Die Magie des Lesens

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MU-Die DIE SEUM MAGIE Magie NEU-des DES Lesens KÖLLN LESENS

Das Buch ist demnach auch ein Spiegel, in dem man sich immer wiederfindet und letztlich nur sich selbst findet. Aber dieses Selbst, das einen bei der Lektüre leitet und dem man dabei begegnet, ist jedes Mal ein anderes. Das ist auch der Grund, warum man (gute) Bücher mehrmals lesen kann. Aleida Assmann Welche Rolle spielen Bücher für uns? Sie sind Lebensbegleiter, Unterhaltung, Inspiration, Ratgeber und Träger von Erinnerungen und Wissen. 24 Neuköllner*innen erzählen über ihre Lieblings­ bücher und bringen uns dabei die Magie des Lesens näher. Neben der persönlichen Dimension erschließt der Begleitband zur Ausstellung im Museum Neukölln das Lesen und das Buch auch aus gesellschaftlicher, historischer und bildungspolitischer Perspektive. Außerdem thematisiert er die Lesekultur im heutigen Neukölln, anhand von Kiezbuchhandlungen, ­Bibliotheken und sprachlicher Vielfalt.

Die Magie des Lesens

ISBN 978-3-944141-19-0 © Museum Neukölln, Berlin 2016

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Im Auftrag des Bezirksamtes Neukölln von Berlin, Abt. Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur

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MUSEUM NEUKÖLLN

DIE MAGIE DES LESENS

Wenn Marilyn liest ............................................... 18 Die Magie des Buches ........................................... 28

Bücher und Bilder

Lesen als Erfahrung

Das Buch im Bild. Ein Streifzug durch Berliner Museen ......................................... 262 „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ Über unangepasste Außenseiter in der neueren Kinder- und Jugendliteratur ............................... 284 Ist das Buch ein Objekt? Bücher in der Sammlung des Museums Neukölln ........... 298 Autor*innenverzeichnis ....................................... 308 Register und Impressum ...................................... 310

ISBN 978-3-944141-19-0 www.museum-neukoelln.de

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DIE MAGIE DES LESENS

Von der Druckerei ins heimische Regal. Die Wege zum Buch nach 1945.......................... 230

Die Lieblingsbücher der Neuköllner*innen ..... 34 Von der Ekstase des Lesens in den Ozean der Texte .................................................... 163 Lesen lernen

Lernten die Rixdorfer Kinder das Lesen? ........ 174 Die Macht der Poesie. Lesestrategien in der multikulturellen Gesellschaft ...................... 187 Ist Lesen Magie oder Maggi? .............................. 194 Leseangebote und -verbote

Sozialisten, Anarchisten, Höllenkisten. „Gefährliche Lektüren“ Rixdorfer Arbeiter im Kaiserreich ........................................................ 200 Fahrenheit 451 – Wenn Bücher brennen ......... 214

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MUSEUM NEUKÖLLN

DIE MAGIE DES LESENS

Wenn Marilyn liest ............................................... 18 Die Magie des Buches ........................................... 28

Bücher und Bilder

Lesen als Erfahrung

Das Buch im Bild. Ein Streifzug durch Berliner Museen ......................................... 262 „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ Über unangepasste Außenseiter in der neueren Kinder- und Jugendliteratur ............................... 284 Ist das Buch ein Objekt? Bücher in der Sammlung des Museums Neukölln ........... 298 Autor*innenverzeichnis ....................................... 308 Register und Impressum ...................................... 310

ISBN 978-3-944141-19-0 www.museum-neukoelln.de

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DIE MAGIE DES LESENS

Von der Druckerei ins heimische Regal. Die Wege zum Buch nach 1945.......................... 230

Die Lieblingsbücher der Neuköllner*innen ..... 34 Von der Ekstase des Lesens in den Ozean der Texte .................................................... 163 Lesen lernen

Lernten die Rixdorfer Kinder das Lesen? ........ 174 Die Macht der Poesie. Lesestrategien in der multikulturellen Gesellschaft ...................... 187 Ist Lesen Magie oder Maggi? .............................. 194 Leseangebote und -verbote

Sozialisten, Anarchisten, Höllenkisten. „Gefährliche Lektüren“ Rixdorfer Arbeiter im Kaiserreich ........................................................ 200 Fahrenheit 451 – Wenn Bücher brennen ......... 214

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Im Auftrag des Bezirksamtes NeukĂślln von Berlin, Abt. Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt fĂźr Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur

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Die Magie des Lesens Udo GĂśĂ&#x;wald (Hg.)

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Wenn Marilyn liest Von Udo Gößwald 18 Die Magie des Buches Von Aleida Assmann 28 Lesen als Erfahrung Die Lieblingsbücher der Neuköllner*innen Essays von Julia Dilger, Udo Gößwald, Silvia Haslauer, Patrick ­Helber, Ursula Holsten, Rina Soloveitchik, Esther Spicker, Sara Sponholz und Karolin Steinke 34

Von der Ekstase des Lesens in den Ozean der Texte Von Florian Rötzer 163 Lesen lernen Lernten die Rixdorfer Kinder das Lesen? Von Christa Jančik 174 Die Macht der Poesie. Lesestrategien in der multikulturellen Gesellschaft Von Marion Ziesmer 187 Ist Lesen Magie oder Maggi? Von Urda Thiessen 194

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Leseangebote und -verbote Sozialisten, Anarchisten, Höllenkisten. „Gefährliche Lektüren“ Rixdorfer Arbeiter im Kaiserreich Von Henning Holsten 200 Fahrenheit 451 – Wenn Bücher brennen Von Patrick Helber 214 Von der Druckerei ins heimische Regal. Die Wege zum Buch nach 1945 Von Jennifer Rasch 230

Bücher und Bilder Das Buch im Bild. Ein Streifzug durch Berliner Museen Von Lutz Stöppler 262 „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ Über unangepasste ­Außenseiter in der neueren Kinder- und Jugendliteratur Von Mareen Maaß 284 Ist das Buch ein Objekt? Bücher in der S­ ammlung des ­Museums Neukölln Von Julia Dilger 298 Autor*innenverzeichnis, Register und Impressum 308

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Wenn Marilyn liest Von Udo Gößwald Das Buch ist das Symbol des Wissens. Bei gebildeten Menschen setzen wir eine gewisse Belesenheit voraus. Eine Fotografie von Marilyn Monroe mit einem Buch ist eine Inszenierung, die mit dem Klischee einer Schauspielerin spielt, die viele für ungebildet halten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Marilyn Monroe war eine Bücherliebhaberin, ­nutzte jede Gelegenheit, in einen Buchladen zu gehen. Sie verkehrte in Kreisen von Schrift­ steller*innen und Verleger*innen, bereitete sich gewissenhaft auf jede Rolle vor. Als Frau gebildet und gleichzeitig attraktiv zu sein, das sind ­Attribute, die unsere Gesellschaft in der Regel immer noch für schlecht vereinbar hält. Doch auch diese D ­ iskriminierung wird nicht mehr lange Bestand haben. Dazu kann Lesen beitragen, wenn ein Text – wie auch dieser – versucht, ü­ berkommene Bilder und Vorurteile zur Sprache zu bringen, um eine neue Sicht auf die Dinge zu ermöglichen. Das Lesen ist ein bildungspoliMarilyn Monroe liest in Ulysses von James Joyce tisch sehr hoch angesehenes KulturFoto: Eve Arnold, 1955. Magnum Photos / gut, aber die Impulse, die von der Agentur Focus 19

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Lektüre eines bestimmten Buches ausgehen und die individuellen Erfahrungen, die mit Literatur verbunden sind, gehören immer noch eher in das Reich des Privaten. Literatur und Lektüre ­werden öffentlich nur über Literaturkritik und Bestsellerlisten wahrgenommen. Es regiert nach wie vor das Gesetz des Marktes, der unentwegt das jeweils neueste Buch in den Vordergrund schiebt. Lesen ist als gesellschaftliche Handlung durch seine Zweckbestimmung legitimiert: Es dient dem Informationsbedürfnis, der politischen Bildung, es soll die Welt zum Besseren verändern und gewährt Momente der Unterhaltung. Die unmittelbare Erfahrung von Literatur als Reflexion und Begegnung mit dem eigenen Selbst spielt sich jedoch weiterhin nur „im stillen Kämmerlein“ ab. In seinem Aufsatz „Über die Kunst, nicht zu lesen“ bezieht sich der Autor und Lyriker Günter Kunert auf Artur Schopenhauer, der ausführt, „daß zu Papier gebrachte Gedanken überhaupt nichts weiter sind, als die Spur eines Fußgängers im Sande: man sieht wohl den Weg, welchen er genommen hat; aber um zu wissen, was er auf dem Weg gesehn, muß man seine eigenen Augen ­gebrauchen.“1 Für Kunert kommt es nicht auf das 20

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Lesequantum an oder ob man den literarischen Moden folgend dieses und jenes Buch zur Hand genommen hat. Vielmehr ist ihm wichtig, ob das Buch dazu inspiriert, der Konformität zu ­widersprechen und durch die Lektüre den eigenen Gedanken zur Reife zu verhelfen.2 Mit dem Projekt „Die Magie des Lesens“ rekurriert das Museum Neukölln auf die Leseerfahrungen von Neuköllner*innen und präsentiert Bücher, die für sie eine besondere ­Bedeutung haben. Die Bücher verkörpern oft eine spezifische persönliche Erfahrung und sind als physischer Beweis aufbewahrt worden, um diese zu transportieren. In den ausgewählten Büchern, so wird in den Gesprächen mit insgesamt 24 Personen deutlich, ist für ihre Leser*innen ein oft schwer zu beschreibendes Substrat enthalten, das auf eine lang anhaltende Korrespondenz mit der eigenen Sichtweise auf die Welt schließen lässt. Die literarischen Zeugnisse sind zu Wegbegleitern und Zeugen ihres Lebens geworden. Der Gleichklang mit dem Geschriebenen erzeugt bei den Lesenden eine besondere Resonanzerfahrung, die sie emotional berührt. 21

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Wie beschreiben wir aber den Moment, wenn uns ein Buch auf sonderbare Weise anspricht, wenn wir mit ihm, wie Walter Benjamin schreibt, „auf einem Zauberteppich unterwegs ins Zelt des letzten Mohikaners“3 sind? Was passiert mit uns, wenn wir in Umberto Ecos Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana mit dem Ich-Erzähler, der sein Gedächtnis verloren hat, auf dem Dachboden des Elternhauses sitzen, in alten Comics blättern und in die Zeit seiner und vielleicht gleichzeitig unserer Kindheit zurückblicken? Welche Bücher oder Hefte besitzen wir, die uns ans Herz gewachsen sind? Welche Bücher nehmen wir immer wieder zur Hand, schnuppern an den Seiten, die wir schon drei, vier, fünfmal gelesen haben? Manche Bücher haben eine Schlüsselfunktion in unserem Leben. In ihnen sind geheimste Wünsche verborgen, die uns das ganze Leben begleiten. Da ist vielleicht der Charakter einer Frau, die Courage eines Jungen, eine Landschaft oder eine Kultur, mit der wir uns auf manchmal rätselhafte Weise verbunden fühlen. Bei mir war es Agba, der taubstumme marokkanische Stallbursche, der mich in seiner Liebe und Treue zu seinem Rennpferd tief beeindruckt hat. Heute steht das Buch König des Windes 22

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von Marguerite Henry aufgeschlagen in meinem Bücherregal und ist zu einer Reliquie in meinem privaten Museum geworden. In den Gesprächen mit Neuköllner*innen über ihre Lieblingsbücher kommen höchst komplexe Erfahrungsdimensionen zur Sprache. Das machen die Essays deutlich, die auf der Grundlage der Interviews für dieses Buch geschrieben wurden. Die Autor*innen versuchen, jene Aspekte hervorzuheben, die die Person und den Text verbinden. Das sind manchmal ganz unscheinbare Dinge, die den Gesprächspartner*innen gar nicht unmittelbar bewusst sind. Insofern sind die Texte über die Leseerfahrungen der Neuköllner*innen auch Interpretationen, die eine Aussage über eine bestimmte Haltung oder Lebenseinstellung treffen. In ihnen sind kulturelle Präferenzen und politische Überzeugungen verdichtet, die zum Bestandteil der Persönlichkeit geworden sind. In den Büchern reflektieren die Gesprächspartner*innen biografische Erfahrungen und lassen uns an ihrem Weg teilhaben, das Leben zu meistern. Neben dieser subjektiven Dimension erschließen die Texte in dieser Publikation das Lesen und 23

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das Buch auch in seiner kulturhistorischen Bedeutung. Sie fragen nach der unmittel­baren Wirkung des Buches, seiner spezifischen ­Magie und ­verfolgen, wie die digitale Revolution unser ­Verhältnis zu B ­ üchern und Texten neu d­ efiniert. Aus b­ ildungspolitischer Perspektive wird für den Bezirk Neukölln thematisiert, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit Kinder in angemessener Form lesen lernen und diejenigen, die nicht lesen können, eine Chance bekommen, das nachzuholen. Dass Bücher eine große gesellschaftliche Relevanz besitzen, zeigen die sozialgeschichtlichen Beiträge in diesem Band. Wie bedeutsam die Lektüre von Zeitungen und Büchern für die Politisierung der proletarischen Bevölkerung der Stadt Rixdorf um die Jahrhundertwende ist, wird anhand der ­anarchistischen Lesezirkel im Rollbergviertel ­dargestellt. Und es wird aufgezeigt, in welchem Kontext die Debatte um „Schundliteratur“ in der Weimarer Republik steht und weshalb bereits 1921 Bücher auf dem Tempelhofer Feld brennen. Mit der Eliminierung von kritischer Lektüre aus der Stadtbibliothek Neukölln beginnt 1933 der 24

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Feldzug der Nazis gegen Andersdenkende. Gezeigt wird, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die ­Stadtteilbibliotheken dazu beitragen, wieder einen ungehinderten Z ­ ugang zu Büchern zu ermöglichen und wie Buchläden bis heute eine wichtige soziale und kulturelle Rolle im Kiez übernehmen. Bücher besitzen Macht, sonst würde man sie nicht verbieten. Sie sind ein ungeheures Wissensreservoir und sie können lügen, doch „sie haben immerhin die Tugend, sich untereinander zu widersprechen, und sie lehren uns, die Informationen, die sie uns geben, kritisch zu bewerten,“ so Umberto Eco in seinem Buch Die Kunst des Bücherliebens.4 Es wird sich zeigen, ob die Magie des Lesens, wie sie in den Kunstwerken des 19. und 20. Jahrhunderts noch dargestellt wurde, im 21. Jahrhundert erhalten bleibt. Was wir jedoch aus Büchern erfahren können, ist, dass die Ulysses von James Joyce in der Marilyn Monroe im September 1955 auf dem Foto von Eve Arnold am Strand von Mount Sinai auf Long Island, New York, liest, kein bloßes Requisit der Fotografin war, sondern sich in ihrem Nachlass befand und aus ihrer über 400 Bände umfassenden Bibliothek stammt. Wer dieses Buch heute besitzt, 25

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teilt mit allen drei Künstler*innen ein Stück ihrer Unsterblichkeit.5 Für das Mitwirken an der Ausstellung und an diesem Buch danke ich allen Leihgeber*innen, Interviewpartner*innen, Autor*innen, ­Kurator*innen und Gestalter*innen. Sie haben dazu beigetragen, etwas von dem Zauber zu ­vermitteln, der das Lesen zu einer so originären Erfahrung macht.

1 Artur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Kapitel 24, § 291, zit. nach Günter Kunert: Die letzten Indianer Europas. Kommentare zum Traum, der Leben heißt. München/Wien 1991, S. 104. 2

A. a. O., S. 105/106.

3

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, IV,1. Frankfurt a. M. 1991, S. 278.

4

Umberto Eco: Die Kunst des Bücherliebens. München 2009, S. 15.

5 Für diese Informationen danke ich Harald Haefker, einem Neuköllner Sammler von Büchern über Marilyn Monroe. 26

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Die Magie des Buches Von Aleida Assmann Das Buch ist ein überaus praktischer Gegenstand. Er ist handlich und verbindet auf effektive Weise die Zwei-Dimensionalität mit der Drei-Dimensionalität. Wenn wir die Geschichte des Buches mit den Schminkpaletten in Altägypten und den Tontafeln in Mesopotamien beginnen lassen, hat das Buch für seine technische Evolution etwa 2500 Jahre gebraucht, um seine optimale Gestalt für Gebrauch und Verbreitung zu finden. Das geschah um 1500 mit der Erfindung des Buchdrucks. Seit dieser Zeit hat sich die Buchform stabilisiert und nicht mehr wesentlich verändert. Warum auch? Wenn man die Lösung eines Problems gefunden hat, muss man diese nicht mehr in Frage stellen. Das E-Book ist in diesem Sinne keine neue Mutation in der Geschichte des Buchs, sondern ein alternatives Angebot, von dem erst noch abzuwarten ist, wie und wofür es sich besonders bewährt. Das Buch ist aber nicht nur eine praktische Erfindung, man hat ihm auch immer schon magische Kräfte zugesprochen. Was hat es eigentlich mit der Magie des Buches auf sich? Dieser Frage möchte ich nachgehen und komme dabei zu vier möglichen Antworten. 1. Die Magie des Buches Ein klassisches Beispiel für den magischen Gebrauch des Buches finden wir in Shakespeares Drama Der Sturm. Es schildert die Geschichte des weisen Prospero, der aus seinem Reich vertrieben wurde und auf einer Insel Zuflucht gefunden hat. Der Grund für seine Vertreibung waren die Bücher seiner Bibliothek, in die er sich so sehr vertieft hatte, dass er darüber die Belange seiner 28

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Herrschaft völlig aus den Augen verlor. Nach seinem Sturz konnte er bei seiner Vertreibung noch einige dieser Bücher mitnehmen, die es ihm erlauben, eine Machtposition auf der Insel auszubauen und über deren Geister zu gebieten. Caliban, einer seiner Untergebenen, plant einen Anschlag auf seinen verhassten Herrn und hat es dabei vor allem auf dessen Bücher abgesehen: Denkt dran Bringt erst die Bücher in euren Besitz, denn ohne die Ist der so klug wie ich. (...) Verbrennt nur seine Bücher! Leo Löwenthal hat diese Szene in einen historischen Zusammenhang gestellt und die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 als „Calibans Erbe“ bezeichnet. Bücher sind nicht nur eine Stütze für Magier wie Prospero, sondern auch eine intellektuelle Ressource und Quelle selbstständigen Denkens. Caliban hofft, durch Bücherverbrennung seinen Gebieter von dessen Machtquelle zu trennen. Die Nationalsozialisten verbrannten Bücher, weil sie selbst um ihre Macht fürchteten. Mit dem öffentlichen Ritual stigmatisierten sie die Geisteskraft ihrer Widersacher und schlossen sie symbolisch aus ihrer Volksgemeinschaft aus. Die Bücherverbrennung ist ein magisches Ritual der Demütigung und Vernichtung; als Zensurmaßnahme ist sie jedoch nicht effizient, denn im Druckzeitalter hat sich die Überlebenschance eines Buches durch seine Vervielfältigung enorm gesteigert. 2. Die Magie der Buchstaben Im Prozess des Lesens verwandeln wir unsinnliche Buchstaben aus Druckerschwärze auf weißem Papier in sinnliche Bilder der Imagination. Daran haben wir uns, wenn wir flüssig lesen 29

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gelernt haben, längst gewöhnt. Thomas Lehr hat in einem seiner Romane diese wunderbare Erfahrung genauer beschrieben. Mit einem Seeräuberroman in der Hand erlebt ein Junge in seinem Kinderzimmer zum ersten Mal die Magie des Lesens. Den Buchstaben folgend liest er von einem Hafen, Schiffen, Wellen, Ankerketten und knarrendem Tauwerk im Wind. „Er blickte die Masten empor in das hohe Gitter der Takelage, über das schmutzige Weiß der Segel. Die weit aufgespreizten Flügel der Möwen schimmerten wie Fächer vor dem Abgrund des Himmels. Es war eine Offenbarung.“ Der Junge hebt überwältigt die Augen von der Seite, taumelt aus der Szene und prallt „atemlos gegen das Durcheinander seines Kinderzimmers“. Die Magie wirkt auch beim zweiten Versuch: er hat noch einmal das ­Gefühl, „wie durch einen Zauberschlag in ein mächtiges leuchtendes Bild einzutreten. Er las nicht mehr, er sah!“ Dieses Beispiel erinnert uns Gewohnheitsleser an die Magie des Lesens, die darin besteht, dass ganz gewöhnliche Buchstaben die Imagination der Leser anstoßen und in Gang setzen können. Lesen ist also kein rein rezeptiver, nur empfangender, sondern ein aktiver und kreativer Vorgang. Das hat Martin Walser treffend in einem kurzen Satz ausgedrückt: „Lesen ist nicht wie Musikhören, Lesen ist wie Musikmachen!“ 3. Die Magie der Bibliothek Montaigne zog sich extra um, wenn er seine Bibliothek im dritten Stock seines Schlosses bei Bordeaux betrat, und würdigte damit die hohe Gesellschaft, in die er sich begab. „In festlicher Kleidung betrete ich die Gesellschaft der großen Meister, wo ich freundlich empfangen und geistig genährt werde. Ich frage sie freimütig und sie antworten mir aus ihrer Menschlichkeit heraus. Solange wie ich in ihrer Gesellschaft bin, fühle ich keine 30

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Langeweile und vergesse alle Sorgen.” Die Magie der Bibliothek besteht darin, dass man sich hier mit Toten unterhalten kann. Jede Büchersammlung ermöglicht eine Kommunikation über die Jahrhunderte hinweg her und erlaubt denen, die lesen können, die Zugang zu Büchern haben und die Sprache verstehen, den Eintritt in ein über die Zeiten fortgesetztes „Geistergespräch“, wie man das im 17. Jahrhundert nannte. Das Reich der Bücher war ein kostbarer Rückzugsort. Hier herrschte eine zeitlose Dauer, hier galt der Tod als überwunden. 4. Die Magie der Lektüre Auf eine ganz andere Magie der Lektüre hat der Schriftsteller und Leser Marcel Proust aufmerksam gemacht hat. Er schrieb: „In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.“ Das Buch ist demnach auch ein Spiegel, in dem man sich immer wiederfindet und letztlich nur sich selbst findet. Aber dieses Selbst, das einen bei der Lektüre leitet und dem man dabei begegnet, ist jedes Mal ein anderes. Das ist auch der Grund, warum man (gute) Bücher mehrmals lesen kann. Sie treffen jedes Mal auf einen anderen, der sich verändert hat und unter anderen Umständen liest. Denn wenn wir lesen, können wir nie alles aufnehmen. Was uns jeweils besonders beeindruckt, hängt von unserer Aufmerksamkeit, unserer aktuellen Erfahrung und Stimmungslage ab. Die Lektüre antwortet auf die Fragen, die uns umtreiben und stößt die Entwicklung der Gedanken an – immer auf dem Stand, auf dem wir uns gerade befinden. Die Magie der Lektüre besteht also darin, dass sie wiederholbar, aber nie dieselbe ist. 31

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LES AL ERFAHR MN_MagieLesen_Carsten_RZ2.indd 32

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SEN LS HRUNG MN_MagieLesen_Carsten_RZ2.indd 33

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DIE LIEBLINGSBÜCHER DER NEUKÖLLNER* INNEN 24 Essays

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Die Schnellleserin Von Karolin Steinke Friederike ist berufsbedingt eine Schnellleserin: „Als Buchhändlerin habe ich dauernd das Gefühl, ich muss ganz viele Bücher in möglichst kurzer Zeit lesen. Und ich muss konträre Bücher finden, damit ich eine möglichst breite Palette habe.“ Gemeinsam mit einer Kollegin führt Friederike eine Buchhandlung am Neuköllner Richardplatz. Weil sie neben ihrem Job zwei kleine Kinder hat, bleibt nur wenig Zeit zum Lesen. In ihrer Wohnung liegen an allen Plätzen, wo sie einen Moment verweilen kann, aufgeschlagene Bücher. So arbeitet sie sich stückweise durch die neuesten Krimis, Romane und Sachbücher. Jedes Buch, das sie liest oder auch verleiht, hält sie in einem „Büchertagebuch“ fest. Eines ihrer Lieblingsbücher ist der 2014 erschienene Neukölln-Krimi Tod in der Hasenheide. Die bis dahin unbekannte Berliner Autorin Connie Roters stellte ihr druckfrisches Erstlingswerk in dem Neuköllner Buchladen vor. Friederike war fasziniert davon, dass die Autorin, eine Sozialarbeiterin aus einer Soldatenfamilie, das Schreiben an der Volkshochschule erlernt hat. Die Schriftstellerei muss einem also nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden sein. „Ich kannte bis dahin keine Krimis, die in Neukölln spielen. Ich dachte mir: Super. Das passt zu unserem Laden.“ Das Buch war im Erscheinungsjahr der Beststeller in ihrem Geschäft.

Friederike glaubt trotzdem, dass es Frauen in der Buch- und Verlagsbranche schwerer haben als Männer. Der Kölner Emons-Verlag bewirbt Connie Roters Buch, von dessen Frontseite eine Krähe blickt, als den „Berliner Wallander“. Der Klappentext verrät nichts über das eigentliche Thema des Romans. In einem Tunnel in dem Neuköllner Park Hasenheide entdeckt die Journalistin Cosma Anderson beim Joggen eine Leiche. Die Polizisten vernehmen sie zunächst als Zeugin. Als jedoch in ihrer Wohnung die Tatwaffe auftaucht, macht sie sich verdächtig. Kommissar Breschnow, ein Eigenbrötler und Hobbylyriker, ermittelt in dem Fall. Im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Ermordete Elite-Ausbilder bei der Bundeswehr und als brutaler Schinder bekannt war. Breschnow kommt einem Rache-Plan auf die Spur, der ihn jedoch auf eine falsche Fährte lockt. Erst nach und nach merkt der Leser, dass das Buch von traumatisierten Bundeswehr-Soldaten handelt. Friederikes Lieblingsstelle erzählt davon: Er drehte sich zu der Alten und fragte etwas. Sie erhob sich zögernd und schlurfte aus dem Zimmer. Kurz darauf erschien sie mit einem Wasserkrug und vier Gläsern. Sie schenkte allen ein und setzte sich wieder neben ihren Enkel. „Wissen Sie, ich habe diesen Brandgeruch immer noch in der Nase. Und im Sommer“, er schluckte, „dieses Grillfleisch. Mir wird schlecht. Und ich träume. Von Staub und Körperteilen und den Schüssen und Schreien. Und ich werde für den Rest 35

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meines Lebens in einem Rollstuhl sitzen. Die Bundeswehr zahlt mir eine kleine Rente.“ Er trank sein Glas Wasser in einem Zug aus. „Ich wollte den Hof übernehmen. Uns fehlte Geld für die Modernisierung. Deshalb bin ich zur Bundeswehr und habe mich freiwillig für den Afghanistan-Einsatz gemeldet. Hundertzehn Euro zusätzlich pro Tag.“ [...] Breschnow räusperte sich. […] „Wo waren Sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag?“ „Ah, jetzt verstehe ich. Ich war am Donnerstag beim Arzt. Die Bundeswehr verlangt regelmäßig Atteste, damit Sie weiterhin die Invalidenpension zahlen. Und Samstagnacht war ich in der Dorfkneipe. Ungefähr bis zwei. Dann bin ich nach Hause und habe mich ins Bett gelegt.“ „Alleine?“ „Ja“, lachte Jung bitter. „Denken Sie, die Mädels stehen auf Krüppel?“ Hoffnungslosigkeit und Wut lagen in diesen Worten. Jung schien sich aufgegeben zu haben. Breschnow wollte schnell fort von hier. Das Schicksal dieses jungen Mannes hatte ihn tiefer berührt, als ihm lieb war. Wie sehr ein Auslandseinsatz einen Soldaten verändern kann, wurde Friederike beim Lesen dieses Krimis klar. Die Autorin ist Sozialarbeiterin und hat intensiv mit traumatisierten Jugendlichen gearbeitet. Deshalb wirken die geschilderten Szenen auf Friederike sehr authentisch. Für Friederike sind Bücher ein guter Anlass, sich neuen Themen zuzuwenden, mit denen sie bisher nicht in Berührung gekommen ist. An dem Buch gefällt ihr, dass es kein blutrünstiger Krimi ist, sondern von seinen nahbaren Charakteren lebt, mit denen

man sich identifizieren kann. Sie mag, „dass es diese Figuren alle geben kann, dass es diese Wirklichkeiten geben kann. Dass Leute einen Job haben, Schulden haben, dass Leute Verwerfungen in ihren Familien haben. Dass Leute einsam sind. Und das auf Neukölln bezogen, das macht es mir nah.“ Viele Jahre hat Friederike an der Grenze zur Hasenheide gelebt. Für sie ist Tod in der Hasenheide mehr ein Buch, mit dem sie viel Persönliches verbindet, als eines, das sie emotional sehr berührt hat. Seit der Lektüre fällt es ihr leichter, Menschen im Alltag vorurteilsfrei zu begegnen. Wenn sie unhöfliche oder unvorteilhaft gekleidete Menschen sieht, versucht sie, die eigene Perspektive zu ändern: „Ich denke, vielleicht ist der Typ total witzig oder liebenswert und hat aber gerade einen schlechten Anruf gekriegt. Oder er hat gerade eine Krebsoperation hinter sich.“ Auch Cosma, der Hauptdarstellerin des Romans, sieht man ihre schwierige Vorgeschichte nicht an. Mit Büchern, so Friederike, könne man einen neuen Blick auf Menschen, Zusammenhänge und Themen bekommen. Die Ausgabe vom Tod in der Hasenheide, die sie zum Interview mitbringt, wirkt ungelesen. Friederike kauft und sammelt nur wenige Bücher. Die meisten, die sie liest, nimmt sie in ihrem Laden aus dem Regal. Trotzdem reichen die Bücherregale in ihrer Altbauwohnung bis unter die Decke. Darunter sind viele Bücher aus ihrer Familie und aus der Zeit, bevor sie Buchhändlerin war. Friederike hat

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Connie Roters: Tod in der Hasenheide Emons Verlag, Kรถln 2014

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Matthew Thomas: Wir sind nicht wir, Berlin Verlag, Berlin 2015; Egon Aderhold: Rike, Der Kinder­ buchverlag, Berlin (Ost) 1989; Christa Wolf: Kassandra, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008; Ute Gerhard: Frauenbewegung und Feminismus, Verlag C. H. Beck, München 2009

Jura, lateinamerikanische Literatur und Deutsch als Fremdsprache studiert, im Bundestag gearbeitet und sich mit Geschlechterpolitik und Feminismus beschäftigt. Deshalb gehört Frauenbewegung und Feminismus von Ute Gerhard, ein Klassiker der feministischen Literatur, zu einem ihrer wichtigsten Bücher. Das Interesse an starken Frauen, die etwas im Leben erreichen, zieht sich durch Friederikes Bücherbiografie. Vielleicht liegt das auch an ihrer Mutter. Diese brachte ihre zwei Kinder längere Zeit allein durch und ist ihr ein

wichtiges Vorbild. In der Literatur sind es mal die Autorinnen, mal die Protagonistinnen, die die Buchhändlerin begeistern. Schon als Mädchen las sie gern Bücher wie Rike (so wurde sie auch in ihrer Familie genannt) von Egon Aderhold, das kurz vor dem Ende der DDR in Ost-Berlin erschienen ist. Rike ist ein mutiges Mädchen, das mit Pfeil und Bogen ihren Kletterbaum erklimmt und – auf einem Hasen reitend – eine Fantasiewelt betritt, in der sie wilde Abenteuer erlebt. Diese zweite Wirklichkeitsebene in dem Buch hat sie als Kind fasziniert.

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Später las Friederike das gesamte Werk der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf. Für die Ausstellung im Museum Neukölln hat sie Wolfs Roman Kassandra ausgewählt, in der die antike Hellseherin aus zeitgenössischer Perspektive geschildert wird. In ihrem Ringen um Autonomie steht sie für Erfahrungen von Frauen in der Geschichte. Friederike hat sehr imponiert, dass Christa Wolf als Teil des Systems DDR versucht hat, das Land von innen heraus zu verändern. Eines der Bücher jedoch, das Friederike am nachhaltigsten beschäftigt und das sie regelrecht verschlungen hat, stammt von einem Mann. Der amerikanische Autor Matthew Thomas hat zehn Jahre an seinem 900 Seiten starken Familienepos Wir sind nicht wir gearbeitet. Der Titel stammt aus König Lear von William Shakespeare: Wir sind nicht wir, wenn die Natur, im Druck, die Seele zwingt, zu leiden mit dem Körper. 2015 ist es als erstes Buch des Autors erschienen und mehrfach ausgezeichnet worden. Der Roman handelt von einer irischen Familie, die in New York eingewandert ist. Im Mittelpunkt steht die kleine Eileen, die in den 1940er- und 1950er-Jahren in der Metropole in einfachen Verhältnissen aufwächst. Als sie Jahre später einen sanftmütigen Wissenschaftler heiratet und einen Sohn bekommt, scheint sich ihre Sehnsucht nach einem schönen Haus und einer glücklichen Familie zu erfüllen. Doch eines Tages erkrankt ihr Mann an Alzheimer und stirbt schließlich daran. Am Ende steht

Eileen vor den Trümmern ihres Lebens und ihrer Träume. Er war an einer Lungenentzündung gestorben. Je mehr sein Gehirn abgebaut hatte, desto mehr Körperfunktionen waren in Mitleidenschaft gezogen worden. Seine Lungen hatten sich mit Schleim gefüllt. Er war darin ertrunken. Nach seinem Tod am 7. März 1999 entschied sie sich, im nächsten Leben – falls es so etwas gab – unter ganz anderen Vorzeichen wiedergeboren zu werden, unter sonnigen, glücklichen, übersprudelnden. Doch bis zum Ende dieses Lebens würde sie Eileen Leary bleiben. Sie würde nicht wieder heiraten. So war es nun einmal. Man ging mit dem Schiff unter. Wer hatte das Recht, zu bestreiten, dass es eine Liebesgeschichte gewesen war? Obwohl sie ihre Seite lieber mochte, schlief sie auf seiner, weil sie sonst an all die Nächte denken musste, in denen sie dort von ihm abgewandt gelegen hatte. Sie wollte eine von ihnen – nur eine einzige – zurückhaben, um sich zu ihm umdrehen zu können. Das einfühlsam geschriebene Buch, so Friederike, habe sie wochenlang nicht losgelassen. Noch heute hallen Szenen und Bilder aus dem Buch in ihr nach. Der amerikanische Traum von einem besseren Leben ist Friederike zuerst bei ihrem Aufenthalt als Austauschschülerin in den USA in den 1990er-Jahren begegnet. Wir sind nicht wir ist ihr persönlicher Amerika-Roman. Auch hier ist es, wie im Neukölln-Krimi, das Schicksal ganz gewöhnlicher Menschen, das sie anrührt. 39

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Was macht für die Buchhändlerin die Magie des Lesens aus? Mit einer Tasse Tee oder Kaffee und einem schönen Buch in der Hand in einem Ohrensessel zu sitzen und ein bisschen Zeit zum Lesen zu haben, ist für Friederike der Inbegriff von Freude, Glück und Entspannung. Bücher können magisch sein, wenn sie neue Welten und Räume eröffnen. Wenn man durch sie Neues lernt und Dinge begreift. Wenn sie politische Diskussionen anstoßen und dazu beitragen, die Gesellschaft zu verändern. Aus diesem Grund sind ihr Sachbücher genauso lieb und teuer wie Romane.

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Schlummernde Reize Von Patrick Helber Zu Heinrich Bölls Roman Ansichten eines Clowns (Erstausgabe 1963) hat die Studentin Elza eine sehr persönliche Beziehung. Wenn sie über das pink schimmernde Buch, das 1990 im Insel-Verlag erschien, redet, spricht sie beinahe wie über einen geliebten Menschen. „Im Herbst 2011 haben wir uns in der Richardstraße getroffen. Es hat mich angeschrien, dieses Pink.“ Damals lag das Buch auf der Straße in einer Kiste mit Dingen zum Verschenken. Elza entdeckt häufig Bücher auf ihren Kiezspaziergängen. Zahlreiche Bücher ihrer privaten Bibliothek hat sie auf diese Art erworben. Alte Bücher sehen für sie immer schön aus. „Da gibt es keine Ausnahme“. Deshalb freut sich Elza auch darüber, dass in Neukölln häufig ältere, interessante

Literatur auf der Straße liegt. Nie würde sie es übers Herz bringen, ein herrenloses Buch im öffentlichen Raum zu ignorieren. Schon gar nicht, wenn das Cover wie bei Bölls Roman so auffällig gestaltet ist. Gewöhnlich markieren Bücher für Elza bestimmte Lebensphasen. Bei den Ansichten eines Clowns trifft das für sie ausnahmsweise nicht zu. Die Weisheiten des schlichten und zugleich tiefgründigen Protagonisten Hans Schnier über die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen machen es für Elza zu einer zeitlosen Lektüre. Sie zieht das Buch immer wieder gern aus dem Regal, um ein paar Zeilen darin zu lesen und sich daran zu erfreuen. Bei einer Aktion ihrer Wohngemeinschaft zum bundesweiten Vorlesetag 2015 hat sie den anwesenden Gästen ihre Lieblingspassagen aus dem Buch vorgetragen. „Das Buch hat auf jeden Fall Potenzial. Mehr Potenzial, als man vielleicht bei einem pinken Buch denkt“, sagt Elza lachend. Ansichten eines Clowns ist eine satirische Abrechnung Bölls mit der Bonner Nachkriegsgesellschaft der 1950er- und 1960er-Jahre. Sein Protagonist Hans Schnier, gleichzeitig auch der Ich-Erzähler des Romans, stammt aus einer protestantisch bürgerlichen Familie und arbeitet als Clown. Mit seiner unkonventionellen Beschäftigung eckt er bei seinen Eltern an, die eifrig versuchen, ihr Engagement im Nationalsozialismus zu verdrängen. Beide Elternteile waren überzeugte Nationalsozialist*innen.

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Schniers Schwester wurde am Kriegsende Opfer dieser Überzeugung, als sie von ihrer Mutter zum Einsatz als Flakhelferin geschickt wurde und dabei ihr Leben verlor. Anhand des Schicksals dieser Familie thematisiert Böll die kaum vorhandene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Adenauer-Deutschland. Der Roman ist deshalb auch ein Stück literarische Vergangenheitsbewältigung. Nicht nur bei seinen Eltern, auch bei seiner großen Liebe Marie stößt Schniers Lebensweise als Clown auf Widerstand. Streitpunkt ist Maries Wunsch nach einer katholischen Lebensweise mit kirchlicher Heirat, der Schnier nichts abgewinnen kann. Als sie ihn für einen anderen Mann, den Katholiken Zupfner, verlässt, da der soziale Druck und ihr Gewissen sie dazu zwingen eine kirchliche Ehe einzugehen, stürzt Hans Schnier in eine tiefe Daseinskrise. Elza zufolge ist die Lebensführung des Clowns gar nicht so ungewöhnlich. Er wird nur von seiner Umwelt missverstanden, die mit seiner Arbeit als Komiker nichts anfangen kann: „Er braucht eigentlich nicht viel: eine Badewanne, eine Tageszeitung und Maries Kopf auf seiner Schulter. Dann ist alles gut. Es ist süß, weil er als Rebell gesehen wird und alle nicht so recht wissen, wie sie mit ihm umgehen sollen, aber eigentlich ist er vielleicht spießiger als die anderen.“ Schniers Handeln als erfolgloser Clown mit gebrochenem Herzen konnte Elza beim Lesen sehr gut nachvollziehen. Sie hat zwar selbst

etwas Angst vor Clowns, weiß aber zu schätzen, wie diese die Gesellschaft karikieren: „Der Clown als Bild an sich ist grandios. Jemand, der alles ein bisschen ins Komische zieht und irgendwie trotzdem überhaupt nicht lustig ist, sondern eine tiefe Ernsthaftigkeit in sich hat.“ Um das zu unterstreichen, führt Elza einen ihrer vielen Lieblingsabschnitte aus dem Roman an, die sie mit kleinen Knicken und Büroklammern markiert hat. In einer Szene kehrt der Clown Schnier auf der Suche nach seiner verflossenen Liebe Marie nach Bonn zurück und telefoniert mit einem alten Bekannten. Im Gespräch diskutieren die beiden Männer über verschiedene gesellschaftliche Identitätsentwürfe: „Katholiken machen mich nervös,“ sagte ich, „weil sie unfair sind“. „Und Protestanten?“ fragte er lachend. „Die machen mich krank mit ihrem Gewissensgefummel.“ „Und Atheisten?“ Er lachte noch immer. „Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen.“ „Und was sind Sie eigentlich?“ „Ich bin ein Clown“, sagte ich, „im Augenblick besser als mein Ruf.“ Für Elza fasst die Stelle die Essenz des Buchs zusammen: „Der Clown ist der Gegenentwurf zu allen möglichen Arten von Identität.“ Lachend erweitert sie Schniers Bemerkung: „Atheisten sprechen immer nur über Gott und Veganer sprechen immer nur über Fleisch. Das ist zum Teil sehr zeitgemäß.“ Elza gefällt auch, dass Heinrich Böll seinen Protagonisten mit der Fähigkeit ausgestattet hat, Gerüche über das Telefon wahrnehmen zu können. Zur 41

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Heinrich Bรถll: Ansichten eines Clowns Insel-Verlag, Leipzig 1990

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Impressum Udo Gößwald (Hg.) Diese Publikation erscheint zur Ausstellung „Die Magie des Lesens“ 13. Mai bis 30. Dezember 2016 Museum Neukölln Alt-Britz 81 12359 Berlin Im Auftrag des B ­ ezirksamtes Neukölln von Berlin, Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur / Museum Neukölln ISBN 978-3-944141-19-0 © Museum Neukölln, 2016 www.museum-neukoelln.de

Katalog Redaktion Julia Dilger Dr. Udo Gößwald Dr. Patrick Helber

Konzeption Julia Dilger Dr. Udo Gößwald Dr. Patrick Helber Barbara Hoffmann Ausstellungstexte Julia Dilger Dr. Patrick Helber Sara Sponholz Hörstücke Gabriele Wuttke Projektassistenz Sara Sponholz Öffentlichkeitsarbeit Jennifer Rasch Sekretariat Andreas Ernst Fabienne Wünsche Mitarbeit Alisa Warnecke Ausstellungsgrafik, Medientechnik und -design Neue Gestaltung GmbH Produktion Hörstücke studio greve (Regie: Vivien Lee; Aufnahmeleitung: Volker Greve)

Visuelle Konzeption Neue Gestaltung GmbH Pit Stenkhoff, Anna Bühler, Carsten Giese, Nina Odzinieks

Objektfotografie und ­Reproduktionen Friedhelm Hoffmann

Umschlagsillustration Anna Bühler

Porträtfotografie Jacintha Nolte

Druck Spree Druck Berlin GmbH

Vitrinenbau Rodde und Friedrichsmeyer

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Beleuchtung Michael Bister

Projektleitung Dr. Udo Gößwald Projektkoordination Julia Dilger Dr. Patrick Helber

Ausstellungseinrichtung Bruno Braun Annette Muff Dieter Schultz

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MU-Die DIE SEUM MAGIE Magie NEU-des DES Lesens KÖLLN LESENS

Das Buch ist demnach auch ein Spiegel, in dem man sich immer wiederfindet und letztlich nur sich selbst findet. Aber dieses Selbst, das einen bei der Lektüre leitet und dem man dabei begegnet, ist jedes Mal ein anderes. Das ist auch der Grund, warum man (gute) Bücher mehrmals lesen kann. Aleida Assmann Welche Rolle spielen Bücher für uns? Sie sind Lebensbegleiter, Unterhaltung, Inspiration, Ratgeber und Träger von Erinnerungen und Wissen. 24 Neuköllner*innen erzählen über ihre Lieblings­ bücher und bringen uns dabei die Magie des Lesens näher. Neben der persönlichen Dimension erschließt der Begleitband zur Ausstellung im Museum Neukölln das Lesen und das Buch auch aus gesellschaftlicher, historischer und bildungspolitischer Perspektive. Außerdem thematisiert er die Lesekultur im heutigen Neukölln, anhand von Kiezbuchhandlungen, ­Bibliotheken und sprachlicher Vielfalt.

Die Magie des Lesens

ISBN 978-3-944141-19-0 © Museum Neukölln, Berlin 2016

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Im Auftrag des Bezirksamtes Neukölln von Berlin, Abt. Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur

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