Leseprobe zu »Das Selbstporträt« (ART ESSENTIALS)

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GUSTAVE COURBET 1819–1877

Das Bild des Künstler-Bohemiens war lange präsent in der öffentlichen Vorstellung: Dieses mittellose Genie führt ein Leben am Abgrund, gemieden von der bürgerlichen Gesellschaft. Er geistert durch schummerige Straßen, düstere Cafés, haust in einer eisigen Dachkammer oder verlässt die Stadt gleich ganz und zieht in die Einsamkeit einer desolaten Landschaft. Er ist groß, dunkel und gutaussehend, mit wirrem, ungekämmtem Haar und einem kühnen Blick, hinter dem seine Ideen leuchten. Diese melancholische Figur dominierte Kunst und Literatur der Romantik. Der französische Künstler Gustave Courbet konnte dieses Künstlerimage mit bemerkenswerter Konsistenz und Fantasie bis zu seinem Lebensende aufrechterhalten. Geboren in einer ländlichen Gegend in Ostfrankreich, zog er mit 20 Jahren nach Paris. Schnell legte er sich den Lebensstil eines Bohemiens zu, hielt Hof in Bars und Cafés, wo er riesige Schulden anhäufte. Courbet sprach mit lauter Stimme in seinem heimatlichen Dialekt. Seine Worte, die er oft aus Trunkenheit lallte, forderten einen neuen, derben Realismus in der Kunst. Er war, als mediengewandter Selbstdarsteller, ein produktiver Maler von Selbstporträts und bereitwilliges Motiv zahlloser Fotografien und Karikaturen. Courbet war berüchtigt für seine Eitelkeit. Selbst im Alter, als sein Körper deutlich vom übermäßigen Trinken gezeichnet war, sind die Figuren in seinen Selbstporträts anmutig und schlank. 62


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