Deep Time
S. 5 VORWORT
Thorsten Sadowsky
p. 7 FOREWORD
Thorsten Sadowsky
S. 11 DIE JAHRE – Weibliche Autobiografik in den Fotografien von Marion Kalter
Kerstin Stremmel
p. 18 THE YEARS The Autobiographical Woman in Marion Kalter’s Photography
Kerstin Stremmel
VIEILLE FRANCE
ARLES, TED JOANS, & THE BEATS
S. 59 Marion Kalters langer Sommer der Fotografie
Florian Ebner
p. 65 Marion Kalter’s Long Summer of Photography
Florian Ebner
S. 81 Über eine Fotografie von Marion Kalter
Jean-Jacques Lebel
p. 84 On a Photograph by Marion Kalter
Jean-Jacques Lebel
HERSTORY
CADAVRE EXQUIS
DEEP TIME
DIFFERENT TRAINS
S. | p. 181 BIOGRAFIE | BIOGRAPHY
S. | p. 182 IMPRESSUM | COLOPHON
Wenn Marion Kalter von Fotografie spricht, dann spricht sie eigentlich von den Menschen, für die sie sich bereits als junge Journalistin interessiert hat, darunter Autorinnen wie Anaïs Nin oder Susan Sontag und Künstlerinnen wie Joan Mitchell oder Meret Oppenheim. Als entscheidend für ihr Leben und ihre Karriere als Fotografin erwies sich die Begegnung mit dem Künstler, Musiker und Performer Ted Joans, der zu den zentralen Persönlichkeiten der amerikanischen Beat-Generation um Jack Kerouac und Allen Ginsberg gehörte. Kalter lernte Joans 1974 in Paris kennen, nachdem sie in den USA Malerei und Kunstgeschichte studiert hatte und im Anschluss Kurse an der Pariser Académie des Beaux-Arts belegte. Mit Joans verband Kalter eine enge Freundschaft – sie spricht selbst von ihrer „Teducation“ – und begleitete den charismatischen Jazzpoeten mit ihrer Kamera ins American Center, in die Pariser Galerien, zu Lesungen bei Shakespeare and Company, zu Konzerten und auf Reisen nach Nordafrika.
Man kann dieses Eintauchen in die Pariser Kunst-, Literatur- und Musikszene als Kalters künstlerisches Erweckungserlebnis bezeichnen, da sie die teilnehmende Beobachtung, das Dabeisein und das Einfangen des Zeitgeists zur intuitiven künstlerischen Strategie weiterentwickelte. Ihre Fotografien von bekannten Persönlichkeiten der Pariser Kunst- und Kulturszene zeugen von einem offenen und neugierigen fotografischen Blick sowohl für das Inszenierte als auch für das aleatorische Spiel, also die bildnerische Erkundung nicht intentionaler Ereignisse und Situationen. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass ein Kapitel der Ausstellung und der begleitenden Publikation den Titel Cadavre exquis, „köstlicher Leichnam“, führt. Kalter bezieht sich damit auf eines der berühmten Spiele der Surrealisten, das 1925 entwickelt wurde und den
VORWORT
Zweck verfolgte, neue Wege des assoziativen Denkens zu erproben. Es handelt sich um ein Gesellschaftsspiel mit einem gefalteten Papier, bei dem ein Satz oder eine Zeichnung von mehreren Personen konstruiert wird, wobei die Mitspieler innen keine Kenntnis von den vorhergehenden Beiträgen haben. Durch die unvorhersehbare Kombination von Worten, Ideen und Bildern wird eine merkwürdig hybride und träumerische Bildwelt evoziert, in der sich Zufall und kollektive Autorenschaft miteinander verbinden. Kalter bezieht sich auf das Gesetz des Zufalls als schöpferisches Konzept und versammelt so eine beeindruckende Galerie von Persönlichkeiten, denen sie damals begegnet ist: Berenice Abbott, Gisèle Freund, Lynn Hershman Leeson, Agnès Varda, Michel Leiris, Francis Bacon, Annette Messager, John Cage, Chantal Akerman, Claude Lévi-Strauss, Marguerite Duras, Meret Oppenheim … Viele weitere Künstler innen und Geistesgrößen sollten folgen. Andere Fotograf innen wie David Hurn, Mary Ellen Mark, Marc Riboud und Ralph Gibson lernte Kalter bei den legendären Rencontres de la photographie in Arles Mitte der 1970er-Jahre kennen und wurde für diese teilweise auch als Übersetzerin tätig. Sie entwickelte ein neues Verständnis der Fotografie und sah diese nicht allein mehr als Medium der Aufzeichnung, sondern zunehmend auch als bildschöpferisches Ausdrucksmittel der Interpretation, der Inszenierung und der persönlichen Erinnerung. Die Ausstellung Deep Time ist auch eine Spurensuche in Kalters Kindheit und der Versuch der Fotografin, ihre Herkunft und Familiengeschichte besser zu verstehen und gewissermaßen visuell nachzuvollziehen. Gezeigt werden historische Aufnahmen und Bilder von Gegenständen, die sie nach dem Tod ihrer Eltern aus Koffern befreit und dokumentiert hat. Die sensibel inszenierten Fotografien,
die unterschiedliche Zeitebenen festhalten, erlauben es, Kalters komplexe Familiengeschichte anschaulich zu machen. Ihr deutsch-jüdischer Vater Karl Kalter emigrierte 1936 als 13-Jähriger mit seiner Mutter und Schwester aus dem Rheinland in die USA, während ihre österreichischkatholische Mutter Elisabeth Wieninger als Schauspielerin auch im Fronttheater für deutsche Truppen mitspielte. Die Eltern lernten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Salzburg kennen, heirateten und gingen drei Monate nach der Geburt von Marion Kalter in die USA. Nach dem amerikanischen Nachkriegsgesetz mussten sie Salzburg verlassen. Nach einigen Jahren kehrte die Familie nach Europa zurück; Marion Kalter wuchs in Frankreich auf und hier ist – unterbrochen von vielen Reisen – bis heute ihr Lebensmittelpunkt. Im Familienhaus in Chabenet, gelegen im Herzen Frankreichs, begann die junge Fotografin Ende der 1970er-Jahre eine Serie von inszenierten Selbstporträts, die von der melancholischen Sehnsucht geprägt sind, sich den Ort, die verstrichene Zeit und die Lebensgeschichte der verstorbenen Mutter über ihren Nachlass und die Poetik der Dinge wieder anzueignen. In diese Zeit fielen auch erste Aufträge für die Zeitschrift Le monde de la musique, die Kalter bald regelmäßig in ihre Geburtsstadt Salzburg führten und zu einer gefragten Chronistin der künstlerischen Auftritte auf und hinter den Bühnen der Salzburger Festspiele werden ließen. Durch ihr vorbehaltloses Experimentieren mit den Zufällen des Lebens ist im Lauf der Jahre ein dichtes Gewebe von Bildern entstanden, das in der Ausstellung mit der Dokumentation einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn im Jahr 2017 seinen vorläufigen Schlussakkord findet. Kalter reiste auf den Spuren ihres Großonkels Oscar Aaron nach Beijing, der 1940 diese Reise hatte machen müssen, um der Vernichtung in
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Thorsten S adowsky Director, Museum der Moderne SalzburgDeutschland zu entgehen. Wieder ist es die Erinnerung, die nicht verloren gehen darf, welche die Fotografin zu der Reise auf der langen Fluchtroute des Verfolgten veranlasste.
Ich danke Marion Kalter sehr herzlich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Als Direktor des Museum der Moderne Salzburg ist es mir ein Anliegen, meine große persönliche Wertschätzung für ihr großartiges fotografisches Werk zum Ausdruck zu bringen. Mit der Ausstellung und der begleitenden Publikation erfolgt die längst überfällige Würdigung einer Salzburger Fotokünstlerin mit internationaler Ausstrahlung und Reputation. Mein großer Dank gilt ferner den Autor innen Florian Ebner, Jean-Jacques Lebel und Kerstin Stremmel für ihre kenntnisreichen Texte. Ich danke sehr herzlich dem gesamten Museumsteam, das mit gewohnter Professionalität und großem Engagement an der Realisierung der Ausstellung und des Katalogs mitgewirkt hat. Besonders hervorheben möchte ich unsere Kuratorinnen Barbara Herzog und Kerstin Stremmel, die für das Ausstellungs- und Publikationsmanagement verantwortlich gewesen sind und hervorragende Arbeit geleistet haben, sowie die Restauratorin Maria Emberger, die mit tatkräftiger Unterstützung von Dieter Linnerth und in enger Abstimmung mit unserer Registrarin Susanne Greimel wesentlich zum Gelingen des ambitionierten Ausstellungsprojekts beigetragen hat. Dem engagierten Verlegerpaar Angelika und Markus Hartmann danke ich für die ausgezeichnete Zusammenarbeit und dem Grafiker Claas Möller für die souveräne Gestaltung der Publikation. Schließlich und besonders danke ich dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medien
Karlsruhe, insbesondere dessen Vorstand Peter Weibel, sowie der Stadt Salzburg und dem Land Salzburg für die großzügige finanzielle Förderung des Katalogs.
When Marion Kalter talks about photography, she is actually talking about people she was interested in even as a young journalist, including authors such as Anaïs Nin or Susan Sontag and artists such as Joan Mitchell or Meret Oppenheim. An encounter crucial to her life and career as a photographer was one with the artist, musician, and performer Ted Joans, one of the major figures of the American Beat generation centered on Jack Kerouac and Allan Ginsberg. After finishing her studies in painting and art history in the United States and then attending classes at the Académie des Beaux-Arts in Paris, Kalter met Joans in 1974 in Paris. Joans and Kalter enjoyed a close friendship she herself called it her “Teducation” and she took her camera with her when accompanying the charismatic jazz poet to the American Center, the Parisian galleries, readings at Shakespeare and Company, concerts, and on trips to North Africa.
This immersion in the Parisian art, literary, and music scene can be described as Kalter’s artistic awakening, since she continued to develop an intuitive artistic strategy through her participatory observation, her presence at events, and her process of capturing the zeitgeist. Her photographs of well-known figures on the Parisian art and culture scene testify to an open, curious photographic eye for both staged and aleatory play, i.e., the pictorial exploration of unintentional events and situations. It is, therefore, no coincidence that one chapter of the exhibition and companion publication bears the title Cadavre exquis, or “exquisite corpse.” Here, Kalter refers to one of the Surrealists’ most famous games, developed in 1925, whose purpose was to test new methods of associative thinking. Exquisite Corpse is a parlor game in which several people construct a sentence or a drawing on a
folded piece of paper, without the players knowing what previous players have contributed. The unpredictable mix of words, ideas, and images evokes a strange, hybrid, dreamlike visual world, in which coincidence and collective authorship combine. Kalter’s reference to the law of chance becomes a creative concept, and through it she has collected an impressive gallery of personalities she met at the time: Berenice Abbot, Gisèle Freund, Lynn Hershman Leeson, Agnès Varda, Michel Leiris, Francis Bacon, Annette Messager, John Cage, Chantal Akerman, Claude Lévi-Strauss, Marguerite Duras, Meret Oppenheim … Many other artists and intellectual greats would follow. Kalter met other photographers such as David Hurn, Mary Ellen Mark, Mark Riboud, and Ralph Gibson at the legendary Rencontres de la photographie in Arles in the mid-1970s, and she also worked for some of them as a translator. She developed a new understanding of photography, no longer regarding it solely as a recording medium but increasingly as a visually creative means of expression for interpretation, staging, and personal memory.
The exhibition Deep Time is also a way of searching for clues in Kalter’s childhood, as well as the photographer’s attempt to better understand her background and family history, and to reconstruct them to a certain extent in visuals. On display are historical photographs and pictures of objects that she found in suitcases and documented after the death of her parents. The sensitively staged photographs, which capture different layers of time, make it possible to visualize Kalter’s complex family history. Her German-Jewish father, Karl Kalter, emigrated with his mother and sister from the Rhineland to the United States as a thirteen-year-old in 1936, while her Austrian, Catho-
lic mother, Elisabeth Wieninger, was an actress and performed at the front for German troops. Her parents met in Salzburg after World War II; they married and left for the US three months after Marion Kalter was born. To comply with American post-war law, they had to leave Salzburg. After a few years, the family returned to Europe. Marion grew up in France, and although interrupted by many trips it has remained the center of her life to this day. It was in her family home in Chabenet, located in the heart of France, where the young photographer began producing a series of staged self-portraits in the late 1970s that are marked by a melancholic yearning to reappropriate the place, the elapsed time, and the story of her dead mother’s life through the objects she left behind and the poetics of things. During that time, Kalter obtained her first assignments for the magazine Le Monde de la Musique which soon regularly took her to the city of her birth, Salzburg, and made her one of the most sought-after chroniclers of artistic performances onstage and behind the scenes at the Salzburg Festival. Her unreserved experimentation with the coincidences of life has resulted in the emergence of a dense fabric of images over the years, which finds its tentatively penultimate chord in the exhibition with the documentation of a journey on the Trans-Siberian Railway in 2017. Kalter followed in the footsteps of her great-uncle Oscar Aaron, who had to travel to Beijing in 1940 when he had to leave Nazi Germany in order to survive. Again, it is the memory that should not be lost, which prompted the photographer to take the journey along the persecuted man’s long escape route.
My heartiest thanks go to Marion Kalter for her trust and cooperation. As the Director of the Museum der Moderne Salzburg, I would like to express my great per-
sonal appreciation for her magnificent work in photography. This exhibition and its companion publication are a long overdue tribute to a Salzburg artist with an international presence and reputation. In addition, my great thanks go to the authors Florian Ebner, Jean-Jacques Lebel, and Kerstin Stremmel for their knowledgeable and informative essays. I am also very grateful to all of members of museum’s team, who have contributed to the production of the show and catalogue with their usual professionalism and great commitment. In particular, I would like to mention our curators, Barbara Herzog and Kerstin Stremmel, who have done an excellent job of overseeing the management of the exhibition and publication, as well as the restorer Maria Emberger, who, with the active support of Dieter Linnerth and in close coordination with our registrar Susanne Greimel, has significantly contributed to the success of this ambitious exhibition project. I would also like to thank the dedicated publishers Angelika and Markus Hartmann for the outstanding collaboration and the graphic designer Claas Möller for the publication’s superior design. Finally, and most especially, I am grateful to the the ZKM | Center for Art and Media Karlsruhe, particulary its CEO Peter Weibel, as well as the City and Province of Salzburg for their generous financial support for the catalogue.
Das Werk von Marion Kalter setzt sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen, die erst in der Summe ihre spezifische Arbeitsweise erkennen lassen. Charakteristisch für diese Arbeitsweise sind Kalters ästhetische und thematische Subjektivität und ihre Intensität. Ergebnis ist eine Konstruktion narrativer Identität, die nicht linear und nicht abgeschlossen ist. Der künstlerische Prozess besteht unter anderem aus der Kombination von gefundenem Material, teilweise radikalen Selbstinszenierungen, aber auch eher konventioneller Porträtfotografie, die oft von starkem persönlichem Interesse an den Porträtierten und der Nähe zu einer bestimmten Szene geprägt ist, der Kalter sich zugehörig fühlt. Die fotografischen Verfahren können mehr oder weniger streng konzeptuell sein, intuitiv oder beinahe klassisch journalistisch, die Techniken reichen von Collagen historischer Fotos über klassische Schwarz-WeißFotografien auf Barytpapier bis zu Handyaufnahmen.
In ihrer Gesamtheit umreißen die Bilder eine Vita zwischen unterschiedlichen Fixpunkten und Orten, die im Folgenden kursorisch benannt werden, um das Disparate eines (jeden) Lebens, in dem sich Geschichte und Kulturgeschichte einer bestimmten Epoche spiegeln, fassbarer zu machen. Deutlich soll bleiben, dass es sich bei diesen Aufnahmen in besonderem Maße um Bilder handelt, deren Bedeutung aus einer Synthese zweier Intentionen besteht, wie Vilém Flusser sie beschrieben hat, jener,
Weibliche Autobiografik in den Fotografien von Marion Kalter
Kerstin Stremmeldie sich im Bild manifestiert, und jener des Betrachters: Bilder sind nicht „‚denotative‘ (eindeutige) Symbolkomplexe, sondern ‚konnotative‘ (mehrdeutige) Symbolkomplexe: Sie bieten Raum für Interpretationen.“ 1 Einige von Kalters seltenen Farbfotografien erfassen frontal verschiedene Gegenstände: einen gestrickten dunkelblauen mottenzerfressenen Badeanzug, der bereits beim Betrachten die Haut reizt; ein Päckchen extra dünne, hermetisch versiegelte Kondome, deren Benutzung nicht mehr zu empfehlen ist; Lippenstifte von Max Factor aus der Hi-Society-Serie mit Namen wie „Too Too Pink“ oder „Strawberry Pastel“; und das vielleicht klassischste aller Parfums, Chanel Nr. 5 (S. 162/163). Sie stammen vom Dachboden des Hauses in Chabenet im Zentrum Frankreichs, wohin es die Familie Kalter Anfang der 1950er-Jahre verschlagen hatte. Die Eltern lernten sich nach dem Krieg in Salzburg kennen, Marion Kalters jüdischer Vater konnte im Alter von 13 Jahren aus Deutschland nach Amerika auswandern und die amerikanische Staatsangehörigkeit annehmen, daher zog er mit seiner österreichischen Frau und der sechs Jahre nach Kriegsende geborenen Tochter zunächst in die USA, von dort nach Frankreich. Die Gegenstände, die Kalter erst ein halbes Jahrhundert nach dem Umzug aus den Koffern holte, sind sachlich und unter Verzicht auf Inszenierung aufgenommen wie Beweisstücke, um ein
Wort von Walter Benjamin aus seinem Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus dem Jahr 1935 aufzugreifen. Sie illustrieren, dass einst sorgsam Verstautes lange der Vergessenheit anheimfallen kann, bevor es durch den Blick einer Künstlerin zu Indizien einer Lebenswirklichkeit und der damit verbundenen Gefühle wiedererweckt werden kann. Eines der schönsten Porträts Walter Benjamins stammt von der Soziologin, Fotohistorikerin und Fotografin Gisèle Freund. Marion Kalter hat sie interviewt und einige Porträts von ihr gemacht. Auf einer Aufnahme ist sie konzentriert und gelassen am Schreibtisch zu sehen. Beziehungsreicher ist ein Porträt, das Kalter bei einem Ausstellungsbesuch von ihr aufgenommen hat: Im Jahr 1979 schaut sich Freund Fotografien in der Pariser Dependance der Galerie Zabriskie an, wobei Kalter sie im Profil erfasst. Das Bild dominiert aber eine Kollegin, Berenice Abbott (S. 126). Von ihr stammen die Fotografien in der Ausstellung, die im Hintergrund zu sehen sind, oben links etwa die Aufnahme der feingliedrigen Hände von Jean Cocteau, mit denen er seinen Hut umfasst, aufgenommen um 1925 Zur gleichen Zeit entstanden Abbotts Porträts von Eugène Atget, der zu seinen Lebzeiten fast vergessene Dokumentarist des alten Paris. Indem Abbott nach seinem Tod den Nachlass aufkaufte, hat sie sich um seine internationale Rezeption verdient gemacht; 1968 wurde ihre Sammlung durch das Museum of Modern Art in New York angekauft. Bereits Walter Benjamin beschrieb Abbotts Rolle in dem Aufsatz „Kleine Geschichte der Photographie“: „Berenice Abbot [sic] aus New York hat diese Blätter gesammelt, und eine Auswahl von ihnen erscheint soeben in einem hervorragend schönen Bande.“ 2
Benjamins „Kleine Geschichte“ und Roland Barthes’ „Bemerkung zur Photographie“ sind oft miteinander verglichen worden. Jacques Derrida war der Ansicht, ihre Essays „könnten sehr wohl die beiden grundlegenden Texte zur sogenannten Frage nach dem REFERENTEN in der technischen Moderne sein.“ 3 Von Barthes hat Marion Kalter ein strenges Porträt aufgenommen: Eingefasst vom Holzrahmen eines Fensters oder einer Tür ist er im Profil zu sehen, das Licht fällt von links auf sein Gesicht, er ist sich seiner Pose bewusst, scheint aber, trotz verschränkter Arme, einverstanden zu sein mit dem Akt des Fotografiert-Werdens. (S. 144).
Ich beschließe also, auf meinen Lippen und in meinen Augen ein leichtes Lächeln „spielen zu lassen“, das „undefinierbar“ wirken und mit den mir eigenen Qualitäten zugleich zum Ausdruck bringen soll, daß ich das ganze photographische Zeremoniell amüsiert über mich ergehen lasse: ich gehe auf das Gesellschaftsspiel ein, ich posiere, weiß, daß ich es tue, will, daß ihr es wißt, und doch soll diese zusätzliche Botschaft nicht im mindesten das kostbare Wesen meiner Individualität verfälschen. 4
Die helle Kammer, das Buch, aus dem dieses Zitat stammt, war die letzte Veröffentlichung von Roland Barthes, erschienen 1980, im Jahr seines Todes. Die Fotografie
Marion Kalters entstand im Jahr davor. Was Barthes als eine Eigenschaft der Fotografie beschreibt, einen Augenblick des Lebens zu fixieren und damit die Vergänglichkeit des fotografierten Individuums sichtbar zu machen und gleichzeitig das Leben zu mortifizieren, geschieht auch auf diesem stillen Foto des Autors, der den Blick nach links in die Vergangenheit richtet: Es zeigt, was schon bald nicht mehr war.
Das zentrale Bild, das Roland Barthes in seinem Buch beschreibt, ist eine Fotografie seiner Mutter:
So ging ich die Photos meiner Mutter durch, einer Spur folgend, die in diesen Schrei mündete, mit dem jede Sprache endet: „Das ist es!“ […] ein jähes Erwachen, durch keinerlei „Ähnlichkeit“ ausgelöst, das satori, wo Worte versagen, die seltene, vielleicht einzigartige Evidenz des „So, ja, so, und weiter nichts“. 5
Dieses Foto existiert, so beschreibt Barthes es, ausschließlich für ihn, für andere wäre es belanglos.
Auch von Kalter gibt es ein Bild der Mutter, das eine besondere Bedeutung hat. Entstanden ist es durch einen Zufall. Es wurde in Washington, D.C., gemacht, wo Kalter die zwei ersten Jahre ihres Lebens verbrachte. Dort arbeitete ihre Mutter, die zuvor in Wien am Max Reinhardt Seminar studiert und während des Kriegs im Fronttheater für deutsche Soldaten, danach beispielsweise in Graz am Theater gespielt hatte, in einem Farbfotolabor. Kalter fand eine Serie von Kodachromes mit Fotos, die ihre Eltern voneinander aufgenommen hatten, aber auch jenes
Bild der Mutter, das vielleicht der Vater, wahrscheinlich aber Marion Kalter selbst gemacht hatte: Das Gesicht der Mutter ist angeschnitten, umrahmt von dunklen Locken, die Augen sind nicht zu sehen, aber die prononcierte Nase, die hohen Wangenknochen und vor allem der (mit Max Factors „Bewitching Coral“?) geschminkte Mund und das elegante schwarze Kleid, das die Schultern zur Hälfte freigibt und den Blick auf ein blumengeschmücktes Dekolleté lenkt (S. 161). Monumental wirkt die Figur trotz ihrer Zierlichkeit, weil sie leicht von unten fotografiert wurde, weshalb es durchaus denkbar ist, dass hier ein Kind auf den Auslöser gedrückt hat. Was die Wirkung auch für Uneingeweihte suggestiv macht, ist die faszinierende Farbigkeit, der grüne Hintergrund, der mit den orangeroten Lippen kontrastiert. Als Kodak 2009 bekanntgab, die Herstellung von Kodachrome einzustellen, dem ersten kommerziell erfolgreichen Dreifarbenfilm mit natürlicher Farbwiedergabe, der von Mitte der 1930er- bis in die 1990er-Jahre das bevorzugte Diafilmmaterial vieler Berufs- und Amateurfotografen war, herrschte Verstimmung. Unter anderem aufgrund der wie beim Super-8-Film legendären Haltbarkeit, vor allem aber wegen eines Ohrwurms von Paul Simon aus dem Jahr 1973 konnte man ins Grübeln kommen:
Kodachrome, they give us those nice bright colors They give us the greens of summers Makes you think all the world’s a sunny day, oh yeah I got a Nikon camera, I love to take a photograph So, mama, don’t take my Kodachrome away.
Weiter im Text geht es darum, dass die Kodachrome-Erinnerungen immer etwas schöner sind als die Wirklichkeit.
Dass Kodachrome entscheidend zur Entwicklung der Farbfotografie beigetragen hat, die lange Zeit brauchte, bis sie in den Museen akzeptiert war, ist nicht zu leugnen. „Everything looks better in color“ war ein berühmter Kodak-Werbespruch, und es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was für eine Revolution die Erfindung ursprünglich bedeutete. So grün wie damals waren die Farben auf Filmen sicher nie wieder.
Das Punktum des Porträts sind in meinen Augen allerdings die beiden Schatten, die die dargestellte Frau auf die grüne Wand wirft und die noch immer auf das Leben der Fotografin zu fallen scheinen. Ein weiteres Bild aus dieser Serie, gewiss ebenfalls von Marion Kalter in sehr jungen Jahren aufgenommen, ist unscharf und lässt Mutter und Vater nur in Umrissen erkennen, wie in einem Traum, in dem es nicht gelingt, scharf zu stellen (S. 150/151). Es erinnert an eine literarische Momentaufnahme der Autorin Annie Ernaux, auf deren Buch Die Jahre ich später noch zu sprechen komme: „all die schummrigen Bilder der ersten Jahre, mit einem Sommersonnentag als hellem Fleck, all die Träume, in denen die toten Eltern wieder leben oder man eine fremde Landstraße entlangläuft.“ 6
Dass Marion Kalters Mutter starb, als sie ein Teenager war, macht ihren Wunsch, die Vergangenheit zu verstehen, noch verständlicher – wie war die Liebe zwischen einem Emigranten und einer Frau, die für deutsche Soldaten aufgetreten war, wie mag es für den Vater gewesen sein, nach Europa zurückzukehren, sogar wieder nach Deutschland, wo er für die amerikanische Armee in Heidelberg arbeitete, unweit seiner alten Heimat. Dort entstand unter
anderem eine tastende Serie von Bildern in seinem Büro, auf einem der Bilder versteckt der Vater sein Gesicht hinter einer Groucho-Marx-Maske – das Gesicht des Komikers, der im Film Horse Feathers aus dem Jahr 1932 verkündet hatte: „Whatever it is – I’m against it.“ (S. 165). In München, wo Kalter 1995 während des Faschings die letzte Aufnahme ihres Vaters machte, ist er mit Konfetti bedeckt, im Hintergrund steht ein Leierkastenmann (S. 153).
Vielleicht ein Zufall, aber einer, der an Schuberts Winterreise denken lässt, an die letzten Zeilen des „Leiermanns “:
Und er läßt es gehen Alles, wie es will Dreht, und seine Leier Steht ihm nimmer still.
Wunderlicher Alter, Soll ich mit dir gehn?
Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehn? 7
Die wenigen Beispiele aus Kalters familiärem Kosmos vermitteln eine Ahnung von ihrem subjektiven Gebrauch der Fotografie. Susan Sontag, langjährige Lebensgefährtin einer Fotografin, hat einen Essay mit dem Titel On Photography geschrieben, der auch „Against Photography“ lauten könnte, da er sich gegen das inhärent Ausbeuterische des Bilder-Schießens, die Aggressivität des Akts richtet. Das gilt für journalistische Fotografie und die aus der Distanz beobachtende – gegen diese „objektive“ Fotografie haben sich neben Kalter auch viele andere Fotograf innen entschieden. Susan Sontags Essay erschien 1977 in Buchform und 1979 machte Kalter ein
Porträt der Autorin, ebenfalls wie viele der von ihr Porträtierten in einem Rahmen stehend (S. 129). Damit wären wir bei einer weiteren zentralen Figur der Fototheorie, die den Akt des Fotografierens folgendermaßen beschrieben hat: „Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte […].“ 8
Woher kommt Marion Kalters Affinität zu den großen Theoretiker_innen und wie schafft sie es, dass sie vor ihrer Kamera bei sich zu sein scheinen?
Zunächst hat Kalter in den USA Malerei studiert, die Fotografie kam 1974 dazu. Einer der Auslöser für diese Art des Zugriffs auf die Welt war männlich. Kalter ist souverän genug, darauf hinzuweisen, welche Rolle der Beatnik und Jazzpoet Ted Joans für ihre Sozialisation gespielt hat. Die Beziehung zu ihm ermöglichte ihr den Zugang zur Szene in und um die Pariser Buchhandlung Shakespeare and Company, ein wichtiger Treffpunkt der Beat-Generation seit den 1950er-Jahren, wo sich Schriftsteller wie Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti und William S. Burroughs trafen, die Kalter ebenso porträtierte wie James Baldwin (S. 93). Joans verdankte sie auch ihre erste Anstellung bei La Photogalerie, einer Buchhandlung und Galerie, in der sie viele Ausstellungen sah, ihren Blick schulte und Kontakte knüpfte. Viele der Porträtierten, vor allem auch prägende Frauenfiguren, waren Teil ihres Lebens – nicht der objektive Blick, die Analyse, sondern die persönliche Affinität war entscheidend.
As Natural as a Bird Flies
Begeisterung, Zuneigung und Neugierde lieferten auch wichtige Impulse für Kalters Interesse am Jazz und seinen Protagonisten. Das in diesem Kontext aufschlussreichste Bild, ein Porträt von Charles Mingus und Dizzy Gillespie, verdankt sich einer Doppelbelichtung. Durch die erneute Benutzung eines bereits belichteten Films entsteht eine Gedrängtheit und atmosphärische Dichte, die von der tatsächlichen Stimmung mehr wiedergibt, als von einer perfekten Inszenierung, einem idealen Bildausschnitt oder auch nur von einem gelungenen Schnappschuss geleistet werden könnte. So sieht man dem massigen Bassisten bei einer Pause zu, während der Trompeter auf demselben Abzug mit geblähten Backen in sein verbogenes Instrument bläst.
Dieses Foto entstand 1975 in Juan-les-Pins, aber auch vorher und nachher spielte Musik im Leben Marion Kalters eine wichtige Rolle. Als sie 2017 mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Peking fuhr, musste sie an einen Onkel ihres Vaters denken, der 1940 in diesem Zug vor den Nazis fliehen konnte. Eine Serie von Bildern, die sie auf dieser Fahrt aus dem Fenster ihres Liegewagens machte und die durchweg den Eindruck großer Kälte vermitteln, hat sie nach Steve Reichs Stück Different Trains genannt, das man als Zeitreise in mehreren Schichten bezeichnen könnte (S. 171 ff.). Zu hören sind neben vier Streichern auch Lokomotivpfeifen, andere Eisenbahngeräusche und Sprechstimmen. Am Anfang stehen Fahrten in schnellen Zügen in den USA bevor der erste Satz, „America – Before the War“, in den zweiten, „Europe – During the War“, übergeht. Hier fahren Viehwagen, „loaded with people“. Im dritten Satz,
„After the War“, ist der Krieg vorbei und man hört wieder Holocaust-Überlebende: „There was one girl with a beautiful voice / And they loved to listen to the singing / The Germans / And when she stopped singing, they said, ‚More! More!’ and they applauded.“
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beschäftigt Kalter zeit ihres Lebens, sie bleibt eine Reisende, die sich in verschiedenen Kulturkreisen mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegt, mit der Selbstverständlichkeit eines fliegenden Vogels, die Ted Joans in seinem Nachruf auf Thelonious Monk dessen Umgang mit Musik attestiert hat: „He lived his music as natural as a bird flies.“
Wir sollten den in der Literaturgeschichte etablierten Begriff des autobiografischen Schreibens auf die Fotografie von Marion Kalter anwenden. „Vom Kopfkissenbuch zum beschriebenen Laken“ lautet ein Kapitel in Michaela Holdenrieds Standardwerk Autobiographie, 9 in dem es um die Re-Konstruktion weiblicher Autobiografik geht. Das Kopfkissenbuch entstand um das Jahr 1000, stammt von der Hofdame Sei Shōnagon und ist ein intimes Tagebuch, das ein facettenreiches Sittenbild am japanischen Kaiserhof wiedergibt. Auf das Laken hingegen schrieb 1972 die italienische Landarbeiterin Clelia Marchi ihre Lebensgeschichte, nachdem ihr das Papier ausgegangen war.
Erschienen ist es 1991 unter dem Titel Keine einzige Lüge 10 und erzählt vom harten Leben der italienischen Landbevölkerung. Es entsteht ein großer Bogen zwischen diesen Aufzeichnungen, aber ihre offensichtliche Authentizität macht sie ebenso faszinierend wie die zahlreichen Details, die sich beim Lesen einprägen. Dazu gehören Bilder wie das folgende der japanischen Dame: „Aber wie wunderbar ist auch eine dunkle Wolke, die bei Tagesanbruch langsam in ein lichtes Grau hinüberwechselt, wie wenn Schwarz und Weiß sich mischen, bis sie endlich in der Dämmerung zerfließt.“11
Das klingt wie die Beschreibung einer SchwarzWeiß-Fotografie, eine Kunstform, die Marion Kalter beherrscht. Der Blick aus dem Fenster ins Sich-Lichtende ist von einer zeitlosen Metaphorik, obwohl es Sei Shōnagon vielleicht auch darum ging, „etwas von der Zeit zu retten, in der man nie wieder sein wird“, wie es Annie Ernaux im letzten Satz ihres Buchs Die Jahre formuliert, in dem die französische Geschichte der letzten Jahrzehnte unter anderem anhand von privaten Fotos und Erinnerungen erzählt wird. Kalter hat ihre Fotografien selbst einmal als visuelles Tagebuch ihres Lebens bezeichnet, und die Intimität ihrer Bilderskizzen ist dem Fokus der Autobiografinnen vergleichbar.
Wie zu Beginn erwähnt, beschneidet Kalter einige ihrer Aufnahmen, lässt dem Zufall Raum und Fehler gelten. So verwendet sie für ihren persönlichen Kosmos auch gefundene Aufnahmen, die im Lauf der Zeit Spuren bekommen haben. Eine Aufnahme von ihr als junges Mädchen ist durch falsche Lagerung so ruiniert, dass ihr Gesicht zu einem dunklen Fleck geworden ist.
Neben ihr im Gras sind die Zifferblätter zweier Uhren zu erkennen, die Zeiger des einen stehen auf Viertel nach drei, die des anderen auf kurz vor sechs – was wirkt wie ein surrealistisches Arrangement ist einer jener Zufälle, die Kalters Werk bezwingend machen: Ihr Cousin sammelte Uhren, um sie zu reparieren. Hier wirken sie wie der Hinweis auf die verstreichende Zeit, die zu Teenagerzeiten oft eingefroren scheint. Ernaux’ Sätze aus Die Jahre, einer Autobiografie, die ohne Handlungsstränge auskommt, wirken wie ein Kommentar zu Kalters Fotografien:
reale oder imaginäre Bilder, die einen bis in den Schlaf verfolgen Momentaufnahmen, beschienen von einem Licht, das allein ihnen gehört Sie alle werden mit einem Schlag erlöschen wie zuvor die Millionen Bilder im Kopf der Großeltern, gestorben vor einem halben Jahrhundert, wie die Bilder im Kopf der Eltern, die ebenfalls nicht mehr sind. 12
Marion Kalters Technik, die Kombination unterschiedlicher fotografischer Herangehensweisen, bietet, ebenso wie Ernaux’ autobiografischer Text, die Inventur einer bestimmten Zeit, eines Lebensgefühls. Kalters eigene Geschichte setzt sich durch Details zusammen, so hält sie fest, was diesen Momenten Dauer verleiht. Dass ihnen Vergänglichkeit eingeschrieben ist, macht sie kostbar.
1 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, 9. Aufl., Göttingen: European Photography 1999, S. 8. 2 Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, D. 47–64, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 56. 3 Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes Berlin: Nishen 1987, S. 13. 4 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 20. 5 Ebd., S. 119. 6 Annie Ernaux, Die Jahre Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017, S. 12. 7 Wilhelm Müller, Der Leiermann (1822/23), aus: Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten Zweites Bändchen. Lieder des Lebens und der Liebe, als Lied der Winterreise 1827 von Franz Schubert vertont. 8 Susan Sontag, Über Fotografie Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 20. 9 Michaela Holdenried, Autobiographie Stuttgart: Reclam 2000. 10 Clelia Marchi, Keine einzige Lüge, Frankfurt am Main: Helmer 1994. 11 Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shoˉ nagon Zürich: Manesse 1952. 12 Ernaux 2015 (wie Anm. 6), S. 12.
THE YEARS The Autobiographical Woman in
Marion Kalter’s Photography
Kerstin StremmelMarion Kalter’s work is made up of various elements, but it is not until an entire piece is seen that the work methods used to create them can be discerned. Characteristic of these work methods are Kalter’s aesthetic and thematic subjectivity and her intensity. The result is a construct of narrative identity that is neither linear nor finalized. Her artistic process involves, among other things, the combination of found materials some of them radical presenteations of the self and conventional portrait photography often distinguished by a strong personal interest in the sitters, as well as Kalter’s sense of closeness to a particular scene. Her photographic processes can be more or less strictly conceptual, intuitive, or almost classically journalistic, while her techniques range from collages of historical photos to classic black-and-white photographs printed on baryta paper to cell phone photographs. In their entirety, the pictures outline a life fluctuating among diverse fixed points and places; these are briefly identified in the following to make more tangible the disparate nature of (each) life in which history and cultural history reflect a certain era. It should remain clear that these photographs are, to a certain degree, images whose meaning consists of a synthesis of two intentions, as Vilém Flusser described them: one that manifests in the picture, while the other is the viewer’s. Images are not “‘denotative’ (unambiguous) complexes of symbols . . . but ‘connotative’ (ambiguous) complexes of symbols” that “provide space for interpretations.” 1
Some of Kalter’s rare color photographs capture various objects from the front: a knitted, dark blue, moth-eaten swimming suit that makes the skin itch just by looking at it; a packet of extra thin, hermetically sealed condoms no longer recommended for use; lipsticks from Max Factor’s Hi-Society series, with names such as “Too Too Pink” and “Strawberry Pastel”; and what is perhaps the most classic of all perfumes, Chanel No. 5 (p. 162/163). They come from the attic of the house in Chabenet, in central France, where the Kalter family took up residence in the early 1950s. Her parents met in Salzburg after the war. At the age of thirteen, Marion Kalter’s Jewish father had been able to emigrate from Germany to the United States, where he became an American citizen. Initially, he took his Austrian wife and their daughter, born six years after the war, to the United States, but from there, the family moved to France. The objects Kalter finally took out of the suitcases fifty years after the move are recorded objectively without being staged, as if they were “evidence,” to use a word from Walter Benjamin’s 1935 essay
“The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction.”
They illustrate that what was once carefully tucked away can be forgotten for a long time before it is reawakened by an artist and becomes an indication of the reality of a life and the emotions associated with it.
One of the best portraits of Walter Benjamin was taken by sociologist, photography historian, and photographer Gisèle Freund. Marion Kalter interviewed her and did a few portraits of her. In one picture she can be seen sitting at a desk, concentrated and relaxed. More suggestive of relationships is a portrait that Kalter took during a visit to an exhibition in 1979; Freund was looking at photographs in the Paris branch of the Galerie Zabriskie, where Kalter captured her likeness in profile. But the picture is dominated by a fellow photographer, Berenice Abbott (p. 126). It is her photos that can be seen on display in the background, such as the picture in the upper left, depicting Jean Cocteau’s delicate hands clasping his hat, taken in 1925 Abbott’s portraits of Eugène Atget, who documented old Paris and was nearly forgotten during his own lifetime, were shot at the same time. By buying his estate after his death, she rendered an outstanding service to his international reception: in 1968 her collection was purchased by the Museum of Modern Art in New York. Walter Benjamin had already described Abbott’s role in his essay “A Short History of Photography”: “Berenice Abbot [sic] of New York collected them together and a selection has appeared in a very fine volume.” 2
Benjamin’s essay on photography and Roland Barthes’s “Reflections on Photography” have often been compared to each other. Jacques Derrida believed their essays “could very well be the two most significant texts on the so-called Referent in the modern technical age.” 3
Kalter shot an austere portrait of Barthes: framed in the wooden frame of a window or door, he is seen in profile; light from the left falls on his face. He is aware of his pose, but despite his folded arms, he seems agreeable to the act of being photographed (p. 144).
I decide to ‘let drift’ over my lips and in my eyes a faint smile which I mean to be ‘indefinable,’ in which I might suggest, along with the qualities of my nature, my amused consciousness of the whole photographic ritual: I lend myself to the social game, I pose, I know I am posing, but (to square the circle) this additional message must in no way alter the precious essence of my individuality. 4
Camera Lucida, the book from which this quote was taken, was Roland Barthes’s last publication; it was published in 1980 the year of his death. Marion Kalter’s photograph was taken the year before. What Barthes describes as a characteristic of photography its ability to fix a moment of life, thus making it possible to see the transience of the individual in the photograph, while also mortifying life at the same time also occurs in the tranquil photo of the author, who gazes to the left, toward the past: it shows us what was soon to be no more.
The central image Barthes describes in his book is a photograph of his mother:
Hence I was leafing through the photographs of my mother according to an initiatic path which led me to that cry, the end of all language: ‘There she is!’ . . . a sudden awakening, outside of ‘likeness,’ a satori in which words fail, the rare, perhaps unique evidence of the ‘So, yes, so much and no more.’ 5
This photo exists, as Barthes describes it, exclusively for himself; for others it would be irrelevant.
Another of Kalter’s photos is of her mother, and it has a special meaning. It was taken by accident, in Washington, DC, where Kalter spent the first two years of her life. Her mother had studied at the Max Reinhardt Seminar in Vienna and then performed in plays for German soldiers at the front during the war; she continued in the theater, for example in Graz, after the war. But in Washington she worked in a color photography lab. Kalter found a series of Kodachrome photos that her parents had taken of each other, as well as that picture of her mother, which may have been taken by her father, but was probably taken by Marion Kalter herself (p. 161). Her mother’s face is cropped, framed by dark curls; the eyes are not visible, but the pronounced nose, the high cheekbones, and above all the lipsticked mouth (with Max Factor “Bewitching Coral”?) and the elegant black dress that exposes half of her shoulders and draws the eye to the flower-adorned décolleté. Despite its fragility, the figure seems monumental, because she is photographed from a slightly lower angle, which is why it is quite conceivable that a child pressed the shutter release here. What makes the effect suggestive even for the uninitiated are the fascinating colors: the green background that contrasts with the orange-red lips. There was disgruntlement in 2009, when Kodak announced that it would stop manufacturing Kodachrome film, the first
commercially successful three-color film with the ability to reproduce colors naturally; it was the preferred slide film of many professional and amateur photographers from the mid-1930s to the 1990s. People may have stewed over it owing to the film’s legendary durability (like Super-8 film in this respect), among other things, but also probably because of the catchy 1973 song by Paul Simon:
Kodachrome, they give us those nice bright colors
They give us the greens of summers
Makes you think all the world’s a sunny day, oh yeah
I got a Nikon camera, I love to take a photograph So, mama, don’t take my Kodachrome away.
Further on, the lyrics tell us that Kodachrome memories are always somewhat nicer than reality. It cannot be denied that Kodachrome was a considerable contribution to color photography, and that it took a long time for it to be accepted in museums. “Everything looks better in color” was one of Kodak’s famous ad slogans, and it is not difficult to imagine what a revolution its invention must have been at first. Film colors were certainly never again as green as they were in those days.
In my eyes, however, the portrait’s main point is the two shadows the woman casts onto the green wall shadows that still seem to be falling across the photographer’s life. Another picture in this series, surely also taken by Marion Kalter when she was very young, is blurry; only the outlines of her mother and father can be seen, as if in a dream in which it is impossible to focus (p. 150/151). It brings to mind a literary snapshot by French writer Annie Ernaux, whose book The Years I will discuss later: “all the twilight images
of the early years, the pools of light from a summer Sunday, images from dreams in which the dead parents come back to life, and you walk down unidentifiable roads.” 6
The fact that Marion Kalter’s mother died when her daughter was a teenager makes her desire to understand the past even more logical: What was the love like between an emigrant and a woman who entertained German soldiers? What was it like for her father to return to Europe, to Germany even, where he worked for the American military in Heidelberg, not far from his old hometown? There she produced, among other things, a tentative series of photos in his office; in one of them he hides his face behind a Groucho Marx mask the face of the comic, who, in the 1932 film Horse Feathers, proclaimed, “Whatever it is I’m against it” (p. 165). In Munich, where Kalter took the last photograph of her father during the carnival season in 1995, he is adorned in confetti. Behind him stands an organ grinder (p. 153). Perhaps it is a coincidence, but it is one that recalls Schubert’s Winterreise (Winter Journey) and the last lines of “Der Leiermann” (The Organ-Grinder):
And he lets everything go on As it will; He plays, and his hurdy-gurdy Never stops.
Strange old man, Shall I go with you?
Will you grind your hurdy-gurdy
To my songs? 7
The few examples of Kalter’s familiar universe give a sense of her subjective use of photography. Susan Sontag, long the partner of a woman photographer, wrote an essay titled “On Photography,” which could also be called “Against Photography,” since it is against the inherently exploitative nature of “shooting” photos, the aggressiveness of the act. This applies to both news photography and the kind that observes from a distance; Kalter and many other photographers decided not to practice this type of “objective” photography. Sontag’s essay was printed in book form in 1977, and in 1979 Kalter produced a portrait of the author, who is also standing in a doorframe, like many of her other sitters (p. 129). Here is another major figure in photography theory, who described the act of taking photographs as follows: “To photograph people is to violate them, by seeing them as they never see themselves, by having knowledge of them they can never have; it turns people into objects . . .” 8 Where did Marion Kalter acquire her affinity for the great theorists, and how does she manage to make them seem like themselves in front of her camera?
Kalter began by studying painting in the United States, adding photography in 1974 One of the causes of this kind of approach to the world was male. Kalter is confident enough to point out the role played in her socialization by the beatnik jazz poet Ted Joans. Her relationship with him gave her access to the scene in and around the Parisian branch of Shakespeare and Company Bookstore, an important meeting place
for the beat generation of the 1950s, where writers such as Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti, and William S. Burroughs met. They all sat for Kalter, as did James Baldwin (p. 93). She also got her first job thanks to Joans at La Photogalerie, a bookstore and gallery where she saw many exhibitions while schooling her eye and making contacts. Many of those she portrayed especially influential female figures were part of her life. It was not the objective eye, the analysis, that was crucial to her, but her personal affinity.
As Natural as a Bird Flies
Enthusiasm, affection, and curiosity also gave significant momentum to Kalter’s interest in jazz and its leading figures. The most revealing picture in this context, a portrait of Charles Mingus and Dizzy Gillespie, was the product of a double exposure. Reexposing the film a second time creates a sense of crowding and atmospheric density that reproduces more of the actual mood than perfect staging, ideal framing, or even a successful snapshot would.
So you see the massive bassist taking a break, while the puffy-cheeked trumpeter on the same print blows into his curved instrument.
This photo was taken in 1975 in Juan-les-Pins, yet before and after that music played an important role in Kalter’s life. When she took the Trans-Siberian Express to Beijing in 2017 she was reminded of her father’s uncle, who fled from the Nazis on this train in 1940. She named a series of pictures that she took from the window of the
sleeping car during this journey (all of which give the impression of intense cold) after Steve Reich’s piece Different Trains, which could be described as a journey through several layers of time (pp. 171-175). Besides four string players, you can hear locomotive whistles, other sounds of the railroad, and voices speaking. fast train trips in the US, before the first movement, “America—Before the War,” transitions into the second, “Europe During the War.” Here we have cattle cars “loaded with people.” In the third movement, “After the War,” the war is over, and again you hear survivors of the Holocaust: “There was one girl with a beautiful voice / And they loved to listen to the singing / The Germans / And when she stopped singing, they said, ‘More! More!’ and they applauded.”
Throughout her life Kalter has dealt with the simultaneity of the nonsimultaneous; she remains a traveler who moves through different cultural circles with the certainty of a sleepwalker, the naturalness of a bird in flight a phrase Ted Joans used in his obituary of Thelonious Monk to describe his dealings with music: “He lived his music as natural as a bird flies.”
We should apply the concept of autobiographical writing to Kalter’s photography. “From The Pillow Book to Describing the Bedsheets” is the name of a chapter in Michaela Holdenried’s standard work Autobiografie, which is about the reconstruction of the female autobiography. The Pillow Book was written around the year 1000 by Lady Sei Shōnagon, and it is an intimate diary that presents a multifaceted genre picture of the imperial Japanese court.
In 1972 the Italian farm worker Clelia Marchi wrote her life story on a bedsheet when she ran out of paper. Published as a book in 1991, it tells of the difficult lives of Italy’s rural population. 9 The arc connecting these two publications
is a long one, but their obvious authenticity and the numerous details imprinted on the mind while reading make them fascinating. This includes images like the following, by the Japanese court lady: “But how wonderful, too, is a dark cloud, which at the break of dawn slowly changes to a shadowy gray, the way that black and white blend until finally they melt into twilight.” 10
That sounds like the description of a black-and-white photograph, a form of art that Marion Kalter has mastered. The view from a window into a clearing is a timeless metaphor, although perhaps Sei Shōnagon was also interested in “saving something of the time that one will never again inhabit,” as Ernaux says in the last paragraph of her book The Years, which relates French history of recent decades in private photos and memories, among other things. Kalter herself once described her photographs as a visual diary of her life, and the intimacy of her pictorial sketches is comparable to the focus of autobiographers.
As mentioned at the beginning, Kalter allows room for chance and error. Hence, for her personal universe she also uses found photographs that have been marked by time. A picture of her as a young girl was so ruined by poor storage that her face became a dark spot. Next to her in the grass are the dials of two clocks; the hands of one are at a quarter after three, those of the other at just before six. What seems like a Surrealist arrangement is one of those coincidences that make Kalter’s work compelling: her cousin collected clocks to repair them. Here they act as a reference to the passing of time, which often seems like it is frozen during the teenage years. Ernaux’s lines from The Years, an autobiography devoid of plot lines, are like a comment on Kalter’s photographs:
the images, real or imaginary, that follow us all the way to sleep the images of a moment, bathed in a light that is theirs alone
They will vanish all at the same time, like the millions of images that lay behind the foreheads of the grandparents, dead for half a century, and of the parents, also dead. 11
Just as Ernaux’s autobiographical text does, Marion Kalter’s technique of combining different approaches to photography offers an inventory of a certain time, a sense of life. Kalter’s own history is compiled from details, so she captures the things that make these moments endure. The fact that they are inscribed with transience makes them precious.
1 Vilém Flusser, Towards a Philosophy of Photography trans. Anthony Mathews (London: Reaktion Books, 2000), 8. 2 Walter Benjamin, “A Short History of Photography,” trans. Stanley Mitchell, Screen 13, no. 1 (Spring 1972): 5–26, here 20. 3 Jacques Derrida, “The Deaths of Roland Barthes,” in The Work of Mourning trans. Pascale-Anne Brault and Michael Naas (Chicago and London: University of Chicago Press, 2001), 31–68, here 39. 4 Roland Barthes, Camera Lucida: Reflections on Photography trans. Richard Howard (New York: Farrar, Straus and Giroux, 1981), 11. 5 Barthes, Camera Lucida, 109. 6 [Translated] Published in English as Annie Ernaux, The Years trans. Alison L. Strayer (New York et al.: Seven Stories Press 2017). 7 Franz Schubert, Winterreise (Winter Journey), trans. Richard Wigmore (Kassel: Bärenreiter-Verlag, 2009), xix. 8 Susan Sontag, On Photography (New York: Anchor Books, 1989), 14. 9 Clelia Marchi, Il tuo nome sulla neve: Gnanca na busìa; Il romanzo di una vita scritta su un lenzuolo [1991] (Milan: Saggiatore 2012). 10 [Translated] Published in English as Sei Shonagon, The Pillow Book trans. Meredith McKinney (London and New York: Penguin 2006). 11 Ernaux, The Years
VIEILLE FRANCE
ARLES, TED JOANS, & THE BEATS
Arles 1976 eine junge Frau, 25 Jahre, ehemals Studentin der Bildenden Künste, auf der Suche, inszeniert sich selbst vor der Kamera (S. 56). Die Sequenz der ausgewählten Motive zeigt sie, bis auf zwei Ausnahmen, in einem scheinbar leer stehenden Innenraum. Sie trägt stets dieselbe Kleidung, eine weiße schulterfreie Bluse und einen geblümten Rock. Mithilfe eines Stuhls variiert sie die verschiedensten Posen: die Hände verschränkt im Schoß, den Körper von der Kamera abgewandt und zum Fenster gedreht, mit einer Hand an eine Tür geklammert und die andere vor die Stirn geschlagen oder gar hinter dem Stuhl kauernd und durch die Speichen der Stuhllehne in die Kamera schauend. Andere Aufnahmen zeigen sie auf dem Boden sitzend und fast traumversunken, die Augen geschlossen, Arme und Beine in leichter Bewegungsunschärfe durch das Wiegen des Körpers. Die Türen spielen eine große Rolle, sie stehen geöffnet, strukturieren den Bildraum und vermitteln den Eindruck des Unbewohnten, als handle es sich um eine leere Fabrik oder eine alte Schule. In zwei Aufnahmen kommt man der jungen Frau näher: Diesmal hat sie den Apparat in der Hand und fotografiert sich in einem alten Spiegel vor einer Wand weißer Fliesen. Als Mise en Abyme stehen die beiden Spiegelbilder ganz paradigmatisch für einen Moment der Selbstbefragung. Ist es die Suche, ein wenig klischeehaft, nach der Rolle im Leben, oder sind die inszenierten Momente des Sich-Nahekommens und SichFremdwerdens einfach fotografische Stilübungen auf der Suche nach einem guten Bild?
Marion Kalters langer Sommer der Fotografie
Florian EbnerDie Fotosession allein mit sich und vor der Kamera sei angeregt gewesen, so sagt es Marion Kalter, die Frau auf den Fotografien, 45 Jahre später, von den Diskussionen mit dem Magnum-Fotografen David Hurn. An anderer Stelle erinnert sie an den Film Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975), der im gleichen Jahr in die Kinos kam und dessen Regisseurin, Chantal Akerman, sie vor dem Plakat ihres Films porträtieren wird (S. 119). Marion Kalter gehört zu jenen, dies sei schon vorweggenommen, die die Kamera als emanzipatorisches Ausdruckswerkzeug begreifen, sowohl hinsichtlich sozialer Rollenzuschreibungen wie auch gegenüber einem zu engen Korsett der Kunst und Malerei jener Jahre. Wie so viele Künstlerinnen der 1970er-Jahre greift auch sie auf diesen Apparat zurück.
Beim Navigieren durch die Bildauswahl dieser Ausstellung musste ich unweigerlich an den Titel eines Buchs denken: Der lange Sommer der Theorie heißt eine Abhandlung des Historikers Philipp Felsch über die deutsche Rezeptionsgeschichte der (zumeist) französischen strukturalistischen und poststrukturalistischen Philosophie und Theorie anhand der Geschichte des Berliner MerveVerlags. 1 Nicht nur die französischen Intellektuellen auf Marion Kalters Fotografien (Roland Barthes und Claude Lévi-Strauss) haben diese Assoziation ausgelöst, vielmehr sind die vielen verschiedenen Arten des Sommers,
die sich in Kalters Bildern entdecken lassen, der Ausgangspunkt für die Überlegung: Gab es denn auch einen „Sommer der Fotografie“? Doch wann beginnt dieser Sommer und wann beginnt er für Marion Kalter?
Da gibt es gewiss die ersten warmen Tage der mit einer Kamera experimentierenden acht Jahre alten Marion während eines Sommeraufenthalts bei einer englischen Familie auf der Kanalinsel Jersey (S. 158) oder die 23-jährige Studentin, einmal nackt und einmal angezogen auf der familiären Couch (S. 164). Vielleicht begann der eigentliche Sommer im Jahr 1974, als sie den Beatnik, Jazzmusiker und Poeten Ted Joans kennenlernt und als das begann, was sie die „Teducation“ nannte. Als Gefährtin an der Seite des 23 Jahre älteren Joans wird sie in eine Welt eingeführt, die für die geistige Befreiung und soziale Emanzipation des 20. Jahrhunderts steht. Vielleicht war für sie, die 24-jährige junge Studentin der Kunst und nunmehr der Literatur, die Kamera das adäquate Mittel, an dieser künstlerischen und intellektuellen Welt teilzuhaben: Joyce Mansour, Régis Debray und Gabriel García Márquez auf einer überladenen Couch sitzend zu fotografieren (S. 91), oder Steven Taylor, Allen Ginsberg und Peter Orlovsky lauthals bei einer Performance im Garten des American Centers in Paris (S. 83), eine Reihe von Aufnahmen von James Baldwin und Ted Joans, aus denen die pure Freude des Wiedersehens und der Zusammenarbeit spricht. Oder zwei wunderbare und doch ganz verschiedene Aufnahmen von William S. Burroughs: ein Querformat von 1977, Burroughs hat der Kamera den Rücken zugewandt, an einem vereinzelten Tisch im hel-
len Scheinwerferlicht vor der gähnenden Schwärze des Raumes, oder Burroughs sechs Jahre später, diesmal von vorne fotografiert, in sich versunken und fast noch abwesender als auf dem Bild zuvor (S. 75, 77).
Dank der „Teducation“ erhält Marion Kalter auch Zugang zur Welt der Musik, zum Jazz, sie fotografiert auf dem Festival in Juan-les-Pins Dizzy Gillespie auf der Bühne und Charles Mingus, als er sich an der Bar eine Zigarre anzündet. Es wohnt diesen Bildern noch der Zauber des Anfangs inne und vielleicht auch die Schüchternheit der jungen Frau an der Seite des erfahrenen Künstlers. Eine ihrer schönsten Aufnahmen gelingt ihr bei einem gemeinsamen Besuch mit Ted Joans in der Wohnung von Dorothea Tanning, als sie dort einen weiteren Gast mit der Kamera überrascht. John Cage blickt kurz auf, eingebaut in die symmetrische Bildkomposition durch die beiden Spulen des Magnetofons, die beiden Muscheln des Kopfhörers und die beiden Hände des Komponisten. Kalters Bild zeichnet einen intensiven Blick auf, die Musik ist ausschließlich dem Komponisten vorbehalten (S. 145).
Über Ted Joans bekommt sie auch ihren ersten Job in einer der ersten Galerien, die sich der Fotografie widmen –Mitte der 1970er-Jahre, als die kulturelle Institutionalisierung der Fotografie im Werden begriffen war: im Erdgeschoss die Galerie, im ersten Stock ein Geschäft für Plattenkameras, im dritten Stock die Agentur Magnum Photos. Da Marion Kalter fließend Englisch und Deutsch spricht, wird sie als Übersetzerin der boomenden Workshops des noch jungen, 1969 in Arles gegründeten Fotofestivals Les rencontres internationales de la photographie engagiert. Allerspätestens in diesem Moment beginnt der Sommer der Fotografie. Etwas ungläubig, ein wenig
melancholisch und fast neidisch blickt man heute auf das muntere Treiben in Kalters Aufnahmen aus den Julitagen 1975 und 1976 in Arles. Nicht nur sind es gute Fotos, es sind auch besondere Dokumente der ersten Fotoworkshops, die legendär wurden. Die Aufnahmen lassen fast an Happenings denken, an öffentliche Sit-Ins, so groß scheint das Interesse der versammelten jungen Leute zu sein, für welche die Kleinbild-Spiegelreflexkameras von Nikon, Canon oder Olympus – genau eine solche hält sich Marion Kalter im bereits erwähnten Spiegelporträt vors Gesicht – die neuen Werkzeuge geworden sind, um sich für sich persönlich, politisch engagiert oder poetisch die Wirklichkeit zu erschließen. Die Apparate in den Händen haltend, umgehängt oder neben sich gestellt, hört die Schar der neuen Fotojünger gebannt zu, wenn Lucien Clergue im Freien stehend über die Fotografie predigt. Man sieht Ralph Gibson in einem kleinen Raum, umgeben von mindestens zwei Dutzend Workshop-Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Bildkritik, Zigarette in der rechten Hand und mit der linken die Probeabzüge blätternd – ein Moment angespannter Stille, der Marion Kalter die Zeit lässt, die Szene festzuhalten (S. 50). Gibson ist in jener Zeit einer der maßgeblichen Akteure des amerikanischen Fotografietransfers nach Europa, und das pittoreske, hochsommerliche Arles war ein zentrales Basislager. Mit seinen Serien The Somnambulist vom Beginn der 1970er-Jahre ist Gibson zum Inbegriff einer Fotografie geworden, die in Arles begeistert rezipiert wurde, seine Mischung aus magischem Realismus und grafischer Eleganz wurde von einer ganzen Generation inhaliert und imitiert. Es
war eine Form von Fotografie, über die man noch publikumswirksam sprechen konnte: „Sag mir, was du mit der Kamera erzählen möchtest, und ich sage dir, wie du es grafisch umsetzt, dass es ein gutes Bild wird.“
Für die junge Marion Kalter, das übersetzende und interpretierende Sprachrohr, müssen diese Erfahrungen prägend gewesen sein, wie sie es selbst mit Verweis auf den Magnum-Fotografen David Hurn formuliert hat. Neben den Bildbesprechungen und Seminaren mit Garry Winogrand und Guy Le Querrec (S. 51), oder Verena von Gagern an einem Tisch im Freien, umgeben von Abzügen – eine Fotografin, deren Werk ein wenig in Vergessenheit geraten ist –, sieht man die Workshops auch in Aktion, im Moment der Aufnahme, und man wundert sich über die ungeheure freigesetzte Energie, etwa wie bei Floris Neusüss im Innern einer Kirche beim Choreografieren einer Reihe von Männern, bevor sie als lebender Fries zu lebensgroßen Ganzkörper-Fotogrammen werden. Der Happening-Charakter setzt sich bei den Workshops fort, wo die ambitionierten Fotoamateure bei Jean-Pierre Sudre in dessen Haus in Lacoste zu Gast sind und ganz im emanzipatorischen Sinne der 1970er-Jahre nicht nur die Fotomodelle des Aktworkshops nackt sind, sondern auch die zumeist männlichen Teilnehmer. Über die künstlerische Relevanz mancher dieser Workshops lässt sich heute streiten. Marion Kalter gelingt hierzu eine wunderbare, etwas ironische Aufnahme: Ebenfalls am Swimmingpool von Jean-Pierre Sudre sind fünf Fotografen zu sehen, darunter die beiden Magnum-Fotografen David Hurn und Guy Le Querrec sowie Will McBride, die sich um zwei Aktmodelle scharen (S. 53). Die wahre Kunst bestand wohl damals darin, keinen weiteren Kollegen mit Kamera
auf dem Bild zu haben und doch zugleich in der ariden Landschaft des französischen Südens ein wenig an Edward Weston zu erinnern.
Marion Kalters Porträts Pariser Intellektueller und Künstler aus den späten 1970er- und 1980er-Jahren führen uns zu dem eingangs zitierten langen Sommer der Theorie, der bereits aus Pariser Perspektive ein Spätsommer war: Der 73-jährige Claude Lévi-Strauss, der große Anthropologe und Strukturalist, wirft einen Blick zurück über die Schulter auf die etwas ehrfurchtsvolle junge Fotografin (S. 143). Die beiden so unterschiedlichen Philosophen Emil Cioran und Emmanuel Levinas, beide wie so viele aus Osteuropa nach Paris gekommene Intellektuelle, sitzen für Kalter Porträt: Cioran in seiner kleinen Dachgeschosswohnung im Quartier Latin und Emmanuel Levinas, ein wenig zusammengefaltet, in seinem Stuhl, in der gleichen Schräglage wie all die Publikationen, die in dem Sessel neben ihm Platz gefunden haben. Beide blicken sie ein wenig skeptisch oder nachdenklich, aber lassen die Fotografin mit ihrer französisch-deutsch/österreichisch-amerikanischen Identität gewähren. Die wunderbare Aufnahme Roland Barthes entstand 1979, in dem Jahr, in dem er Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie fertigstellte. Barthes nimmt keine Notiz von der Fotografin. Sein Körper ist abgewandt, im Profil, der Blick aus dem Fenster oder vielmehr nach innen gerichtet (S. 144). Man beginnt Barthes Porträt unweigerlich mit dessen Gedanken über die Fotografie zu lesen, etwa dessen Passage über die verschiedenen Temporalitäten, die in der Betrachtung von Alexander Gardners Porträt des zum Tode verurteilten Attentäters Lewis Payne am Werke sind: „Er ist tot und er wird sterben.“ 2
Sieht man im Porträt des abgewandten Philosophen bereits den Todeswunsch, den ihm einige seiner Wegbegleiter in den letzten Monaten seines Lebens attestierten? Barthes wird nur wenige Monate nach der Aufnahme an den Folgen eines Unfalls sterben. Ob er sich in diesem Foto wiedergefunden hätte, zumindest bescheinigt das Studium dieses Bildes, dass wir es mit einem Gelehrten am Fenster zu tun haben. Geschätzt hätte er an vielen Porträts Kalters, dass sie die dargestellte Person nicht „überdeterminieren“, sie nicht überfrachten mit vorgefasster Bedeutung und mit erläuterndem Sinn. Viel liegt daran, dass ihre Bilder aus schnellen Beobachtungen heraus entstehen, Schnappschüsse oder – in der Sprache der Musik „Impromptus“ –Improvisationen sind, die aus der Gnade des Augenblicks heraus entstehen und ihren Charme auch aus der Schlichtheit der eingefangenen Geste oder des gewählten Moments beziehen.
Eric Rohmer betritt schwungvoll einen Seminarraum (S. 125) oder Robert Wilson kramt bei einem öffentlichen Vortrag in seinen Erinnerungen, Luigi Nono greift in einem Aufnahmestudio zur Kamera (S. 148) oder Pierre Boulez probt vor leeren Rängen (S. 147) – überhaupt taucht die Welt der Musik in den Bildern Marion Kalters seit den 1980er-Jahren häufig auf, da sie regelmäßige Beiträge für eine Musikzeitschrift zu liefern beginnt. Doch die Welt der Männer ist nur die eine Hälfte des Pariser Kunstbetriebs, in Marion Kalters Œuvre stellt sie sogar den kleineren Teil dar.
Die feministische Emanzipation der 1970er-Jahre hat sich nachhaltig in ihre Arbeit eingeschrieben, davon zeugt
nicht zuletzt auch die Fülle der Porträts, die sie Autorinnen, Künstlerinnen und Fotografinnen widmet. Beginnen wir mit den großen alten Damen der Moderne, die in Paris ihr Exil gefunden haben: Lotte Eisner, die „grande Dame” der Filmwissenschaft, liest 1983, im Jahre ihres Todes, noch für die Fotografin aus ihrem Buch Die dämonische Leinwand (S. 124), oder ein ganz frühes Bild von 1974 der Schriftstellerin Anaïs Nin, Autorin intimster Erlebnisse, mit unergründlichem Lächeln. Ein besonderes Bild gelingt ihr 1979, als sie in der Dependance der Pariser Galerie Zabriskie, ein weiterer Brückenkopf der amerikanischen Fotografie in Frankreich, die beiden Fotografinnen Berenice Abbott und Gisèle Freund zusammen ins Bild setzt (S. 126). Beide sind sich in der Zwischenkriegszeit in Paris wohl nie begegnet. Berenice Abbott verließ Paris am Ende der 1920er-Jahre und kehrte in die USA zurück. Gisèle Freund hingegen verließ Frankfurt und Nazi-Deutschland 1935, um sich in Paris niederzulassen und dort die Intellektuellen ihrer Zeit zu fotografieren und eine erste Sozialgeschichte der Fotografie zu schreiben. In Kalters Aufnahme sprechen die beiden nicht miteinander. Freund betrachtet aufmerksam die Fotografien an der Wand, Abbott sitzt da wie eine Sphinx, als lebendes Monument der Fotogeschichte.
Den Porträts der jüngeren Generation von Autorinnen und Künstlerinnen merkt man an, dass ihr Auftreten vor der Kamera kontrollierter ist, darauf bedacht, das richtige Bild von sich zu geben. Annette Messager posiert vor
einer eigenen Arbeit zum Porträt, die eben jene Frage von Selbst- und Fremdwahrnehmung zum Thema hat (S. 137).
Die Essayistin Susan Sontag, Autorin von On Photography, erscheint mit eindrucksvoller Mähne und groß ins Bild gesetzt (S. 129). Das bereits erwähnte Porträt Chantal Akermans zeigt sie vor dem Plakat ihres Films Jeanne Dielman deren Protagonistin zu einer Ikone des radikaleren feministischen Ansatzes wird. Die großen Brillengläser der Künstlerin Joan Mitchell entsprechen wunderbar den Rückseiten der Rahmen (S. 122). Die aus Ägypten stammende Dichterin Joyce Mansour sitzt am Fenster, mit der Figur eines Vogels im Rücken, als wäre er ein Alter Ego der Autorin oder eine Hieroglyphe ihrer Identität (S. 132).
Die wohl schönsten Künstlerinnenporträts von Marion Kalter sind wieder szenische Porträts, aufgenommen in den Wohnungen und Ateliers ihrer Modelle. Die wunderbare, ebenso virtuose wie liebenswürdige Filmemacherin und Fotografin Agnès Varda sitzt noch im Bett, neben ihr ein 16-mm-Projektor, und doziert mit dem ihr eigen gewesenen Charme (S. 120). Oder bei Gina Pane, eine der Hauptvertreterinnen der Body Art, ist der Pose vor Kalters Kamera nicht abzulesen, dass zu der Radikalität ihrer Performances auch die Verletzung des eigenen Körpers gehörte, und dennoch zeigt die Großzügigkeit der ausgestreckten Arme, die Türflügel fest im Griff, dass der Körper ihr Ausdrucksmittel gewesen sein muss (S. 123).
In einem Gespräch hat sich Marion Kalter einmal zu ihrer Fotografie geäußert, sehr offen und direkt, wie es auch ihre Bilder sind. Zu einer Zeichnerin mit der Kamera, deren Aufnahmen stets perfekte Kompositionen
gewesen wären, wie etwa jene von Henri Cartier-Bresson, zu dieser perfekten Geometrie-Künstlerin sei sie nie geworden. Für sie zählte stets die Teilhabe am Moment.
Fragt man nach den Früchten des langen Sommers der Fotografie, die Marion Kalter ernten konnte, so hat dies wirklich mit jener Zeugenschaft zu tun. Dabei geht es ihr oftmals nicht um einen Moment, sondern um verschiedene Zeitlichkeiten und mehrere Temporalitäten, die aus ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Familie herrühren und der Geschichte einer Frau, die im Alter von 16 Jahren den Tod ihrer Mutter und ihrer Großmutter zu verarbeiten hatte.
Different Trains lautet der Titel von einer ihrer zuletzt entstandenen Serien (S. 171 ff.). Ihren Titel entleiht sie der Komposition von Steve Reich, die 1988 als Auftrag des Pariser IRCAM entstanden ist – einer dem Centre Pompidou angegliederten Institution, für welche Marion Kalter häufig arbeitete. Steve Reichs Komposition geht zurück auf seine vielen Reisen als Kind zwischen New York und Los Angeles in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre. Zugreisen, die zeitgleich auf dem europäischen Boden der Shoah für ihn als Kind einer jüdischen Familie ganz anders ausgesehen hätten. Für Marion Kalter liegt die Analogie in der Flucht ihres Großonkels, ebenfalls aus einer jüdischen Familie, in Form einer Zugreise mit der Transsibirischen Eisenbahn durch die Sowjetunion des Jahres 1940. Marion Kalter unternimmt diese Reise auf etwa der gleichen Strecke 77 Jahre später, 2017, in einem Liegewagen von Moskau nach Beijing.
Marion Kalter’s Long Summer of Photography
Florian EbnerEin besonderes Porträt ihres Vaters, deutscher Jude und naturalisierter Amerikaner, teilnehmender Advokat und Nebenkläger im Prozess um die IG-Farben, für die NATO arbeitender Jurist, zunächst in Frankreich und später in Deutschland, in Heidelberg, zeigt uns dessen Gesicht nicht, die Fotografie enthält es uns vielmehr vor, verborgen hinter der Maske von Groucho Marx, während er zugleich in seinem Büro sitzt, mit der Deutschlandkarte im Rücken – vielleicht ist auch dieses Bild eine Art Hieroglyphe einer Identität des 20. Jahrhunderts (S. 165).
Fotografieren hieß teilnehmen lautet der Titel einer wichtigen Ausstellung über Fotografinnen der Weimarer Republik; vielleicht gilt dieser Satz auch für die Generation der 1970er-Jahre und in besonderer Weise für Marion Kalter. Für sie, deren Biografie zwischen Österreich, Deutschland, Frankreich und Amerika ihr viele Sprachen vermittelte, ist die Fotografie zu einer Art „Intimsprache“ geworden, wie sie es selbst einmal bezeichnet hat, die sie praktizierte, wenn sie sich selbst hinter der Kamera verbergen und doch zugleich an der Welt der Intellektuellen und Künstlerinnen partizipieren konnte. Nicht zuletzt ist die Kamera – eine Olympus, die sie in der Sequenz der Selbstporträts in Arles vor den Spiegel hält – zum Instrument der Erkundung ihrer eigenen Biografie geworden, von den frühen Selbstporträts auf der familiären Couch bis hin zuletzt zu den archäologischen Ausgrabungen auf dem elterlichen Dachboden … und dies ist eine weitere Serie, die es in diesem Buch zu entdecken gilt.
Arles, 1976: A young woman, age twenty-five, once a fine arts student, poses for the camera (p. 56). All but of the two of the sequence’s selected motifs feature a seemingly empty interior. She is always wearing the same clothes: a white, off-the-shoulder blouse and a flowered skirt. A chair helps her to take a wide variety of poses clasped hands resting in her lap; her body turning away from the camera, toward the window; one hand clinging to a door and the other clapped to her forehead; or even cowering behind the chair, looking at the camera through the bars on the chairback. Other pictures show her sitting on the ground, almost as if immersed in a dream, her eyes closed, arms and legs swaying in a slight blur. The doors play an important role; they stand open, giving structure to the pictorial space and conveying an impression of being unlived-in, as if this were an empty factory or a decommissioned school. In two photographs the young woman comes closer: this time she has the device in her hand and photographs herself in an old mirror in front of a white-tiled wall. As a kind of mise en abyme, the two mirror images are definitely a paradigm for a moment of self-examination. Is it the slightly clichéd quest for a role in life, or are these staged attempts to approach herself or to put herself at arm’s length merely exercises in photographic style, on a search for a good image?
Forty-five years later the woman in the photographs, Marion Kalter, says that the solo photo session in front of the camera was inspired by a discussion with the Magnum photographer David Hurn. Elsewhere, she recalls the film Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce,
1080 Bruxelles (1975), which was released in theaters that same year and whose director, Chantal Akerman, she photographed in front of a poster for her film (p. 119). As should be expected, Kalter is someone who understands the camera as an instrument of free expression, not only as regards the roles assigned to people in society, but also in opposition to the tight corset constricting art and painting in those years. Like so many other women artists in 1970s, Kalter also drew upon this apparatus.
While navigating through the images selected for this show, I inevitably think about the title of a book. Der lange Sommer der Theorie (literally, “the long summer of theory,” but translated into English as The Summer of Theory) is the name of a treatise by the historian Philipp Felsch on the history of the reception of the (mostly) French structuralist and post-structuralist philosophy and theory in Germany, as told through the history of the Merve publishing house1 in Berlin. It is not only the French intellectuals in Kalter’s photographs (Roland Barthes and Claude Lévi-Strauss) who triggered this idea but also the many kinds of summer that can be discovered in Kalter’s pictures, which form the starting point for the question of whether there is also a “summer of photography.” If so, when does this summer begin, and when does it start for Marion Kalter?
Of course, there are the first warm days when the eightyear-old Marion experimented with a camera during a stay one summer with an English family on the Channel Island of Jersey (p. 158), or the twenty-three-yearold student, nude on the family sofa in one photo and clothed in another (p. 164). Perhaps the real summer began in 1974 when she met the beatnik jazz musician and poet Ted Joans and began what she called her “Teducation.” Joans, who was twenty-three years her elder, introduced his companion to a world that represented the spiritual, intellectual, and social liberation of the twentieth century. Perhaps for this twenty-four-year-old art student, now also a student of literature, the camera was the best means for her to participate in this artistic and intellectual world. Photographing Joyce Mansour, Régis Debray, and Gabriel García Márquez sitting on a crowded couch (p. 91); or Steven Taylor, Allen Ginsberg, and Peter Orlovsky loudly performing in the garden at the American Center in Paris (p. 83); a series of photos of James Baldwin and Ted Joans that speaks of the pure joy of reunion and cooperation. Or two wonderful, yet completely different pictures of William S. Burroughs: a landscape format from 1977 with Burroughs’s back to the camera, at a lone table under a bright spotlight in front of the yawning blackness of the space; or Burroughs six years later, this time photographed from the front, self-absorbed and almost more distant than in the previous picture (pp. 75-77).
Thanks to her “Teducation,” Kalter also had access to the music world, to jazz; she photographed the festival in Juan-les-Pins, Dizzy Gillespie on stage, and Charles
Mingus lighting a cigar at the bar. These photos still contain their initial magic and perhaps also the shyness of the young woman at the side of the experienced artist. She shot one of the most beautiful pictures during a visit with Ted Joans to Dorothea Tanning’s apartment, when she surprised another guest there with her camera. John Cage looks up briefly, embedded into the symmetrical composition of the image through the two spools of the tape recorder, the two headphone cushions, and the composer’s two hands. Kalter’s picture captures an intense gaze: the music is reserved exclusively for the composer (p. 145).
Ted Joans also arranged for her first job at one of the first galleries to dedicate itself to photography —in the mid-nineteen-seventies, when the cultural institutionalization of photography was in the making. The gallery was on the ground floor, a plate camera shop on the second floor, and the Magnum photo agency on the third floor. Since Marion Kalter spoke fluent English and German, she became a translator for the booming workshops at the still-young Les Rencontres internationales de la Photographie, a photography festival founded in Arles in 1969. It was at this moment, at the very latest, that the summer of photography began. Somewhat incredulously, with a little melancholy and almost a bit of envy, one looks at the lively activities in Kalter’s pictures of July days in 1975 and 1976 in Arles. Not only are they good photos, but they are also special documents of the now-legendary first photo workshop. The photos are almost reminiscent of Happenings, of public sit-ins, so great is the interest of the young people gathered there. For them, the small SLR cameras made by Nikon, Canon, or Olympus (Kalter holds just such a camera in front of her face in the
above-mentioned mirror portraits) have become the new tools they can use to open up reality personally, poetically, or in a politically engaged manner. With cameras in their hands, around their necks, or next to them, the crowd of new photography disciples listens spellbound to Lucien Clergue, as he stands outdoors, preaching about photography. Ralph Gibson is in a small room, surrounded by at least two dozen workshop participants, giving a critique while holding a cigarette in his right hand and leafing through the contact sheets with the other: a moment of tense stillness, which allows Kalter enough time to capture the scene (p. 50). At the time Gibson was one of the key players in the transference of American photography to Europe, and picturesque Arles at midsummer was a major base camp. With his early 1970s’ series The Somnambulist Gibson came to epitomize a kind of photography that was enthusiastically received in Arles; his mix of magical realism and graphic elegance was inhaled and imitated by an entire generation. It was a form of photography, about which you could still say to the public, “Tell me what you want to say with the camera, and I’ll tell you how to compose it so that it will be a good picture.”
For the young Marion Kalter a translating, interpreting mouthpiece these experiences must have been formative, as she herself said, referring to the Magnum photographer David Hurn. Besides the discussions and seminars with Garry Winogrand and Guy Le Querrec (p. 51), or Verena von Gagern (a photographer whose work has fallen into some obscurity) at a table outdoors,
surrounded by prints, there are also the workshops in action, at the moment the picture is taken, and one wonders about the tremendous energy released, as it is, for example, in the picture of Floris Neusüss inside a church choreographing a row of men before they become a living frieze in a life-sized, full-body photogram. The resemblance to Happenings continues in the workshops, where the ambitious amateur photographers are visiting Jean-Pierre Sudre at his home in Lacoste. Entirely in the liberating spirit of the nineteen-seventies, not only are the life-drawing workshop models naked, but so are the mostly male participants. The artistic relevance of some of these workshops is still debatable today. Kalter succeeds in capturing a wonderful, somewhat ironic picture of this: Sudre’s swimming pool also holds five photographers, including the two Magnum photographers David Hurn and Guy Le Querrec, along with Will McBride, swarming around two nude models (p. 53). At the time, the real art was probably not to allow any more of their colleagues with cameras into the picture, and yet at the same time to be somewhat reminiscent of Edward Weston in the arid southern French landscape.
Kalter’s portraits of Parisian intellectuals and artists of the late 1970s and 1980s lead us to the long summer of theory mentioned at the top of this essay. From the Parisian perspective, it was already late summer: the great anthropologist and structuralist, seventy-three-year-old Claude Levi-Strauss, casts a glance over his shoulder at the somewhat awed young photographer (p. 143). The two very different philosophers Emil Cioran and Emmanuel Levinas both intellectuals who came, like so many
others, from Eastern Europe to Paris also sat for Kalter. Cioran, in his small attic apartment in the Latin Quarter, and Emmanuel Levinas, a little collapsed in his chair, in the same slanted position as all the publications that have found a place in the armchair next to him. Both look a little skeptical or thoughtful yet acquiesce to the photographer with her French-German/Austrian-American identity. The wonderful picture of Roland Barthes was taken in 1979, the year he finished Camera Lucida: Reflections on Photography. Barthes takes no notice of the photographer. He is turned away from her, in profile, his gaze directed out the window or, more likely, inward (p. 144). One inevitably begins looking at Barthes’s portrait with his thoughts on photography in mind, such as the passage on the various temporalities at work when viewing Alexander Gardner’s portrait of the condemned, would-be assassin Lewis Payne : “…this will be and this has been.” 2
Do we already see in the philosopher’s averted gaze the death wish attributed to him by some of his companions in the last months of his life the man who, a few months after this picture was taken, would die as the result of an accident? Whether or not Barthes would have recognized himself in this photo, at the least the study of this picture certifies that we are dealing with a scholar at the window. What he would have appreciated about many of Kalter’s portraits is that they do not “overdetermine” the person portrayed, do not burden him with preconceived meaning and descriptive sense. Much is due to the fact that her images are the result of quick observations snapshots, or, in the language of music, “impromptus,” improvisations created out of the grace of the moment, deriving their charm from the simplicity of the gesture captured or the moment chosen.
The moment when Éric Rohmer briskly enters a classroom (p. 125), or Robert Wilson delves into his memories during a public lecture; when Luigi Nono reaches for the camera in a recording studio (p. 148), or Pierre Boulez rehearses in front of empty seats (p. 147): in general, the world of music has appeared frequently in Kalter’s pictures since the 1970s, when she began regularly contributing work to a music magazine. Yet the world of men is only half of the Parisian art world, and in Kalter’s oeuvre it is an even smaller share.
The women’s liberation movement of the 1970s left a lasting mark on Kalter’s work, as evidenced by more than just the wealth of portraits she devotes to women authors, artists, and photographers. Let us begin with the grand old ladies of modernism who found themselves exiled in Paris: Lotte Eisner, the grande dame of film studies, reads for the photographer from her book The Haunted Screen in 1983, the year of her death (p. 124); there is a very early picture, from 1974, of the writer Anaïs Nin, author of the most intimate experiences, with a fathomless smile. Kalter produced a special photo in 1979 when she shot portraits of the two photographers Berenice Abbott and Gisèle Freund together in the Paris branch of the Zabriskie Gallery, another bridgehead for American photography in France (p. 126). Neither of them would have met during the interwar period in Paris, as
Berenice Abbott left Paris in the late 1920s to return to the United States. Gisèle Freund, on the other hand, left Frankfurt and Nazi Germany in 1935 to settle in Paris, where she photographed the intellectuals of her time and wrote the first social history of photography. In Kalter’s photograph the two are not talking to each other. Freund carefully examines the photography on the wall, while Abbott sits there like a sphinx, a living monument to the history of photography.
In the portraits of the younger generation of authors and artists one notices that they appear to be in control in front of the camera, anxious to present the right image of themselves. Annette Messager poses for her portrait in front of a few of her own works, whose theme is the question of self-perception and the perception of others (p. 137). The writer Susan Sontag, author of the essay “On Photography,” with an impressive mane of hair, looms large in the image; the previously mentioned portrait of Chantal Akerman in front of the poster for her film Jeanne Dielman, whose protagonist became an icon of the radical feminist approach; the large eyeglasses of the artist Joan Mitchell correspond wonderfully to the reverse of the frame (p. 122). The Egyptian-born Joyce Mansour sits at the window, with the figure of a bird behind her, as if it were the author’s alter ego or a hieroglyph of her identity (p. 132). What may be Kalter’s most beautiful portraits of women artists are scenic portraits, taken in the apartments and studios of her models. The wonderful, amiable, virtuoso filmmaker and photographer Agnès Varda
is still sitting in bed, next to a 16mm projector, lecturing with her own special charm (p. 120). Or Gina Pane, one of the major figures on the Body Art scene. The radicality of her performances, which also included injuring her own body, is not visible as she poses for Kalter’s camera, and yet the generosity of her outstretched arms, the doorknob firmly in her grip, show that her body must be her means of expression (p. 123).
In a conversation about her photography, Kalter once spoke very openly and directly about what is going on with her pictures. She never became a perfectly geometrical artist whose photographs were always meticulously composed, like Henri Cartier-Bresson, for example. What always counted for her was participating in the moment. If one asks Kalter about the fruits of the long summer of photography she was able to harvest, it really has to do with that kind of witnessing. She is often not concerned with a single moment but with various and sundry temporalities stemming from the examination of her family’s history and the story of a woman who, at the age of sixteen, had to face the deaths of her mother and grandmother. Different Trains is the title of one of her most recent series (pp. 171-175). Her title is taken from a Steve Reich composition commissioned in 1988 for the IRCAM in Paris, an institution that is part of the Centre Pompidou, for which Kalter often worked.
Steve Reich’s composition harks back to his many childhood trips between New York and Los Angeles in the early early 1940s train trips that would have looked very different to him if he had been the son of a Jewish family in the European land of the Shoah at the time. For Marion Kalter the analogy is the escape of
her great-uncle, also from a Jewish family, on the TransSiberian Railroad through the Soviet Union in the year 1940. Kalter herself undertook this journey on approximately the same stretch around seventy-seven years later in 2017, in a couchette coach from Moscow to Beijing. A special portrait of her father a German Jew and naturalized American, an attorney and joint plaintiff in the IG-Farben trial, a jurist who worked for NATO, stationed first in France and later in Heidelberg, Germany shows us nothing of his face; rather, the photograph withholds it from us, hidden behind a Groucho Marx mask, as he sits in his office with a map of Germany behind him (p. 165). Perhaps this image is also a kind of hieroglyph of a twentieth-century identity.
Photography Means Participation is the title of an important exhibition on women photographers of the Weimar Republic; perhaps this phrase also applies to the 1970s’ generation and in a special way to Marion Kalter. For her, whose life in Austria, Germany, France, and America taught her many languages, photography has become a kind of “intimate language” as she herself once described it, which she practiced when she could hide behind the camera and yet at the same time participate in the world of intellectuals and artists. Last, but not least, the camera the Olympus she holds in the sequence of self-portraits taken in front of the mirror in Arles—has become a tool for exploring her own life, from the early self-portraits on the family sofa to, most recently, in her parents’ attic and this is another series waiting to be discovered in this book.
1 [Translated] Published in English as Phillip Felsch, The Summer of Theory: History of a Rebellion 1960-1990 trans. Tony Crawford (Cambridge/Medford: Polity Press 2022).1 Roland Barthes, Camera Lucida: Reflections on Photography trans. Richard Howard (New York: Hill and Wang 1981), 96.
Diese Fotografie wurde am 1. Juni 1979 im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung des ersten International Festival of Direct Poetry POLYPHONIX aufgenommen, welches im American Center, Boulevard Raspail 261, in Paris stattfand, an dessen Stelle heute die Fondation Cartier steht. Das American Center – nicht mit der Zweigstelle der amerikanischen Botschaft in der Rue du Dragon zu verwechseln – war eine für Gegenkultur und experimentelle Kunst offene private Institution. Schauplatz ist der Garten, während einer Pause bei der letzten Probe.
Die vier Personen sind (von links nach rechts):
Steven Taylor, ein junger Profimusiker – Sänger und Gitarrist –, den Ginsberg während des Jahrzehnts engagiert hatte, in dem er mit diesem Trio im Rahmen von Welttourneen in Konzertsälen, Uni-Hörsälen und/oder Aufnahmestudios auftrat.
Allen Ginsberg, der legendäre Autor von Howl (Das Geheul) und Kaddish (Kaddisch), zwei literarischen Meisterwerken, die viel zur Dynamisierung des poetischen Denkens in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts beigetragen haben.
Meine Wenigkeit (mit den neuen französischen Übersetzungen in der Hand) hinter Orlovsky.
Über eine Fotografie von Marion Kalter
Jean-Jacques LebelPeter Orlovsky, ein bedeutender Dichter der Beat Generation, der insbesondere der Autor von Clean Asshole Poems & Smiling Vegetable Songs ist (verlegt bei City Lights Books in San Francisco).
Steve drückt seine Gitarre an sich, Allen sitzt im Schneidersitz im Gras vor seinem Harmonium und hört meiner Übersetzung eines seiner Gedichte zu, die anschließend zusammen mit den Originalversionen am Mikro vorgetragen wird. Der hier abgelichtete Ginsberg ist nicht der Pentagon-und-Wall-Street-Ankläger, noch der nackte Barde, der in Indien am Ufer des Ganges fotografiert worden war, oder der halbnackte Beatnik, der zusammen mit Gregory Corso in eine Duschkabine gezwängt für den mondänen Fotografen Richard Avedon posierte. Er ist auch nicht der bekiffte Schamane mit der zotteligen Mähne und dem biblisch-buddhistischen Bart, der zusammen mit Kerouac, Corso, Burroughs und Bob Dylan die Normen des poetischen Diskurses über den Haufen warf und damit ein wenig „das Leben änderte“, wie Rimbaud schrieb. Man sieht ihn hier vielmehr im Jackett, mit Krawatte, kurzem Haar, glattrasiert – seinen dichten Bart hatte er abgeschnitten und einem befreundeten Filmregisseur, Jonas Mekas, geschenkt (diese seltsame Reliquie ist in einem Schuhkarton im Archiv der FilmMakers’ Cinematheque in New York konserviert, das heute als Anthology Film Archives bekannt ist). Auch Peter Orlovsky hat sich in Schale geworfen: Er trägt einen makellosen weißen Anzug, passende Socken, Krawatte, der Pferdeschwanz fällt locker über eine Schulter, Banjo und
Gitarre liegen neben ihm im Gras. Orlovskys Blick ist intensiv: Er ist sich des Schwindelgefühls bewusst, welches durch den körperlichen Balanceakt zwischen dem Mündlichen und dem Schriftlichen entsteht. Die Szene ist intimistisch und wirkt, als stehe die Zeit still. Es ist der Fotografin gelungen, die Fragilität und den emotionalen Inhalt dieses Moments zu erfassen. Diese vier Freunde sind kurz davor, sich in ein „Abenteuer ohne Netz“ zu stürzen: die erste zweisprachige Präsentation einer Version, die sich in eigentümlicher Weise von der Poesie der Beat-Generation unterschied, vor dem großen und erfahrenen Publikum im American Center von Paris. Diese Version war weder gemindert noch gezügelt – ganz im Gegenteil, denn die subversive Kraft der Texte duldete nicht die geringste Zensur –, sondern wurde in sinnlicher, musikalisierter und/oder gesungener Form vorgetragen, wie das Gedicht The Tyger von William Blake, mit dem Ginsberg seine öffentlichen „Sessions“ zu beginnen pflegte. Es war ein wirklich riskanter Schritt mit ungewissem Ausgang. Als Ginsberg als Auftakt zur Rolling Thunder Review –der legendären Tournee von Bob Dylan und Joan Baez, mit denen er befreundet war – auf der Bühne stand, erlitt er einige schlimme Blamagen: Er sang falsch und die Dylan-Fans konnten sein Harmonium nicht ausstehen. Deswegen wurde er heftig ausgepfiffen und ausgebuht, wie Jahrzehnte später Patti Smith, als sie die unglückliche Idee hatte, sich anstelle von Bob Dylan zur Verleihung des Literaturnobelpreises zu begeben – der Autor von Blowin’ in the Wind hatte es vorgezogen, der Zeremonie nicht beizuwohnen –, und beim Vortragen fürchterlich grölte. Man misstraut automatisch jeder Person, die (mit guten oder bösen Absichten) versucht, als jemand durchzugehen, der sie nicht ist. So sind Dichtkunst und Showbusi-
ness von vornherein Widersprüche. Das hat einige außergewöhnliche begabte Personen wie Langston Hughes, Jack Kerouac, Michael McClure, Jayne Cortez, Ted Joans, Amiri Baraka, Linton Kwesi Johnson und Michael Smith aber nicht davon abgehalten, ihre Texte mithilfe von ausgezeichneten Musikern zu „jazzifizieren“. Sie wollten damit über den geschlossenen Kreis der Poesieliebhaber hinausgehen, den Text der Schrift entreißen und vertonen, um die poetische Utopie besser unter Zuhörer zu bringen, die nie Bücher kaufen oder aufgebrachten und visionären Denkern Gehör schenken würden. Das erklärt die hieratische Fragilität, die von diesem Bild ausgeht. Ginsberg und Orlovsky waren 1957 zum ersten Mal nach Paris gekommen. Sie hatten sich im berühmten Beat Hotel in der Rue Gît-le-Cœur 9 eingemietet, wo sie viel schrieben in Gesellschaft von Corso, Burroughs, Gysin und vielen anderen: völlig abgebrannten Jazzmusikern, Künstlern, Schriftstellern unterschiedlicher Herkunft, Exilanten, Herumreisenden, glorreichen Gammlern. 22 Jahre später sind Ginsberg und Orlovsky wieder in Paris – zwar berühmt, aber auch so klarsichtig wie nie, was das Schicksal unseres unter dem immer totalitäreren Einfluss von „Moloch, die gelähmten Regierungen! Moloch, dessen Hirn reine Maschinerie ist!“ (Howl / Das Geheul, Gesang II) ächzenden Planeten angeht.
Diese Fotografie von Marion Kalter hat den Verdienst, die Kehrseite der Medaille der Beat-Generation zu zeigen, die in Wirklichkeit nicht nur zwei Seiten hat, sondern unzählige, eine unorthodoxer und widersprüchlicher als die andere.
On a Photograph by Marion Kalter
Jean-Jacques LebelThis photograph, which dates from June 1, 1979, was taken on the occasion of the inaugural session of the first POLYPHONIX International Festival of Direct Poetry, which took place at 261 boulevard Raspail in Paris at a time when the American Center had not yet become the Cartier Foundation. The American Center, a private institution not to be confused with the branch of the American Embassy located on rue du Dragon, was welcoming to the counterculture and the experimental arts. The scene unfolds in the garden, during a break in the final rehearsal.
The four people in the photo are, from left to right:
Steven Taylor, a young professional musician a singer and guitar player who had been recruited by Allen Ginsberg during the decade when Ginsberg toured internationally, performing in concert halls, university amphitheaters, and/or recording studios with this same trio;
Allen Ginsberg the legendary scribe of Howl and Kaddish, two literary masterpieces that did a lot to inject some dynamism into poetic thinking during the second half of the twentieth century;
Yours truly (new French translations in hand), placed behind Orlovsky; and
Peter Orlovsky, a significant Beat Generation poet and author, in particular, of Clean Asshole Poems & Smiling Vegetable Songs (published by City Lights Books in San Francisco).
Steve holds his instrument close to his chest. Allen is seated cross-legged on the grass in front of his harmonium, listening to my translation of one of his poems that will be read at the microphone in between readings of the originals. The Ginsberg photographed here is not the doomsayer of the Pentagon and Wall Street, nor is he the naked bard who was photographed in India on the banks of the Ganges, nor the half-naked Beatnik jammed with Gregory Corso into a shower stall where the posh photographer Richard Avedon had posed them, nor the shaggy, stoned shaman with biblical-Buddhist beard who, along with Jack Kerouac, Corso, William S. Burroughs, and Bob Dylan, had upended poetic discourse and, in doing so, had somewhat “changed life” (to borrow a line from Arthur Rimbaud). Here he is in coat and tie with short hair, clean shaven, his thick beard having been cut and donated to the filmmaker Jonas Mekas (this unexpected relic is conserved in a shoe box at the archives of the Film-Makers’ Cinematheque, now known as Anthology Film Archives, in New York). Peter, all dressed up, too, is wearing an impeccable white suit, matching socks, a tie, his ponytail elegantly cascading down his shoulder, his banjo and his guitar set on the grass beside him.
Orlovsky’s gaze is intense: he is aware of the giddy feeling that comes with the bodily balancing act of switching between the oral and the scriptural. The moment is an
intimate one, as if suspended in air, the photographer having succeeded here in capturing both its fragility and the emotional content. Four friends are on the point of embarking upon a risky adventure: the first bilingual performance, before a large and well-informed American Center of Paris audience, of a singularly different version of Beat poetry, not diminished, not subdued quite the contrary, since the subversive force of the texts brooks no censorship but presented in sensuous form, set to music or sung, as did indeed happen with William Blake’s poem, “The Tyger,” which Ginsberg was accustomed to recite at the start of his public gatherings. The leap was truly perilous, the gamble in no way guaranteed to pay off in advance. When he performed on stage as the curtain-raiser for the Rolling Thunder Review the historic tour of his friends Bob Dylan and Joan Baez Ginsberg faced a lot of setbacks: he sang out of tune and Dylan’s fans took a visceral dislike to his harmonium. For this, he was to be heartily booed, just as, decades later, Patti Smith would be when she alighted upon the unfortunate notion of appearing in Stockholm in Dylan’s place to bellow out horribly in song there, during the acceptance ceremony for the Nobel Prize in Literature awarded to the author of “Blowin’ in the Wind,” who did not himself see fit to make the journey. A heavy load of suspicion automatically weighs down upon those who, well- or ill-intentioned, seek to pass themselves off as someone who they are not. From the start, poetry and show business are at loggerheads. Yet that has not kept a few exceptionally gifted individuals Langston Hughes, Kerouac, Michael McClure, Jayne Cortez, Ted Joans, Amiri Baraka, Linton Kwesi Johnson, Michael Smith, among others—from “jazzifying” their writings with the help of some excellent
musicians, the idea being to exit from the restricted social circle in which poetry lovers are shut up, to rip the text from the page and to add a soundtrack, the better to spread a poetic utopia out among listeners who never buy a book and who never lend an ear to insurgent and visionary thinkers. Whence the hieratic fragility that emanates from this image. Ginsberg and Orlovsky came to Paris for the first time in 1957. They lived, and wrote quite a bit, at the celebrated Beat Hotel at 9 rue Gît-le-cœur—in the company of Corso, Burroughs, Brion Gysin, and many others . . . jazz musicians, artists, writers of various origins, all of them broke, expatriated, nomadic, glorious dharma bums. Here they were in Paris, twenty-two years later, Ginsberg and Orlovsky, famous, of course, but more lucid than ever about the fate of planet Earth buckling beneath the ever-more-totalitarian grip of “Moloch the stunned governments! Moloch whose mind is pure machinery!” (Howl, part II).