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FRIEDHOFKULTUR IN SÜDTIROL
from manufakt 10/2022
by lvh.apa
THEMEN IN BEWEGUNG
GROSSE THEMEN: In dieser Ausgabe geben wir Einblick in die Friedhofskultur in Südtirol. Carlo Calderan entdeckt für uns eine alte Facette der Kulturlandschaft.
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10|2022
Unterwegs durch die Stätten der Stille
BALD IST ALLERHEILIGEN UND ALLERSEELEN. DIE SÜDTIROLER PFLEGEN EINE ALTHERGEBRACHTE FRIEDHOFSKULTUR, DIE IN EUROPA IHRESGLEICHEN SUCHT. ARCHITEKT CARLO CALDERAN HAT FÜR UNS EINIGE FRIEDHÖFE IN SÜDTIROL BESUCHT.
Weniger auffällig als Kirchen und Burgen und weniger zahlreich als Bauernhöfe ist der Friedhof – oder genauer gesagt der „Kirchhof“, wie die Einfriedung rund um eine Kirche genannt wird – ein wichtiges Element der Architekturgeschichte Südtirols.
WIE EINE LINIE
In den Hangsiedlungen Südtirols haben die Friedhöfe die Beschaffenheit einer Linie. Von Weitem wirken sie wie eine Stützmauer, die die Spitze der Bühel umgibt und sie flach erscheinen lässt. Auf kleinen Hügeln zwischen steilen Hängen wurden meistens die Kirchen gebaut. Im Unterschied zum Bauernhof, der in das Gelände eindringt, ohne dessen Beschaffenheit zu verändern, und anders als die Burgen, die die Form der felsigen Sporne fortzusetzen scheinen, auf denen sie fußen, modellieren die Friedhöfe die ursprüngliche Topografie des Hanges, indem sie sein Profil nachzeichnen.
Friedhof in Katharinaberg im Schnalstal
©Samuel Holzner 39
In der steilen Landschaft der Alpen stellten die Friedhöfe ein seltenes horizontales Zeichen dar – eine Seltenheit, denn das Bauen in einer Ebene am Berg war einst eine höchst mühsame Arbeit. Diesen „unnatürlichen“ Terrassen verdanken wir die besondere Schönheit des Südtiroler Kirchenraumes. Sie werden zu einem Podium, das die Umgebung fernhält und die Kirche von der Erde abhebt und wenige Meter über dem Boden schweben lässt, alleine im Leeren, um sich mit der Naturlandschaft zu messen, fast wie ein Schiff, bereit, sie zu überqueren. In der Talsohle, wo sich heute die Kirche an der Ansiedlung einverleibt hat, und dort, wo die Friedhöfe aus Platzgründen am Dorfrand noch nicht umgesiedelt worden sind, bleiben sie ganz besondere Orte. Für die kleinen Bergdörfer unserer Alpenregion stellen die Friedhöfe einen recht typischen und zugleich sehr komplexen öffentlichen Freiraum dar, der die Aufgabe eines selten vorhandenen Platzes oder Parks ergänzt bzw. ersetzt.
GEPFLEGTER ORT DER BEGEGNUNG
Der „Kirchhof“ ist ein eingefriedeter Platz in der Ortsmitte, den man überqueren muss, um zur Pfarrkirche zu gelangen. Praktisch ersetzt er den Kirchplatz. Durch verschiedene Zu- und Ausgänge gelangt man zum Wegenetz des Dorfes; dadurch wird der Kirchhof zu einem allgegenwärtigen Raum des öffentlichen Lebens. Der Kirchhof ist also kein Ort, den man eigens für besondere Besuche eher selten aufsucht, sondern ein Raum, den man fast täglich durchquert, häufig besucht und den die Dorfgemeinschaft regelmäßig pflegt.
BELIEBTES VERSUCHSFELD DER MODERNEN ARCHITEKTUR
Der Bedarf an funktioneller Anpassung und Erweiterung hat dazu geführt, dass die Friedhöfe ein beliebtes Versuchsfeld der modernen Architektur geworden sind. Es wird in diesem Bereich mehr experimentiert als zum Beispiel in der Kirchenarchitektur – da erscheinen die Kirchen der Vergangenheit allemal prachtvoller als die Neubauten
und sicherlich mehr als im ländlichen Raum: Von der jüngsten Architektur rund um den Wein abgesehen, werden auf dem Land kaum nennenswerte Projekte realisiert.
FRIEDHOFSARCHITEKTUR
Die Vielzahl historischer Beispiele bietet eine reichhaltige Möglichkeit an Lösungen, mit Formen und Materialien zu experimentieren. Gleichzeitig bietet der Friedhof in den Bergdörfern der Alpen als Ort im Zwiespalt zwischen Gebäude und offenem Raum die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Bauen und Boden, zwischen Architektur und Landschaft im Detail zu betrachten. Demzufolge muss die Geschichte der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur in Südtirol von der Friedhofsarchitektur ausgehen. Sehen wir uns einige musterhafte Beispiele der letzten 100 Jahre genauer an.
DIE STADTFRIEDHÖFE
Mit der Eröffnung des neuen großen Gemeindefriedhofes von Bozen in Oberau 1934 nach dem Plan von Gustav Nolte wird der letzte der
01 Waldfriedhof in Bruneck 02 Detail am Friedhof in Seis am Schlern
©Adobe Stock
„städtischen“ Friedhöfe Südtirols fertiggestellt. Erwähnenswert sind seine flachen Gräberfelder, eingeschlossen in klare geometrische Segmente, und die langen Arkadengänge. Mit dem Bozner Friedhof endet die Phase der Verlegungen der Friedhöfe an den Rand der Ballungsgebiete, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in allen
Der Friedhof in Maria Himmelfahrt am Ritten
©Carlo Calderan
Städten Südtirols erfolgt sind: Brixen 1792/1880, Bozen 1934, Bruneck 1848/1843, Meran 1907. Von jetzt an werden interessante Eingriffe in kleineren Ortschaften durchgeführt, allerdings mit einem völlig anderen Zugang zum vorhandenen Kontext und Einfügung in die Landschaft.
DIE KRIEGSFRIEDHÖFE
Parallel zu dieser Entwicklung der Architektur der Friedhöfe kümmert man sich zwischen den Weltkriegen bis in die späten 1950er-Jahre auch um die Soldatenfriedhöfe, wie Marco Mulazzini in seinem Buch „La foresta che cammina“ (2020) bezeugt und im Turris Babel 95 (2014) nachgezeichnet wird. Inwieweit diese Bauten die Südtiroler Architekten beeinflusst haben, ist schwierig zu sagen. Bezeichnend ist allerdings, dass Erich Pattis in seinem Buch „Kirchhöfe im alpinen Raum“ (1984), in dem der Autor zwar nur eine bestimmte Art von Friedhöfen analysiert, die Kriegsfriedhöfe nicht mal erwähnt. Der Mythos der nordischen Länder, wonach der Tod die Wiedervereinigung mit der Natur verspricht, scheint den hiesigen Bestattungsformen doch zu fremd zu sein, als dass Friedhöfe wie der Waldfriedhof in Bruneck oder die anonymen und gleichmäßigen Steingräber auf der Wiese und in den Hecken der Soldatenfriedhöfe in Meran und Brixen Modell für die neuen alpinen Friedhöfe sein könnten.
ERWEITERUNGEN
Es ist vielmehr in Sexten im Pustertal, wo sich die Paradigmen der neuen Südtiroler Friedhofsarchitektur festigen. Hier planen die Architekten Amonn & Fingerle 1923 die Erweiterung des während des Ersten Weltkrieges zerstörten Friedhofes und führen architektonische Lösungen ein, die danach wirklich musterhaft werden. Der Zugang erfolgt über einen Innenraum, ein rampenförmig überwölbtes Atrium. Es ist ein schattiger Tunnel, der einst in einen Nebeneingang führte und der unverhältnismäßig klein zur Größe der Treppe ist. Das eigentliche Ziel des Anstiegs bleibt versteckt und zeigt sich erst bei der Rotunde, wenn wir uns drehen und die Fassade der Pfarrkirche in vollem Licht erscheint. Im Inneren folgen die Gräber dem Geländeverlauf, über Terrassen angeordnet, die ein Bogen zum Berg hin abschließt. Ein Element, das an die Stadtfriedhöfe erinnert, deren Arkaden hier jedoch zusammengezogen und zu großen Bogennischen reduziert, eine Mauer aushöhlen.
Da der Friedhofsbereich nicht vollständig umschlossen wird, löst sich der Friedhof nicht vom Umfeld, vielmehr stützt die Mauer den Grundboden und lässt zu, dass die Wiesen- und Waldhänge von oben in Szene fallen.
MUSTERHAFTE BEISPIELE
Den Bau eines Prozessionsraumes finden wir im Eingangsatrium des 1970 von Arch. Erich Pattis er-
Der Friedhof in Luttach, Ahrntal
©Carlo Calderan richteten Friedhofes von Steinhaus wieder und auch im Bogengang, den Arch. Werner Tscholl bei seiner Erweiterung des Friedhofes von Latsch 1998 vom Rand in den Mittelpunkt verschiebt. Die präzise Definition einer Eingangsdramaturgie wird in Luttach dann zum Thema der gesamten Komposition. EM2 dehnen die Rampe aus, die zum Friedhof führt, womit sie den Hinweg verlängern, sie zwingen uns, die gesamte Länge zu begehen und lassen uns dabei zwischen Innen- und Außenraum schweben; die Einfriedungsmauer wird so ein begehbarer Raum. Das Arbeiten am Umriss, das mit dem Friedhof als umschlossener Raum Hand in Hand geht (der „Friedhof“ ist etymologisch übrigens ein „befriedeter Raum“, ein in sich geschlossener Ort), stellt eine Konstante im Werk von Amonn, Pattis und Gutweniger dar.
FRIEDHÖFE AM RITTEN UND IN ST. PANKRAZ
Die Mauer wird fadenförmig: In Maria Himmelfahrt am Ritten hebt sie Amonn im Wechselspiel an und senkt sie ab, um die Sicht zu öffnen oder zu versperren. Er macht daraus das tragende Element der bogenförmigen Kapelle in der Friedhofsmitte, während sie Gutweniger in St. Pankraz sogar in das Seitenschiff einer Kirche integriert, und das fehlende Hauptschiff wird durch ein gesamtes Gräberfeld ersetzt.
DER FRIEDHOF IN KATHARINABERG IN SCHNALS
Die „Durchbrechung“ der Mauer ist auch in. Katharinaberg in Schnals bloß scheinbar, wo Arch. Arnold Gapp vor Kurzem die neue Totenkapelle jenseits der Einfriedung ins Leere gebaut hat und dabei die Idee der Grenzüberschreitung von Arch. Christoph Mayr Fingerle in Feldthurns aufnimmt. Nach nur einigen Kehren Richtung Tal erkennt man, dass die Kapelle ein „Emporschnellen“ der Mauern ist, die gleichzeitig den Friedhof stützen. Diese Herangehensweise von Gapp scheint mir bezeichnend für die Friedhofsarchitektur der letzten Jahre in Südtirol. Von alten Siedlungsregeln ausgehend wurde ein Bergfriedhof nach dem anderen erweitert. Die alten Stützmauern wurden verlängert, manchmal von neuen überlagert, von Weitem aber bleiben sie kaum wahrnehmbare Eingriffe.
Der Autor
Arch. Carlo Calderan CeZ Calderan Zanovello Architekten Pfarrgasse 13 – 4/5 39100 Bozen cez@gmx.com
Rast
Stehen am Rande des Todes
ist nicht so anders
als am Rand einer Steilhangs stehen
die Augen nach unten
Wenn man fällt
ist es aus
Aber die Aussicht ist weiter
und man atmet tiefer als im Alltag
und in seiner Allnacht
Erich Fried