Die sieben Tische. Gastkultur in Neukölln

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MAGAZIN

ZUR

AUSSTELLUNG

IM

MUSEUM

NEUKÖLLN

G A S T K U LT U R I N N E U K Ö L L N

epten mit Rezm zu chen Nachko

DIE WELT AM TISCH Zur Globalisierung der Esskultur DIE GASTROSZENE IN NORD-NEUKÖLLN Ein kulinarischer Streifzug URBAN GARDENING IN NEUKÖLLN Gärten für eine bessere Welt TISCHLEIN, DECK DICH! Speis und Trank im Märchen


I N H A L T

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Die sieben Tische – Zur Einleitung Udo Gößwald

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Tischgeschichten. Vom gemeinsamen Mahl zur Tischflucht Tilman Allert

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Zu Gast bei Anna, Haim & Sita Selchower Straße Barbara Hoffmann

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Zu Gast bei Luna & Alejandro Emser Straße Barbara Hoffmann

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Die Welt am Tisch – Zur Globalisierung der Esskultur in Deutschland und Berlin-Neukölln Mareen Maaß

20

Zu Gast bei Sarah & Bruno Herrfurthstraße Barbara Hoffmann

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Ein Streifzug durch das kulinarische Nord-Neukölln Susanne Kippenberger

76

Zu Gast bei Jenny & Lukas Jonasstraße Barbara Hoffmann

84

Zu Gast bei Tülay Stuttgarter Straße Barbara Hoffmann

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Gärten für eine bessere Welt – Urban Gardening in Neukölln Jennifer Rasch

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Gastkultur und Tischsitten Mareen Maaß

44

Zu Gast bei Stefan & Jan Bouchéstraße Barbara Hoffmann


Die sieben Tische

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Säfte, Nährstoffe und Kalorien. Zum Verhältnis von Körper- und Ernährungswissen Katja Weise

106 Zu Gast bei Katrin & Ben Parchimer Allee Barbara Hoffmann 114 Hauptsache harmonisch – Gastlichkeit in Neukölln Patrick Helber 121 Backen aus Tradition und Leidenschaft im Böhmischen Dorf Barbara Hoffmann 125 Mieter kochen für Mieter im Rollbergviertel Barbara Hoffmann 128 Die längste Kaffeetafel der Gropiusstadt Barbara Hoffmann

130 Das Arbeitslosenfrühstück auf dem Reuterplatz Kirsten Flesch 132 „Hier kommt Kurt“ – Das Obdachlosenfest im Neuköllner Estrel Hotel Volker Banasiak 138 Die erste Mahlzeit am Tag – Frühstücken in einer Neuköllner Grundschule Anja Mutert 144 Kochen als Unterrichtsfach – die Keps der Kepler-Schule Anja Mutert 148 Gedeckte Tische, magische Töpfe und verzauberte Kräuter Patrick Helber

156 Kleines Lexikon der Küchengeräte. 49 Objekte aus der Sammlung des Museums von A bis Z Julia Dilger 163 Selbstversorgung Otl Aicher 164 Impressum


E D I T O R I A L DIE SIEBEN TISCHE – ZUR EINLEITUNG von UDO GÖSSWALD

Wie empfangen Neuköllner Bürgerinnen und Bürger in ihrer häuslichen Umgebung Gäste zum Essen? Das war die Ausgangsfrage eines Ausstellungsprojekts des Museums Neukölln. Uns interessierte, wie Menschen eines Berliner Großstadtbezirks zusammenkommen, um miteinander zu speisen. Der Esstisch spielt dabei eine zentrale Rolle, denn er ist der räumliche Bezugspunkt für die Gastkultur, die sich während eines gemeinsamen Essens gestaltet. Er prägt die Formen der Kommunikation und wird zum Bestandteil eines ritualisierten Ablaufs, der vielfältige kulturgeschichtliche Bezüge aufweist. Tische sind Orte der zwischenmenschlichen Begegnung. Sie erzählen von zahllosen täglichen Begebenheiten und sind damit eine wichtige Instanz der Kommunikation. Dort wird über das Erlebte und Erfahrene gesprochen und über aktuelle Handlungsmöglichkeiten reflektiert. Am Tisch, insbesondere dem Esstisch, finden symbolische Formen des Austauschs statt, die auf die soziale Hierarchie innerhalb der Familie verweisen. Für die Jüngeren ist der Tisch Inbegriff der elterlichen Autorität und Macht. Am Tisch finden wichtige Prozesse der Entbindung vom Elternhaus statt, zugleich kann er zeitlebens ein Ort der familiären Bindung bleiben. Er ist damit ein wichtiger Ort für die Demonstration von Kontinuität, aber auch Zeitlichkeit. Die Menschen, die ihn täglich benutzen, erkennen in ihm einen konstanten Begleiter im Strom einer sich rasch wandelnden äußeren Wirklichkeit. Tische sind zugleich Orte, an denen Gäste empfangen werden und damit Orte der Begegnung mit vertrauten, aber auch fremden Personen. Am Tisch werden durch Tischsitten, Gespräche und Verhaltensweisen substanzielle Kulturtechniken erlernt und von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Die Tischdekoration, die servierten Speisen oder die Rituale, die sich am Tisch vollziehen, sind ein spezifischer Ausdruck von Überlieferungen und Traditionen, aber auch gegenwärtiger häuslicher Wohnkultur. Der Tisch als Möbelstück ist selbst Träger einer kulturellen Bedeutung und verweist unter anderem auf den sozialen Status seines Besitzers. Er kann als Kristallisationspunkt kultureller Verhaltensweisen verstanden werden, der Auskunft über die ästhetischen Präferenzen seiner Nutzer gibt. Für die Ausstellung „Die sieben Tische“ hat das Museum Neukölln verschiedene Personen, die in Neukölln leben, angesprochen, ob sie bereit sind, ein Essen mit Freundinnen, Freunden und Familie in ihren privaten Räumen fotografisch und filmisch dokumentieren zu lassen. Bei der Auswahl war vorrangig von Bedeutung, dass die Personen gerne und wiederholt Gäste zu sich nach Hause einladen, um für sie zu kochen. In zweiter Linie wurde darauf geachtet, dass verschiedene Milieus repräsentiert sind, wobei sowohl eine altersbezogene Bandbreite als auch die Vielfalt kultureller Herkunft berücksichtigt werden sollte, wie sie heute in der Neuköllner Bevölkerung üblich ist. Im soziologischen Sinn kann hier jedoch nicht von einer repräsentativen Auswahl gesprochen werden, sondern jedes einzelne Milieu steht singulär für sich, kann aber in manchen Fällen auch als exemplarisch angesehen werden.

Der Esstisch, die Stühle und das verwendete Geschirr, die die Gastgeber dem Museum für die Dauer der Ausstellung zur Verfügung stellen, sind Objekte der materiellen häuslichen Alltagskultur. Das am Tisch vollzogene Ritual des gemeinsamen Essens ist jedoch eine Ausdrucksform der immateriellen Kultur. Der Begriff Gastkultur umfasst beide genannten Kulturformen und verschränkt sie miteinander. Mit ihm ist das Verhältnis von Gastgebern und Gästen gemeint, das sich im privaten Raum entfaltet. Die Gastkultur umfasst die Auswahl der Gäste, die Formen der Begrüßung, die Platzierung am Tisch, die Tischdekoration, die Form des Servierens und natürlich die für den Abend gewählten Speisen. Bestandteil der Gastkultur sind aber auch die in der Herkunftsfamilie erlernten Formen des Kochens, die Erinnerung an bestimmte Speisen und die damit verbundenen familiären Konsumgewohnheiten, da sie oftmals als Orientierung für die gewählte oder erwünschte Atmosphäre der gemeinsamen Mahlzeit dienen. Das gemeinsame Essen mit Gästen ist stark von dem Wunsch nach einer harmonischen, angenehmen Atmosphäre, möglichst frei von Konflikten und störenden Elementen, geprägt. „Als gastlich gilt jene Atmosphäre von Geselligkeit, in der sich die Gäste aufgehoben, sicher, frei von Stress und entspannt fühlen können, in der nichts anderes von ihnen erwartet wird, als was sie zu geben bereit sind, in der es ausschließlich um den Genuss dieser außeralltäglichen Erfahrungssituation selbst geht.“1 Die Gegenwart von Kindern oder Heranwachsenden kann unter Umständen durch ihre eher spontanen Verhaltensweisen die gewünschte Harmonie ins Wanken bringen. Der typisch deutsch konnotierte Begriff der Gemütlichkeit ist für Gastgeber und Gäste auch unterschiedlicher kultureller Milieus durchaus positiv besetzt und gilt als erstrebenswert, denn damit ist eine Form des Zusammenseins gemeint, in der das leichte, aber angeregte Gespräch in einer angenehmen Atmosphäre vorherrscht. Die gemeinsamen Essen vollziehen sich, obwohl das den Teilnehmern in der Regel nicht immer bewusst ist, als ritualisierte Handlungen, die, wie der Ritualforscher Burkhard Dücker schreibt, „zumeist nicht spontan aufgeführt, sondern vorbereitet [sind], sie sind erwartbar und berechenbar, die Teilnehmer wissen in der Regel, was auf sie zukommt“2. Insofern ist das Ausstellungsprojekt „Die sieben Tische“ und der Rekurs auf Gastlichkeitsrituale eine Untersuchung über symbolische Handlungen, die bestimmte Funktionen in Bezug auf die Strukturierung des individuellen und sozialen Verhaltens haben. „Rituale sind Nischen direkter Kommunikation, vermitteln zwischen dem individuellen und sozialen Bereich.“3 Rituale im Zusammenhang mit dem Essen sind wesentliche Bestandteile des Lebens und damit auch konstitutiv für die Art und Weise der Lebensführung und -gestaltung.

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1

Dücker, Burckhard: Ritualitätsformen der Gastlichkeit. In: Wierlacher, Alois (Hg.): Gastlichkeit. Berlin 2011, S. 74.

2

Ebd., S. 56.

3

Ebd., S. 57.


Stills aus der Filmdokumentation von Ursula Scheid / Museum Neukölln

Zu Gast bei Luna und Alejandro

Zu Gast bei Sarah und Bruno

Zu Gast bei Tülay

Zu Gast bei Katrin und Ben

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Indem die Gastgeberinnen und Gastgeber sich bereit erklärt haben, dass die Interaktion während des Essens in der privaten, häuslichen Umgebung fotografisch und filmisch dokumentiert wird und anschließend in Form einer Ausstellung als öffentliche Präsentation im Museum erfolgt, betreten sie gemeinsam mit ihren Gästen die Bühne der Öffentlichkeit. Sie werden quasi zu Akteuren einer Inszenierung, die es dem Betrachter der Ausstellung und dem Leser dieser Publikation ermöglicht, Einblicke in Mikromilieus zu erhalten, die auf soziale und kulturelle Dimensionen des Alltagslebens im heutigen Neukölln verweisen. Durch die vorbereitenden Interviews mit den Gastgebern, durch Gespräche mit ausgewählten Gästen, die Protokollierung des Ablaufs sowie die fotografische und filmische Dokumentation der Essen liegt umfangreiches Material über die Begegnung von fast fünfzig Personen vor. Auf dieser empirischen Grundlage ist es möglich, anhand ausgewählter Beispiele verschiedene Formen der Gastkultur in Neukölln zu beschreiben. Welche sozialen und kulturellen Komponenten prägen nun die Mikromilieus, in denen sich die Gastgeberinnen und Gastgeber der sieben Neuköllner Tische bewegen? Bei Luna und Alejandro kommen junge Menschen im Alter von Anfang bis Mitte zwanzig zusammen, die zum größten Teil aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind oder in Deutschland nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden. Diese Erfahrung ist trotz ihrer unterschiedlichen kulturellen Identitäten das verbindende Element des Tisches. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Streben nach beruflicher oder akademischer Aus- und Weiterbildung. Das kennzeichnet speziell diejenigen, deren Bildungswege aufgrund der Migration und damit verbundener Nichtanerkennung von Studienleistungen unterbrochen wurden. Eine Schlüsselrolle beim Erreichen ihrer Ziele spielt das Beherrschen der deutschen Sprache, weshalb das Thema Fremdsprachenlernen in den Konversationen von großer Bedeutung ist. Bei Sarah und Bruno versammelt sich eine Gruppe jüngerer Menschen im Alter von Ende zwanzig bis Mitte dreißig, die ihre akademische Ausbildungsphase und den Berufseinstieg bereits hinter sich haben. Ihre Biografien sind teilweise von beruflich motivierten Aufenthalten in internationalen Metropolen geprägt. Die Teilnehmenden kennzeichnet innovatives wirtschaftliches Denken, die Freude am Wettbewerb und die damit verbundene Professionalisierung des eigenen Lifestyles. Sie sind motiviert, neue Wege zum beruflichen Erfolg auszuprobieren. Diese Eigenschaften spiegeln sich auch im Innovations- und Perfektionsgehalt des Menüs sowie in der Idee wider, das Abendessen mit dem Test ihres Start-up-Unternehmens CleverShuttle zu verbinden. Das konstituierende Element der Frauenrunde bei Tülay ist die Verbindung aller zum interkulturellen Garten Perivoli e. V. Das Arbeiten im Garten bringt Frauen aus der griechischen und türkischen Community Neuköllns mit deutschen Frauen zusammen. Für die Beteiligten, die mehrheitlich zwischen sechzig und siebzig Jahre alt sind und soziale und pädagogische Berufe ausüben oder ausgeübt haben, schafft das Abendessen den Raum, das eigene Leben und die persönliche Migrationserfahrung jenseits der jeweiligen nationalen historischen Narrative zu reflektieren. Dabei kreieren die zahlreichen Überlagerungen und Gemeinsamkeiten zwischen den Küchen, den kulturellen Gegebenheiten und den Familienbiografien auf beiden Seiten der Ägäis ein Gemeinschaftsgefühl, das beim Essen als bereicherndes Miteinander erlebt wird. Die drei Paare am Tisch von Katrin und Ben sind alle zwischen Mitte vierzig und sechzig Jahre alt. Ihre Gemeinsamkeit ist die jahrelange freischaffende Arbeit im künstlerisch-kulturellen Bereich Berlins. Sie sind nicht nur beruflich etabliert, sondern haben sich auch privat an einem festen Ort niedergelassen und Familien gegründet. Das Zuhause ist für sie kein vorübergehender Wohnort mehr, sondern ein Raum der familiären Kontinuität, der nach den eigenen stilistischen Vorstellungen gestaltet wird. Dass die eigenen Kinder teilweise das Haus verlassen und ihre eigenen beruflichen Wege eingeschlagen haben, wird als Zäsur wahrgenommen und zum Reflektieren der persönlichen Vergangenheit beim gemeinsamen Essen genutzt.


Bei Jan und Stefan trifft sich eine Gruppe politisch engagierter Schwuler und Lesben verschiedenen Alters zum rituellen Gänseessen mit anschließender Feuerzangenbowle. Die Beteiligten repräsentieren unterschiedliche Ausprägungen eines sozialdemokratisch geprägten bürgerlichen Milieus und sind beispielsweise als Anästhesist, Lehrer, Toningenieurin oder in der Personalverwaltung tätig. Die gemeinsame politische Arbeit bei den QueerSozis Neukölln hat für sie auch die Funktion, feste freundschaftliche Bindungen zu etablieren und ein familiäres Geborgenheitsgefühl zu ermöglichen. Im Zentrum des Essens bei Anna und Haim steht die transkulturelle bildungsbürgerliche Patchwork-Familie, zu der ihre gemeinsame Tochter Sita sowie die beiden Kinder aus Haims erster Ehe, Prosper und Emily, gehören. Die Gerichte auf dem Tisch enthalten kulturelle Elemente aus Marokko, Israel und Indien, zu denen die Familie persönliche Bezüge hat. In den Tischgesprächen werden gemeinsam Entscheidungen über die schulische und universitäre Zukunft der Kinder ausgehandelt und über deren soziales Engagement und musikalische Fähigkeiten berichtet. Außer der Familie sind ein Nachbar und eine ehemalige israelische Nachbarin aus Neukölln zugegen. Die Verbindung zu Ersterem basiert auf geteilter künstlerischer Leidenschaft und der gemeinsamen Tätigkeit als Regisseur. Bei der früheren Nachbarin sind das Judentum und die gemeinsame Sprache das Verbindungsglied, da gemeinsam hebräisch gesprochen werden kann und man religiöse Feiertage zusammen begeht. Jenny und Lukas haben eine kleine Tochter, sie sind beide im künstlerisch-kulturellen Bereich der Berliner Kreativwirtschaft tätig und repräsentieren die junge, akademisch gebildete Neuköllner Kleinfamilie. Die Menschen an ihrem Tisch sind Ende zwanzig bis Anfang dreißig Jahre alt, haben meist auch Studien im Bereich Grafikdesign und Visuelle Kommunikation absolviert und sprechen über gesunde Ernährung, Umweltbewusstsein und ausgiebiges Feiern. Ihr Milieu ist geprägt vom Spagat zwischen dem Aufbau der eigenen Existenz, Heirat und Kindern sowie dem Wunsch nach Mobilität und Freiheit. Das verbindende Element der sieben Tische ist die gemeinsame Intention, ein Essen in angenehmer Atmosphäre zu zelebrieren. Damit ist zugleich ein sinnstiftendes Moment aufgerufen, denn der Wunsch, einen „schönen Abend“ gemeinsam zu verbringen, ist Ausdruck eines ästhetischen Anspruchs und Willens. Das Kochen von Speisen mit der Absicht, dass die Gäste nicht nur satt werden, sondern sich auch durch den gemeinsamen Genuss verbunden fühlen, beinhaltet die bewusste Teilhabe an der körperlichen Erfahrung anderer. In gewisser Hinsicht macht die gemeinsam erlebte sinnliche Befriedigung den Tisch zu einem Wunschort: So wie heute soll es immer sein! Darüber hinaus manifestiert sich in den zum Teil sehr anspruchsvoll hergestellten Speisen ein Zeitgeist, der es erlaubt, Genuss mit bewusst ausgewählten und im ernährungswissenschaftlichen Sinn als wertvoll erachteten Produkten zu kombinieren. An den sieben Tischen äußert sich insofern ein gesamtgesellschaftlicher Trend, den man als „bewusstes Leben“ fassen könnte. Es sind genuin urbane Lebensformen, die sich – bis auf eine Ausnahme – im heutigen Trendviertel Nordneukölln entfalten. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die durch die sieben Tische repräsentierten Mikromilieus nur einen spezifischen Ausschnitt der Neuköllner Sozialstruktur darstellen. Obwohl die materiellen Ressourcen der meisten Gastgeber und Gäste keineswegs als üppig zu bezeichnen sind, haben sie dennoch vergleichsweise mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt als viele andere, die nicht über eine Fachausbildung oder einen akademischen Abschluss verfügen. Die Utopie eines reich gedeckten Tischs, wie sie im Grimm’schen Märchen „Tischlein, deck dich“ herbeigesehnt wird, ist allerdings für alle Projektteilnehmer Realität geworden. Die Problematik derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die in Neukölln darunter leiden, dass es für sie und ihre Familien zum Leben kaum reicht, haben wir jedoch nicht gänzlich außen vor gelassen. In den Berichten über das freiwillige, ehrenamtliche und soziale Engagement von Einzelpersonen und Initiativen, die zum Beispiel das alljährliche Fest der Obdachlosen im Estrel Hotel organisieren, die sich für ein kostenloses Frühstück und generell für besseres Essen für Schulkinder einsetzen oder die seit Jahren an dem wöchentlichen

Zu Gast bei Stefan und Jan

Zu Gast bei Anna, Haim und Sita

Zu Gast bei Jenny und Lukas

Mittagstisch im Rollbergviertel mitwirken, wird deutlich, wie notwendig und wichtig es in Neukölln ist, sich um diejenigen zu kümmern, die selbst nicht in vollem Umfang am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Mit der Chiffre „Die sieben Tische“ rekurriert das Projekt des Museums Neukölln auch auf die symbolische Bedeutung der Zahl Sieben. Die sieben Tage der Woche, die sieben Töne der Tonleiter, die sieben Grundfarben verweisen auf ihre kosmologische und kulturhistorische Bedeutung. Im Judentum, im Christentum und im Islam ist die Sieben die Zahl der Vollkommenheit.4 Die sieben Tische können uns bewusst machen, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass Menschen in der Lage sind, andere Menschen als Gäste zu empfangen. Dr. Udo Gößwald ist Leiter des Museums Neukölln.

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Lurker, Manfred: Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 1983, S. 629.


Familienfeier von Louis und Caroline Bonwitt um 1914

Foto: Hannah Nehab / Museum Neukรถlln

Die versammelte Familie am Tisch im Haus Hasenheide 61.

TISCHGESCHICHTEN VOM GEMEINSAMEN MAHL ZUR TISCHFLUCHT


Familien Leyke und Semmler am gedeckten Tisch, Neukölln 2003

Foto: Museum Neukölln / Henrik Drescher, Sabine Schründer

Gemeinsam zu essen, ist keine Selbstverständlichkeit, keine Routine und kein ehernes Gesetz. Seine Ausdrucksformen unterliegen dem Wandel. Hier sind drei Generationen am Tisch versammelt, die diesen Wandel erfahren haben und ihn weitergeben.

von TILMAN ALLERT Tische, an denen Menschen sich zum Essen und Trinken einfinden, sind Orte, an denen die Gemeinschaft sich ihrer selbst versichert. Am Tisch wird der Fremde zum Gast. Die Beziehungen untereinander werden bekräftigt oder gar erst begründet, eine exemplarische Sozialität entsteht, und zwar durch das Essen, das man teilt. Bei Tisch erleben die Menschen die Kraft der Gabe, bei Tisch artikuliert sich der Dank, und doch liefert die Tischgemeinschaft ein anschauliches Beispiel für die Ambivalenz menschlicher Zusammenkünfte. Das gemeinsame Essen pazifiziert und birgt zugleich die Sprengkraft einer dramatischen sozialen Erosion. Nur von hierher, vom sozialen Zwang und der Gleichursprünglichkeit

von Attraktion und Distraktion, lässt sich erklären, weshalb in der menschlichen Kulturgeschichte die Tischgemeinschaft – beispielhaft in der mythologischen Praxis des Brotbrechens – sakralisiert wird. In diesem Sinn avanciert der Tisch zu einem Ort hoher kommunikativer Dichte, zu einem Ort der Authentizität. Vor dem Hintergrund dieser elementaren Strukturbestimmung erscheinen aktuelle Geselligkeitsformen als Fortführung einer Form kommunikativer Dichte, und es zeigt sich: Gemeinsam zu essen, ist keine Selbstverständlichkeit, keine Routine und schon gar nicht ein ehernes Gesetz. Seine Ausdrucksformen unterliegen dem Wandel. In der Gegenwartsgesellschaft verändert sich die Kohäsionskraft des Tisches. Das normative Gebot verbindlicher Anwesenheit tritt zu-

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rück zugunsten flexibler und eigenkontrollierter Teilhabe, Formen der „Tischflucht“ breiten sich aus. Die Sinnstruktur des Tisches, die „ungeheuere sozialisierende Kraft“ des gemeinsamen Essens und Trinkens, hat der Soziologe Georg Simmel herausgestellt. In seiner Abhandlung „Soziologie der Mahlzeit“ wird die soziale und seelische Dynamik von Tischgemeinschaften auf den Begriff gebracht. Den Tisch und die für diesen Ort charakteristische Form der Gemeinschaftsbildung versteht, wer seine gegensätzlichen Tendenzen zusammendenkt. Folgt man Simmels Argumentation, so liefert der gemeinsame Verzehr ein Mittel, den „Naturalismus des Essens“ zu überwinden. Wie ist das zu verstehen? Wer isst, folgt einer Art legitimen egozentrischen


Foto: Museum Neukölln / Claudia Charlotte Burchard

Geselliges Beisammensein am festlichen Tisch zum 90. Geburtstag von Else Gedan, Neukölln 2003

Foto: Privatbesitz

Tischgemeinschaften, die zu einer Feier zusammenkommen und das Essen gemeinsam genießen, entwickeln eine sozialisierende Kraft und kommunikative Dichte.

Gemeinsam am Tisch: Familie Kalaitzidis trifft mit Familie Sountoulidis zum fröhlichen Essen in Kallipsaria, in der Nähe von Saloniki, zusammen. 1988 Das gemeinsame Essen der beiden Familien, von denen die Kalaitzidis’ in Neukölln leben, festigen die alten Bindungen. Nach längerer Trennung gibt es viel zu erzählen.

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Perspektive. Es wäre verkürzt, die bei Tisch notwendige Konzentration auf den eigenen Anteil am Dargebotenen moralisch zu skandalisieren, vielmehr ist der Selbstbezug beim Essen und Trinken einer natürlichen Interessenlage geschuldet. Das zivilisatorische Potenzial des Tisches zeigt sich hingegen an der Präsenz anderer, als mit gleichen Interessen ausgestatteten „Egoismen“. Die Nahrungsaufnahme wird durch das räumliche Arrangement der Bezugnahme auf das Gegenüber sozial gebunden und durch eine Reihe von Regeln, Gesten und Haltungen sozial kontrolliert. Bei Tisch entfaltet die normativ wirksame Anwesenheit anderer, denen gleiche Interessen unterstellt werden, eine Moderation, im Kern eine Kunst der Verzögerung. Tischgemeinschaften sind Verzögerungskollektive. Am Tisch wird zelebriert, sich die Gaben der Natur aneignen zu können, das ist die eine Seite des Geschehens. Am Tisch wird zugleich eine Ethik der Teilung handlungswirksam, die „materialistisch individuelle Selbstsucht“, wie Simmel schreibt, in die „Sozialform der Mahlzeit“ überführt. Wichtig dazu sind die Essgeräte, geronnener Geist, praktische Gestalt gewordene Instrumente der verfeinerten Möglichkeit, die Speisen vor dem Verzehr zu zerkleinern bzw. zu portionieren sowie zum Mund zu führen. Sie sorgen für eine erste Verzögerung, für eine Temperierung der Gier. Die Vielfalt der Normierungen, folgen wir Simmel, zeigt sich gleichermaßen an der Ästhetik der Teller. Ihre stets gleiche, runde Form erinnert an die Idee statusneutraler Teilhabe. Niemandem wird das Vorrecht privilegierter Konsumtion eingeräumt. Die gleichen Teller bringen die normative Verpflichtung, das Zusammensein über eine Ethik der Rücksichtsnahme zu kultivieren, deutlich zum Ausdruck. Teller, so Simmel, „vertragen keinerlei Individualität; verschiedene Teller oder Gläser für verschiedene Personen würden absolut widersinnig und hässlich sein“. Fügen wir dieser subtilen Mikrosoziologie der Mahlzeit nun noch den Gedanken hinzu, dass nicht etwa allein die Balance von „selbstsüchtigem“ Verzehr und Rücksicht auf die anderen Mitglieder der Tischgemeinschaft für eine besondere Dynamik des Beisammenseins sorgt. Die Sprengkraft des Tisches entsteht durch den Umstand, dass das Essen und Trinken die ebenso triviale wie elementare Kunst des Kommunizierens auslöst. Zweifellos handelt es sich um eine Kunst, sich in verschiedenen Formen der Präsenz bei Tisch zu zeigen, die mit je eigenen Handlungschancen und Handlungsrisiken verbunden sind. Bei Tisch entsteht eine Choreografie des Sprechens, das durch das Essen und Trinken charakteristische Zäsuren erfährt. Ein einfaches Gedankenexperiment mag das verdeutlichen: Wer nur isst und trinkt und ansonsten schweigt, macht sich ebenso verdächtig wie jemand, der durch ununterbrochenes Sprechen sich nicht nur um die Teilhabe bringt, sondern den Anschein erweckt, der


WOHNKÜCHE Tischgemeinschaften verpflichten. Die Anwesenheit im engen Nebeneinander lässt im historischen Wandel der Gesellschaften unterschiedliche Ausdrucksformen zu, sei es, dass die stumme Konzentration auf das Essen und Trinken dominant wird, sei es, dass der – wie wir gesehen haben – stets intervenierende Diskurs untereinander dominant wird und den eigentlichen Anlass in den Hintergrund treten lässt. Von der stummen, quasi mönchischen, dem Essen und Trinken in Ehrfurcht zugewandten Zusammenkunft ist in der Moderne kaum noch etwas zu spüren. Vielmehr lassen sich Tendenzen beobachten, sich der Kommunikationsanstrengung, die

Museum Neukölln / Henrik Drescher, Sabine Schründer

Speise keine Bedeutung zuzumessen bzw. diejenigen, deren Gast man ist und denen man den Genuss verdankt, zu entwerten. Lassen wir uns nicht durch den Einwand irritieren, dass sich natürlich auch beim Kauen sprechen lässt. Rabelais’ legendäre Geschichten um Gargantua und Pantagruel erinnern drastisch daran, wie lustvoll dergleichen synchronisierbar ist. Aber natürlich handelt es sich um karikierte strapaziöse Grenzfälle; die Chancen, verstanden zu werden, gehen jedenfalls gegen Null. So wie Kindern schon früh beigebracht wird, Schweigen, Sprechen, Essen und Trinken in ein ausgeglichenes Verhältnis zueinander zu bringen, so unterliegt die Kommunikation bei Tisch somit einer dynamischen Logik von Zäsur, Initiative, Innehalten und Genuss, von Evaluation und Information, Rückzug und Auftritt. Während man in vormoderner Zeit, unter Bedingungen der knappen Nahrungsmittel sowie unter der Wirksamkeit einer Ethik der Askese des Sprechens bei Tisch als ein Frevel gegen die Gaben der Natur verurteilte und dieses Verständnis etwas zur bekannten Regel konventionalisiert wurde, bei Tisch nicht zu sprechen, so entsteht in der modernen Gesellschaft eine Vielfalt von Geselligkeiten, die sich durch je eigene Mischungen von Essen, Trinken, Sprechen, Schweigen auszeichnen. Und gerade diese Vielfalt lädt dazu ein, einen Blick auf Devianzen, auf das anomische Potenzial der Tischgemeinschaften zu werfen. Bei Tisch kann es krachen, und die oben skizzierte Solidarität untereinander kann im gemeinsamen Mahl zelebriert werden, aber es ist die nämliche kommunikative Dichte, die Gründe für den Zerfall liefert. Tischgemeinschaften erwarten, dass die Teilnehmer sich in ihrer Besonderheit, in ihren Wertpräferenzen, Vorlieben und Urteilen zu erkennen geben. Die gebotene, erwartete Individualität erhöht den Spontaneitätsgehalt der Zusammenkunft, aber zweifellos steigen die Chancen für Kontroversen, Irritationen und Abgrenzungen. Die kulturgeschictlich prominenteste Figur einer Kontrolle der Beiträge liefert der georgische „Tamada“, der Tischälteste, der die latente Konfliktivität von Zusammenkünften durch dosierte Trinksprüche begleitet und dadurch moderiert.

Am Esstisch im Gemeinschaftsraum einer Fabriketage, Karl-Marx-Straße 2003 Der Tisch, an dem gegessen und geredet wird, bildet den zentralen Ort für die Mitglieder der Wohngemeinschaft und deren Kinder.

Tischgemeinschaft gleichsam eingelagert ist, zu entziehen. Deutlich zeigt sich das am Beispiel der Wohnküche, ein Arrangement, bei dem man sich in der Küche, also im Raum der Herstellung der Speise, trifft. Kaum noch erinnerlich, dass etwa in den 1970er-Jahren sogenannte Küchendurchreichen modern waren, durch die die Hausfrau, in höheren Milieus auch das Dienstpersonal, dezent die

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Teller reichte. In früheren Zeiten wollte man den Gästen ersparen, vom Wirbeln in der Küche etwas mitzubekommen. Ganz anders bei der Wohnküche. Sie entlastet von der Kommunikationsanstrengung, weil sie den Anwesenden ermöglicht, die Zubereitung der Speisen zum Gegenstand des Sprechens zu machen. Aber darin kommt weitaus mehr zum Ausdruck.


wird. Noch etwas kommt hinzu. Die Wohnküche ist eine moderne Schwester der Durchreiche. Sie eröffnet die Idee des Simultanverzehrs, sozusagen von der Pfanne in den Mund. Die Wohnküche reduziert Asymmetrien in der Verteilung der Aufgaben. Wer kocht, steht in der Regel im Dampf oder Wohlgeruch, ist jedoch aus der Kommunikation ausgeschlossen. Die Wohnküche sorgt demgegenüber für Gleichheit im Pointengenuss und befreit die Gastgeber von der Last des Nachfragens. Daran zeigt sich, wie in

Foto: Museum Neukölln / Barbara Hoffmann

Die Statusdemonstration, die jede Einladung in die Küche impliziert, greift auf das kulinarische „Wie“ und nicht auf das kulinarische „Was“ zurück. In dem Maße, in dem in der modernen Gesellschaft die Kochkunst professionalisiert wird und zugleich an öffentlicher Wertschätzung gewinnt, steigen die Chancen, in den eigenen vier Wänden mal eben die Güte eines Kling oder Witzigmann vorzuführen. Das demonstrative Hantieren erhöht die Imponierchancen, weil die kulinarische Raffinesse anschaulich vorgeführt

Wohnküche in der Hufeisensiedlung Februar 2015 Die großzügige Küche wurde nachträglich in die ursprünglich sehr kleinen Räume im Erdgeschoss des Einfamilienhauses in der Hufeisensiedlung eingebaut. Nun kann sich die Gastgeberin während des Kochens mit ihren Gästen unterhalten und ist nicht länger ausgeschlossen.

Foto: Museum Neukölln / Jürgen Engler

Grillen auf einem Seniorenfest, Neukölln 1983

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der Moderne das oben allgemein skizzierte Spannungsverhältnis von Essen, Trinken, Sprechen und Schweigen auszugleichen versucht wird. Niemand, selbst der Gastgeber nicht, soll während der Zusammenkunft um neue Teilhabechancen gebracht werden. Insofern geht von der Küche ein Zusammengehörigkeitsversprechen aus. Wer an meinem Tisch sitzt, ist mein Freund. Es kommt hinzu, dass die Speise, die verzehrt wird und an deren Zubereitung wir beobachtend und kommentierend teilnehmen, einen Gesprächsfokus bietet. Wohnküchen sind somit Gesprächspausenfüller – das ist wie mit Haustieren, die sich bekanntlich jederzeit zum Thema machen lassen: Mit einem „schmeckt wunderbar“ lässt sich leicht und locker jedes Stocken, jeder Gesprächsabgrund überbrücken. Dass die räumliche Trennung zwischen Kochen und Genießen im modernen, offenen Küchenkonzept aufgehoben ist, bedeutet alles andere als einen Schritt zurück, vielmehr ist diese Entwicklung durch das Zeitdiktat, unter dem die moderne Lebensführung steht, veranlasst. Die menschliche Mahlzeit hat etwas Archaisches – Essen ist erlaubte Regression, sublimiert durch die kulinarische Raffinesse. Beim Kochen zuzuschauen, verspricht somit doppelten Genuss, sinnlich gleichsam noch eine Vorspeise, man schaut und schnuppert sich schon mal satt, bevor es losgeht. GRILLPARTY Als zweite Erscheinung, die anschaulich macht, wie sich die soziale Struktur der Tischgemeinschaft dem Wandel der Lebensgewohnheiten anpasst, sei die zunehmende Perfektionierung des Gartengrillens angeführt. Ein beliebter Rundfunksender lädt seit einigen Jahren mit zunehmenden Erfolg unter den Zuhörern zu sogenannten Grillpartys ein, eine fiktive Zusammenkunft, die die soziale Dynamik von Essen, Trinken, Sprechen, Schweigen dadurch neutralisiert, dass sich die Menschen in die abstrakte, generalisierte Zugehörigkeit einer landesweit übertragenen Partygemeinschaft integrieren. Der Gang der Dinge unterliegt dabei nicht mehr der am Ort versammelten Zusammenkunft von Familien, Freunden und Bekannten, die auszuwählen und zu dem Klamauk einzuladen immerhin noch Sache von einzelnen Zuhörern ist, vielmehr gibt die Rundfunksendung, mit eingestreuten Grill-Tipps prominenter Köche die Zäsuren der Kommunikation vor. In diesem Paradox, das von enthusiastischen Zuhörern mit den Worten begrüßt wird, „man macht ja so wenig gemeinsam“, „hier macht man jedoch ’ne Grill-Party mit dem ganzen Bundesland!“, kommt ein Wechsel im Sozialgefüge der Tischgemeinschaft zum Ausdruck. Von Tischflucht zu sprechen, scheint nicht übertrieben, denn hier möchte man zwar einer Gemeinsamkeit bei Tisch gerecht werden, gibt allerdings die Anstrengung der kommunikativen Moderation an die außengeleitete Gemeinschaft der Radiozuhörer ab. Derartige


Foto: Privatbesitz

Entwicklungen fügen sich stimmig der Beobachtung, nach der der en-passant-Verzehr deutlich zugenommen hat. Menschen, die gleichzeitig laufen oder gehen und essen, zählen zum Erscheinungsbild des Menschen im öffentlichen Raum. In vielen Fällen erzwungen durch den Strukturwandel der Arbeitswelt und den damit einhergehenden Belastungen, kündigt sich darin im Kern eine Entwertung des Essens an. Auf den Bahnhöfen unserer großen Städte versammeln sich Häppchen-Passanten. Reizvoll ist das vermutlich nicht, es markiert einen stummen Verzehr, weit ab von der Dynamik der Tischgemeinschaft und ist somit geselligkeitsdistant. Beim Boom der aufwendig raffinierten Grillgeräte kommt etwas anderes hinzu. Nicht etwa der gestiegene Komfort begründet den exorbitanten Anstieg von Gartengrilleinrichtungen – das sicherlich auch. Signifikanter im Sinne der entworfenen Argumentation ist die Möglichkeit, das gemeinsame Essen – um das es ja nach wie vor geht – mit transitorischen Abwesenheiten zu verbinden, die allerdings legitim sind. In der sozialen Atmosphäre der Grillparty lässt sich leichter „aussteigen“ als die bei einer am Tisch versammelten Gemeinschaft möglich wäre. Selbstredend hat die hierin zum Ausdruck gebrachte Unverbindlichkeit einen hohen Preis. Einfach einmal wegzugehen, das ist natürlich suggestiv, kommt jedoch auch einer Selbsttäuschung gleich, schließlich verkompliziert dergleichen die Bezugnahme auf den Anderen: Denn auch das sogenannte Zwanglose bleibt ein Arrangement sozialer Zusammenkunft. Die Gäste müssen sich auf eine Situation einstellen, die bleibt, und dabei sich ständig der Zwanglosigkeitsmaxime

versichern. Scheint nun das Grillen die Ritualität der Zeremonialität der Tischgemeinschaft aufzulockern, so bringt der Trend zu „legitimer Abwesenheit bei Anwesenheit“ zum Ausdruck, wie komplex die normativen Erwartungen, die das gemeinsame Essen und Trinken moderieren, geworden sind. Das Essen als eine Kulturleistung, die in einem langjährigen und mühsamen Bildungsprozess angeeignet wird, ist systematisch und historisch von Vulgarisierung bedroht. Seit jeher steht hinter der Kulturleistung des Essens die Gier als dessen Degeneration und Vulgärversion. Die Häppchen, die wir zu uns nehmen, so erzwungen sie im modernen Lebensvollzug auch erscheinen mögen, so situativ komfortabel sie den Menschen vorkommen, indizieren auch ein Vergessen der Daseinsfreude. Daseinsdank ist eine Einstellung, die durch das gepflegte und kultivierte Essen im Grunde bekräftigt wird. Das Schrumpfen des Essens als einem sozialen, geselligen Akt und dessen Ersetzen durch einsamen Verzehr scheint eine typisch moderne Erscheinung. Der Tisch in der Moderne erscheint verlassen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die das Essen begleitenden attrahierenden und distrahierenden sozialen Wirkungskräfte verschwinden. Die Zukunft des Tisches bleibt spannend. Dieser Aufsatz erschien erstmals im journal culinaire, Nr. 16 / 2013, „Bitte zu Tisch“. Prof. Dr. Tilman Allert hat eine Professur für Soziologie und Sozialpsychologie an der GoetheUniversität Frankfurt. Im Juli 2015 erscheint seine Publikation „Latte Macchiato – Soziologie der kleinen Dinge“ im S. Fischer Verlag.

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Grillfest im Regen Sommer 2011 In den letzten Jahrzehnten ist das Gartengrillen durch immer raffiniertere Grillgeräte weiter perfektioniert worden. In der sozialen Atmosphäre der Grillparty lässt es sich leichter „aussteigen“ als dies bei einer Tischgemeinschaft möglich wäre. Doch auch das angeblich Zwanglose bleibt ein Arrangement sozialer Zusammenkunft.


Porträts: Oliver Möst, Florian von Ploetz Text und Fotos: Barbara Hoffmann

Luna

Floran

ZU GAST BEI LUNA & ALEJANDRO Bianca

Husam

Alejandro

Claudia


Still aus der Filmdokumentation von Ursula Scheid / Museum Neukölln

BERLIN-NEUKÖLLN, EMSER STRASSE, 22. NOVEMBER 2014

Normalerweise bereitet sich die 21-jährige Luna an dieser Arbeitsplatte auf zwei Böcken auf ihre Aufnahmeprüfung an der Universität der Künste in Berlin vor. Am liebsten würde sie Bühnenbild studieren. Doch wenn sie und ihr zwei Jahre älterer Freund Alejandro Gäste zum Essen einladen, wird der Tisch in sein Zimmer gestellt und als Büffet umgestaltet. So auch am 22. November 2014.

Die beiden haben vier Freunde eingeladen, die sich untereinander nicht kennen und nun bei diesem Essen zum ersten Mal zusammenkommen. Zu ihnen gehört Lunas Freundin Claudia, die aus ihrer beider Heimat Menorca kommt, wo ihre Familien eng miteinander befreundet sind. Der aus Kuba stammende Alejandro hat zwei Freunde eingeladen, die er vom Zweiten Bildungsweg her kennt, wo er sein Abitur nachmacht, denn sein kubanischer Abschluss wird hier nicht anerkannt: Bianca mit einem deutsch-tschechischen Hintergrund, Floran ist Deutsch-Afrikaner aus Lichtenberg. Luna hat außerdem ihren Freund Husam eingeladen, dessen Familie aus dem Sudan stammt. Er ist im Irak geboren und in Bahrain aufgewachsen. Zurzeit legt er in Leipzig sein Abitur ab, um später Medizin zu studieren, und kommt extra zu diesem Essen mit einer Mitfahrgelegenheit angereist. „Wir beide sind diejenigen, die alle zusammenbringen und die sich dann hinterher kennen werden“, freut sich Alejandro. „Wir alle sind irgendwie Wanderer auf einem Weg. Als Migrant lebe ich hier ohne meine Familie und muss mir soziale Kontakte erst aufbauen. Wenn wir bei diesem Essen aufeinandertreffen, dann sage ich mir, o. k., das ist jetzt die Familie, die ich für mich gewählt habe.“ So hat er nicht länger das Gefühl, allein zu sein, denn er ist mit Menschen zusammen, denen er in verschiedenen Situationen seines Lebens begegnet ist und mit denen er die Freundschaft aufrechterhalten möchte. „Für mich ist es eine große Freude, wenn meine Gäste sagen: Wow, schmeckt das gut! Bei Alejandro, bei dem kannst du richtig gut essen und gut trinken.“

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Für Luna sind es vor allem die Gespräche, die freundschaftliche Bindungen festigen: „Wenn du mit jemanden gemeinsam isst, dann musst du auch reden. Ich glaube, dass dadurch die Beziehung zwischen zwei Personen eine ganz andere wird. Ich kenne Leute, die ich sehr nett finde, aber für mich werden es erst wirkliche Freunde, wenn wir zusammen gegessen und dabei miteinander geredet haben. Das findet zum Beispiel nicht statt, wenn man gemeinsam ins Kino oder zum Tanzen geht. Das findet nur beim Essen statt.“ Luna und Alejandro haben in ihrem Zimmer in der Wohngemeinschaft nur wenige Sitzgelegenheiten, die sie ihren Gästen anbieten können. Daher stellen sie ein Menü zusammen, das man gut von Tellern auf dem Schoß essen kann: Fleisch- und Gemüsespieße sowie sechs verschiedene Arten Kroketten, dazu zwei frische Salate. Als Nachtisch soll es Flan geben und Alejandro wird Mojitos mixen. Bei ihren Überlegungen, was sie kochen sollen, nehmen die beiden Rücksicht auf ihre Freundin Bianca, die Vegetarierin ist und für die vor allem die Gemüsespieße gedacht sind. Da Husam Muslim ist, gibt es statt Schweinefleisch nur Rindfleisch und auch alkoholfreie Getränke. Das Kochen hat Luna auf Menorca und Alejandro auf Kuba gelernt. Luna hat ihrer Mutter täglich in der Küche zugesehen und mit elf Jahren begonnen, ab und zu auch selbst etwas zu kochen. Besonders geliebt hat sie es, wenn die befreundeten Familien im Herbst zum Pilze sammeln in die Natur ausschwärmten und später zusammen gekocht und ein Fest gefeiert haben. Daran erinnert sie sich sehr gern.


Croquetas (Kroketten) Basis für die nachfolgenden KrokettenVariationen ist eine Béchamelsoße.

Grundrezept Béchamelsoße (für 4 Portionen) 75 g Mehl 75 g Butter 5 Körner schwarzen Pfeffer ¾ l Milch Salz Pfeffer aus der Mühle Muskat Für die Béchamelsoße das Mehl in einem Topf in der geschmolzenen Butter bei milder Hitze andünsten. Die Milch nach und nach hineinrühren und unter weiterem Rühren bei kleinster Hitze etwa ½ Stunde köcheln lassen. Mit Salz und Muskat abschmecken.

Blick in die WG-Küche von Luna und Alejandro: griffbereite Gewürze auf dem Regal.

Croquetas de Bacalou (Kabeljau) Kleingehackten Kabeljau, Petersilie und Knoblauch in die Béchamelsoße einrühren. Mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss abschmecken. Croquetas de Jamón (Schinken) Kleingehackten Schinken (am besten spanischen Schinken) in die Béchamelsoße einrühren. Mit Pfeffer und Muskatnuss abschmecken. Croquetas de Carne picata con setas (Hackfleisch und Pilze) Hackfleisch und kleingehackte Champignons in die Béchamelsoße einrühren. Mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss abschmecken. Croquetas de Espinaca (Spinat) Kleingehackten Spinat, Rosinen, Pinienkerne und Kokosmilch in die Béchamelsoße einrühren. Mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss abschmecken. Croquetas de Roquefort (Roquefortkäse) Kleingehackten Roquefortkäse in die Béchamelsoße einrühren. Mit Salz und Muskatnuss abschmecken.

Alejandro ist in große Fußstapfen getreten, denn sein Vater ist gelernter Koch auf Kuba: „Mein Vater hat als Chefkoch gearbeitet und ist heute wohl einer der wichtigsten Hotelmanager auf Kuba. Als ich noch klein war, hat er sich von meiner Mutter getrennt, er hat uns aber oft zum Essen eingeladen und für uns sehr leckere Gerichte gekocht, auch sehr exotische Sachen.“ Später, wenn er ein paar Tage bei seinem Vater verbrachte, durfte er ihm beim Kochen zusehen, was ihm großen Spaß gemacht hat. Selbst kochen durfte er jedoch nicht, weil er noch zu klein war und die Messer so scharf waren. „Ich weiß noch, einmal hat mein Vater mit ein paar Freunden auf dem Land ein typisch kubanisches Essen gekocht mit einem ganzen gegrillten Schwein, und ganz vielen Bananenchips, die auf einem riesigen Palmenblatt angerichtet waren. Und ich kleiner Knirps habe knapp über den Tisch in ein Meer von Bananenchips geguckt und mit meinen Händen voll hineingegriffen – so viele Bananenchips! Das werde ich nie vergessen.“ Auch bei seiner Mutter durfte Alejandro beim Kochen nur zugucken, denn es wäre ein zu großer Luxus gewesen, wenn er das

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teure Essen und den wenigen Reis, den sie hatten, verdorben hätte. „Mit zwölf Jahren habe ich mein erstes Rührei gemacht. Dann habe ich versucht, einen Kuchen aus Tomaten, Mehl und Zucker zu backen – er hat wirklich scheußlich geschmeckt, denn ich habe ihn mit Pfeffer und scharfen Sachen gewürzt. Ich hatte ja keine Ahnung, wie man einen Kuchen backt. Eigentlich habe ich erst mit 18 Jahren, als ich nach Berlin kam, richtig mit Kochen angefangen. Ich wohnte mit meiner damaligen Freundin in einer WG und habe mit Spaghetti oder Reisgerichten begonnen. Aber das hat allen sehr gut geschmeckt und ich dachte, wow, ich kann kochen! Ich habe immer nach Gefühl gekocht, nie nach Rezept, und hatte dabei die Bilder von meinem Vater im Kopf, wie er die Zutaten geschnitten und die Gerichte hergestellt hat.“ Das kann auch Luna bestätigen, denn die beiden kochen viel zusammen. Da die kubanische Kultur von spanischen und afrikanischen Einflüssen geprägt ist und Luna mit ihrer Mutter eine Zeitlang im Senegal gelebt hat, verschmelzen in Lunas und Alejandros Küche diese Kulturen miteinander. „Wir beide kochen ähnliche Sachen, gehen


dabei aber unterschiedlich vor“, erzählt Luna. „Wir haben jeweils andere Gewürze“, ergänzt Alejandro. „Eigentlich müssen wir jeden Tag warm essen. Inzwischen sind wir jedoch ein bisschen eingedeutscht und essen oft nur ein kaltes Abendbrot oder essen unterwegs. Aber wenn wir Zeit haben, kochen wir immer warm. Wenn wir zusammen kochen, dann gibt es manchmal das Problem, dass wir unterschiedliche Vorstellungen haben. Wir müssen dann Kompromisse finden. Ich glaube, dass das für unsere Beziehung gut ist, wenn wir uns auch beim Kochen einigen können.“

ner Jugendfreizeitheim und absolviert daneben eine Ausbildung zum Masseur. Luna hat die Einkaufszeiten mit ihren Jobs als Babysitterin abgestimmt. Einen Tag vor dem Essen besorgt sie die meisten frischen Zutaten in einem Bioladen in der Karl-Marx-Straße, auch wenn sie hier mehr kosten als in anderen Geschäften. Fleisch und Getränke jedoch wird sie mit Alejandro am nächsten Tag in einem Supermarkt in der Hermannstraße einkaufen. Zu ihrer Enttäuschung findet sie in Neukölln keine frischen Sardellen und muss den Menüpunkt Boquerones en vinage – Sardellenfilets mit Knoblauch, Petersilie, Salz und Essig – streichen, den sie sich noch zusätzlich für ihre Gäste ausgedacht hat. Eine Herausforderung für dieses Essen ist die Herstellung der Kroketten, denn die ist sehr zeitaufwendig. Bereits in der Nacht bereitet Luna mit Alejandros Unterstützung die sechs verschiedenen Béchamelsoßen vor, aus denen sie die Kroketten formen wird. Damit die Masse die richtige Konsistenz erhält, muss sie einige Stunden lang ruhen (vgl. die Rezepte auf Seite S. 14 f.). Während

„Wir beide kochen ähnliche Sachen, gehen dabei aber unterschiedlich vor.“ Für dieses Essen ist die Arbeitsteilung jedoch klar vorgegeben: Luna ist zuständig für die Kroketten und den Salat, Alejandro für die Spieße, den Flan und das Mixen der Mojitos. Den größten Teil der Einkäufe muss Luna jedoch alleine stemmen, denn Alejandro arbeitet als Sportcoach in einem Neuköll-

Croquetas de Atún (Thunfisch) Kleingehackten Thunfisch, rote Paprika und Zwiebeln in die Béchamelsoße einrühren. Mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss abschmecken.

Aus den fest gewordenen Béchamelsoßen werden mit zwei Teelöffeln Bällchen geformt, anschließend in Mehl, dann in aufgeschlagenem Eigelb und zum Schluss in Semmelmehl rundum gewendet. Dann in Olivenöl frittieren, bis die Kroketten gold-gelb sind. Sie können warm, aber auch kalt serviert werden.

Luna formt die Kroketten, deren Teig sie bereits am Vortag vorbereitet hat.

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SALATE

Kopfsalat mit Sherry-Tomaten, Oliven, Kapern, Ziegenkäse, Basilikum

Frillicesalat mit Sherry-Tomaten, Avocado, grüner Gurke, Mais, Basilikum, gerösteten Sonnenblumenkernen. Für die Vinaigrette werden Zitronensaft, Balsamico mit Olivenöl vermischt und mit Salz und Pfeffer abgeschmeckt.

Luna bekommt Unterstützung von ihrer Freundin Claudia.

die Béchamelsoßen in verschiedenen Schüsseln andicken, kaufen Luna und Alejandro am nächsten Morgen das Fleisch für die Spieße und Getränke in einem Supermarkt. Wieder zu Hause, schafft es Alejandro unter Zeitdruck, die Fleisch- und Gemüsespieße vorzubereiten, sodass sie am Abend nur noch gebraten werden müssen. Luna hat sich für die Krokettenproduktion Unterstützung geholt: Ihre Freundin Claudia aus Menorca beherrscht ebenfalls die Kunst, Kroketten zu formen und zu frittieren. Die Erleichterung ist Luna anzumerken, als es jetzt zu zweit viel schneller vorangeht. Es bleibt sogar noch Zeit, einen Tee zu kochen und sich auf Spanisch Neuigkeiten zu erzählen. Doch schnell tauschen sich die beiden wieder auf Deutsch aus, denn Luna möchte sehr bald diese Sprache beherrschen und weiß, dass sie noch viel üben muss. Ein paar der heutigen Gäste haben sie noch nie Deutsch sprechen hören und sie fragt sich, wie ihr Wortschatz und ihre Aussprache bei ihnen ankommen wird. Aus Alejandros Zimmer erklingt die Musik des senegalesischen Musikers Toure Kunda durch den langen Flur bis in die Küche. Überhaupt spielt Musik in Alejandros und Lunas Leben eine wichtige Rolle: „Ich bin ja Kubaner“, erklärt Alejandro, „und das Erste, was ein Kubaner macht, wenn er nach Haus kommt: Musik einschalten. So wurde ich erzogen. Ich höre eigentlich ständig Musik – beim Duschen, beim Kochen, immerzu.“ Und so scheint es auch Luna zu gehen,

denn ab und zu macht sie zu Kundas Klängen ein paar Tanzschritte in der Küche. Als auch die Freundin Bianca früher kommt, um mit anzupacken, sind die Kroketten fertig vorbereitet und auch die beiden Salate sind in den Schüsseln angerichtet und warten nur noch auf die Vinaigrette (vgl. das Rezept links). Claudia und Bianca, die sich heute zum ersten Mal begegnen, sind schnell in ein Gespräch vertieft, während Claudia die Kroketten nach und nach in heißem Olivenöl frittiert. Kommst du aus Berlin? Wo wohnst du? Was machst du? – das sind die ersten Fragen, die sich die beiden Frauen gegenseitig stellen. Beide wohnen in Kreuzberg, Bianca absolviert gerade ihr erstes Aus-

„… das Erste, was ein Kubaner macht, wenn er nach Haus kommt: Musik einschalten.“

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bildungsjahr zur Erzieherin, Claudia studiert Audiovisuelle Kommunikation im Fernstudium an einer Universität in Barcelona. Bei ihr haben sich Luna und Alejandro vor zwei Jahren bei einem Essen kennengelernt. Seitdem sind sie ein Paar. Kurz vor 21 Uhr stürmt Alejandro wie ein Wirbelwind in die Küche und begrüßt mit großem Hallo die drei Frauen. Heftig gestikulierend berichtet er Bianca, die er aus seiner Abiturklasse des Zweiten Bildungswegs kennt, von seinem anstrengenden Tag im Ausbildungskurs zum Masseur. Doch lange Zeit bleibt ihnen nicht für ein Gespräch, denn nun muss sich Alejandro schnell daran machen, den Flan vorzubereiten (vgl. Rezept


auf S. 18). Während er die Eier mit einem Elektrorührer verquirlt, steht auch schon der nächste Gast, sein Kumpel Floran, in der Küchentür, wenig später gefolgt von Husam, der es rechtzeitig aus Leipzig hierher geschafft hat. Nun wird es eng in der kleinen Küche, sodass Bianca und Floran es vorziehen, den Köchen aus dem Weg zu gehen und sich in eines der leeren WG-Zimmer setzen und sich unterhalten. Derweil frittiert Claudia weitere Kroketten, Alejandro füllt die Flan-Masse in eine Backform, Husam wird für den Abwasch eingeteilt und Luna richtet die fertigen Speisen auf dem Tisch in Alejandros Zimmer an. Endlich ist alles fertig. Es ist 21.30 Uhr. Gastgeber und Gäste stellen sich um den Tisch und bewundern das Werk. Bevor sie sich die Teller füllen, erklärt Luna, woraus die Kroketten gemacht sind. Da von außen nicht ersichtlich ist, was sich drinnen befindet, hat sie auf jeden Kroketten-Teller einen kleinen Zettel gelegt, auf dem der Inhalt steht: Kabeljau, Thunfisch, Schinken, Hackfleisch, Spinat, Roquefortkäse. Kurze Zeit später sitzen alle verteilt auf dem Bett, zwei Stühlen und dem kleinen Sofa und genießen das Essen. Derweil macht sich Alejandro daran, auf einer kleinen Anrichte die ersten Mojitos zu mixen und zu verteilen. Im Hintergrund läuft leise kubanische Musik. Alle, die hier heute Abend zusammen essen, sind Anfang Zwanzig und befinden sich

in einer Ausbildung. Claudia, Bianca und Husam sprechen über ihre Studienbedingungen, die sehr unterschiedlich sind, und die Wohnungsmieten, die sie aufbringen müssen. Auf der anderen Seite des Tisches erklärt Luna Floran, wie man Kroketten herstellt und erzählt ihm anschließend vom Leben in Senegal, wo sie als Kind eine Zeit lang mit ihrer Mutter gelebt hat und auch zur Schule gegangen ist. Voller Stolz zeigt sie ihm das Fotoalbum, in dem sie mit ihren Klassenkameradinnen zu sehen ist. Als Claudia versucht, sich einen Mojito zu mixen, greift Alejandro ein, denn das ist sein Metier. Er stellt alle Utensilien zum Mixen eines Mojito auf den Tisch und zeigt allen, wie es geht. Cocktails mixt er für sein Leben gern. Rund um den Tisch sind die Sprachen Spanisch, Katalanisch, Englisch, Französisch, Tschechisch und Arabisch vertreten. Und so entspinnt sich eine Diskussion über sprachliche Besonderheiten, über die sich alle amüsieren. Die deutsche Sprache mit ihren vielen Fällen und schwierigen Deklinationen stellt eine Herausforderung dar. Husam fragt verwundert in die Runde, warum es im Deutschen nur so wenige schlechte Worte gebe, er kennt kaum welche. Als angehende Erzieherin verweigert Bianca lachend, ihm welche beizubringen. Dagegen witzelt Alejandro, dass es auf Kuba überhaupt nur schlechte Wörter gebe und Floran bekennt, dass er

Als Alejandro eintrifft, macht er sich sofort an die Vorbereitung des Flan.

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SPIESSE

Fleischspieße Die Fleischspieße bestehen aus Rindfleisch, Champignons, roten, grünen und gelben Paprikaschoten, Sherry-Tomaten, gewürzt mit Steakgewürz.

Gemüsespieße Die Gemüsespieße bestehen aus Champignons, roten, grünen und gelben Paprikaschoten, Sherry-Tomaten und Zucchini, gewürzt mit Steakgewürz. Die Spieße werden in Olivenöl in einer gusseisernen Pfanne mit gerilltem Boden gebraten.


Flan Casero (Flan) 1 Büchse gezuckerte kondensierte Milch (Dulce de leche) 1 Liter Milch 8 Eier 100 g Zucker Ein paar Tropfen Vanilleessenz (nach Geschmack) Zuerst werden die Eier mit einem Stabmixer geschlagen und mit ein paar Tropfen Vanilleessenz versehen. Anschließend wird die Milch hinzugefügt und das Ganze gut verrührt. Den Zucker in einer Pfanne karamellisieren und in eine Form gießen, sodass der Boden gleichmäßig mit dem Karamell bedeckt ist. Danach wird die Mischung in die Form gegossen und diese in einem Topf mit kochendem Wasser auf die Herdplatte gestellt. Diese Technik wird Marienbad (baño de María), bei uns Wasserbad genannt. Die Form wird 50 bis 55 Min. erhitzt, bis der Flan gestockt ist. Ob der Flan fertig ist, kann mittels eines Holzstäbchens überprüft werden. Nach dem Abkühlen wird der Flan aus der Form herausgelöst und wahlweise mit einem Löffel Dulce de leche, Schlagsahne oder Karamellfäden obendrauf serviert.

Claudia und Floran treffen sich bei Luna und Alejandro zum ersten Mal.

sehr oft in den Berliner Dialekt verfällt. Husam gesteht, dass der größte Zungenbrecher für ihn das Wort „Streichholzschächtelchen“ ist und Bianco erläutert ihm daraufhin engagiert die Verniedlichungsformen in der deutschen Sprache. Ein verbindendes Thema sind Filme. Von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ über „Interstellar“ mischen sich alle in das Gespräch ein und versuchen, den inhaltlichen Sinn der Filme zu deuten. Vor allem Husam ist in der Diskussion über Science-Fiction-Filme voll und ganz in seinem Element. Plötzlich springt Alejandro auf: „Der Flan!“, und stürmt in die Küche. Den hat er völlig vergessen. Mit dem leicht verbrannten Nachtisch kehrt er tief enttäuscht zurück und stellt ihn zum Abkühlen auf den Balkon. Den will er nicht servieren, so verhunzt wie der ist. Doch Floran lässt das überhaupt nicht gelten. Immer wieder insistiert er: „Wo ist der Kuchen? – Wo ist der Kuchen?“, bis er ihn schließlich selbst vom Balkon holt und auf den Tisch stellt. Mag der Flan auch nicht das perfekte Aussehen haben, er schmeckt allen vorzüglich und ist schnell aufgegessen. Jetzt sind alle wirklich sehr, sehr satt. Wie aus heiterem Himmel platzt Floran plötzlich heraus: „Ich will heller werden. Alle sagen, ich bin sehr dunkel. Das verletzt mich schon“, womit er lauten Protest von allen Seiten erntet. „Ich habe nichts dagegen, ein Schwarzer zu sein“, fährt er fort. „Aber ein bisschen heller.“ Obwohl alle darüber lachen müssen, kann er sich hier aufgehoben fühlen, denn die drei Freunde in der Runde sind schwarz, die drei Freundinnen weiß. Schnell ist man nun bei Vorurteilen und Schimpf-

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worten wie „Schwarzer“ oder „Nigger“. Für Alejandro ist es jedoch sehr peinlich, wenn jemand versucht, den Begriff „Schwarzer“ zu umschiffen und albert mit Begriffen wie „Schokobraun“ herum. Doch in bestimmten Regionen der Welt wird auch der Begriff „Weißer“ abschätzig benutzt, gibt Floran zu bedenken. Am meisten regt sich Alejandro auf, wenn er das Wort „Zigeuner“ als Schimpfwort von seinen Jugendlichen hört, die er im Jugendfreizeitheim betreut. Das kann er gar nicht leiden, denn für ihn bezeichnet der Begriff eher eine freie und ungebundene Lebensweise und rassistische Sprüche lässt er bei seinen Kids nicht zu. Leise ertönt aus dem Laptop Ray Charles „Georgia“ und beruhigt die Stimmung. Alle kennen den Song und können ihn mitsingen. Florans aktuelles Lieblingslied ist „Haus am See“ von Peter Fox, was bei Bianca auf große Zustimmung stößt, denn sie ist ein absoluter Fan des Sängers. Auch Tanzen ist ein Thema. Bianca karikiert mit körperlichem Einsatz zur Freude aller den Techno-Tanzstil, den man ihrer Meinung nach vergessen kann. „Luna kann sehr gut tanzen – für eine Weiße“, wirft Floran in die Runde. „Na ja, Schwarze sind sowieso die größten Rassisten“, meint er und löst damit großes Gelächter aus. Und schon diskutieren alle über den Kolonialismus, über deren grausame Regime sich Floran heftig aufregt. Auch Luna ist eine engagierte Diskutantin und spricht davon, dass Sklaven nicht nur nach Amerika verschleppt wurden, sondern dass auch Araber Sklaven hatten, von denen 90 Prozent aufgrund der Lebens- und Arbeitsbedingungen ums Leben kamen. An dieser Stelle schafft


sie es zum ersten Mal an diesem Abend nicht, Deutsch zu sprechen. Das, was sie zutiefst berührt, erzählt sie nun auf Englisch. Das dunkle Kapitel der Sklaverei führt zu einer Diskussion um Salafisten und den sogenannten Islamischen Staat, in dessen eroberten Gebieten unvorstellbare Grausamkeiten an Andersdenkenden verübt werden. Floran ist darüber empört und bringt sein völliges Unverständnis gegenüber den Extremisten zum Ausdruck. Für Bianca ist klar, dass diese Entwicklung dem Islam in der Öffentlichkeit sehr schadet. Immer noch singt Ray Charles seine einschmeichelnden Lieder. Von einigen wird leise mitgesungen, sodass Bianca auf die Idee kommt, sie alle sollten in eine Karaoke-Bar

gehen. Keine schlechte Idee, doch Alejandro winkt ab. Er und Luna müssten morgen arbeiten gehen. So bleiben die Freunde noch eine Zeitlang beisammen, bis es Zeit ist, sich zu verabschieden. Das erste Kennenlernen scheint gelungen. Sobald sie eine eigene Wohnung haben, werden sie oft Freunde zum Essen einladen und mit lauter kubanischer und afrikanischer Musik das Leben feiern, so planen es Luna und Alejandro. Sie träumen auch von einer Küche, in der Platz für einen Tisch ist, und von schönen Töpfen und Pfannen, die sie sich dann anschaffen werden.

Mojito Barbara Hoffmann ist freischaffende Autorin und Kuratorin.

Mojito wird aus Limetten- oder Zitronensaft, Rohzucker, Minze und Havanna-Rum gemixt und mit viel zerkleinertem Eis serviert. Am besten trinkt er sich aus einem hohen Glas mit Strohhalmen.

Das Essen nähert sich dem Ende: Husam, Alejandro, Bianca und Luna (v. links n. rechts) lassen den Abend ausklingen.

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IMPRESSUM Udo Gößwald (Hg.) Diese Publikation erscheint zur Ausstellung „Die sieben Tische – Gastkultur in Neukölln“ 14. Mai bis 30. Dezember 2015 Museum Neukölln Alt-Britz 81 12359 Berlin Im Auftrag des Bezirksamtes Neukölln von Berlin, Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur / Museum Neukölln © Museum Neukölln, Berlin 2015

Katalog Interviews und -bearbeitung: Barbara Hoffmann, Julia Dilger, Patrick Helber Lektorat und Redaktion: Barbara Hoffmann Gestaltung: Claudia Bachmann Druck: Griebsch & Rochol Druck Ausstellung Gesamtleitung: Dr. Udo Gößwald Ausstellungsleitung: Barbara Hoffmann Konzeption: Dr. Udo Gößwald, Barbara Hoffmann, Julia Dilger Ausstellungstexte: Barbara Hoffmann, Julia Dilger, Patrick Helber Wissenschaftliche Mitarbeit: Julia Dilger, Patrick Helber Ausstellungsgestaltung: eckedesign GbR Medientechnik und -design: Claudia Bachmann, Christoph Liell Sicherheitstechnik: Michael Bister Ausstellungsbau: Rodde & Friedrichsmeyer Ausstellungseinrichtung: Bruno Braun, Dieter Schultz, Annette Muff Sekretariat: Andreas Ernst Öffentlichkeitsarbeit: Jennifer Rasch Fotografien Porträtfotografien: Oliver Möst, Florian von Ploetz Objektfotografien: Friedhelm Hoffmann Filme Konzeption und Regie: Ursula Scheid Kamera und Bildgestaltung: Philip Vogt Tonmischung: Konstantin Kirilow

Geschichte zum Anfassen Der Geschichtsspeicher des Museums Neukölln Der Geschichtsspeicher des Museums vereint erstmals Archiv- und Depotbereich an einem Standort und ermöglicht es den Besuchern, selbst Informationen zur Geschichte, Kultur und Alltag Neuköllns zu recherchieren. Hierüber wird ein Dialog zwischen Besucher und Museum ermöglicht, der es beiden Seiten erlaubt, von- und miteinander zu lernen. Unsere Mitarbeiter freuen sich über Ihren Besuch und stehen Ihnen mit fachlicher Kompetenz zur Seite. Vor Ihrem Besuch sollten Sie jedoch einen Termin vereinbaren.

Anmeldung: Telefonisch unter 030 627 277 725 oder per E-Mail an geschichtsspeicher@museum-neukoelln.de

ISBN 978-3-944141-15-2

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