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«Fahre nach Hause und gibt Hörnlisalat»
1. Klasse, 17 Uhr, Freitagnachmittag, die Züge sind voll. Um meinen autistischen Sohn vor Reizüberflutung zu schützen, fahren wir 1. Klasse. Zugfahren ist eine Herausforderung: viele Menschen, unbekannte Geräusche und Gerüche, grelles Licht. Alles Reize, die für sein Hirn schwer zu verarbeiten sind.
Der Waggon ist kaum besetzt. Die Blicke der wenigen Männer in Businessanzügen sind auf uns gerichtet. Sie mustern erst meinen Sohn, dann mich, und ich kann ihren Gesichtern ansehen, wie sie uns einzuordnen versuchen. Den 1,90 Meter grossen jungen Mann, der sich ungelenk bewegt und Lärmschutzkopfhörer trägt. Und mich, zwei Köpfe kleiner, die ihn festhält, als wäre er ein kleines Kind. Mein Sohn steuert zielstrebig ein Abteil an, und mein Magen verkrampft sich. Nun bin ich es, die versucht, den Anzugträger im Abteil einzuordnen. Wird er Verständnis zeigen oder sich gestört fühlen? Ich erinnere mich mit einem unguten Gefühl an unsere letzte Zugfahrt. Wir sassen einem Herrn gegenüber, der immer wieder genervt mit den Augen rollte, bis er mit einem abschätzigen Blick in Richtung meines Sohnes das Abteil wechselte. Ein Blick, den ich kenne. Er schmerzt mich aber immer wieder aufs Neue.
Ich möchte mich nicht von der schlechten Erfahrung beeinflussen lassen, lächle freundlich und frage: «Ist hier noch frei?» Doch bevor der Mann antworten kann, hat sich mein Sohn schon hingesetzt. Er denkt nicht daran, die in der Schweiz unge
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Der Mann im Anzug schaut mich fragend an. Ich lächle.
Zum Glück erwidert er mein Lächeln und sagt zu ihm: «Du hast Glück, bei mir gibt es nur Brot mit Käse.» Mein Sohn ist nicht wirklich an dieser Aussage interessiert. Sein Interesse liegt bei seinem Salat. «Mama, Hörnlisalat, wenn wir nach Hause kommen? Mit Wurst und Käse?» Nicht auszudenken, wenn ich das vergessen würde. Um sicherzugehen, fragt er lieber nochmals und nochmals nach, die nächsten 15 Minuten. Mittlerweile weiss der ganze Waggon, was es bei uns zum Abendessen gibt.
Unser Gegenüber hat sich wieder dem Laptop zugewandt, seine Kopfhörer aufgesetzt, aber ab und zu lächelt er uns freundlich an. Als er aussteigt, zwinkert er meinem Sohn zu: «En Guete dänn!» MM
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