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Unst\u00E4ndig? Unverst\u00E4ndlich? Umst\u00E4ndlich? Umdenken
Wenn unsere Film- und Fernsehbranche ein Unwort für das Jahr 2018 wählen dürfte, wäre der sozialversicherungsrechtliche Begriff „Unständig“ der absolute Topfavorit. Verunsicherte Produzenten führen aus Unkenntnis lieber zu viel als zu wenige Sozialbeiträge ab. Beunruhigte Agenturen argwöhnen, wie lange ihre Klienten sich unter den Bedingungen die Provisionen noch leisten können. Unzählige Kolleginnen und Kollegen sind wütend, weil von ihrer Dreh-Gage unerträglich wenig unterm Strich übrig bleibt und nicht einmal Anwartschaftszeit für den Arbeitslosengeld-1-Anspruch erworben wird. Sie rennen hilfesuchend unserem BFFS die Bude ein, werden auch Mitglied – das ist allerdings erfreulich.
Der 12. Senat des Bundessozialgerichts hat in zwei Urteilen (am 31.03.2017 Az.: B 12 KR 16/14 R und am 14.03.2018 Az.: B 12 KR 17/16 R) die rechtliche Anwendbarkeit, „unständig“ zu versichern, viel großzügiger interpretiert, als die Sozialgerichtsbarkeit dies zuvor getan hat. Den Sozialversicherungsträgern – das sind die Deutsche Rentenversicherung Bund, die Agentur für Arbeit und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen – blieb nichts anderes übrig, als die entsprechenden Schlussfolgerungen aus den Urteilen zu ziehen und sie in einem Rundschreiben und ihren sogenannten „Besprechungsergebnissen“ festzuhalten. Sie wurden nach gründlichen, über ein halbes Jahr andauernden Beratungen am 21.11.2018 beschlossen und werden von nun an die sozialversicherungsrechtlichen Maßstäbe setzen. Die Produzenten müssen sogar damit rechnen, auch andere Filmschaffende, die nur tageweise eingesetzt werden – etwa Aushilfen bei Maske, Beleuchtung, oder an der Kamera –, unständig zu versichern.
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Wie müssen wir künftig versichert werden?
Das zuletzt praktizierte Modell mit Drehtagen plus Zusatzleistungstagen ist nicht weiter anwendbar.
Das Bundessozialgericht bestreitet nicht, dass wir Schauspielerinnen und Schauspieler neben der eigentlichen Drehtätigkeit auch Vorbereitungs- und Nachbereitungsarbeiten erledigen müssen. Doch zum einen sind jetzt Zusatzleistungen wie z. B. Rollenfindung und Szenenstudium nicht mehr sozialversicherungsrechtlich relevant, da der Produzent sie zeitlich nicht näher bestimmt. Zum anderen müssen aber jene Zusatzleistungen, die vom Produzenten durchaus zeitlich bestimmten werden (also: An- und Abreise, Kostüm-, Maske-, Lese-, Szenenproben, Regiebesprechungen, Spezialtraining, Castinghilfe, Fotovorproduktion, Pressetermine, Nachsynchronisationen), konkret an den Tagen sozialversicherungsrechtlich berücksichtigt werden, an denen sie tatsächlich stattfinden. Diese Zusatzleistungen dürfen nicht pauschalisiert bzw. an anderen Tagen verrechnet werden.
In Zukunft muss jeder unserer Vertragszeiträume eines Drehprojekts – nennen wir sie mal „Beschäftigungsinsel“ – isoliert betrachtet und je nach Versicherungszweig und Schwerpunkt des Erwerbslebens unterschiedlich abgerechnet werden.
Das kann für dasselbe Drehprojekt je nach Beschäftigungsinsel zu drei Varianten führen:
a) eine Beschäftigungsinsel wird „normal“ versichert, b) eine andere Beschäftigungsinsel wird unständig versichert ohne „berufsmäßige“ Unständigkeit und c) eine weitere Beschäftigungsinsel wird unständig versichert mit „berufsmäßiger“ Unständigkeit.
Wann gilt die „normale“ Versicherungspflicht?
Wenn bei einem Drehprojekt eine der Beschäftigungsinseln mindestens eine Woche dauert und ich dem Produzenten dort prioritär bzw. exklusiv zur Verfügung stehen muss, dann wird diese Beschäftigungsinsel „normal“ versichert. Die Beiträge fließen in alle Versicherungszweige und beschränken sich genau auf die Anzahl der Tage dieser Beschäftigungsinsel – also mindestens sieben Tage.
Und wenn dies auf alle Beschäftigungsinseln des Drehprojekts zutrifft, sie alle meine Einsatztage (also die, an denen ich drehe oder vom Produzenten zeitlich bestimmte Zusatzleistungen erledige), dazugehörige Wochenendtage und tarifliche Urlaubstage enthalten, dann bleibt alles beim alten. Ich werde überhaupt nicht unständig versichert.
Im Vergleich zu früher sammle ich deutlich mehr Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld 1, auch für meine Rente wird besser vorgesorgt. Trotzdem: Für den Produzenten ist das wesentlich günstiger, als wenn er mich unständig versichern müsste.
Wann gilt die unständige Versicherungspflicht?
Aber wenn auch nur eine Beschäftigungsinsel auf weniger als eine Woche befristet ist, oder ich während ihr weder exklusiv noch prioritär verpflichtet bin, ist sie unständig. Das hat Konsequenzen zunächst für die Rentenversicherung: Für sie gilt die Beitragsbemessungsgrenze der ganzen betreffenden Kalendermonate – ungeachtet meiner bis zu vier Beschäftigungstage, unabhängig vom Schwerpunkt meines Berufslebens, losgelöst von den anderen Beschäftigungsinseln.
Ein Beispiel: Ich habe an drei aufeinanderfolgenden Tagen, dem 31.03., 01.04. und 02.04.2019, insgesamt 7.000 € verdient. Dann gilt nicht eine dreitägige Beitragsbemessungsgrenze von (6.700 € ÷ 30 × 3 =) 670 €, von denen der Produzent und ich jeweils die 9,3-prozentigen Beiträge in Höhe von 62,31 € zahlen müssten. Vielmehr besteht eine zweimonatige Beitragsbemessungsgrenze von 13.400 € (6.700 € für März + 6.700 € für April). Das heißt, von meinen vollen 7.000 € werden mir 9,3% Rentenbeiträge abgezogen und 9,3% zahlt der Produzent. Das wären von beiden jeweils 651,00 € – mehr als das 10-fache der „normalen“ tagesgenauen Rentenversicherungspflicht.
Was passiert bei berufsmäßiger bzw. nicht berufsmäßiger Unständigkeit?
Wenn im Kalendermonat, in dem ich eine unständige Beschäftigung(sinsel) habe, mein Erwerbsleben wirtschaftlich und zeitlich gesehen ebenfalls eindeutig von unständigen Beschäftigungen geprägt ist, übe ich die unständige Beschäftigung – so heißt das im juristischen Fachjargon – „berufsmäßig“ aus. Liegt meine unständige Beschäftigung am Anfang eines Kalendermonats, von dem ich noch gar nicht weiß, was sich da noch erwerbsmäßig abspielen wird, muss der Arbeitgeber prognostizieren, ob es bei mir im Kalendermonat unständig weitergeht oder nicht.
Bin ich so gesehen berufsmäßig unständig, gilt auch für die Kranken- und Pflegeversicherung die Beitragsbemessungsgrenze der ganzen betreffenden Kalendermonate. In die Arbeitslosenversicherung wird allerdings nichts abgeführt, ich sammele in diesem Fall keine Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld 1.
Ist jedoch der Schwerpunkt meines Erwerbslebens in den betreffenden Kalendermonaten trotz meiner unständigen Beschäftigung(sinsel) insgesamt nicht von unständigen Beschäftigungen geprägt, vielleicht weil ich überwiegend „normal“ beschäftigt oder selbständig tätig bin, dann bin ich kein „berufsmäßig Unständiger“ und gerate in eine neue Versicherungssituation, die vor den beiden Bundessozialgerichtsurteilen völlig ausgeschlossen war: Für die Kranken-, Pflege- und – Achtung! – auch für die Arbeitslosenversicherung gelten die Beitragsbemessungsgrenzen der konkreten ein bis vier Tage meiner Beschäftigung(sinsel), obwohl für die Rentenversicherung, wie gesagt, die Beitragsbemessungsgrenze der ganzen betreffenden Kalendermonate zum Zuge kommt.
Genau diese Differenzierung ist jetzt rechtlich zwingend vorgeschrieben, datentechnisch aber von den meisten Abrechnungssystemen der Arbeitgeber und denen der gesetzlichen Krankenkassen (als Einzugsstellen aller Sozialabgaben) noch nicht durchführbar.
Eine besonders für Produzenten recht unangenehme Situation! Sie müssen jetzt ohnehin mehr Sozialabgaben abführen, müssen sich neu orientieren, wann unständig zu versichern ist, und falls ja, ob eine berufsmäßige Unständigkeit vorliegt oder nicht. Das ist kompliziert und ziemlich fehleranfällig. Läuft es schief, haften die Produzenten – auch für die fehlenden Sozialbeiträge ihrer Arbeitnehmer. Die Probleme der Beitragsüberzahlungen, die durch die Überlappung mehrerer unständiger Beschäftigungen hervorgerufen werden können, wollen wir hier erst gar nicht weiter ausführen.
Darf die Versicherungsart nach Belieben ausgewählt werden?
Ganz klar: Nein! Die Sozialversicherung ist – wie die Steuer – kein Wunschkonzert, sondern muss sich streng an das Recht und an die tatsächlichen Beschäftigungsverhältnisse halten.
Wie so vieles im Leben sind manche Tatsachen unveränderbar, andere hingegen lassen sich gestalten. Mein Arbeitgeber und ich können in einem gewissen Maße bei meiner Beschäftigung Tatsachen schaffen. So z. B. die Höhe meiner Gage und auch in welchen Zeiträumen ich dem Arbeitgeber prioritär zur Verfügung stehen muss.
Erstes Beispiel: Ich bin Synchronschauspieler, werde dort zu Recht dauernd unständig versichert, bin auch berufsmäßig unständig und bekomme nun ein Drehangebot mit ein paar weit verstreuten Drehtagen. Wenn die Filmproduktion und ich uns darauf einigen und vertraglich festhalten, dass ich tatsächlich nur an den vereinzelten Drehtagen und an den Tagen zur Verfügung stehen muss, an denen ich sonstige Zusatzleistungen erledigen muss, ist die unständige Sozialversicherung als berufsmäßiger Unständiger zwingend. Und das würde auch besser zu meinen sonstigen unständigen Beschäftigungen in der Synchronbranche passen.
Zweites Beispiel: Ich bin eher ein Bühnenschauspieler, werde dort ebenfalls zu Recht stets „normal“ versichert und bekomme das gleiche besagte Drehangebot. Wenn die Filmproduktion und ich – schriftlich!!! – vereinbaren, dass all meine vereinzelten Drehtage sowie exakt die Tage, an denen ich sonstige Zusatzleistungen erledigen muss, von mindestens einwöchigen Vertragszeiträumen ummantelt werden, in denen ich der Filmproduktion wirklich prioritär zur Verfügung zu stehen habe, ist die „normale“ Sozialversicherungspflicht zwingend. In alle Versicherungszweige fließen Beiträge, ihre Bemessungsgrenzen beschränken sich auf die Vertragszeiträume und ich sammle bei diesen Dreharbeiten Anwartschaftszeittage für den Arbeitslosengeld-1-Anspruch. Zusammen mit meinen anderen Schauspielengagements habe ich eine echte Chance, bei Bedarf auch diese „Stütze“ zu bekommen.
Das Ende vom Lied
Die beiden Bundessozialgerichtsurteile waren ein Paukenschlag für unsere Film- und Fernsehlandschaft. Die Produktionsfirmen waren dadurch zunächst völlig aus dem Takt geraten, jede versicherte uns irgendwie anders. Kurz vor Weihnachten reagierten die Sozialversicherungsträger auf die Urteile und dirigierten unsere Branche in die rechtlich korrekte Richtung. Viele Produzenten scheinen sich schnell auf den neuen Rhythmus einzustellen. Vertragszeiträume von mindestens einer Woche werden immer beliebter. So halten die Produzenten finanzielle, logistische und rechtliche Dissonanzen von sich fern. Und am Ende werden dadurch auch wir Schauspielerinnen und Schauspieler eine kontinuierlichere und harmonischere soziale Absicherung erlangen.
Heinrich Schafmeister