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Nr. 174/August 2007

1,60 Euro (davon 85 Cent für den/die Verkäufer/in)

Er ist wieder weg Die Botschaft des Dalai Lama

Lohndumping bei Briefträgern S. 8

Obdachlosen-WM: Eklat im Trainingslager S. 10

S. 4–6

Reif für die Insel: Blick nach Wilhelmsburg S. 15


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Foto: Mauricio Bustamante

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Der Dalai Lama begrüßt Diakoniechefin und Hinz&Kunzt-Herausgeberin Annegrethe Stoltenberg


Zusammenbruch des Ostblocks hätten es die Länder schwer, innerhalb so kurzer Zeit ein demokratisches System aufzubauen. „Es hilft nichts, sie immer nur zu kritisieren“, so der Dalai Lama. Russland und die anderen Staaten bräuchten stattdessen „unsere Unterstützung und unsere Hilfe auf dem Weg zu einer echten Demokratie“. Diese Botschaft gefällt den Zuhörern weniger gut, ein dezentes Raunen geht durch die Halle. Kritik an US-Präsident George W. Bush ist mehr nach Geschmack des Publikums. Das spürt auch der Dalai Lama und fügt schnell an, dass er Bush persönlich kenne und ihn als einen „netten Menschen, wirklich!“ schätzt, „der geradeaus ist und mit dem man leicht in Kontakt kommt“. Aber mit seiner Politik stimme er nicht überein. Nach den Anschlägen aufs World Trade Center am 11. September 2001 hatte er ihm ein Beileidsschreiben geschickt und seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Bush nicht mit Gewalt antworten möge. Doch Bush begann den Krieg im Irak. Den Dalai Lama wundert es nicht, dass der Krieg nicht zu Frieden, sondern zu noch mehr Gewalt und viel mehr Toten geführt hat. Statt sich zu rächen, müsse man viel stärker mit den Muslimen in Dialog treten, ihre Bedürfnisse ernsthaft berücksichtigen. Nur wenn es gelinge, die Atmosphäre für die Muslime zu verbessern, ihnen zu zeigen, „dass wir ihre Religion, die mitnichten Gewalt predigt“, akzeptieren, hätten die Terroristen keine Chance. „Sonst“, warnte der Dalai Lama, „haben wir heute einen Bin Laden, morgen zehn und übermorgen einhundert.“ Immer wieder betont der Dalai Lama, dass die Frage der höchstmöglichen Gewaltlosigkeit, des Mitgefühls und der Warmherzigkeit eine Frage der physischen und psychischen Gesundheit ist, „was auch wissenschaftlich erwiesen ist“ – und eine Frage des eigenen Überlebens. Im politischen Bereich und im privaten. „Wer seinen Feind aus Rache umbringt, ist nur einen Moment lang der Sieger.“ Dann habe er selbst wieder neue Probleme verursacht, auch für sich selbst. „Unsere so genannten Feinde sind doch immer auch ein Teil von uns selbst“, ist seine Meinung. „Seinen Feinden zu schaden heißt, auch sich selbst zu schaden.“ Der Dalai Lama weiß, dass er für seine Anhänger im Westen so eine Art Popstar ist, ein Hoffnungsträger und eine Entschädigung für all die Enttäuschungen, die wir tagtäglich mit unseren Politikern und Kirchenfürsten erleben. Aber so freundlich und humorvoll, wie er auf uns wirkt, ist das tibetische Oberhaupt durchaus nicht in allen Lebenslagen. Als seine Brüder beispielsweise ihr Mönchsgelübde zurückgaben und heirateten, redete er monatelang nicht mehr mit ihnen. Und auch unter tibetischen Mönchen gab es Machtmissbrauch und Intrigen. So sollen einige Gottkönige in früheren Jahrhunderten ermordet worden sein. Es ist also keine Koketterie, wenn der Dalai Lama bescheiden auftritt und immer wieder mahnt, dass es besser ist, sich der eigenen Religion und Kultur zuzuwenden. „Denn die Botschaft von Mitgefühl und Gewaltlosigkeit beinhalten alle Religionen.“

Hinz&Kunzt beim Dalai Lama Eine der Gesprächspartnerinnen des Dalai Lama war Annegrethe Stoltenberg, Hamburgs Diakoniechefin, Landespastorin und Herausgeberin von Hinz&Kunzt. Mitarbeiter des Tibetischen Zentrums in Hamburg hatten ein Interview mit ihr in Hinz&Kunzt gelesen mit der Überschrift: „Eine Gesellschaft von Egoisten funktioniert nicht.“ Also genau das Motto, das der Dalai Lama immer predigt. Was die Organisatoren bei ihrer Einladung noch nicht wussten: Annegrethe Stoltenberg hat den Weg zum Christentum über den Buddhismus gefunden. Sie war als junge Frau aus der Kirche ausgetreten und wurde Deutsch- und Politiklehrerin. Nach sieben Jahren Berufspraxis suchte sie aber neu nach ihrem Lebensweg. Mit 28 Jahren gab sie ihr Beamtendasein auf und reiste nach

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Der berühmteste Flüchtling der Welt kämpft zeitlebens für mehr Warmherzigkeit, Toleranz und für Gewaltlosigkeit

Asien. Dort stellte sie allerdings fest: „So schön der Buddhismus ist, er ist nicht meine Kultur. Und ich brauche mehr Nähe zwischen religiöser Überzeugung und sozialem Handeln.“ Zurück in Deutschland jobbte sie in der Erwachsenenbildung, immer weiter auf der Suche. Mit 30 begann sie ihr Theologiestudium und fand zum Christentum zurück. Dem Dalai Lama präsentierte sie das diakonische Projekt Hinz&Kunzt, „ein Beispiel dafür, wie Mitgefühl den Frieden in der Gesellschaft fördert“. Und bei Hinz&Kunzt sei auch Platz für das (buddhistische) kleine und das große Mitgefühl. Das kleine, indem Hinz&Kunzt durch die Möglichkeit des Geldverdienens und durch Sozialarbeit direkte Hilfe bietet. „Aber die Obdachlosen bestimmen selbst, welche Hilfe für sie gut ist.“ Und das große Mitgefühl, „denn eine Zeitung kann auf Ursachen von Ungerechtigkeit, Not und Armut hinweisen, um diese schrittweise zu beheben.“ Auch die Hinz&Künztler, Hauptamtliche wie Verkäufer hätten ein tiefes Bedürfnis nach Spiritualität, so Annegrethe Stoltenberg. Das werde immer angesichts des Todes eines Verkäufers deutlich. Auf dem Öjendorfer Friedhof gibt es einen Gedenkbaum, an dem die Namen der Verstorbenen zu lesen seien. Einmal im Jahr besuchen Mitarbeiter und Verkäufer den Baum mit „ihren“ Toten. Und für die Verkäufer sei es ein großer Trost zu wissen, dass, wenn sie eines Tages sterben, ihr Name dort auch verewigt sein wird. Annegrethe Stoltenberg bedauert allerdings, dass in der diakonischen Arbeit die soziale Handlung großgeschrieben wird, das Gebet und die Meditation als Kraftquellen jedoch nicht so genutzt würden. „Ich empfinde eine große Bewunderung und Wertschätzung für Ihre Arbeit“, sagte der Dalai Lama zu Annegrethe Stoltenberg und meinte damit alle sozial engagierten Menschen. „Und ich muss zugeben, dass auch ich die Grenzen des Gebetes sehe. Ein Gebet kann Hoffnung geben, aber das konkrete soziale Handeln ist wesentlich.“ Und für die hauptamtlichen und ehrenamtlichen Helfer hatte er eine besondere Botschaft. „Man muss sich selbst lieben und diese Liebe ausdehnen auf die anderen. Das muss die Grundlage sein.“ Wer dies beherzige laufe weniger Gefahr, ausgebrannt zu sein oder ein Helfersyndrom zu entwickeln. Birgit Müller

Buchtipp: Das Vermächtnis des Dalai Lama

von Spiegel-Autor Erich Follath, Collection Rolf Heyne, 2007, 19,90 Euro

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Reif für die Insel Die Internationale Bauausstellung kommt, engagierte Bürger sind schon da: Aufbruchstimmung auf der Elbinsel Wilhelmsburg. Entdeckungen zwischen Cafés, Feuchtwiesen und Autobahn

Früher begann für Hamburger südlich der Elbe der Balkan. Jetzt soll sich das arme Wilhelmsburg, unter anderem durch die Internationale Bauaustellung, in einen blühenden Stadtteil verwandeln – so wie einst Ottensen. Was ist dran an dieser Vision? Gleich kommen die Kinder. Werden sich auf die Ytongsteine und die Sägen stürzen, um weitere Miniaturhäuser zu bauen. „Zusammenwachsen“ heißt die Aktion der reisenden Künstlerin Kathrin Milan. Gedacht für Kinder und Jugendliche aus den Altbauten an der Vehringstraße. Aber auch die Demenzgruppe drüben von der Diakonie war schon da; das Basteln und Werkeln hat den Alten Spaß gemacht. Die zurechtgesägten Häuser gehören zu einem begehbaren Stadtplan, den Kathrin Milan mit örtlichen Lehrlingen aus dem Fach Landschafts- und Gartenbau auslegt. Vielleicht muss die Stadtlandschaft wieder verschwinden, wenn sie fertig ist. Denn das Brachgelände soll Teil einer neuen Grünanlage werden. „Dabei haben wir hier genug durchgeplante Grünflächen“, sagt Kathrin Milan. „Was fehlt, sind wilde Ecken, die Kinder allein gestalten können.“ Erst neulich seien Leute vom Bezirksamt vorbeigekommen und hätten – ritsch, ratsch – einen der hohen Bäume gefällt. „Das sind die großen Gesten, mit denen man die Veränderung einleiten möchte, während ich mich bücke und sage: Oh, eine Wildblume, das ist ja interessant.“ Und sie lächelt in sich hinein, als wüsste sie genau, dass solch ein sorgsamer und kleinteiliger Umgang derzeit wohl nicht ins Konzept passt. Denn die Hansestadt Hamburg hat mit der Elbinsel Großes vor. Sie möchte Arbeitsplätze schaffen und Wohnungen bauen. Beim Sprung

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Kontrastreich: im Hintergrund die sogenannten niedrigen Hochh채user von Kirchdorf-S체d, vorn ein Landwirt bei der Arbeit auf seiner Milchviehweide


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Elbinsel Das heutige Wilhelmsburg entstand über Jahrhunderte durch die Eindeichung verschiedener Elbinseln wie Georgswerder, Stillhorn, Kirchdorf und Moorwerder. Je nach Fördertopf und Zielvorgaben werden aktuell mal die Elbinsel Veddel sowie der Harburger Binnenhafen zu Wilhelmsburg gezählt – oder auch nicht. Ab April 2008 wechselt der Stadtteil vom Bezirk Harburg zu Hamburg-Mitte.

IGS Die Internationale Gartenschau findet aller zehn Jahre statt und widmet sich den Themen Landschaftsarchitektur und Gartenplanung, aber auch den Kleingärten und der Pflanzenzucht. Hamburg verdankt den IGS 1953, 1963 und 1973 die Parkanlage Planten un Blomen. Geschäftsführer ist Heiner Baumgarten, der zugleich stellvertretender Geschäftsführer der IBA ist. www.igs-hamburg.de

IBA Die IBA Hamburg will mehr sein als eine Bauausstellung. Sie bejaht das Konzept der wachsenden Metropole und möchte vernachlässigte Stadtteile wieder an die Zentren anbinden. Sie sieht im Zusammentreffen verschiedener Nationalitäten durchweg Positives. Thema ist auch die Stadt im Klimawandel – wichtig für das von Wasser umgebene Wilhelmsburg. Aufsichtsratschef der IBA ist Bausenator Axel Gedaschko. Am Vehringhof 9 21107 Hamburg Tel. 226 227 33 www.iba-hamburg.de

Von Kindern für die Aktion „Zusammenwachsen“ gebaut: Miniaturhäuser aus Ytongsteinen

über die Elbe will man in Wilhelmsburg landen. Die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt geht mit gutem Beispiel voran: Sie wird mit 1800 Mitarbeitern von der Innenstadt hinüber auf die Elbinsel wechseln. Wilhelmsburg wird Austragungsort der Internationalen Gartenschau (IGS) 2013 und der Internationalen Bauausstellung (IBA). 78 Millionen Euro will die IGS investieren; 100 Millionen Euro die IBA – für den Ankauf von Grundstücken, für Architekturwettbewerbe, soziale Projekte und Kultur. Allein das Programm für den diesjährigen IBA-Kultursommer umfasst 58 Veranstaltungen – von der Fotoausstellung bis zum Open-Air-Festival. Und das in einem Stadtteil, der seit Jahren kein festes Kino, keinen bekannten Club hat und wo es an Einkaufsmöglichkeiten mangelt. „Als die IBA mit ihrem vielen Geld auftauchte, wurden einige ganz nervös“, erzählt Kathrin Milan, „aber an vielen Wilhelmsburgern geht das völlig vorbei.“ Ihr Projekt wird finanziert durch das Senatsprogramm Lebenswerte Stadt und EU-Geld. Tätig ist auch das Wohnungsunternehmen SAGA GWG, das von 1995 bis 2005 rund 140 Millionen in seine Gebäude investiert hat. Selbst Insider blicken kaum noch durch, wer was fördert. In Wilhelmsburg wird derzeit viel Geld in die Hand genommen. Woher nun dieser Eifer, dieser Elan? Dem Aufbruch entgegen steht das schlechte Image des Stadtteils. Wilhelmsburg, da tötete doch damals ein Kampfhund den sechsjährigen Volkan. Auf dem Wilhelmsburger Stübenplatz hielt dieser Roland Schill seine erste Rede, und in den umliegenden Straßen holte seine wirre Truppe bessere Wahlergebnisse als die etablierten Parteien. Sicher waren sich die Hamburger auch: Als ihr Bürgermeister nebulös von Stadtteilen

sprach, die sozial „gekippt“ seien, war gewiss auch Wilhelmsburg gemeint. Nun aber soll alles anders werden: Auf nach drüben! „Wir sind schon da“, mit diesem Slogan kontern Wilhelmsburger Bürger, die sich seit Jahr und Tag mit der Entwicklung ihres Stadtteils beschäftigen. Sie sind es leid, dass andere so tun, als würden in Hamburgs größtem Stadtteil Barbaren hausen. Einer, der schon da ist, ist Manuel Humburg, niedergelassener Arzt und Mitglied im Verein Zukunft Elbinsel. Mittlerweile wohnt er zwischen Gemüsebauern in Wilhelmsburgs Süden: in Moorwerder – so idyllisch, dass man vor Neid blass wird. Im Nu zeichnet er ein ganz anderes Bild: berichtet von engagierten Sozialarbeitern und Lehrerinnen, die sich über ihr Stundenpensum hinaus um Kinder kümmern. Er verschweigt nicht die Schattenseiten: die enorme Armut besonders in den Blocks, aber auch in den heruntergekommenen Gründerzeitbauten, die teilweise seit Jahrzehnten vor sich hinrotten; das Nebeneinanderherleben unterschiedlicher Kulturen. Ja, es habe Probleme mit Jugendgangs gegeben, die einzelne Straßenzüge beherrscht hätten. Die Wilhelmsburger Zukunftskonferenz 2001 sei auch ein Hilfeschrei gewesen: Lasst den Stadtteil nicht vor die Hunde gehen! Entsprechend weist er die Forderung zurück, alles möge so bleiben und man solle betuchte Neunankömmlinge zum Teufel jagen: „Den Stadtteil so belassen, wie er ist, das geht keinesfalls.“ Humburg ist nicht allzu bange, dass die Insel eine Schicki-Meile wird. Denn es gebe hier eine gute Tradition: Bürger mischen sich ein – zum Beispiel, als es um weitere Verkehrstrassen oder eine Müllverbrennungsanlage ging.


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Lebenswerte Stadt Wilhelmsburg ist einer von sechs Stadtteilen, für den das Senatsprogramm „Lebenswerte Stadt“ greifen soll. U. a. folgende Projekte sollen initiiert werden: ElternKind-Zentrum – Interkulturelles Seniorenprojekt – Kurse für Eltern aus der Türkei – Tanzprojekt: Wohin mit meiner Wut? www.lebenswerte-stadt. de

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Wozu in den Süden fahren? Badespaß in Finkenriek an der Süderelbe

„Als in den Siebzigern das Freibad am Assmannkanal geschlossen wurde, hat das niemanden groß aufgeregt. Das wäre heute anders“, sagt der Arzt.

Wohneinheiten bauen kann. Gedacht für die sagenumwobenen jungen Familien, von deren Zuzug man sich auch in Wilhelmsburg Wunder erhofft.

Aufbruchstimmung also. Doch unter der Oberf läche liegen die Nerven blank. Als die evangelische Kirche im Frühsommer die Gründung einer Grundschule verkündete, sorgte das für erhebliche Unruhe. Die Schulleiter der örtlichen Grund- und Gesamtschulen sahen sich zu einer gemeinsamen Erklärung veranlasst. Bei ihnen werde trotz eines hohen Ausländeranteils vorzügliche Arbeit geleistet. Es war ein Versuch, die Eltern zu halten, die man heute „bildungsnah“ nennt: selbst gut ausgebildet, gutes Einkommen, engagiert. „Es wird noch gut zehn Jahre dauern, bis es genug große und dann hoffentlich noch bezahlbare Wohnungen für Familien gibt“, sagt Stefan Schmalfeld vom Hamburger Mieterverein. Man habe den Stadtteil schlicht zu lange treiben lassen. Ähnlich sieht es Heinrich Stüven vom Grundeigentümerverein: „Jahrelang hat uns niemand geglaubt, dass dies ein unglaublich attraktiver Stadtteil ist, in den man investieren sollte.“ Stüven findet klare Worte. „Hamburg hat Wilhelmsburg immer wie eine Müllkippe benutzt und alles, was es nicht haben wollte – von sozialen Problemen über Verkehrsbelastungen bis hin zu Altlasten – dort abgeladen.“ Kein Wunder daher, dass die Bewohner nun besonders genau gucken, was ihnen da Gutes beschert werden soll. Etwa, wenn es um die geplante Bebauung der Feuchtwiesen zwischen dem bürgerlichen Kirchdorf und der Autobahn A 1 geht. Kein originäres IBA-Projekt, trotzdem soll die IBA untersuchen, wie man hier im Grünen 320 neue

Harald Köpke fährt in seinem roten, etwas in die Jahre gekommenen, aber grundsoliden Flitzer vor. Er ist Vorsitzender des BUND, Wahlwilhelmsburger seit 25 Jahren und von der hiesigen Sonne braungebrannt. Los geht’s in ein Wilhelmsburg, das ganz anders ist: ländlich statt zugebaut; grün statt grau; abgeschieden statt hektisch. Bevölkert mit Kühen und Pferden; garniert mit reetgedeckten Bauernhäusern. Und über allem schwebt der wolkensatte norddeutsche Himmel. Köpke hält an einer kleinen Siedlung. Weiße, seltsam kantige Häuschen stehen etwas verloren in der Gegend. Die Kirchdorfer Öko-Siedlung, gedacht für Eigenheimbesitzer mit Gewissensbissen und entsprechenden Ambitionen. Köpke zeigt auf die Wiesen dahinter: „Das sollte auch bebaut werden. Aber wer kauft sich hier ein, bei dem schlechten Image, das der Stadtteil hat; wo sich viele nicht trauen, ihre Kinder zur Schule zu schicken.“ Also muckert die Vorzeigesiedlung vor sich hin und will nicht recht in die Gänge kommen. Er fährt weiter, sieht einen Bekannten, bremst. Ob es sein könne, fragt ihn der, dass es hier wieder Waschbären gebe. Gut möglich, nur sollten sich die vor einem gleichfalls wiedergekehrten Bewohner der Elbauen in Acht nehmen: dem Seeadler. Noch vorhanden: der Marderhund, der Eisvogel, der Mauerfuchs, ein seltener Schmetterling. Klar kennt er den Einwand: Wegen einer geschützten Sumpfdotterblume soll man keine Wohnungen bauen? Er trommelt aufs Lenkrad und sagt: „Ich bin jetzt 60, und meine Genera-

Verfügt über einen großen Wohnraumbestand im Bahnhofsviertel, im Reiherstieg und vor allem in KirchdorfSüd. Zusammen mit der IBA plant man im Reiherstiegviertel dessen Sanierung als „Weltquartier“. Dort wohnen derzeit in 820 Wohnungen 1500 Menschen aus 30 Herkunftsländern zusammen. Durchschnittliche Wohnungsgröße: 24 qm. Wilhelmsburg weist einen überdurchschnittlich hohen Bestand an Sozialwohnungen auf: 37 Prozent gegenüber 14,9 Prozent im Hamburger Durchschnitt. Geschäftsstelle: Schwentnerring 6 21109 Hamburg Tel. 426 66 23 02 www.SAGA-GWG.de

Verein Zukunft Elbinsel Entstand nach der Zukunftskonferenz 2002 und ist ein wichtiger Zusammenschluss örtlicher Bürger. Die Internetseite www.insel-im-fluss.de informiert regelmäßig über eigene Veranstaltungen sowie über aktuelle Planungsverfahren und Gutachten.


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Statistik Wilhelmsburg ist mit gut 35 Quadratkilometern flächenmäßig der größte Hamburger Stadtteil. Bewohnt wird er von gut 48.300 Bürgern. Pro Einwohner stehen statistisch 28,5 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung – Hamburger Durchschnitt: 36,4 Quadratmeter. Es ist ein sehr junger Stadtteil: 22,7 Prozent sind jünger als 18 Jahre – sonst 16 Prozent. Unter den Schülern beträgt der sogenannte Ausländeranteil 47,6 Prozent gegenüber 17,9 Prozent in Hamburg. Insgesamt beträgt der Ausländeranteil 34,2 Prozent gegenüber 15,3 Prozent in Hamburg. Entgegen Wilhelmsburgs Ruf ist die Kriminalitätsrate nur leicht erhöht: Auf 1000 Einwohner entfallen 167 Straftaten. In Hamburg sonst: 152.

Blick gen Osten: Aus Lüneburg kommend trennt sich die Elbe in Norder- und Süderelbe (Bild oben) Blick ins Wasser: Spiegelbild der Rethe-Hubbrücke, die 1934 zwischen Neuhof und Hohe Schaar eingeweiht wurde


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Bild links oben: Gründerzeithäuser an der Veringstraße, daneben: Elbbrücke aus dem Jahr 1899

Entdeckungsreise auf der Elbinsel Bunthäuser Spitze, Buchladen, Kunst-Halle: Hinz&Kunzt-Tipps für die Wilhelmsburg-Erkundung

Bild links unten: Schafe im Gänsemarsch auf dem Elbdeich, daneben: Leuchtturm aus Holz an der Bunthäuser Spitze


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Das erste Grab Richtung Mekka Was der Friedhof Finkenriek über den Stadtteil erzählt

Wenn der Wind leise weht und die Luft weder zu warm noch zu kalt ist, erheben sich auf dem Friedhof Finkenriek die Toten aus ihren Gräbern und schlendern den Deich hinauf. Sie stehen dann auf der Deichkrone, blicken auf den Elbstrand, wo die Süderelbe träge Richtung Hafen fließt. Schauen nach links, wo die Autobahn verläuft; blicken nach rechts zur Eisenbahnbrücke, die abgerissen werden sollte, aber dann als Baudenkmal erhalten blieb. Ist etwas zu bemerken von den Veränderungen, die in Wilhelmsburg anstehen? In Wahrheit bleiben die Toten natürlich liegen, und der Friedhof Finkenriek ähnelt bei Tageslicht vor allem einer großzügigen Parkanlage. „Wir finden hier keine alten, pompösen Familiengruften“, erzählt Friedhofsleiter Bernd Habermann, „die gibt es nur noch drüben in Kirchdorf.“ Denn Finkenriek wurde Anfang der 1950er-Jahre am Reißbrett entworfen: als Ersatz für die Friedhöfe im Wilhelmsburger Zentrum, an der Mengestraße und am Industriebahnhof, die damals in öffentliche Grünanlagen umgewandelt wurden. Vereinzelte Grabsteine stehen dort noch verloren herum. In Finkenriek ist es dagegen selten, dass ein Grab länger als 25 Jahre gepachtet wird. Der Friedhof wird immer wieder neu belegt, er wird nie alt. „Kann schon sein“, sagt Bernd Habermann, „dass das ein Ausdruck unserer Zeit ist.“ Er zeigt die schmucklosen Sozialgräber. Weist hin auf die Grabsteine mit Nachnamen wie Szymkowiak oder Polcyk und Vornamen wie Renate oder Paul. Nachkommen der polnischen Arbeiter, die ab 1880 nach Wilhelmsburg kamen, als Hafen und Industrie boomten, als sich am Reiherstieg die Wollkämmerei, eine Erdölraffinerie, eine Fabrik für Asbest und Gummi ansiedelte, als die engen Wohnquartiere drum herum bald Klein-Warschau genannt wurden. Gerade mal zehn Gräber mit türkischen oder arabischen Inschriften finden sich dagegen in einer Ecke versammelt. Und das bei einem Stadtteil, in dem Muslime knapp 30 Prozent der knapp 48.000 Bewohner ausmachen. „Die meisten Menschen, die aus der Türkei kamen und dann bei uns geblieben sind, werden immer noch dort beerdigt“, erzählt Habermann. Und er zeigt in den Himmel, als würde gerade ein Flugzeug vorbeiziehen, mit einem Sarg an Bord. Doch es gibt ein erstes Zeichen, dass dies nicht ewig so bleiben muss – weiter hinten, wo der Friedhof nordwärts ausläuft. Da ist eine Wiese, darauf ein einzelnes Grab, leicht schräg gesetzt. „Da hat jemand das Grab exakt mit dem Kompass Richtung Mekka ausgerichtet“, berichtet

der Friedhofsleiter. Es sei überhaupt eine ganz andere Trauerfeier gewesen, voll offen gezeigter Inbrunst und tiefem Schmerz. Dass es dieses Grab gibt, ist Bayram Inan zu verdanken. Er sitzt für die SPD in der Harburger Bezirksversammlung, aber weit mehr als Sozialdemokrat ist er Wilhelmsburger, aus purer Leidenschaft. Von vielen Landsleuten angesprochen, beantragte er für Finkenriek ein muslimisches Gräberfeld. Er stieß damit keinesfalls auf Zustimmung: „Monatelang hat die Verwaltung das verzögert.“ Dass Kinder der zweiten und dritten Einwanderergeneration ihre Eltern hier begraben können, ist für ihn Integration. Inan: „Wenn ich meine Beerdigung hier wünsche, dann bin ich zu 100 Prozent angekommen.“ Und außerdem: „Vielleicht kam die Familie einst aus Ostanatolien. Das sind 3000 Kilometer bis nach Istanbul und von dort noch mal 3500 Kilometer ostwärts. Wie sollen denn die Kinder das Grab ihrer Eltern besuchen?“ Inan fordert außerdem Räumlichkeiten, wo Verstorbene nach islimischem Brauch für ihre letzte Reise vorbereitet werden können. Er hat sich einiges anhören müssen: Dafür würden die Deutschen nun wirklich keine Steuergelder ausgeben wollen. „Moment mal“, sagt er fast zornig, „all die, die wie ich aus der Türkei zum Arbeiten nach Wilhelmsburg gekommen sind, wir haben doch Jahrzehnte Steuern gezahlt, oder?“ Und selbst wenn es mit öffentlichen Mitteln schwierig werden sollte, hat Inan eine Lösung parat: „Mit ein bisschen Einsatz würde ich dafür bestimmt Sponsoren finden.“ Lange war er der einzige Kommunalpolitiker mit türkischen Wurzeln. Bis heute ist er ein gefragter Ansprechpartner, dabei ist seine Sprechstunde nie überlaufen. Er lacht: „Die Leute wissen, wo ich samstagmorgens meine Brötchen hole.“ Dann stehen sie schon da, halten ihren Rentenbescheid in den Händen oder ein Behördenschreiben, und er erklärt es ihnen, während zu Hause die Kinder auf die Brötchen warten. Eines muss er, der 1973 als einfacher Schlosser aus Istanbul kam und heute Ingenieur ist, noch erzählen: „Werde ich gefragt, woher ich komme, sage ich: aus Wilhelmsburg!“ Die Leute würden dann etwas komisch gucken: „Aber ich sage: Doch, doch – aus Wilhelmsburg. Denn ich gehöre hierher, in diese Gesellschaft.“ Weshalb er neulich hellhörig wurde: Die Internationale Bauausstellung wolle nicht nur moderne Häuser bauen, sondern auch Integration fördern. Dann will Bayram Inan wegen des muslimischen Totenwaschhauses dort mal vorsprechen.

Kirchdorf

Kirchdorf unterteilt sich in den Ort Kirchdorf mit Dorfplatz, Heimatmuseum sowie alter Kirche und KirchdorfSüd. Dieser Stadtteil mit heute knapp 6000 Menschen wurde Anfang der 70er-Jahre auf der grünen Wiese erbaut. In den letzten Jahren haben die verschiedenen Wohnungsgesellschaften viel Geld in die Sanierung der Gebäude, aber auch in Sozialprojekte investiert. Bleibt die Frage, ob nicht am Ende zu viele Menschen auf zu wenig Raum aufeinander treffen. Mehr Infos im Internet: www.kirchdorf-sued.de

Islamischer Brauch

Nach den muslimischen Totenriten soll die Bestattung innerhalb von drei Tagen erfolgen. Muslimische Männer nehmen die rituelle Waschung vor und tragen den Verstorbenen zum Grab. Die Toten werden nicht in einem Sarg, sondern in einem weißen Tuch bestattet. Der Verstorbene blickt in Richtung Mekka. Streit gibt es derzeit um eine geplante, größere Moschee. Der MoscheeVerein will sie mit einer Kuppel verzieren. Der Bezirk lehnt dieses ab.


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Gen Mekka ausgerichtet: das erste muslimische Grab auf dem Friedhof Finkenriek

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