der Entgeltgruppe 13 vergütet werden. Und zwar ab sofort! Die vielen Seitenund Quereinsteiger – nach dem Kriege hießen sie „Neulehrer“ – brauchen vom ersten Schultag an eine berufsbeglei-

tende Fortbildung. An den Hochschulen müssen mehr Lehramts-Studienplätze geschaffen werden, die bisher eingeplanten 2.000 reichen absehbar nicht aus, um die Altersabgänge auszugleichen. Auch sollte versucht werden, Pädagog*innen im Alter von mehr als 63 Jahren möglichst lange im Dienst zu halten. Dazu ist ein tarifliches Altersteilzeitmodell mit zusätzlichen Anrechnungsstunden notwendig. Bestimmte Teile der Unterrichtsverpflichtung dürfen dann für andere schulische Aufgaben verwendet werden. Die erfahrenen Lehrkräfte betreuen auch die Seiteneinsteiger*innen, und das zusätzlich zum normalen Arbeitspensum. Dafür erhalten sie bisher keinerlei Vergütung – außer einer kläglichen Anrechnungsstunde, die den Zeitaufwand nicht ausgleicht. Selbst diese musste der Hauptpersonalrat erst gegen das Kultusministerium durchsetzen. Falkens Fazit in Richtung CDU und SPD: „Sie werden die Qualität des Unterrichtes nur mit gut ausgebildeten, qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern erhöhen können“. Deshalb muss der Kampf um jede einzelne Lehrkraft endlich mit aller Kraft geführt werden!


PARLAMENTSREPORT

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September 2016

„Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine!“

Plenarspiegel 08-09/2016 Die 38. und 39. Sitzung fanden am 31.08./01.09., die 40. und 41. Sitzung am 28.09./29.09.2016 statt. Die Linksfraktion war u. a. mit diesen Initiativen vertreten: Aktuelle Debatten

Mit diesem Slogan demonstrierten westdeutsche Frauen in den 1970er Jahren gegen die Strafbarkeit von Abtreibungen. Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland immer noch rechtswidrig. Sie bleiben aber straffrei, wenn drei Kriterien erfüllt sind: Sie müssen innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft erfolgen, es muss eine sogenannte Schwangerenkonfliktberatung durchgeführt und eine anschließende dreitätige Wartepflicht eingehalten werden. Auch gegen diesen kleinen zivilisatorischen Fortschritt wenden sich selbsternannte „Lebensschützer*innen“ unter Beteiligung von CDU und AfD. Regelmäßig führen sie im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz einen „Marsch für das Leben“ durch. In Polen

Individuen haben das Grundrecht, frei und verantwortungsvoll über die Zahl und den Abstand ihrer Kinder zu entscheiden und die Informationen, Bildung und Mittel dazu zu erhalten“. Jede Person kann also selbst darüber befinden, ob sie Kinder bekommen will oder eben nicht. „Das Recht, sich gegen Kinder zu entscheiden, muss deshalb auch die Möglichkeit einräumen, eine Schwangerschaft abzubrechen“, meint Buddeberg. Dass das heute möglich ist, sei Ergebnis eines langen und zähen Kampfes. Schwangerschaftsabbrüche müssten entkriminalisiert werden. Bis dahin lasse sich aber auch innerhalb der geltenden Regelungen vieles tun, um das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft zu stärken.

„Keine Lehrkräfte – kein Unterricht. CDU-Versagen stoppen – Bildungsnotstand verhindern!“

„Gesetz zur Gewährleistung der Gleichstellung von Beamtinnen und Beamten im Vorbereitungsdienst bei Leistungen nach dem Reisekostengesetz“ (Drs 6/5221) „Gesetz zur Neuregelung der Verwendung der Lotterie- und Glücksspielerträge für soziale Zwecke sowie zur Verbesserung der Glücksspielsuchtprävention“ (Drs 6/5530) „Gesetz über die kommunalen Migrationsbeauftragten im Freistaat Sachsen“ (Drs 6/6371) Große Anfrage „Gesetzliche Betreuung im Freistaat Sachsen“ (Drs 6/3302) Anträge „Fahrverbot und Fahrerlaubnisentzug nicht zur allgemeinen Kriminalstrafe machen!“ (Drs 6/6061) „Wohnortnahe Haus- und Facharztversorgung sowie ambulante Heil- und Gesundheitsversorgung als Teil der sozialen Daseinsvorsorge sichern!“ (Drs 6/6123) „Schulpsychologische Beratung verbessern“ (Drs 6/888) „Lebenslanger Benachteiligung durch Kinderarmut aktiv entgegenwirken – Bildungslandschaft am Lebensumfeld der Kinder orientiert gestalten“ (Drs 6/6501) „Das Recht auf eine selbstbestimmte Schwangerschaft achten und unterstützen!“ (Drs 6/4587)

Regionaltour „Regionen der Zukunft – Sachsen. Hier leben. Hier bleiben.“ Nächste Tourwochen: Landkreis Leipzig, Nordsachsen (4. bis 14. Oktober)

Foto: ponte1112 / flickr.com / CC BY-NC-SA 2.0

„Gesetz zur Stärkung der direkten Demokratie im Freistaat Sachsen“ (Drs 6/1088, LINKE & GRÜNE)

Für diese Ziele wird sich die Linksfraktion auch in der bevorstehenden Haushaltsberatung einsetzen, nachdem CDU und SPD unsere Forderungen nach mehr Selbstbestimmung in der Sexualität abgelehnt haben. Dabei ist sie ein Menschenrecht, das allen zukommt!

Termine

„Integration ,eventbetonter Jugendlicher‘ gescheitert – Gewalt darf nicht erfolgreich sein! Lehren aus den Vorfällen von Bautzen ziehen“ Gesetzentwürfe

Betroffenen sie sich auch leisten können. Die Mittel, die beispielsweise im Hartz-IV-Satz dafür vorgesehen sind, sind lächerlich gering. Verhütung darf nicht am Geldbeutel scheitern! Auch ein Schwangerschaftsabbruch soll allen betroffenen Frauen kostenfrei gewährt werden. Sterilisationen und deren Vorund Nachuntersuchungen sollen grundsätzlich wieder im Leistungskatalog der Krankenkassen stehen.

soll das Rad der Geschichte indes wirklich zurückgedreht werden: Unlängst stimmte das Parlament beinahe für ein radikales Abtreibungsverbot. „Wer Leben schützen will, sollte nicht nur über ungeborenes Leben sprechen, sondern vor allem auch über den Schutz geborenen Lebens: Jährlich sterben weltweit 47.000 Frauen an den Folgen illegaler Schwangerschaftsabbrüche“, stellt Sarah Buddeberg, Sprecherin für Gleichstellungs- und Queerpolitik der Linksfraktion, klar. „Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung sind keine feministische Mode und keine

„Alle Paare und Individuen haben das Grundrecht, frei und verantwortungsvoll über die Zahl und den Abstand ihrer Kinder zu entscheiden und die Informationen, Bildung und Mittel dazu zu erhalten“

linke Worthülse, sondern ein Grundrecht“. Schon 1974 bekannte das die Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen: „Alle Paare und

Infos: www.bit.ly/2dppvcz und www. facebook.com/hierlebenhierbleiben

Die Linksfraktion hat die Staatsregierung mit einem Antrag im Landtag dazu aufgefordert (Drs 6/4587). Die Beratungsstellen nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz müssen sicher finanziert sein – die Eigenanteile der Träger sollten auf maximal fünf Prozent reduziert und die Beratungskräfte nach Tarif bezahlt werden. Sie sollen Informationen über medizinische und rechtliche Bedingungen zur Schwangerschaft oder zur Kosten- bzw. Rezeptfreiheit von schwangerschaftsverhütenden Mitteln bereitstellen. Ihre Angebote sollen auch gleichgeschlechtlichen Paaren, trans- und intersexuellen Menschen zugänglich sein. Außerdem sollen sie in der Lage interkulturell beraten können, um auch schwangeren Geflüchteten helfen zu können. Die Beratungsstellen sind auch deshalb wichtig, weil Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen möchten, sie konsultieren müssen. Eine neutrale Beratung kann auch dazu führen, dass sich eine Frau für ihr Kind entscheidet – zum Beispiel, wenn sie es sich eigentlich wünscht, aber Zukunftsangst hat. Kinder sind immer noch das Armutsrisiko schlechthin. Gegenüber dem Bund soll Sachsens Staatsregierung dafür streiten, dass schwangerschaftsverhütende Mittel schrittweise kostenfrei gewährt werden. Verhütung ist schließlich das wirksamste Mittel gegen ungewollte Schwangerschaft – aber nur, wenn die

Fachgespräch: »Aktuelle Bestandsaufnahme zur Abschiebepraxis und Menschenrechtsgewährung bei Aufnahme, Unterbringung und Integration von Flüchtlingen in Sachsen« 20. Oktober 2016, 15 Uhr, Sächsischer Landtag, Raum A400 Fachgespräch: »Für eine leistungsfähige Erwachsenenbildung in Sachsen« 26. Oktober 2016, 16 Uhr, Sächsischer Landtag, Saal 2 (Neubau) Veranstaltungs-Infos: gleft.de/1aJ

Impressum Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Telefon: 0351/493-5800 Telefax: 0351/493-5460 E-Mail: linksfraktion@slt.sachsen.de www.linksfraktion-sachsen.de V.i.S.d.P.: Marcel Braumann Redaktion: Kevin Reißig


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