Dr. med. Mabuse Nr. 260

Page 1

Mit vier Heften pro Jahr immer gut informiert:

• vertiefte Einblicke in ein Schwerpunktthema

• Spannendes aus allen Bereichen des Gesundheitswesens

• Praxis- und Fachwissen für alle Interessierten

Jetzt bestellen und Prämie auswählen!

www.mabuse-verlag.de/Dr-med-Mabuse/Abonnement

Eine Ausgabe verpasst? Jetzt nachbestellen!

Nr. 258 (4/2022)

Sucht | Cannabis

außerdem: Armut und Demenz – was wissen wir? • Erinnerung an Viktor E. Frankl • Missstände, Probleme und Gewalterfahrungen. Berichte aus Pflegeheimen

Nr. 257 (3/2022)

Sterben, Tod, Trauer

außerdem: Leben mit ME/CFS und Long Covid • Reproduktive Selbstbestimmung und Leihmutterschaft • Kommentar zum Pflegebudget

Nr. 256 (2/2022) Ausbildung & Studium

außerdem: Altenpflege in Schieflage • Eigentumsstrukturen im ambulanten Bereich • Komplementäre Methoden bei Krebserkrankungen

Nr. 255 (1/2022)

Psychiatrie

außerdem: Diskussion um Achtsamkeit • Zwei Jahre mit COVID-19 • Kommentar zur Pflegekammer • Krankenpflege im Südsudan

Nr. 254 (6/2021)

Ambulante Pflege

außerdem: Ein Defizit auf

Dauer: In Heimen fehlen Ärzte • Kommunikation im Krankenhaus • Depressionen bei Pflegeheimbewohnern

Bezugsbedingungen für unsere Abos: Dr. med. Mabuse erscheint viermal im Jahr (47 Euro/Jahr). Die Jahres- und Schüler:innen-/Student:innen-Abos (29 Euro) verlängern sich um ein Jahr, falls sie nicht spätestens sechs Wochen nach Erhalt der vierten Ausgabe im Rechnungszeitraum gekündigt werden. Geschenkabos (39 Euro) laufen automatisch aus. Für das Schüler:innen-/Student:innen-Abo ist bei Abschluss des Abos ein entsprechender Nachweis vorzulegen. Für den Versand ins Ausland fallen Portokosten in Höhe von 6 Euro pro Jahr an.

Mabuse-Aboservice•Postfach 90 06 47 •60446 Frankfurt am Main •Tel. 069-70 79 96 17 •abo@mabuse-verlag.de www.mabuse-verlag.de • www.mabuse-buchversand.de
Dr. med. Mabuse im Abo lesen!

Liebe Leserinnen und Leser,

der Schwerpunkt dieser Ausgabe widmet sich den spannenden Themen Schwangerschaft und Geburt – und nimmt auch die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen in den Blick. Zum Einstieg fragt Tara Franke nach neuen Wegen für die Geburtshilfe: Angesichts von personellen Engpässen, der Schließung von geburtshilflichen Stationen bei gleichzeitig steigenden Geburtenzahlen oder der Akademisierung des Hebammenberufs ist es schwer vorstellbar, dass sich eine gute Betreuung von Frauen und ihren Angehörigen ohne grundlegende Reformen aufrechterhalten lässt. Und auch die Arbeitsbedingungen sind dabei entscheidend, wie ein Artikel über ein Projekt zeigt, das sich zum Ziel gesetzt hat, wieder mehr Hebammen für die Tätigkeit im Kreißsaal zu begeistern. Denn noch immer kehren viele Hebammen den Kliniken den Rücken, weil die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht gegeben, zu wenig Personal vorhanden oder die Bezahlung nicht angemessen ist.

Neben solchen systemischen Aspekten befassen sich unsere Autor:innen allerdings auch mit persönlichen Geschichten und Erfahrungen: Bettina Salis hat mit zwei Männern gesprochen, die ihren Traum von einem eigenen Kind mithilfe einer Leihmutter aus den USA verwirklicht haben. Und sie erläutert in einem Kommentar, warum sie sich beim Thema Leihmutterschaft weniger Empörung wünschen würde. Wie sich das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und eine selbstbestimmte Geburt stärken lässt, erläutern Julia und Matthias Maak in ihrem Beitrag zum HypnoBirthing. Daniel Pelz berichtet von seinen Erfahrungen als Frühchenpapa und Joanna Duda stellt die Ergebnisse ihrer Master-Arbeit vor, in der sie die Erfahrungen von gleichgeschlechtlichen Paaren in der Geburtshilfe untersucht hat.

Aber auch außerhalb des Schwerpunkts warten viele eindrückliche Artikel. Einen Einblick in ihren Alltag gewährt uns zum Beispiel Laura Mench. Sie erzählt anschaulich, wie das Leben mit persönlicher Assistenz gelingt und welche Herausforderungen für mehr Selbstbestimmung gemeistert werden müssen. Die „nicht so neuen“ Regelungen zum Betreuungsrecht, die unter anderem Menschen mit einer Behinderung betreffen, aber im Falle eines Notfalls auch Ehepartner:innen in die Pflicht nehmen, kommentiert der Medizinrechtsanwalt Oliver Tolmein. Und wie sich die Unterstützung von Menschen mit Vergesslichkeit und ‚Demenz‘ neu denken lässt, schildern Peter Wißmann und Christina Pletzer, die mit ihrem Projekt „Team WaL (Wachstum ab der Lebensmitte)“ gemeinsam mit Betroffenen andere Wege gehen wollen.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und grüßen herzlich aus der Redaktion!

Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023 3 Editorial
Franca Zimmermann Florian Grundei

16 „Kriminell! Halbjude!“

Online-Ausstellung über Kinder mit jüdischen Wurzeln im „Erziehungsheim Hadamar“| Joachim Göres

18 25 Jahre unveränderte Vergütung

Honorare und Entbudgetierung in der Pädiatrie| Stephan Heinrich Nolte

20 Lehren aus der Pandemie

Bilanz und Ausblick| Wolfgang Wagner

56 Neuseeland will rauchfrei werden – und wie sieht es bei uns aus?

Heino Stöver

58 Zwischen Selbstbestimmung und Kostenträgern

Einblicke in ein Leben mit persönlicher Assistenz| Laura Mench

Gesundheit global:

62 Aufklärung statt Dämonisierung

Zur Weiterentwicklung der sozialen Psychiatrie in der Elfenbeinküste

Gesine Heetderks und Fariedeh Huppertz

Kunst und Kultur:

65 #gesundgesteppt

Ein Interview mit den „Steptokokken“

68 Fleischarme und CO 2 -freundliche Ernährung

Welche Rolle spielt das Geschlecht?

Viviane Scherenberg und Melanie Preuß

71 Nutzenbewertung von Arzneimitteln auf europäischer Ebene

Ein Risiko für die hohen Qualitätsstandards in Deutschland?| Daniel Fleer

74 „Wenn es hakt, muss man etwas verändern!“

Unterstützung von Menschen mit Vergesslichkeit und ‚Demenz‘ neu denken| Peter Wißmann und Christina Pletzer

78 „Ein Gegenüber, das meinen Weg begleitet“

Pflegefachkräfte und ihre Rolle bei der Gabe von Psychopharmaka| Hilde

Schädle-Deininger und Christoph Müller

82 Nicht so neues Betreuungsrecht

– jetzt mit Notvertretungsrecht der Eheleute| Oliver Tolmein

84 Schlafen und Wachen

Die neue ICD-11 versammelt endlich alle Störungen unter einem Dach Barbara Knab

86 WHO under reconstruction – 75 Jahre und kein bisschen weise?| Andreas Wulf

89 Expertise und Vernetzung 15 Jahre STAKOB-Pflege Thomas Große Ausbildung & Studium:

92 „Ich will mit Herz und Seele pflegen“ Emotionale und körperliche Herausforderungen in der praktischen Pflegeausbildung | Bogumila Brandt

114 Besser reich und gesund als arm und krank Joseph Randersacker

Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023
Foto: mauritius
Inhalt
images/Cavan Images
Rubriken
Editorial 07 Leserbriefe 08 Nachrichten
Cartoon 13 Neues aus dem Mabuse-Verlag 14 Bitte zur Anamnese 95 Buchbesprechungen 100 Neuerscheinungen 106 Broschüren/Materialien 107 Zeitschriften 108 Termine 111 Fortbildungen/Kleinanzeigen 113 Impressum
03
10

Schwerpunkt Schwangerschaft und Geburt

24 Neue Wege für die Zukunft Paradigmenwechsel in der Geburtshilfe| Tara Franke

28 Zwei Väter, zwei Tanten

Ein Gespräch über transkontinentale Leihmutterschaft

31 Weniger Empörung

Ein Kommentar zur Leihmutterschaft

Bettina Salis

32 Selbstbestimmung oder gesellschaftlich geforderte Selektion?

Die Kassenzulassung von NIPT

Silke Koppermann

36 Vertrauen in eine selbstbestimmte Geburt

Die Kraft von HypnoBirthing Julia und Matthias Maak

40 Zurück zu dem, was wirklich zählt Ein Wiedereinstiegsprojekt für Hebammen| Christine Müller

43 Ein langer Weg zum Gipfel Erfahrungsbericht eines Frühchenpapas| Daniel Pelz

46 Babyschlaf

Eine Herausforderung für Eltern und Beratende| Daniela Dotzauer

49 Sicher, begleitet, zu Hause Medikamentöser Schwangerschaftsabbruch in den eigenen vier Wänden

Jana Maeffert

Ausbildung & Studium:

52 Nicht gesehen werden

Erfahrungen von gleichgeschlechtlichen Paaren in der Geburtshilfe

Joanna Duda

55 Schwangerschaft und Geburt Bücher zum Weiterlesen

Dr. med. Mabuse 260 · 2. Quartal 2023

Buchbesprechungen

Pharma fürs Volk

Risiken und Nebenwirkungen der Pharmaindustrie

Pharmakonzerne erzielen astronomische Gewinne, erfüllen aber immer weniger ihre Aufgabe, innovative Medikamente für alle zu entwickeln. Der Schweizer Autor Beat Ringger fordert in seinem neuen Buch als Reaktion darauf die gemeinwohlorientierte Medikamentenentwicklung durch die öffentliche Hand.

Ringger attestiert der heutigen Pharmaindustrie ein multiples Systemversagen. Zu den Symptomen einer sich verschärfenden Arzneimittelkrise gehören aus seiner Sicht unter anderem die Zunahme von Lieferengpässen bei Standardmedikamenten, fehlende Antibiotika, ausbleibende Innovationen und vernachlässigte Tropenkrankheiten.

Eine weitere Facette ist die Antibiotikakrise: Jedes Jahr sterben, wie der Autor schreibt, weltweit rund fünf Millionen Menschen an oder mit antibiotikaresistenten Keimen – Tendenz steigend. Antibiotikaresistenzen entstehen, weil Keime lernen, die Wirkung der Antibiotika zu umgehen. Ursachen hierfür sind der viel zu häufige Einsatz von Antibiotika etwa in der Tiermast ebenso wie die Tatsache, dass indische Wirkstoffhersteller ihre Abwässer nicht reinigen. Umso dringender wäre die Entwicklung neuer Antibiotika – doch die Konzerne tun zu wenig, denn Antibiotika werfen finanziell gesehen kaum etwas ab.

Eine andere Facette sind laut Ringger die explodierenden Preise: 2018 lag der Preis eines neuen Medikaments pro Packung in Deutschland noch bei unter 5000 Euro. In nur zwei Jahren ist er auf über 40000 Euro geklettert. Die Profitraten von Big Pharma steigen parallel dazu. Das neue Ziel von Novartis heiße 40 Prozent Umsatzrendite im Jahr.

Ringger, ehemaliger Schweizer Gewerkschaftssekretär und Geschäftsleiter des linken Thinktanks Denknetz, erkennt denn auch im absolut gesetzten Profitdenken den entscheidenden Krisentreiber: Die Konzerne orientierten sich heute in erster Linie an den Finanzmärkten. Sie hätten sich daher in den letzten Jahren von forschenden Arzneimittelherstellern zu finanzgetriebenen Vertriebs- und Marketingkonzernen gewandelt. Beispiel: Im

November 2021 hat Roche eigene Aktien im Wert von 19 Milliarden Schweizer Franken zurückgekauft und vernichtet. Der Konzern wollte so seinen Aktienkurs hochtreiben. Nur wenige Wochen später hat Novartis ebenfalls für 15 Milliarden Dollar eigene Aktien zurückgekauft und genau dasselbe gemacht – anstatt in Forschung und Entwicklung von neuen Medikamenten zu investieren.

Ringger brilliert bei der prägnanten Beschreibung der Defizite und finanziellen Hintergründe der gewinnorientierten Medikamentenproduktion. Schwächer fallen seine Schlussfolgerungen aus. Er fordert logischerweise den Aufbau eines gemeinwohlorientierten Service-Public-Verbunds aus Universitäten, Forschungseinrichtungen und NGOs. Der neue Verbund soll patentfreie und günstige Medikamente auch gegen Krebs oder Immunkrankheiten entwickeln. Zur Finanzierung sollen auch Steuergelder dienen, die heute in die Grundlagenforschung an Universitäten und Universitätspitälern fließen.

Alles andere lässt der Autor offen – angefangen von der Frage, wer die Federführung bei diesem Projekt übernehmen soll, über die Frage, wie sich der Einfluss der Pharmabranche etwa auf Parlamente und Regulierungsbehörden beschränken ließe, bis zum Problem des weltweiten Patentsystems, das Big Pharma Monopolpreise und Macht garantiert. So bleibt die Vision einer anderen Pharmaindustrie vage – eine verpasste Chance. Das Buch liefert dennoch wichtige Anstöße für eine dringend nötige Debatte.

Eric Breitinger, Autor und Redakteur, Pratteln/Schweiz

Einfach drauf los! Mit Schritt-für-SchrittAnleitungen und großen Fotos

Das Kartenset bietet eine Vielfalt an einfachen künstlerischen Ideen für das an Ressourcen orientierte biografische Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Zur alleinigen Nutzung oder in Begleitung, in Schulen, Ganztag, Heimen und in der Jugendarbeit.

Einfaches Gestalten mit Freude-, Geling- und Staungarantie

80 farbenfrohe Karten zum Spielen, Forschen, Ausprobieren Wenig und einfaches Material nötig 100 und mehr Ideen, die das Leben bunter machen!

Ein Set, das ermutigt, Vielfalt fördert und die eigene Individualität stärkt Biografischer Zugang: Aus eigenen Erfahrungen auf in neue Welten!

Gabriele Neuhaus /

Thorsten Neuhaus

Fotografie: Luisa Müller

Das eigene Leben gestalten Biografiearbeit und Kunst mit Kindern und Jugendlichen.

80 Impulskarten, Mit einem ausführlichen Booklet, Format 18,3 x 25,8 cm

2023, 80 Karten, € 58,00 GTIN 4019172400118, Bestell-Nr. 540011

Buchbesprechungen 95 Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023
Rotpunktverlag, Zürich 2022, 232 S., 25 Euro
JUVENTA www.juventa.de

Ein außergewöhnliches Leben in zwei Welten

Der Arzt, Dichter, Forscher und Schriftsteller Martin Gumpert

In doppelter Hinsicht waren es zwei Welten, in denen Martin Gumpert (1897 – 1955) lebte: Eine Welt ist seine Heimatstadt Berlin, aus welcher er, aus einer jüdischen Arztfamilie stammend, 1936 floh. Eine zweite wird sein Exilland USA, von wo er nach dem Ende des Nationalsozialismus nur noch besuchsweise nach Deutschland beziehungsweise Europa zurückkehren sollte, zum Beispiel um 1949 Thomas Mann auf dessen Deutschlandreise zu begleiten. Über sein ganzes Leben hin jedoch zieht sich die Doppelansässigkeit in der Welt der Medizin und in der Welt der Literatur.

Nicht alle, wenngleich die bedeutendsten Schriftsteller seiner Zeit, mit denen er persönlich bekannt war, sahen sich zur Flucht vor den Nationalsozialisten gezwungen. Seinem Kollegen, dem Dichterarzt Gottfried Benn, der eine aktive Rolle bei der Gleichschaltung der Preußischen Akademie der Künste gespielt hatte, kamen erst später Zweifel, was der Wiedererlangung dessen Renommees jedoch keinen Abbruch tat. Ihm wurde später sogar der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Viele emigrierte Schriftsteller zahlten dagegen einen hohen Preis, nicht nur durch die ökonomischen und kulturellen Schwierigkeiten im Exil, sondern auch dadurch, dass sie dem deutschen Publikum im Nachkriegsdeutschland nicht mehr vertraut waren und werden konnten.

Dem jungen, anfangs expressionistischen Lyriker Gumpert gelangen in den 1920er-Jahren hochwertige Veröffentlichungen. Seine Biografin, die Ärztin und Germanistin Ulrike Keim, nennt ihn hier einen Seelisch-Oppositionellen. Als ein weiteres Genre entwickelte Gumpert medizinhistorische Romane, etwa über den „Rebellen“ Samuel Hahnemann und über Henri Dunant. Diese und andere Werke wurden später neu aufgelegt. Insofern wurde Gumpert, entgegen dem Schicksal manch anderer exilierter Kollegen, literarisch eigentlich wiederentdeckt und auch 2018 in der Literaturzeitschrift Sinn und Form gewürdigt. Gumpert wurde als

Zeitzeuge entdeckt, der geradezu exemplarisch für viele seiner Zeitgenossen erscheine.

Beigetragen hat dazu sein autobiografisches Schaffen über die Emigration (z.B. „Hölle im Paradies“ mit einem Vorwort von Thomas Mann, 1939) oder die in englischer Sprache geschriebenen „First papers“(1941) über die Ankunft als Exilant. Politische Literatur ist etwa seine Bloßstellung der Naziideologie vom „gesunden Arier“ in „Health under Hitler“ (1939).

Gumperts enge Freundschaft mit Thomas Mann und der Familie Mann nimmt in Ulrike Keims Biografie eine besondere Stellung ein. Das gilt nicht nur für die literarischen Aspekte, sondern auch für die Liebesbeziehung zwischen Gumpert und Thomas Manns Tochter Erika. Deren langjährige, aber – so Keim – durch zu unterschiedliche Lebensentwürfe letztlich unmögliche Beziehung wird der Leserschaft anhand von Archivmaterialien (Briefe, Tagebuchaufzeichnungen etc.) und Gedichten Gumperts aufgeblättert.

Der als Dermatologe tätige Gumpert behandelt in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs kriegsbedingte Gesichtsentstellungen und im Arbeiterbezirk Wedding mit seinen Armutsbehausungen Geschlechtskrankheiten auch bei Kindern. Er wird zu einem Pionier gesichtschirurgischer Behandlungen und der umfassenden Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Als „Sozialarzt“, in der Funktion als Kassenarzt und als Leiter der Beratungsstelle für Haut- und Geschlechtskrankheiten des Gesundheitsamtes Wedding, propagiert und praktiziert er sexualpädagogischen Unterricht, Jugendpflege und soziale Hygiene. Das dringendste Problem sei die Wohnungsfrage. Er appelliert, „(...) dass es gilt, die wahren Feinde der Jugend zu erkennen und zu vernichten: Den Wucherer und den Bürokraten“. Ähnlich wie Rudolf Virchow sah Gumpert die Medizin als eine soziale Wissenschaft, wird aber selbst nicht zum Politiker. Er nennt seine Forderungen an die Politik „therapeutische Maßnahmen“.

1936 kann Gumpert eine dermatologische Praxis in New York eröffnen. 1952 wird er US-amerikanischer Staatsbürger. Seine oft mageren Einkünfte bessert er mit journalistischen Arbeiten auf. Er gibt eine eigene Monatszeitschrift heraus: Lifetime Living. Später wird er Leiter der Klinik für Geriatrie am New Yorker Jewish Memorial Hospital, stirbt selbst aber im

Alter von 57 Jahren an einem Herzinfarkt.

Auf einem am 13. November 2022 aus Anlass von Gumperts 125. Geburtstag in Berlin abgehaltenen „Kulturheilkundlichen Symposium“ reihte Ellis Huber den Jubilar als Vorläufer der WHO-Gesundheitsförderungs-Philosophie ein. Gumpert sei in diesem Sinne ein Vorbild und aktueller denn je. Die Biografin Keim legt mit ihrem Buch eine umfassende Dokumentation seines außergewöhnlichen Lebens vor und zeichnet ihn dabei ebenfalls rundherum als Vorbild.

Für Hartmut Schröder, Professor für Sprachgebrauch und therapeutische Kommunikation an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), steht aus, Gumpert nicht nur als Schriftsteller dem Vergessen zu entreißen und wiederzuentdecken, sondern auch als medizinischen Kritiker und ‚Reformer‘, der von der Mehrheit der Ärzteschaft in seiner Berliner Zeit mehr als Nestbeschmutzer wahrgenommen worden sei. Schröder reiht im Nachwort zu Keims Biografie Gumperts Vermächtnis im Bereich der „geistigen Medizin“ ein. Vielleicht lasse sich dieses mit einem von Robert Musil stammenden Wort, dem Kompositum Kulturheilkunde zum Ausdruck bringen: Das wäre eine Heilkunde sowohl für unsere erkrankte Kultur als auch eine Ergänzung der modernen Medizin, kranke Menschen mit dem Heilmittel Kultur zu begleiten und zu unterstützen. Eine Renaissance, zu der das Buch sicher beitragen kann, wäre Martin Gumpert zweifellos zu wünschen.

Thomas Elkeles, Berlin

96 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023
Hentrich&Hentrich, Berlin/Leipzig 2022, 486 S., 29,90 Euro

Nachts wach

Es ist schon bezeichnend, dass Berthe Arlo das Pseudonym einer Autorin ist, die ungeschminkt aus dem Alltag eines Pflegeheims in Deutschland berichtet. Der Verrat wird bekanntlich akzeptiert, die Verräter:innen allerdings können mit Verachtung rechnen. Dies geschieht, obwohl Berthe Arlo inzwischen selbst berentet ist. Ihre Schilderungen stehen nicht bloß als Pars pro Toto, viele andere Kolleg:innen könnten vergleichbare Erfahrungen erzählen. Ihr Buch zeigt auch, dass Missstände in der täglichen Pflege nicht in aller Deutlichkeit zur Sprache gebracht werden, sondern eher ein gesellschaftliches Schweigegebot für ein Aufrechterhalten bedauerlicher Zustände zu herrschen scheint.

Was müssen Pflegende denn befürchten, wenn sie transparent machen, was hinter den Türen von Kliniken und Pflegeheimen geschieht? Müssen sie etwa Angst davor haben, dass sich etwas zum Positiven verändert? Wenn dies passieren würde, hätten sie wahrscheinlich deutlich weniger Möglichkeiten, über Belastungen und Unterversorgung zu klagen.

Berthe Arlo gelingt es, in tagebuchartigen Episoden viele Szenen und Erfahrungen zu beschreiben, die sie in vielen Jahren pflegerischen Arbeitens gemacht hat. In Nächten hat sie meist gearbeitet. Wie unter einem Brennglas spitzt sie die

Situationen zu. Die Leser:innen bekommen es dabei mit der Angst zu tun, sollte ihnen oder ihren Angehörigen eine Pflegebedürftigkeit und professionelle Versorgung drohen.

Pflegerische Praktiker:innen grinsen, wenn sie die Einschätzung Arlos aufnehmen, dass bei Dienstbesprechungen erst das mangelnde Einfühlungsvermögen diensthabender Nachtwachen beklagt wird, bevor über strukturelle Defizite nachgedacht wird. Das Buch nimmt die Leser:innen mit – in die Abgründe von menschlichen Seelen, an den Rand ganz individueller Hilflosigkeiten und Ohnmachtserlebnisse.

„Denn jeder Nachtwache wird in jeder Nacht eine Verantwortung aufgebürdet, die sie eigentlich überhaupt nicht tragen kann“, schreibt Berthe Arlo. Damit dies den Leser:innen deutlich wird, schreibt Berthe Arlo unglaublich konkret. Sie berichtet beispielsweise plastisch von Menschen, die aufgrund demenzieller Entwicklungen die Nacht zum Tage machen, dabei die Ordnung einer Einrichtung aus den Angeln heben. So schildert sie einen alt gewordenen Pfarrer, der häufiger die Grenzen der Pflegeeinrichtung austestet. Trotz zunehmender Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit zeigt er sich wohl noch agil: „Außerdem spricht der Pfarrer dem Wein zu, nicht mäßig, das ist schon oft übermäßig. Von Zeit zu Zeit sitzt er pudelnackt auf der Bettkante unter Kruzifix, Matterhorn und Madonna, um die Taille den unvermeidlichen breiten Ledergür-

2023. 85 Seiten, 2 Abb. Kartoniert. € 29,–

ISBN 978-3-17-041318-4

Das Buch ermöglicht den gesetzlich geforderten Praxisnachweis für den berufspraktischen Teil des Hebammenstudiums und kann in der Praxisanleitung eingesetzt werden, um die Handlungskompetenz der Studierenden zu fördern.

tel, an den Füßen sorgfältig geschnürte Stiefelettchen und pichelt direkt aus der Flasche genüsslich vor sich hin“ (S.35).

Natürlich neigen Menschen dazu, solche Situationen zu verhöhnen. Andere werden fragen, wieso sich professionell Pflegende dies freiwillig antun. Letztendlich stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Ethik, es stellt sich die Frage nach der Akzeptanz skurriler Verhaltensweisen schwächer werdender Menschen.

Berthe Arlos Buch „Nachts wach“ kann als Mahnmal verstanden werden. Es bringt zur Sprache, was kommuniziert werden muss. Es stellt die individuelle wie kollektive Frage nach dem Umgang mit Menschen am Rande der Gesellschaft.

Ca. 140 Seiten, 50 Abb., 7 Tab. Kartoniert. € 39,–

ISBN 978-3-17-038020-2

Dieses Buch vermittelt das Grundlagenwissen zu Diagnostik, therapeutischen Verfahren und Prophylaxen der Kinderheilkunde. Die wichtigsten Krankheitsbilder und Therapieoptionen sind übersichtlich dargestellt.

Leseproben und weitere Informationen: Kohlhammer www.kohlhammer.de Bücher für Wissenschaft und Praxis Neu! In Kürze! Buchbesprechungen 97 Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023
Mikrotext, Berlin 2022, 240 S., 20 Euro Christoph Müller, Wesseling

Sabine Conti

Der neue Fisch in mir

Krebs – und ein anderes Leben beginnt

Sabine Conti, die 1963 in Freiburg im Breisgau geborene Autorin und Illustratorin dieser autobiografischen Geschichte, ist eine von über 70000 Frauen, die jährlich in Deutschland neu an Brustkrebs erkranken. Schon in ihrer Kindheit begann sie zu zeichnen, und als sie im Februar 2021 mitten in der Corona-Pandemie die Diagnose Brustkrebs erhält, ist es für sie eine natürliche Reaktion, viele Momente der darauffolgenden Therapie visuell festzuhalten. Aus den überwiegend schwarz-weißen Bildern, die sie in der Zeit zwischen Diagnose und Behandlung in Warteräumen, Betten und Therapieeinrichtungen auf einem elektronischen Notebook zeichnete, entstand eine mobile Wanderausstellung, die im Oktober 2021, zum Brustkrebsmonat, in der Westhalle des Universitätsklinikums Göttingen gezeigt wurde. Ihre Zeichnungen sind ihre Erfahrungen, Gefühle, Ängste, Behandlungen – kurz: ihr Innerstes. Sie geben den Betrachtenden einen Einblick in die Welt einer Krebspatientin – auch wenn selbstverständlich jede Diagnose anders und individuell ist und subjektiv erlebt wird.

Das Buch zur Ausstellung beginnt mit dem Zitat: „Ein Gespenst, das man versteckt, wird größer.“ (Sprichwort aus Grönland). Genau das ist auch das Motto von Conti und mit ihrer ungeschönten Ehrlichkeit, Offenheit, Humor, inneren Stärke und Verletzlichkeit zieht sie die Leserschaft vom ersten Moment an in den Bann. Mit dem Gesundheitscheck für ihre Reise ins Südpolarmeer – zwei Jahre vor ihrer offiziellen Krebsdiagnose – geht’s los, und wir erfahren im Laufe des Buches einiges von ihrem ungewöhnlichen Segelabenteuer, denn oft vergleicht sie genau diese Reise mit der ihrer Behandlung: das Gefühl des Ausgeliefert-Seins, die Gefahren, die überall lauern, aber auch die Verbundenheit mit ihren Mitreisenden und die schönen, starken Momente. Sie führt uns durch Mammografie, Gewebeprobeabnahmen, Papierkrieg, Port-gesetztBekommen, Chemotherapie, Krankenhausaufenthalte, einsames Warten (denn wegen Corona sind nicht einmal mehr Begleitpersonen erlaubt), Maskenpflicht,

MRT und vieles mehr. Auch erfahren wir, was ihr in schwierigen Situationen hilft, etwa sich vorzustellen, eine Astronautin zu sein, die auf den Marsanflug vorbereitet wird, sich in ihrer Fantasie auf eine Südseeinsel an den Strand zu beamen und auf den sanften Wellen des Ozeans zu schaukeln oder tatsächlich mit ihrem geliebten Hund durch den Wald zu laufen, um sich wieder zu erden und sich mit der Natur und dem Jetzt zu verbinden.

Da ich selbst vor 11 Jahren – mit 37 –eine Brustkrebsdiagnose bekam, war ich mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich es schaffen würde, dieses Buch komplett zu lesen, oder ob es zu viele Erinnerungen in mir aufwühlen würde. Aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, denn die innere Stärke der Autorin erhellt jedes Wort ihres sehr persönlichen Berichtes. Wie sie – trotz Masken und Corona – die Verbundenheit („sisterhood“) ihrer Mitpatientinnen spürte, wie sie trotz – und/oder vielleicht gerade wegen – ihrer Diagnose das volle Leben in jedem Moment lebt und wie sie würdevoll und kraftvoll durch die Behandlungen und Ängste reist.

Ein tolles Buch mit tollen Illustrationen, von und über eine tolle Frau, welches sowohl Ärzt:innen als auch Patientinnen, Freunden und Familienangehörigen helfen kann und wird.

„Alle drei Wochen stelle ich mich der Krankheit in der Uniklinik. Aber dazwischen! Dazwischen passiert das pralle Leben und ich erlebe die Augenblicke weit intensiver, umschlinge, was mir in den Weg kommt, sauge es ein. Egal ob hell oder dunkel. Ich bin da. Das ist was zählt.“

Ein lesenswertes Buch, welches ich aus vollstem Herzen empfehlen kann. Danke, Sabine.

Elke Thompson, Autorin, www.elkethompson.com

Pia Lamberty, Katharina Nocun Gefährlicher Glaube

Die radikale Gedankenwelt der Esoterik

Pia Lamberty und Katharina Nocun nehmen die Leser:innen mit auf eine Reise in die Abgründe esoterischer Heilsversprechen und Irrglauben. Sie gehen dazu verschiedenen Fragen nach: Weshalb interessieren sich Menschen für esoterische Weltanschauungsmodelle? Was haben Esoterik und Ernährung miteinander zu tun? Hierzu wird etwa über „entstörtes“ Mineralwasser gegen die „Barcode-Verschwörung“, Brot aus „belebtem“ Wasser in der Bio-Bäckerei nebenan, Homöopathie in der Nutztierlandwirtschaft und allerlei Skurriles aus der Demeter-Welt berichtet Wie kann es sein, dass wissenschaftlich nicht fundierte Pseudo-Therapien (etwa Ryke Geerd Hamers „Germanische Neue Medizin“ oder der Versuch einer „Ausleitung“ von Radioaktivität durch Lichtarbeit) v. a. Menschen mit einer schweren Krankheitsdiagnose Hoffnung geben? In vielen Fällen verschlimmerten diese „Therapien“ den Krankheitsverlauf nur oder zogen sogar tödliche Folgen nach sich.

Die Autorinnen werfen einen schonungslosen Blick auf viele gegenwärtige und vergangene esoterische Bewegungen (wie etwa den Heaven’s Gate-Kult und die Moon-Bewegung) und beleuchten die Nähe von Esoterik zu politisch extremen Gruppierungen. Die historische Grundlage für die Rassenlehre der Nationalsozialisten, so klären Nocun und Lamberty auf, wurde nicht zuletzt von Helena Blavatskys okkulter „Theosophie“ gebildet. Auch Rudolf Steiners Anthroposophie wird kritisch untersucht: Seine Texte erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit. Die Waldorf-Schulen, die allein in Deutschland 80000 Kinder und Jugendliche besuchen, tragen Steiners Gedankenwelt intergenerationell weiter. Ein Text wie „Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie“ darf aber aufgrund antisemitischer und rassistischer Passagen in Deutschland nur mit einer Beilage ausgeliefert werden, die besagt, dass dazu alsbald eine kommentierte Ausgabe folgt.

Der Bereich der Esoterik ist ein riesiger Markt. Die Teilnehmer:innen wollen Geld verdienen und nutzen hierzu die individuelle Lebenssituation der Nachfragenden

98 Buchbesprechungen Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023
AG SPAK, Neu-Ulm 2022, 106 S., 14 Euro

schamlos aus. Esoterische „Schenkkreise“ etwa sind nicht weniger als Ponzi-Systeme, die mit der sozialen Intention der Großzügigkeit („Wer gibt, dem wird gegeben.“) mehr Geld durch Liebe und Gegenseitigkeit versprechen, aber schlichtweg die Gutgläubigkeit jener Menschen ausnutzen, die finanziell verzweifelt sind.

„Gefährlicher Glaube“ beleuchtet das weite Spektrum der Esoterik, ist flüssig lesbar, kurzweilig, süffisant und unterhaltsam, aber schließlich auch ernüchternd, da die esoterischen Bewegungen nicht selten Wegbereiter für antidemokratische und menschenfeindliche Ideologien sind, deren Auswirkungen in der westlichen Welt zu sehen sind: QAnon oder Querdenken-711 haben es mit ihrem Einfluss auf US-Präsident Trump und die AfD bereits geschafft, Teil des politischen Betriebs zu werden und diesen aktiv mitzugestalten. Dieses Buch hält die Aufklärung über die Zusammenhänge als Mittel dagegen; und das ist wichtig.

Florian Grundei, Sankt Augustin

Die Internationalisierung der beruflichen Pflege in Deutschland

Das Autorenteam besteht aus Sozialund Gesundheitswissenschaftler:innen, die sich bereits seit längerer Zeit mit Fragen der Pflegepolitik, Carearbeit und Geschlechterforschung sowie der Internationalisierung der professionellen Pflege befasst haben.

Mindestens zwei Herausforderungen bilden den Hintergrund. Erstens ist davon auszugehen, dass ein wachsender Anteil der pflegebedürftigen Personen einen Migrationshintergrund aufweist. Denn die Arbeitsmigrant:innen der ersten Generation sind mittlerweile längst im Rentenalter und z.T. auf Unterstützung angewie-

sen. Eine zweite Entwicklung betrifft den Pflegeberuf selbst. Hier ist zu konstatieren, dass – v. a. in der Altenpflege – ein signifikant gestiegener Anteil von Pflegepersonen aus verschiedenen Nationen (in der beruflichen Pflege) tätig ist. Und nicht zu verwechseln sind die mittlerweile rund 450000 „Live-Ins“, d.h. ausländische Pflege- und Betreuungspersonen in privaten Haushalten, ohne die unser Pflegesystem kollabieren würde.

Vor diesem Hintergrund werden in den neun Kapiteln drei Themenschwerpunkte adressiert:

Teil 1 konzentriert sich auf die „Entwicklungspfade der Internationalisierung der Pflege“ und erinnert zunächst daran, dass die Anwerbung ausländischer Pflegender kein neues Phänomen ist, sondern bereits in den 1960er-Jahren – v. a. im Hinblick auf asiatische, koreanische und philippinische Arbeitskräfte – begonnen hatte. Ein weiterer Beitrag thematisiert „Fortschritte, Hindernisse und Reformbedarfe hinsichtlich der Berufszulassung in Deutschland“. Ein Ergebnis: Ohne den Druck zur internationalen Harmonisierung (v. a. rechtlich) wären die Anhebung der Ausbildungsstunden in der beruflichen Pflege und die zögerlichen/ambivalenten Schritte in Richtung Pflegeakademisierung nicht denkbar gewesen. Ein abschließender Text – bereits aus dem Jahre 2012 – verweist darauf, dass in Deutschland Berufs- und Hochschulrecht miteinander kollidieren. Das mag ein Grund sein, warum die deutsche Pflegeentwicklung geschätzt fast 80 Jahre hinter der internationalen Entwicklung zurückliegt.

Teil 2 trägt den Titel: „Internationalisierung durch Anwerbung und Integration“. Hier ist der Blick zunächst auf Statusfragen und Integrationsarbeit (v. a. der betrieblichen Integration der ausländischen Pflegefachkräfte) gerichtet. Denn vielfach bringen diese Personen eine höherwertige und z.T. akademische Ausbildung mit, die jedoch mit den beruflichen Standards und der habituellen Orientierung in der deutschen Pflegelandschaft kollidieren. Statt vom Management geeignete Diversity- und Inklusionskonzepte nachhaltig aufzulegen, erweist sich die Vorstellung, dass Integration einfach so gelingt, als Illusion. Studien zeigen, dass hinter der „Kulturalisierung“ von Konflikten in der Regel Status- und Kompetenzprobleme stecken, was sich entsprechend im deutschen Pflegesystem widerspiegelt.

Wichtig ist daher einerseits die Anpassungsqualifizierung für internationale Pflegekräfte und andererseits die adäquate Vorbereitung der (deutschen) Pflegenden. Ein Beitrag zu ethischen Aspekten darf nicht fehlen und zeigt die Differenziertheit der Gesamtproblematik auf. Denn weder die Alternativlosigkeit der Anwerbung ist unhinterfragbar noch die Annahme, dass die Migration (allein) Phänomene der sozialen Ungleichheit in unserem Gesundheitswesen verschärft.

Teil 3 befasst sich mit Gelingensbedingungen der Integration Geflüchteter und adressiert die Teamentwicklung in multikulturellen Pflegeteams. In beiden Texten wird eine diversitätssensible Organisationsentwicklung angemahnt. Es geht am Ende um eine individuelle und organisationale Bildungs- und Qualifizierungsarbeit, die nicht ohne Irritationen (auf beiden Seiten) möglich sein wird. Der bekannte Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani hat jüngst auf ein Integrationsparadox verwiesen und festgestellt, dass eine gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Warum? Je mehr Leute am Tisch sitzen, desto intensiver werden die Auseinandersetzungen, auch die Debatten übermanche Konfliktthemen.

Fazit: Es handelt sich um eine sehr interessante Publikation, die das Themenfeld aus verschiedenen Perspektiven differenziert beleuchtet. Das Buch besticht durch eine Fülle an Informationen, provoziert Aha-Effekte auch bei scheinbar informierten Personen und bietet konkrete Anregungen für die Arbeit mit multikulturellen Teams vor Ort. Die Texte beruhen z.T. auf empirischem Material, die Sachkenntnis der Autor:innen ist unstrittig.Verständlich wird der Sonderweg der deutschen Pflege, die hier einen Hinweis zur Beantwortung der Frage erhält, warum zu Beginn der Corona-Pandemie die Öffentlichkeit geklatscht hat – und nun wieder „Business as usual“ eingetreten ist. Univ.-Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Vinzenz Pallotti University Vallendar

Buchbesprechungen 99 Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023
Quadriga, Köln 2022, 303 S., 22 Euro
Mabuse, Frankfurt am Main 2022, 223 S., 37 Euro

Karl Lauterbach und sein Sachverständigenrat

von Joseph Randersacker, Sachverständiger für fundamentalrelationales Wissen

Sachverständige sind eine tolle Sache. Nach einem Autounfall kann z.B. ein Sachverständiger mit Sachverstand den Reparaturbedarf am Auto feststellen. Ganz ähnlich gibt es jedes Jahr ein Sachverständigen-Gutachten zum Reparaturbedarf im Gesundheitswesen. Daran arbeitet ein ganzer Sachverständigenrat, das Gesundheitswesen ist ja auch viel teurer als ein Auto.

Heuer ging es darum, wie man das Gesundheitswesen nach Krisen „resilienter“ machen kann.

639 Seiten haben die Sachverständigen der Politik aufgeschrieben.* Gut, Karl Lauterbach, der sagt, er habe alle Studien zum Klimawandel gelesen, alle zu Corona und neuerdings auch alle zu den Folgen von Krieg für Kinder, liest das vielleicht wirklich. Für alle anderen gibt es ein „Executive Summary“. Mit neun Seiten für Normalpolitiker gerade noch bewältigbar.

Aber die Langfassung ist lehrreicher. Da erfährt man beispielsweise, dass Kinder unter günstigen Bedingungen gesünder aufwachsen als unter ungünstigen: „Ausgangspunkt für diese Erkenntnis war die im Jahr 1955 begonnene […] Kauai-Studie.“ Lauterbach hat sie sicher längst gelesen. Besser reich und gesund als arm und krank, keine Frage. Und wussten Sie, „dass sich der reale Versorgungsablauf […] durch seine

Komplexität häufig anders darstellt als geplant“? Kaum zu glauben, steht aber so im Gutachten. Für solche Erkenntnisse braucht man eben Sachverständige. Anderes Beispiel: „Erfahrungsbasiertes Wissen bezeichnet durch Erfahrung und Praxis erworbene Fähigkeiten und Einsichten.“ Oder: „Kreativität befähigt, traditionelle Denk- oder Handlungsweisen zu überschreiten und neue, originelle Ideen, Konzepte und Herangehensweisen zu entwickeln.“ Und, daraus messerscharf geschlossen: „Kreativität ist somit die Basis von Innovation (Srinivas 2021).“ Das wird sogar durch eine Studie belegt. Damit Lauterbach was zu lesen hat** und wir nicht denken, die Sachverständigen hätten sich das einfach nur ausgedacht.

Es ist schön, dass man nicht lange in den 639 Seiten suchen muss, um solche Tiefgründigkeiten zu finden. Jetzt weiß man auch: „Für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems ist eine ausreichende Versorgung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten, Schutzausrüstung u.Ä. essenziell.“ Lauterbach hat ein Jahr auf diesen Hinweis gewartet, jetzt kann er endlich loslegen. Sachverständige sind einfach eine tolle Sache!

* Das Wort „Resilienz“ kommt 596 Mal vor. Der StichwortSeiten-Quotient beträgt 0,93270736, nach fundamentalrelationalen Kriterien ein hochprozentiges Gutachten. ** Der Artikel ist aus dem ihm sicher bekannten indischen Karnataka Paediatric Journal, https://iap-kpj.org/healthcare-innovation-and-design-thinking.

114 Besser reich und gesund ... Dr. med. Mabuse 260 2. Quartal 2023 ... als arm und krank

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.