Neukölln macht Schule. 1968-2018

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NEUKÖLLN MACHT SCHULE


INHALTSVERZEICHNIS

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EINBLICKE Udo Gößwald: Neukölln macht Schule

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Heinz-Elmar Tenorth: Bildungspolitik 1968–2018

SCHULISCHE PRAXISFELDER 1 Ulrich Meuel: Vom Schulversuch zur Gemeinschaftsschule. Was die Fritz-Karsen-Schule von anderen Schulen unterscheidet

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Jennifer Rasch: Christlich, privat, Nord-Neukölln. Chancengleichheit und Sonderstatus der Evangelischen Schule Neukölln

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Lothar Semmel: Jahrgangsteams an der Clay-Schule – unser Beitrag zur inneren Schulreform 38 Reinhard Wenzel: Meine Zeit in der Clay-Oberschule: Erfahrungen in einer musikbetonten „Bildungsfabrik“

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BIOGRAFIE UND SCHULE 1 Ramona Krammer: Boogie-Woogie und Bierdeckel – was von der Schulzeit bleibt Julia Dilger: Mit Schülermütze ans Meer und in die Berge

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Jennifer Rasch: „Ich hätte sofort Lust, alle wiederzutreffen“ Sebastian Steininger: Eine Schule für das ganze Leben!

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UNTERRICHTSINHALTE UND LERNMETHODEN 1 Rudolf Rogler: Erlebte Arbeitslehre an der Anna-Siemsen-Schule – mehr als praktisch Ramona Krammer: Die Musikbetonung an der Clay-Schule Christa Jančik: „Der Geschichtslehrer erzählt…“ – Geschichtsunterricht in Theorie und Praxis

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POLITIK UND SCHULE Henning Holsten: Ausgrenzung und Solidarität. Politische Disziplinarverfahren gegen Neuköllner Lehrer 1975–81 Reinhard Wenzel: Rotkäppchen und der SSB. Eine Neuköllner Schülerzeitung der 1970er- und 80er-Jahre

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SCHULISCHE PRAXISFELDER 2 Silvia Haslauer: Offen und international – Das Albert-Einstein-Gymnasium seit dem Mauerfall 108 Viola Dollinger-Rauch: Keine Schule ist eine Insel – Rütli-Schule und Reuterkiez von 2000 bis 2017 118 130

Klaus Lehnert: Campus-Rütli – ein unterschätztes Erfolgsmodell Anja Mutert: Die Keplerschule – Von der Hauptschule zur integrierten Sekundarschule 134 „Ich geh doch nicht arbeiten“ – über den Schulalltag und die Berufsvorstellungen von Schüler*innen der Alfred-Nobel-Schule Fabio Ficano im Gesprach mit Udo Gößwald 144

BIOGRAFIE UND SCHULE 2 Ramona Krammer: 68er und Spießertum – Schule in den 1970er-Jahren Jennifer Rasch: Der Lauf nach oben

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Julia Dilger: Scheue dich nicht zu fragen – die Schule als Weltenöffner 156

Sebastian Steininger: Der Geschmack der Streuselschnecke

DISKUSSION Hildegard Greif-Groß: Meine Sicht auf die Veränderungen an der Peter-Petersen-Schule und im Körnerkiez

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Jörg Ramseger: Wer hat Angst vor dem Kopftuch – und warum eigentlich?

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Fritz Felgentreu: Eine multireligiöse Gesellschaft braucht einen neutralen Staat

SCHULISCHE PRAXISFELDER 3 Hildegard Greif-Groß: Verschieden sein ist normal! – Soziales Lernen in jahrgangsgemischten Gruppen 168 Thomas Weber: Begabtenförderung am Albrecht-Dürer-Gymnasium

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Sebastian Steininger: Die Karlsgarten-Grundschule – Elternarbeit und Elternengagement an einer Kiezschule 184 Ulla Giesler: 10 Jahre Vincentino. Kulturelle Bildung an Neuköllner Schulen

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INHALTSVERZEICHNIS

BIOGRAFIE UND SCHULE 3 Ramona Krammer: „Abitur bedeutet nicht unbedingt, dass du schlau bist“ Jennifer Rasch: Vom lieben Gott und guten Noten

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Sebastian Steininger: Eine Schulkarriere zwischen Leichtigkeit und Strenge

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UNTERRICHTSINHALTE UND LERNMETHODEN 2 Rainer Kistermann und Jan Meister: Wie die Dalton-Lernplanpädagogik an die ADO kam 208 214

Wolfgang Gerhardt: Der musische Schwerpunkt am Albert-Einstein-Gymnasium Stefan Kipf und Stefan Paffrath: Sprachbildung im Lateinunterricht – Das Projekt Pons Latinus am Ernst-Abbe-Gymnasium 218 Das Konzept der Walter-Gropius-Schule – Ein Blick zurück nach vorn. Gespräch mit Schüler*innen 222

AUSBLICKE Simone von Schönfeldt und Myrta Köhler: Schularchitektur in Neukölln: Auf dem Weg zu zukunftsfähigem Lernen und Lehren 234 Thorsten Gruschke-Schäfer: Neue Lehrer*innen braucht das Land – warum es mit einem Schulneubau alleine nicht getan ist 240 Lisa Reimann: Inklusive Bildung in Deutschland

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Jennifer Rasch: Was ist eine gute Schule? Auswertung einer Umfrage zur Schulzeit in Neukölln 252 Robert Giese: Arbeit an der Demokratie – Gemeinschaftsschulen heute

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Marion Ziesmer: Die Lehrerbildung der Zukunft – Gedanken zu den neuen Herausforderungen 262 Jutta Allmendinger: Demokratie wagen: Plädoyer für eine neue Schule

AUTORENVERZEICHNIS 272

IMPRESSUM 276

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EINBLICKE UDO GÖß WALD

NEUKÖLLN MACHT SCHULE

Der Bezirk Neukölln hat in mehrfacher Hinsicht deutsche Bildungsgeschichte geschrieben. 1918 – vor nunmehr hundert Jahren – begann in Neukölln unter der ersten sozialdemokratischen Regierung, die aus freien und gleichen Wahlen hervorgegangen war, eine bemerkenswerte bildungspolitische Reformepoche, die mit den Namen Artur Buchenau, Kurt Löwenstein und Fritz Karsen verbunden ist. Zum ersten Mal stand das Schulkind als selbstständiges zu förderndes Individuum im Mittelpunkt, und es wurde größter Wert auf die Schule als soziale Gemeinschaft gelegt.1 Diese Periode der Neuköllner Schulgeschichte währte nur fünfzehn Jahre, da ihre Protagonist*innen und viele engagierte Pädagog*innen ab 1933 durch das nationalsozialistische Regime aus ihren Ämtern verdrängt und verfolgt wurden. Sowohl die reformpädagogischen Konzepte wie ihre praktische Umsetzung in den 1920er-Jahren sind jedoch Teil des kulturellen Gedächtnisses des Bezirks Neukölln geworden und über die Grenzen Berlins hinaus bekannt.2 Die totalitäre Herrschaft des Nationalsozialismus bewirkte die Zerstörung der Demokratie sowie der liberalen Öffentlichkeit und erzeugte eine Vertrauenskrise in die demokratischen Organe, die bis weit in die Nachkriegszeit hinein anhielt. Nur in wenigen Fällen gelang es, an die demokratischen Bildungstraditionen der Weimarer Republik anzuknüpfen. In Neukölln war dies die 37./38. Schule in Britz, die 1956 in Fritz-Karsen-Schule umbenannt wurde. Schulleiter Fritz Hoffmann gelang es, sie ab 1948 mit einem engagierten Kollegium und aktiven Elternvertreter*innen zu einer Einheitsschule umzugestalten, die auf der Grundlage des Berliner Schulgesetzes ein eigenes pädagogisches Profil entwickeln konnte.3 Der Schulhistoriker Gerd Radde, der auch an der Schule unterrichtet hatte, fasst das Ergebnis dieser frühen Versuchsphase folgendermaßen zusammen: „Eine lebensnahe, auf den Menschen konzentrierte Pädagogik ohne irgendeine politische Indoktrination ließ das Gegenbild von einer bloßen Unterrichts- und Lernanstalt entstehen.“4 Der Weg zur Umsetzung dieser demokratischen Ideale an anderen Schulen des Bezirks Neukölln war lang. Als 1966 vom damaligen Berliner Schulsenator Carl1

Siehe: Gerd Radde, Werner Korthaase, Rudolf Rogler, Udo Gößwald (Hg.): Schulreform. Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln. Bd. 1 und 2, Opladen 1993.

2

Siehe: Bezirksamt Neukölln von Berlin (Hg.): Neukölln macht Oberschule. Berlin 2017. Als Leitmotto der Broschüre wird ein Zitat von Kurt Löwenstein, dem Neuköllner Stadtrat für Volksbildung von 1919 bis 1933, verwendet.

3

Vgl. Gerd Radde: „Die Fritz-Karsen-Schule im Spektrum der Berliner Schulreform“, in: Ders. u. a. (Hg.): Bd. 2, a. a. O., S. 68–83.

4

Ebd. S. 77.

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Kollegium der Walter-Gropius-Schule bei der Feier zur Namensgebung, rechts Horst Mastmann, 1969 Foto: Museum Neukölln

Heinz Evers eine Planungsgruppe eingesetzt wurde, um eine neue Konzeption für die bereits im Bau befindliche Walter-Gropius-Schule zu erarbeiten, war das Leitmotiv eine „Demokratisierung der Schule“ und insbesondere der „Verzicht auf Auslese“.5 Rund zwanzig Lehrer*innen trafen sich zwei Jahre lang unter der Leitung von Horst Mastmann, dem persönlichen Referenten von Evers und späteren Schulleiter, in wechselnden Konstellationen und entwickelten das Modell einer integrierten Gesamtschule. Der Grundgedanke dieses Schultypus, der in Berlin ab 1968 noch an drei weiteren Standorten erprobt wurde,6 war die Auflösung der traditionellen Gliederung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Fußend auf den guten Erfahrungen mit der Fritz-Karsen-Schule, konnten die Schülerinnen und Schüler von der 1. bis zur 13. Klasse auf einer Schule verbleiben. Im Mittelpunkt standen, wie es der damalige Stadtrat für Volksbildung des Bezirks Neukölln und GEW-Vorsitzende Erich Frister formulierte, „die Herstellung von Chancengleichheit“ und damit die „Unabhängigkeit von familiären Umständen“.7 Als am 1. April 1968 die Schule nach Plänen von Walter Gropius fertiggestellt wurde, war in Neukölln die erste öffentliche Gesamtschule der Bundesrepublik entstanden, die in architektonischer8 und pädagogischer Hinsicht einen einzigartigen Schultypus darstellte, der bis heute Maßstäbe setzt. Besonderer Wert wurde an der Walter-Gropius-Schule auf einen anderen Umgang zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen gelegt.9 So heißt es in den „Grundsätzen für den Lehrer der Gesamtschule“: „Schüler sind auch Menschen und haben manchmal recht. Man lässt sie mitunter auch zu Wort kommen.“ Oder: „Wenn der Lehrer ‚das schon immer so gemacht hat‘, ist es für den Lehrer der Gesamtschule höchste Zeit ‚das‘ zu ändern.“10 Weit über diese fortschrittlichen, aber moderaten Leitlinien hinaus gingen die Forderungen von Schülerinnen und Schülern aus Neukölln, die sich im Zuge der Studentenbewegung politisiert hatten. Die antiautoritäre Schülerbewegung der Jahre 1967 und 1968 war von „einem grenzenlosen Zutrauen in die menschlichen Möglichkeiten“ geprägt.11 Eine radikale Kritik der Institution Schule, die Forderung nach mehr Rechten gegenüber den Eltern, nach mehr individuellen Freiheiten, anderen Lerninhalten und die Überwindung einer repressiven Sexualmoral standen dabei im Vordergrund.12 Der Pariser Mai 1968 erzeugte mit seinen fantasievollen Formen des Protests und einer prononcierten Gesellschaftskritik eine Utopie des „wahren Lebens“ und verstand Politik als „eine Art und Weise, Subjekt zu sein, eine Praxis der Emanzipation und Gleichheit“. Politik war nun etwas, das nicht nur jede*n betraf, sondern auch jede*n miteinbezog.13

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Peter Gaude; Günter Reuel: „Die erste integrierte Gesamtschule Deutschlands – Erfahrungen als Planer der Walter-Gropius-Schule“, in: Gerd Radde (Hg.): Bd. 2, a. a. O. S. 132.

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Schöneberg, Reinickendorf und Spandau.

7

Erich Frister: „Demokratische Leistungsschule. Beiträge Neuköllner Schulen zur Reform des Schulwesens“, in: Gerd Radde u. a. (Hg.): Bd. 2, a. a. O., S. 109.

8

Siehe den Beitrag von Simone von Schönfeldt und Myrta Köhler in diesem Band, S. 234–239.

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Vgl. Gespräch mit Schüler*innen einer Geschichts-AG der Walter-Gropius-Schule, S. 222–227.

10 Horst Mastmann u. a. (Hg.): Gesamtschule. Teil 1: Ein Handbuch der Planung und Einrichtung. Schwalbach, 1968, S. 136–137, zit. nach: Gerd Radde u. a. (Hg.) Bd. 2, a. a. O., S. 141 f. 11 Joachim Lehmann: „Wider den Zwangscharakter der Schule“, in: Gerd Radde u. a. (Hg.): a. a. O., S. 119. 12 Vgl. Ilan Reisin: „Liebe schülerinnen, liebe schüler – Eine Rede zum 1. Mai, in: Gerd Radde u. a. (Hg.): a. a. O., S. 123 f. 13 Ludivine Bantigny: „Die Zeit des Möglichen. Die Erfahrungen von 1968 oder eine anthropologische Revolution“, in: LETTRE International, Nr. 120, S. 35.


EINBLICKE

Walter-Gropius-Schule, 1968 Foto: Landesarchiv Berlin

1968 war eine „Zeit des Möglichen“14 und hat, wenn auch oft nur indirekt, den Geist der folgenden Jahre geprägt. Als Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 die Schule, statt wie bislang das Militär, zur zentralen „Schule der Nation“ erklärte, begann eine landesweite Bildungsoffensive, die allerdings bereits 1973 wieder ins Stocken geriet. Zwar wurden mit der sogenannten Oberstufenreform Leistungsdifferenzierungen und Wahlpflichtfächer eingeführt, aber eine wirkliche Bildungsreform, die für alle gesellschaftlichen Gruppen die Möglichkeit einer leistungs- und begabungsgerechten Förderung bot, blieb aus. Die Auseinandersetzung um den sogenannten Radikalenerlass von 1972 verschärfte das Klima zwischen Schulverwaltungen und Teilen der Lehrerschaft und führte zu Berufsverboten, von denen auch einige Lehrer*innen aus Neukölln betroffen waren.15 Dennoch waren die 1970er und 1980er-Jahre eine Zeit des sozialen und kulturellen Aufbruchs. Prägend für diese Zeit war die Selbstermächtigung in vielen Bereichen der Gesellschaft: die Protestbewegung gegen Atomkraftwerke, die Gründung von alternativen Betrieben, Kindertagesstätten, Zeitungen und Netzwerken sowie die Hausbesetzerbewegung. Dieser Aufbruch erfasste auch die Schulen in Neukölln, denn es waren vor allem junge Lehrer*innen, die neue pädagogische Konzepte und Lernstrukturen in Neukölln erprobten und durchgesetzt haben.16 14 Ebd. 15 Vgl. den Beitrag von Henning Holsten, S. 80–97. 16 Vgl. die Beiträge von Jennifer Rasch, S. 30–33 und Hildegard Greif-Groß, S. 168–171.

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Ausgehend von diesem gesellschaftlichen Umbruch dokumentieren und analysieren die vorliegende Publikation und die Ausstellung im Museum Neukölln anhand von Beispielen fünfzig Jahre Schulpraxis in Neukölln. Das Projekt trägt nicht von ungefähr den Titel „Neukölln macht Schule“, denn es versucht, Schule aus der Perspektive der Akteur*innen zu reflektieren und rückt diejenigen in den Vordergrund, die gesellschaftliche Prozesse mitgestaltet oder initiiert haben. Es kommen deshalb in dieser Publikation vor allem Praktiker*innen zu Wort, die an den Schulen Reformen im „Kleinen“ realisiert haben oder „Schulreformen von oben“ an die Bedürfnisse der einzelnen Schultypen angepasst haben.17 Ganz wesentlich für diese schulinternen Prozesse war die von der Schulverwaltung ab Mitte der 1990er-Jahre gewährte größere Autonomie für die einzelnen Schulen. Die vorgestellten Beispiele zeigen vor allem, wie die Neuköllner Schulen auf den soziodemografischen Wandel in der Bevölkerung und die Veränderungen der Schülerschaft aufgrund des verstärkten Zuzugs von Migrant*innen reagiert haben.18 In einem einleitenden Beitrag skizziert der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth die bildungspolitischen Herausforderungen, mit denen die Schulen in der Epoche von 1968 bis zur Gegenwart konfrontiert waren und sind.19 Schule, so zeigt sich in weiteren Beiträgen, wird in zunehmendem Maße von einem breiten zivilgesellschaftlichen Engagement begleitet. Mehr und mehr verstehen sich Eltern als Teil der Schulgemeinschaft und tragen – nicht immer ganz konfliktfrei – in wesentlichen Bereichen zur Profilierung der Schule bei.20 Und – das wird an allen vorgestellten Beispielen deutlich – das Engagement der Lehrer*innen ist trotz schwierigster Bedingungen, die vor allem durch die Sparpolitik des Berliner Senats in den Jahren 1990 bis 2010 verursacht wurden, beeindruckend. Oft haben sie jedoch das Gefühl, man würde sie alleinlassen oder ihre Anstrengungen nicht genügend würdigen. Dieser Aspekt kommt in einer Online-Umfrage zum Ausdruck, die das Museum Neukölln zur Frage „Was ist eine gute Schule?“ Anfang des Jahres 2018 durchgeführt hat. 95 Prozent der teilnehmenden Lehrer*innen wünschen sich mehr Wertschätzung, 90 Prozent mehr Unterstützung durch pädagogisches Personal und 88,5 Prozent eine generelle Entlastung.21 Ebenso bedeutsam für die Entwicklung der einzelnen Schulen und die Umsetzung von neuen pädagogischen Konzepten ist die Rolle der Schulleiter*innen. Das bestätigen immerhin 99 Prozent der Befragten. Sie prägen durch spezifische „soft skills“ die Atmosphäre an einer Schule und haben eine große Verantwortung besonders dann, wenn große strukturelle Veränderungsprozesse anstehen.22 Zweifellos der markanteste Einschnitt in die jüngere Schulgeschichte des Bezirks Neukölln ist die Veröffentlichung des sogenannten Brandbriefs von Lehrer*innen der Rütli-Schule im Jahr 2006. In ihm äußerten sie den Wunsch, die Schule zu schließen, da die Zustände unhaltbar seien und es ihnen nicht gelänge, die Schüler*innen in angemessener Form zu unterrichten. Wie es dazu kam und welche Konsequenzen daraus gezogen wurden, wird in dieser Publikation ausführlich aus stadtsoziolo17 Vgl. die Beiträge von Ulrich Meuel, S. 22–26 und Lothar Semmel, S. 38–43. 18 Aufgrund der begrenzten Forschungskapazität des Museums Neukölln konnten die Handlungsfelder der bezirklichen Schulverwaltung, der Schulaufsicht und der Berliner Schulpolitik nicht berücksichtigt werden. 19 Vgl. den Beitrag von Heinz-Elmar Tenorth, S. 15–19. 20 Vgl. den Beitrag von Sebastian Steininger, S. 184–189. 21 Jennifer Rasch: Was ist eine gute Schule? Auswertung einer Online-Umfrage zur Schulzeit in Neukölln, S. 252–255. 22 Vgl. die Beiträge von Silvia Haslauer, S. 240–245. und Thorsten Gruschke-Schäfer, S. 240–245.


EINBLICKE

gischer und bildungspolitischer Perspektive dargestellt.23 Die Stigmatisierung der Hauptschüler*innen mit Migrationshintergrund durch eine massenmedial undifferenzierte Berichterstattung verdeckte zunächst die schulpolitischen Versäumnisse. Aber es wurde auch schnell deutlich, dass neben einem mangelhaften Schulmanagement die realen Probleme im migrantischen Umfeld der Schule jahrelang verdrängt und ignoriert worden waren. Die Zahlen waren jedoch eindeutig: 2002 lag die Arbeitslosenquote in Nord-Neukölln mit 18,4 Prozent weit über dem städtischen Durchschnitt, jeder dritte Haushalt war von Transferleistungen abhängig, die Kinderarmut lag bei 60 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit und die Schulabbrecherquoten waren besonders hoch.24 Der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky hat viele dieser Probleme immer wieder offensiv angesprochen und mit der Schaffung des Projekts „Campus Rütli“ eine beispiellose Wende in der Neuköllner Schulpolitik eingeleitet. Auf dem Campus Rütli werden drei Schulen zu einer Gemeinschaftsschule mit einer Sekundarstufe zusammengeführt. Zahlreiche sozialpädagogische und berufsbezogene Maßnahmen ergänzen das schulische Angebot. In wenigen Jahren gelingt es, ein Modell für eine Schule zu entwickeln, das den Stadtraum und seine Bevölkerung offensiv in die Planungen einbezieht und das Lernen auf dem Campus Rütli zu einer Erfahrung werden lässt, bei der die Herkunft der Schüler*innen nur noch eine geringe Rolle spielt.25 Als Bundespräsident Horst Köhler 2006 seine „Berliner Rede“ zum Thema „Bildung für alle“ hält, wählt er bewusst eine Hauptschule in Neukölln. In der frisch restaurierten Aula der Kepler-Oberschule nahe der Sonnenallee verweist er darauf, dass in der Bundesrepublik jeder fünfte Jugendliche mit Migrationshintergrund die Schule ohne Abschluss verlässt und dass 40 Prozent von ihnen keine abgeschlossene Berufsausbildung hätten. Köhler stellt diese problematische Bilanz in den Kontext einer drohenden sozialen Spaltung der Gesellschaft und einer Gefährdung der Demokratie: „Eine Demokratie braucht wache und interessierte Bürger, die Ideen entwickeln und Fragen stellen. Wo die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, da kann es nicht gleichgültig sein, in welcher geistigen Verfassung sich das Volk befindet. (…) Wer Populisten, Extremisten und religiösen Fanatikern widerstehen soll, braucht dafür Bildung.“26 Sein Appell für mehr Investitionen in Bildung und gemeinsame Anstrengungen von Bund und Ländern verhallt jedoch spätestens in der globalen Finanzkrise von 2008. Die breite mediale Resonanz auf die Ereignisse an der Rütli-Schule führt zu einer bundesweiten Debatte über die Zukunft der Hauptschule. Der Berliner Beschluss im Jahr 2010, die Hauptschule im Rahmen einer Schulstrukturreform gänzlich abzuschaffen, wird in Neukölln und anderswo – wie das Beispiel der Kepler-Oberschule zeigt – jedoch durchaus kritisch gesehen.27 Es zeigt sich allerdings, dass überall dort, wo es keine Sekundarstufe gibt, die zum Abitur führt, die Motivation und Leistungsbereitschaft der Schüler*innen weniger stark ausgeprägt ist. Die Berufswünsche der Schüler*innen und die realistische Einschätzung ihrer Leistungsfähigkeit sowie die

23 Vgl. den Beitrag von Viola Dollinger-Rauch, S. 118–129. 24 Ebd. 25 Vgl. den Beitrag von Klaus Lehnert, S. 130–133. 26 „Bildung für alle“, Berliner Rede 2006 von Bundespräsident Horst Köhler am 21. September 2006, S. 3, unter: www.bundespraesident.de, letzter Aufruf: 09.04.2018. 27 Vgl. den Beitrag von Anja Mutert, S. 134–139.

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Einsicht in die Notwendigkeit, entsprechende Anstrengungen zu unternehmen, klaffen zum Teil weit auseinander. Das wird in einem Gespräch mit dem Schulleiter der Alfred-Nobel-Schule deutlich.28 Die Gewalttätigkeit an dieser Schule, ausgelöst durch Versagensängste und Frustrationserlebnisse, ist häufig eine Folge der geschilderten Umstände. Die geringe Unterstützung durch bildungsferne Elternhäuser und die zum Teil massive Diskriminierung von Lehrerinnen durch einige Schüler, die aus patriarchalischen Familienstrukturen stammen, verschärft die Situation zusätzlich. Schule, Politik und Gesellschaft werden sich verstärkt diesem Problem stellen müssen. Gleichzeitig muss nach Wegen gesucht werden, wie die Akzeptanz und Attraktivität für Ausbildungsberufe besser gefördert werden können.29 In jeder Hinsicht bemerkenswert ist, dass es an vielen Schulen in Neukölln, trotz zum Teil bescheidener räumlicher Ausstattung, gelingt, in den Bereichen Kunst, Musik, Tanz, Theater und Medien differenzierte Unterrichtsangebote zu gewährleisten. Die musische Bildung hat definitiv in Neukölln einen hohen Stellenwert und ihre Bedeutung im Hinblick auf Prozesse des sozialen Lernens ist unbestritten.30 Das zeigen Beispiele an der Wetzlar-Grundschule, der Clay-Schule und dem Albert-Einstein-Gymnasium. Dass neue Formen der Sprachen- und Begabtenförderung an Neuköllner Schulen eine besondere Ausprägung gefunden haben, zählt zu den eher unbekannteren Seiten der Neuköllner Schulrealität, wie die Projekte am Ernst-AbbeGymnasium und dem Albrecht-Dürer-Gymnasium zeigen.31 Wie Schule aus der subjektiven Perspektive erlebt wurde, zeigen elf Beiträge in diesem Band in der Rubrik „Biografie und Schule“. Dabei sind häufig aufgehobene Dinge und Fotografien aus der Schulzeit Auslöser für eine Reflektion über die eigene „Schulkarriere“ und die Erfahrungen mit Lehrer*innen oder Mitschüler*innen. Die bereits erwähnte Umfrage des Museums Neukölln hat übrigens ergeben, dass ein sehr großer Teil der Befragten gerne in Neukölln zur Schule gegangen ist oder noch geht. 85 Prozent von ihnen geben an, „Respekt und Toleranz“, gefolgt von „verantwortlichem Handeln“ und „Anpassungsfähigkeit“ mit je 79 Prozent gelernt zu haben. 36 Prozent der Befragten sind allerdings der Meinung, keine „Zivilcourage“ oder ein „historisches Bewusstsein“ gelernt zu haben.32 Hier bestehen offensichtlich noch Defizite, die aber zunehmend erkannt und denen zum Beispiel die Fritz-KarsenSchule aktiv begegnet. Dazu gehören die explizite Förderung demokratischer Erziehung durch Schülerräte und breit angelegte Beteiligungsverfahren von Eltern und Schüler*innen bei grundlegenden Entscheidungen, die die Struktur der Schule betreffen.33 Die Schulen in Neukölln, das wird an den ausgewählten Beispielen deutlich, sind bis heute mit den Folgen der großen gesellschaftlichen Umbrüche konfrontiert, die in den letzten fünfzig Jahren stattgefunden haben. Sie haben auf je individuelle Weise mit zum Teil beachtlichem Erfolg auf massive Probleme reagiert und Wege gefunden, um Defizite auszugleichen und neue Förderungsmöglichkeiten für die Schüler*innen zu schaffen. Andererseits sind viele Probleme ungelöst. Dazu gehören Ausgrenzungs28 Vgl. das Gespräch zwischen Fabio Ficano und Dr. Udo Gößwald, S. 144–147. 29 Vgl. den Beitrag von Rudolf Rogler, S. 62–65. 30 Vgl. die Beiträge von Wolfgang Gerhardt, S. 214–217, Ramona Krammer, S. 66–73 und Ulla Giesler, S. 194–199. 31 Vgl. die Beiträge von Stefan Kipf und Stefan Paffrath, S. 218–221 sowie Thomas Weber, S. 176–179. 32 Vgl. den Beitrag von Jennifer Rasch zur Auswertung der Umfrage „Was ist eine gute Schule?“, S. 252–255. 33 Vgl. den Beitrag von Robert Giese, S. 256–261.


EINBLICKE

und Diskriminierungserfahrungen von Schüler*innen und Lehrer*innen,34 zu wenig räumliche und personelle Ressourcen für die Umsetzung der Inklusion und der Mangel an gut ausgebildeten Lehrkräften.35 Unbestritten besteht an vielen Schulen noch ein erheblicher Sanierungsbedarf, aber die finanziellen Voraussetzungen sind mittlerweile weitestgehend geschaffen, um entsprechende Baumaßnahmen einzuleiten. Mit den Ergänzungsbauten am Campus Efeuweg, den Neubauten der Leonardoda-Vinci Schule und der Clay-Schule in Rudow erhält Neukölln in den nächsten Jahren Schulbauten, die auch in architektonischer Hinsicht vielversprechend sind.36 All das geschieht, obwohl es an einer konzertierten, klug moderierten und durch wissenschaftliche Begleitforschung abgesicherten Bildungspolitik in Deutschland fehlt, die den einzelnen Maßnahmen und „inneren“ Reformen an den Schulen einen verlässlichen und strukturierten Rahmen geben würde. Dafür scheint die Installierung eines Bildungsrats dringend erforderlich.37 Die Akteur*innen an den Neuköllner Schulen und die Bezirksverwaltung verfolgen jedoch einen pragmatischen und illusionslosen Ansatz, der davon ausgeht, dass man sich – wie es die frühere Bürgermeisterin Neuköllns und heutige Familienministerin Franziska Giffey wiederholt formuliert hat – nicht irgendwelche Schüler*innen herbeiwünschen kann, sondern denen gerecht werden muss, die da sind. Dieser scheinbar schlichte Gedanke zeugt von einer zutiefst menschlichen und demokratischen Überzeugung, dass wir letztendlich „eine auf den Menschenrechten aufbauende Durchdringung der ganzen Schule und des gesamten pädagogischen Handelns brauchen“38, wie es die Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger in ihrem Beitrag am Schluss dieser Publikation fordert. Ansätze für eine dem individuellen Kind zugewandte Pädagogik, die Selbstständigkeit fördert, zur Reflexion über praktische Lösungsansätze einlädt und Kindern das Vertrauen und die Fähigkeit vermittelt, in heterogenen Gruppen miteinander umzugehen,39 gibt es in Neukölln an vielen Schulen. Wenn die gesamte Schulgemeinschaft, die Lehrer*innen, Schulleiter*innen, Schüler*innen und die Elternschaft sowie die verantwortlichen Personen in der Schulverwaltung diesen Weg weitergehen, dann macht Neukölln Schule, so oder so. Mein herzlicher Dank gilt besonders den Schulleiter*innen und Lehrer*innen der Neuköllner Schulen, die durch eigene Beiträge oder Gespräche differenzierte Einblicke in die pädagogische Praxis der einzelnen Schulen ermöglicht haben. Die Autor*innen dieser Publikation haben vor allem deshalb großen Dank verdient, weil sie mit ihren Aufsätzen aus unterschiedlichsten Perspektiven zu einer Schulgeschichte des Bezirks Neukölln von 1968 bis heute beitragen, die in ihrer Komplexität und Dichte einzigartig ist, auch wenn sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Exklusivität erhebt. Für die visuelle Dimension dieses Bandes möchte ich dem Fotografen Lukas Fischer danken, dessen Motive Buch und Ausstellung in hohem Maße bereichern.

34 Vgl. den Beitrag von Hildegard Greif-Groß, S. 158–161. 35 Vgl. die Beiträge von Thorsten Gruschke-Schäfer, S. 240–245 und Marion Ziesmer, S. 262–265. 36 Vgl. den Beitrag von Simone von Schönfeldt und Myrta Köhler, S. 234–239. 37 Vgl. den Beitrag von Heinz-Elmar Tenorth, S. 15–19. 38 Siehe: Jutta Allmendinger: Demokratie wagen. Plädoyer für eine neue Schule. In diesem Band, S. 266–271. 39 Das entspricht den drei von der OECD geforderten Schlüsselkompetenzen.

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Julia Dilger und Jennifer Rasch haben als Kuratorinnen die konzeptionellen Grundlagen für diese Publikation und die Ausstellung erarbeitet und maßgeblich zur Realisierung des Projekts beigetragen. Vielen Dank dafür. Ebenso gilt mein Dank den beiden wissenschaftlichen Volontär*innen Ramona Krammer und Sebastian Steininger. Für die finanzielle Förderung danke ich der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, die das Projekt durch den Bezirkskulturfonds großzügig unterstützt hat. Zum Schluss möchte ich noch Jan-Christopher Rämer danken, der sich zu Beginn seiner Amtszeit als Bildungsstadtrat in Neukölln einen „dritten Band“ über die Schulreformen in Neukölln gewünscht hat.40 Wir haben diese Herausforderung im Museum Neukölln gerne angenommen und hoffen, dass diese Reflexion über fünfzig Jahre Schulgeschichte, Impulse für die Zukunft des Lernens in Neukölln geben kann.

40 Vgl. Gerd Radde u. a. (Hg): Bd. 1 und 2, a. a. O.


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VIOLA DOLLINGER-RAUCH

KEINE SCHULE IST EINE INSEL RÜTLI-SCHULE UND REUTERKIEZ VON 2000 BIS 2017 Im Jahr 2006 wandte sich das Kollegium der Neuköllner Rütli-Schule in einem Brief an die Senatsverwaltung, um von seiner Überforderung angesichts von Gewalt, Perspektivlosigkeit und unhaltbaren Zuständen im Schulalltag zu berichten und um Unterstützung zu bitten. Als der sogenannte „Brandbrief“ veröffentlicht wurde, entfaltete sich eine bundesweite, in den Medien drastisch bebilderte Debatte. Die Tatsache, dass 83 Prozent der Schüler*innen zu diesem Zeitpunkt einen arabischen oder türkischen Migrationshintergrund hatten, die Berichte über Kriminalität und Armut in Neukölln und die Hilflosigkeit der Pädagog*innen und Behörden – all das bot Stoff für Schlagzeilen. Die RütliSchule wurde zum Symbol des Scheiterns stilisiert: für die mangelnden Chancen der Schüler*innen auf Bildung und Teilhabe an der Gesellschaft, für die Sorge um die Integration der kulturell und sozial diversen (Stadt-)Gesellschaft und die problematische Struktur des deutschen Bildungssystems. Heute, mehr als zehn Jahre nach diesen Ereignissen, ist am selben Standort ein Modellprojekt, der Campus Rütli, entstanden, der noch weiter ausgebaut wird. Dieser beherbergt neben einer Gemeinschaftsschule mit einem Ganztagsbetrieb von der Grundstufe bis zur Sekundarstufe auch zwei Kitas, ein offenes Kinder-und Jugendangebot in der Manege, das Stadtteil-Büro, den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, eine Quartiershalle sowie zahlreiche Angebote für Eltern und Kinder, zum Beispiel in der Stadtteil-Lernwerkstatt. Eine Vielzahl an Akteur*innen wurde eingebunden, um an diesem inklusiv angelegten Projekt mitzuwirken. Dabei ist es nicht das erste Mal in der bewegten Geschichte der Schule, dass sie als viel beachtetes Modell fungiert, wie Volker Hoffmann in seinem Beitrag über die Jahre der RütliSchule als Lebensgemeinschaftsschule zwischen 1923 und

Schulstadtrat Wolfgang Schimmang mit dem Brief der Direktorin der Rütli-Oberschule, in dem sie die Behörde um Schließung der Schule bittet, 2006 Foto: ullstein bild / Christian Schrot

1933 zeigt.1 Um jedoch das jüngste Kapitel dieser wechselvollen Geschichte nachzeichnen zu können, lohnt der Blick auf das stadträumliche Umfeld der Schule, dorthin, wo die Schule steht: 1

Volker Hoffmann: „Die Rütlischule – Entwicklung und Auflösung eines staatlichen Schulversuchs“ in: Gerd Radde u. a. (Hg.): Schulreform. Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, Band 1, 1993, S. 118–129.


SCHULISCHE PRAXISFELDER 2

Die Rütli-Schule befindet sich mitten im Reuter-Kiez in Nord-Neukölln, zwischen Hermannplatz und Landwehrkanal. Der Blick auf den Stadtraum um die Schule herum hilft dabei, die Situation im Jahr 2006, deren gewaltige Medienresonanz und die folgende, heftig geführte Debatte einordnen zu können. Und auch für den Blick auf die Entwicklung des Campus Rütli bis heute ist es erhellend, die Schule im Kontext des Stadtraums zu betrachten. Nicht nur die Schule hat sich stark verändert, auch der Kiez drum herum ist kaum wiederzuerkennen.

Zur Jahrtausendwende ließen die Straßen des Reuterkiezes die Armut ihrer Bewohner und des Bezirks insgesamt erahnen. Die Fassaden der Häuser zeugten von jahrzehntelanger Vernachlässigung, viele Läden standen leer, Bierdosen und Hausrat warteten auf heruntergekommenen öffentlichen Plätzen vergeblich auf Entsorgung. Im geteilten Berlin hatte Neukölln am Rand zur innerdeutschen Grenze

Erste Spurensuche: der Reuterkiez zur Jahrtausendwende als „Problemkiez“ Ende der 1990er-Jahre zeichnete sich ab, dass die versprochenen blühenden Landschaften auch im Berlin der NachWendezeit auf sich warten ließen2: Statt des flächendeckenden wirtschaftlichen Booms, der die neue gesamtdeutsche Hauptstadt zu London und Paris aufschließen lassen würde, beobachtete man eine differenzierte, polarisierende stadträumliche Entwicklung. Während manche Bezirke Berlins eine rasante, oft politisch ungebremste Veränderung durch Eigentümerwechsel, Investition, Kernsanierung und Verdrängung der ansässigen Bevölkerung erlebten, verdichteten sich in anderen Armut, Leerstand und Perspektivlosigkeit weiter. Aber man schaute nicht nur neidvoll auf die ökonomische Macht Londons und den Glamour in Paris, sondern auch mit Erschrecken auf die Entwicklung stadträumlicher Exklusion in den Metropolen Europas, etwa in den Pariser Banlieues. Die Sorge vor der Entstehung ähnlicher „No Go Areas“ oder „Ghettos“ in Berlin wuchs. Im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ wurden nun solche Stadtgebiete untersucht, die „eine so hohe Dichte an sozialen Problemen und so schlechte Entwicklungsperspektiven auf[weisen], dass die Gefahr besteht, dass sie zu Orten der sozialen Ausgrenzung werden“3 – was auf ganz Nord-Neukölln zutraf. Die Zuschreibung „Problembezirk“ sollte sich hartnäckig in den Diskursen der folgenden Jahre halten.

2

Die ,blühenden Landschaften‘ beziehen sich auf Bundeskanzler Helmut Kohls Fernsehansprache vom 01.07.1990 zum Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Mit diesem Bild verband sich die Erwartung ökonomischer und sozialer Entwicklung in den östlichen Bundesländern als Folge der Wiedervereinigung.

3

Hartmut Häussermann u. a.: Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2008, Fortschreibung für den Zeitraum 2006–2007, Endbericht, Berlin 2008, S. 23.

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Ansichten aus dem Reuter-Kiez, 2003 Fotos: Friedhelm Hoffmann /Museum Neukölln


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Ansichten aus dem Reuter-Kiez, 2003 Fotos: Friedhelm Hoffmann / Museum Neukölln

gelegen, weit weg von als bürgerlich angesehenen Stadtteilen wie Zehlendorf oder Charlottenburg. Die politisch und ökonomisch unsichere Lage der Inselstadt West-Berlin hatte Investitionen verhindert. Der schlecht ausgestattete, aber bezahlbare Wohnraum bot vielen angeworbenen Arbeitsmigrant*innen einen Ort zum Bleiben, aber wenig Möglichkeiten zur Teilhabe. Und tatsächlich, die Zahlen des „Soziale Stadt“-Monitoringberichts von 2002 waren alarmierend: die Arbeitslosenquote der ca. 18000 Bewohner*innen im Quartier lag mit 18,4 Prozent weit über dem städtischen Durchschnitt von 11,7 Prozent, die Langzeitarbeitslosigkeit stieg 2003 auf 7,9 Prozent. Jeder dritte Haushalt war von Transferleistungen abhängig. Es gab überdurchschnittlich viele Kinder und Jugendliche im Kiez, 40 Prozent von ihnen hatten 2002 nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Kinderarmut war ein zentrales Thema: in Nord-Neukölln betraf sie 60 Prozent aller Kinder. Sie stieg zwischen 2002 und 2005 noch weiter an – im Reuterkiez lebten mehr als ein Drittel aller Kinder in Haushalten mit Transferleistungsbezug. Der hohe Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (2007: 55,8 Prozent; der ohnehin hohe Berliner Durchschnitt lag bei 41,6 Prozent) zeugt von der Migrationsgeschichte im Bezirk. Probleme wurden besonders bei den Themen Arbeit und Bildung sichtbar: Jugendarbeitslosigkeit und Schulabbrecherquoten waren hoch, die Kinder hatten wenig Vorbilder und Möglichkeiten für erfolgreiche Bildungswege. Familien mit höherer Bildung verließen das Quartier, sobald die Kinder schulpflichtig wurden.4 5 Damit war in Statistiken belegt, was Presse und der Berliner Volksmund längst wussten: Neukölln galt als „Endstation“ (Der Spiegel vom 20.10.1997) wegen der ausgeprägten Armut und Arbeitslosigkeit, als „Ghetto mit Parallelgesellschaft“ (Tagesspiegel vom 06.07.2008) aufgrund der Diversität an Nationalitäten, Sprachen und Religionen der Einwohner*innen und als „Ort der Angst“ (BZ vom 21.01.2008) aufgrund von Kriminalität von Jugendbanden und Drogen- und Gewaltdelikten. Entsprechend lautete der Untertitel des satirischen Berichts des zugezogenen Autors Uli Hannemann über sein Leben in Neukölln „Notizen von der Talsohle des Lebens.“6

4

a. a. O.

5

Datenblatt „Soziale Stadt“ Reuterplatz http://www.quartiersmanagementberlin.de/fileadmin/content-media/Datenblaetter_Quartiere/Datenblaetter_Quartiere_neu/Datenblaetter_2011_4_/2011-11-04_Reuterplatz.pdf

6

Uli Hannemann: Neulich in Neukölln. Notizen von der Talsohle des Lebens. Berlin 2008.


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Ohne diese bereits vorhandenen Imaginationen Neuköllns als „Endstation“ oder „Parallelgesellschaft“ ist die Resonanz auf den „Brandbrief“ der Rütli-Schule nicht zu verstehen. Der Begriff „Endstation“ verweist auf einen Diskurs über eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich und die Prekarisierung von Erwerbsverhältnissen und Möglichkeiten der Teilhabe. Die Sorge um das „Abgleiten“ ganzer Stadtteile, das sich unter anderem in den hohen Arbeitslosen- und Transferleistungsquoten ihrer Bewohner*innen abbildet, führte zur Einrichtung des Interventionsprogramms „Soziale Stadt“. Die Resonanz des „Brandbriefs“ stand auch im Kontext der jüngeren Migrationsgeschichte Neuköllns. Auf die verspätete Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, folgte im politischen Diskurs ab den 1990er-Jahren die Sorge um die mangelnde „Integration“ der Einwander*innen und deren Kinder und Enkel. In der heftig geführten politischen Debatte ging es einerseits um die Teilhabe dieser Gruppe am gesellschaftlichen Leben und den Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen, andererseits gab es Forderungen nach ihrer „kulturellen Assimilation“. Kontroversen entfalteten sich rund um die Themen Religion, Sprache und Staatsbürgerschaft.7 Gleichzeitig rückte in den Fokus, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund sowohl im Bildungssystem als auch auf dem Arbeitsmarkt erheblichen Barrieren gegenübersahen und viele von ihnen von Armut bedroht waren. Besonders in der medialen Berichterstattung, aber auch in der politischen Deutung wurde und wird dies häufig als individuelles Versagen, „Verweigerung“ von Leistung oder „Integration“ gedeutet und nicht als strukturelle Ausgrenzung. Der Begriff „Parallelgesellschaft“8 impliziert eine solche freiwillige Abschottung und „Verweigerung“.9 In Neukölln verdichten sich diese Diskurse auf engem innerstädtischem Raum. Hinzu kamen Berichte über kriminelle Jugendbanden und Clans und Drogenproblematiken, die zur Imagination Neuköllns als „Angstort“ beitrugen. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Diskussionen um das deutsche Bildungssystem, dessen Mängel nach dem sogenannten „PISA-Schock“ von 2001 intensiv diskutiert wurden. Aus dem Bildungsbericht der OECD war unter anderem hervorgegangen, dass in Deutschland der Bildungserfolg von Jugendlichen stärker als in anderen Vergleichslän7

Vgl. u. a. Klaus Bade: Migration, Flucht, Integration. Karlsruhe 2017.

8

Für eine Einordnung siehe: Werner Schiffauer: Parallelgesellschaften. Bielefeld 2008.

9

Vgl. Stefan Wellgraf: Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung. Bielefeld 2012.

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2002 wurde der Reuterkiez als QuartiersmanagementGebiet ausgewiesen und damit als „benachteiligtes Quartier“ gefördert. dern mit dem Bildungsstand und der sozio-ökonomischen Situation der Eltern zusammenhängt und Jugendliche mit Migrationshintergrund erheblich schlechtere Chancen auf erfolgreiche Teilnahme im Bildungssystem und Zugang zum Arbeitsmarkt haben als solche ohne Migrationshintergrund.10 Es bestand weitgehend Einigkeit, dass Reformbedarf bestehe, aber über das Wie wurde heftig gestritten. Mit der Rütli-Schule war nach der Veröffentlichung des Briefes eine Projektionsfläche gegeben, auf der sich alle diese Imaginationen und gesellschaftlich relevanten Themen wiederfanden. Die Sorge vor „abgehängten“ Stadtteilen mit Armut und Ausgrenzung, das stereotype Bild von gewaltbereiten Jugendlichen mit Migrationshintergrund als „Integrationsverweigerer“ und die offensichtlichen Mängel des Bildungssystems – all das hatte über Nacht ein Gesicht und einen Ort. Nur so lässt sich nachvollziehen, wie groß das bundesweite mediale und politische Interesse an der Bitte des Kollegiums war und wie die Rütli-Schule zum Symbol des Scheiterns werden konnte. Was die Stadtentwicklung anging, wurde schon früher eine „Verstetigung der hohen Problemdichte“11 festgestellt, und 2002 wurde der Reuterkiez als QuartiersmanagementGebiet (QM) ausgewiesen und damit als „benachteiligtes Quartier“ gefördert. In der Hobrechtstraße wurde ein Quartiersmanagementbüro eingerichtet, um von dort aus die Bewohner*innen an der Entwicklung ihres Kiezes zu beteiligen und sie zu aktivieren, sich in dessen Gestaltung einzubringen. So wurde ein Quartiersrat eingerichtet, in dem Anwohner*innen über die Förderung von Projekten mitentscheiden konnten, es wurden zahlreiche Projekte initiiert, gefördert und vernetzt. Das Programm sieht sowohl Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfelds und der Infrastruktur vor, als auch Mittel für Projekte von Bewohner*innen und anderen Akteur*innen im Kiez. 10 PISA Konsortium (Hg.): PISA 2003. Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Zusammenfassung. Kiel 2004. 11 Hartmut Häussermann u. a.: a. a. O., S. 28.


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Schnell wurde erkannt, dass das Thema Bildung zentral war, um vor allem den vielen jungen Bewohner*innen mehr Chancen auf Teilhabe zu ermöglichen. Seit 2004 war Bildung das Schwerpunktthema der Arbeit des QMs. Mit der Einrichtung eines Lokalen Bildungsverbunds 2005 wurden neue Wege gegangen, um verschiedenste Akteur*innen im Bildungsbereich zu vernetzen und gemeinsame Handlungsstrategien zu unterstützen. Es wurde ein Projekt für interkulturelle Mediation an Schulen entwickelt, Sprachförderprojekte durchgeführt und Lernwerkstätten eingerichtet. Insgesamt flossen zwischen 2002 und 2016 rund drei Millionen Euro und damit die Hälfte des „Soziale Stadt“-Etats für den Reuterkiez in Projekte mit Bildungsbezug.12 Dies war eine wichtige Voraussetzung für das Projekt Campus Rütli in seiner heutigen Form, denn es konnte auf die engagierten Akteur*innen und Strukturen, die in den Jahren zuvor entstanden waren, zurückgreifen. Neben dem Bildungsschwerpunkt setzte die Arbeit des Quartiersmanagements dort an, wo der Bedarf am dringendsten erschien und wofür das Programm Mittel bereitstellen konnte. Durch Infrastrukturmaßnahmen wurde ein Beitrag geleistet, um den schlechten Zustand von öffentlichen Plätzen und Spielplätzen zu verbessern. Auf den hohen Ladenleerstand wurde mit Zwischennutzungskonzepten reagiert, die Unternehmer und Kreative anziehen sollten. Durch die QM-Mittel konnten Projekte für Senior*innen, Mieterberatungen, eine Kiezzeitung, Stadtteilfeste und andere Veranstaltungen realisiert werden.13 Dabei ist nicht zu vergessen, dass vor der Einrichtung des Quartiermanagements bereits viele soziale Einrichtungen und freie Träger seit Jahren im Kiez aktiv waren, u. a. das Nachbarschaftszentrum Elele e. V., der Fusion e. V. oder das Nachbarschaftsheim Neukölln. Deren Unterstützung und Vernetzung war ein weiteres Ziel des Engagements. Manche aber traten dem QM kritisch gegenüber. Viele der kleineren Akteur*innen sahen sich, wie in anderen Orten auch, mit der schwierigen Situation konfrontiert, dem sehr großen Bedarf mit sehr geringen Personal- und Sachmitteln begegnen zu müssen und dabei wichtige und kontinuierliche Arbeit zu leisten. Diese Grundsituation verweist auf die Grenzen des zeit- und ressourcenbegrenzten QM-Programms. Ebenso liegen die strukturellen Gründe für Arbeitslosigkeit und Armut jenseits des Wirkungsbereichs dessen lokal basierten, zeitlich begrenzten Aktivierungsan12 Vgl. http://www.reuter-quartier.de/Bildung.2507.0.html. Dokumentation des QM Reuterplatz, aufgerufen am 20. 01. 2018. 13

Vgl. http://www.reuter-quartier.de/Projektarchiv.27.0.html.

satzes. Auch trägt der Fokus auf die Aktivierung der Bewohner*innen bei allen positiven Effekten dazu bei, Ursachen der strukturellen sozialen Probleme beim Einzelnen zu verorten. Nach den Medienberichten über die Situation an der Rütli-Schule wurden in der Bezirksverwaltung viele ressortübergreifende Anstrengungen unternommen, um darauf eine Antwort zu finden. Zunächst bekam die Schule, deren Schulleiterin erkrankt war und deren Vertretung nicht besetzt war, einen neuen Schulleiter, Helmut Hochschild, der zuvor bereits Schulleiter einer Hauptschule war. Dann entstand die Idee, mehrere Schulen zu einer Gemeinschaftsschule zusammenzulegen. Die heutige Schulleiterin der Gemeinschaftsschule des Campus Rütli, Cordula Heckmann, erinnert sich: „Es war ja klar, hier muss was passieren. Der Brandbrief und die mediale Öffentlichkeit waren ja vernichtend. Dann gab es viele Dinge, die zusammenkamen, die glücklich waren: der politische Wille, die Dinge hier ganz anders anzufassen und politische Steuerung zu übernehmen. Gleichzeitig war die Möglichkeit, an dem Modellprojekt Gemeinschaftsschule teilzunehmen, für uns eine Riesenchance.“

„Es war ja klar, hier muss was passieren. Der Brandbrief und die mediale Öffentlichkeit waren ja vernichtend. Dann gab es viele Dinge, die zusammenkamen, die glücklich waren: der politische Wille, die Dinge hier ganz anders anzufassen und politische Steuerung zu übernehmen.“ 2007 wurde das Konzept für den Campus Rütli durch die Politische Steuerungsrunde im Rathaus Neukölln verabschiedet und bis 2011 in vielen Schritten zu einer Rahmenkonzeption ausgearbeitet. Heinz Buschkowsky, damaliger Bezirksbürgermeister, erinnert sich anlässlich der ersten Abiturfeier der Rütli-Schule 2014 an diese Sitzung: „An dem Tag trafen sich Menschen, die etwas verändern woll-


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ten.“14 In den Schulkonferenzen wurde der Beschluss gefasst, die Heinrich-Heine-Realschule, die Rütli-Hauptschule und die Franz-Schubert-Grundschule zu einer Gemeinschaftsschule zusammenzulegen. Hinzu kam der gebundene Ganztagsbetrieb sowie die Einrichtung der gymnasialen Oberstufe. Entscheidend aber war die Haltung der Pädagog*innen zu den Kindern und Jugendlichen, wie Cordula Heckmann betont: „Ein wesentliches Momentum war zu sagen, wir setzen auf das Miteinander, Integration statt Segregation. Die Kinder, die hier sind, sind die Richtigen, und wir knüpfen gemeinsam an ihren Potenzialen an.“ Der Begriff Campus verweist auf den integrativen Ansatz, bei dem viele Institutionen, Akteur*innen und Ressourcen in einem räumlich zusammenhängenden Areal zusammengebracht werden und untereinander vernetzt werden. Es wurden mehrere Projektpartner gewonnen, unter ihnen die Initiative „Ein Quadratkilometer Bildung“ der Freudenberg-Stiftung, die sich von 2007–2017 engagierte. Christina Rau übernahm die Schirmherrschaft über das Modellprojekt. Klaus Lehnert, der frühere Direktor des Albert-EinsteinGymnasiums, übernahm die pädagogische Leitung des Campus-Projekts. Auch er betont: „Dem Lehrerkollegium und mir war wichtig, eine Kultur der Wertschätzung und des Willkommens zu schaffen.“ Klaus Lehnert erinnert an ein Treffen des Politikers Cem Özdemir mit Zehntklässler*innen der Rütli-Schule, bei dem dieser davon erzählte, dass er nach der 4. Klasse zu hören bekam, er solle auf die Hauptschule gehen und froh sein, wenn er das schaffe. „Da merkt man, was für eine tiefe Verletzung das ist“, kommentiert Klaus Lehnert und fügt an, wie wichtig es sei, an das Potenzial der Kinder zu glauben und es ihnen nicht wegen ihres Migrationshintergrunds oder dem sozio-ökonomischen Status ihrer Eltern von vornherein abzusprechen. Auch Cordula Heckmann wünscht sich, dass weniger auf den ethnischen oder sprachlichen Hintergrund der Schüler*innen fokussiert wird, denn es sei der soziale Hintergrund, bei dem angesetzt werden müsse, um Chancengleichheit herzustellen. Das Kollegium der Rütli-Schule hatte mit seiner Diagnose, die Hauptschule insgesamt sei „am Ende der Sackgasse angekommen“15, auf die Perspektivlosigkeit der Schüler*innen hingewiesen, die der Soziologe Stefan Wellgraf in seiner Studie zu Hauptschüler*innen untersucht hat. Er hat

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14 Konzept des Campus Rütli, S. 28, http://campusruetli.de/cr2-uploads/2014.10/CR2Konzept2007.pdf, aufgerufen am 01. 03. 2018.

eindrücklich gezeigt, dass darüber hinaus in dieser Struktur des Schulsystems gesellschaftliche Schichtung und Stigmatisierung ausgedrückt und manifestiert wird.16 Dem Wunsch der Lehrer*innen, den Schüler*innen durch eine Umwandlung der Schulform Perspektiven für die eigenen Lebenswege zu öffnen, wurde durch die Einrichtung der Gemeinschaftsschule nachgekommen. Die neu eingerichtete Schule ermöglicht heute den Schüler*innen alle Abschlüsse. Für Cordula Heckmann war die Einrichtung der gymnasialen Oberstufe ein wichtiges Signal: „Die Jugendlichen können das!“ Vom ersten Jahrgang der Schüler*innen, die nach 2006 eingeschult wurden, erreichten 27 ihr Abitur. Klaus Lehnert nennt zudem die wichtige Vorbildfunktion für die jüngeren Schüler*innen, die miterleben, wie die Älteren an ihrer Schule ihr Abitur machen. Der gebundene Ganztagsbetrieb der Schule ermöglicht individuelle Förderung, gemeinsame Freizeitaktivitäten und ein „gemeinsames soziales Lernen“. Die Schule hat ein Musikprofil und bietet allen Schüler*innen Erfahrungen in den schuleigenen Werkstätten für Holz, Metall, Ernährung und Textil. Zum Anknüpfen an den Potenzialen der Kinder gehört eine Kooperation mit der Volkshochschule, um Kurse für Türkisch und Arabisch anzubieten, nach deren Abschluss diese Sprachen als zweite Fremdsprache in der Sekundarstufe anerkannt werden können. Jedes Kind erstellt, von der Kita bis zum Schulabschluss, immer wieder eigene Portfolios („meine Lernreise“) und Logbücher, die individuelle Lernprozesse dokumentieren. So sollen die Kinder sich einschätzen lernen, Fortschritte sehen können und individuelle Potenziale aktivieren. Die Einbindung der Eltern in die Bildungswege der Kinder ist ein weiterer wichtiger Baustein des Konzepts. Das Projekt „Eltern fördern Bildung“ ist dafür ein Beispiel, ebenso die Angebote in den Lernwerkstätten, für lebenslanges Lernen und Austausch der Eltern auf dem Campus. Ein Grundgedanke ist das Zusammenbringen vieler an den Bildungswegen der Kinder und Jugendlichen beteiligten Akteur*innen. Das wird durch die Vielfalt von Einrichtungen auf dem Campus ermöglicht, von den beiden Kitas über das offene Kinder- und Jugendangebot bis zum Stadtteilbüro und Räumen für die Elterninitiative. Die Kommunikation untereinander und das gemeinsame Weiterentwickeln des Konzeptes wird in unterschiedlichen Formaten umgesetzt und gesteuert, etwa im monatlichen Arbeitskreis der Akteur*innen. Auf administrativer Ebene wird die ressortübergreifende Arbeit betont, etwa in der viel zitierten

15 Aus dem veröffentlichten Brief an die Senatsverwaltung, zitiert aus: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/dokumentiert-notruf-derruetli-schule-a-408803.html, aufgerufen am 20.12. 2017.

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Stefan Wellgraf: a. a. O.


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Aussage von Christina Rau, wie viel erreicht werden könne, wenn „in Verantwortung, nicht in Zuständigkeiten, gedacht“ werde. Damit ist die organisatorische und finanzielle Bündelung von Ressourcen ebenso gemeint wie die Einbeziehung verschiedener Akteur*innen in die Entwicklung des Projekts. Zuletzt nimmt der Campus durch Sanierung und umfangreiche Neubaumaßnahmen und der bereits umgesetzten Teilumwidmung der Rütlistraße auch räumlich Gestalt an. Die Quartiershalle wird bereits genutzt, mehrere Schulerweiterungsbauten entstehen sowie Werkstätten und der Neubau des Stadtteilzentrums, das vielen Gruppen und Nutzungen zugänglich gemacht werden soll. Mit diesem anspruchsvollen und umfassenden Konzept trat das Projekt an, um kein Kind mehr zurückzulassen, wie es im Titel des Projekts „Ein Quadratkilometer Bildung“ formuliert wurde. Unterdessen wandelte sich nicht nur die Schule, sondern auch der Kiez drum herum rasant.

Zweite Spurensuche: Von der Schulle-Kneipe zur Hipster-Bar. Die Rütli-Schule wandelt sich, der Kiez auch Ende 2017, mehr als zehn Jahre nach dem Medienwirbel um die Rütli-Schule, treffe ich mich mit einer Reihe von Menschen, die im Reuterkiez leben oder arbeiten und mir bei der zweiten Spurensuche helfen. Bei der Suche nach den Veränderungen, die im Kiez stattfinden und den Themen, die heute für die Menschen hier aktuell sind. Vom Kottbusser Damm kommend, biege ich in die Weserstraße ein. „Kreuzkölln“ wird die Gegend heute genannt, weil dieser Teil Neuköllns an Kreuzberg grenzt und einen rasanten Wandel zu einem sogenannten Szeneviertel vollzogen hat. Zeichen dieses Wandels lassen nicht lange auf sich warten: die Fassade eines Eckhauses ist mit schwarzweißen Grafiken verziert, darüber steht in strengen Buchstaben „Urban Footwear“, gegenüber bietet der „etwas andere Kiez-Bioladen“ Veganes, Unverpacktes und glutenfreie Naturkost. Daneben stehen in einem Schaufenster erlesene Sessel und Lampen, original 1970er Vintage. Ein Lieferservice-Wagen einer großen Lebensmittelkette fährt vor, und ein Mann wuchtet zwei große Kisten heraus. Eine Ecke weiter erkenne ich noch Spuren des Reuterkiezes, den ich von früher kenne. Die Suche nach dem Wandel wird zu einer Spurensuche von dem, was blieb. Neben einem alteingesessenen Heizungs- und Sanitärinstallateur gibt es an der Ecke Weser-/ Friedelstraße noch das „Rosel“. Eine der von Berlinern liebevoll „Schulle-Kneipe“ genannte Eckkneipe, die für den Reuterkiez bis vor Kurzem typisch

waren. Im Fenster hängt ein Schultheiss-Emaille-Schild mit der Aufschrift: „Lang lebe die Kiez-Kneipe.“ Der Wirt erzählt mir von der hohen Fluktuation von Menschen im Kiez, rasant gestiegenen Mieten, der Partyszene mit den vielen neuen Bars und Cafés und Problemen mit Folgen des Tourismus und sagt schließlich: „Der Kiez, das Miteinander geht verloren.“ Schon sind wir mittendrin in den Themen von heute. Im Rahmen der Evaluierung des „Soziale Stadt“-Programms wurde noch vorsichtig auf das Potenzial des Reuterkiezes hingewiesen – die gute Anbindung an den Nahverkehr, die Nähe zu den beliebten Kiezen Kreuzbergs und den dichten Altbaubestand. Die Frage war noch offen, ob dies zu einer „Aufwertung“ des Kiezes führen würde. Tatsächlich hat der Reuterkiez in den letzten Jahren eine klassische Gentrifizierung erlebt, mit allen Phasen eines solchen „Aufwertungs-“ und Verdrängungsprozesses. Die sogenannten Pionier*innen, oft Künstler*innen und Freischaffende, nutzten auch im Reuterkiez leerstehende Ladenräume. Andreas Berg vom Mietenbündnis Neukölln sagt dazu: „Das fanden auch zu Beginn alle gut, die Kunstprojekte und all das.“ Das „Freie Neukölln“ entstand in dieser Zeit und war die erste Eckkneipe, die jüngere Leute anzog und dabei eine echte Kiezkneipe sein wollte. Deren Betreiber eröffneten 2006 die Kneipe, um nicht nach Kreuzberg gehen zu müssen, um ein gutes Bier zu trinken. In den acht Jahren, in denen es das „Freie Neukölln“ gab, veränderte sich der Kiez rasant, bis schließlich der Mietvertrag nicht verlängert wurde. Einer der Betreiber, Matthias Merkle, ordnet auch die „Karte der Angst“ der BZ und den Brief der Rütli-Schule in den Wandel ein: „Dadurch wurde es ein Abenteuer, hierherzukommen.“ Den Titelartikel des Stadtmagazins Zitty „Neukölln rockt“ von 2007 empfand Merkle ebenso als wenig hilfreich. 2010 machte er einen Film, der den aufkommenden Tourismus, die Verdrängung von Mietern und

Tatsächlich hat der Reuterkiez in den letzten Jahren eine klassische Gentrifizierung erlebt, mit allen Phasen eines solchen „Aufwertungs-“ und Verdrängungsprozesses.


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Details aus dem Reuter-Kiez, 2015 Fotos: Holger Walkling, kiezografie.de

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die Frage thematisiert, was aus den Menschen wird, die hier leben und nicht nur zum Partymachen kommen. Er selbst lebte schon vor der Schließung des „Freien Neuköllns“ nicht mehr im Reuterkiez und kommentiert knapp: „Nein. Ich kann mir das schon lange nicht mehr leisten.“ Er reflektiert auch die eigene Rolle, denn die Eröffnung des „Freien Neuköllns“ markierte den Beginn des Wandels. Der Ausverkauf der Stadt, das Unterordnen von allem unter die kapitalistische Logik, das mache ihm am meisten zu schaffen, sagt er. „Das ist nicht mehr mein Berlin.“17 Ende 2014 kam dann das endgültige Aus für das „Freie Neukölln“. Heute stehe ich mit der Stadtgeografin und Bildungsforscherin Anika Duveneck vor dem Ladenraum. Ein indisches Restaurant mit bunten Schirmen leuchtet uns entgegen. Die Pionierphase ist eindeutig vorbei. Sie hat den Prozess vom Konzept des Campus Rütli bis zur Umsetzung untersucht und weist darauf hin, dass auch dieser politische Gestaltungsprozess größeren, über Neukölln hinausweisenden Wettbewerbslogiken und finanziellen und politischen Zwängen, jenseits von pädagogischen Konzepten, unterliegt.18 Ein Blick auf den Bezirkshaushalt Neuköllns, der, wie seit Jahren, so auch für 2018/19 rund 75 Prozent des Gesamthaushaltes für Sozial- und Transferleistungen vorsieht, lässt daran wenig Zweifel.19

Der Zuzug von Studierenden, jungen Kreativen und später vielen Einkommensstärkeren hat die Sozialindikatoren des Kiezes verändert.

17 Annett Heide; Susanne Lenz: „Freies Neukölln muss schließen. Das ist nicht mehr mein Berlin“. Interview mit Matthias Merkle in: Berliner Zeitung, 10.11.2013, aufgerufen am: 05.02.2018. 18 Anika Duveneck: Bildungslandschaften verstehen. Zum Einfluss von Wettbewerbsbedingungen auf die Praxis. Weinheim 2016. 19

Bezirksamt Neukölln, Haushaltsplanung 2018/19, https://www.berlin. de/ba-neukoelln/aktuelles/pressemitteilungen/2017/pressemitteilung.623763.php., aufgerufen am 02.02.2018.

Wir gehen weiter in die Hobrechtstraße, auch da ein Ladenlokal, von dessen früherer Nutzung nichts mehr erkennbar ist. Das ehemalige Büro des Quartiersmanagements wird heute anderweitig genutzt, das Programm wurde im Reuterkiez Ende 2016 beendet. Positive Veränderungen in den sozio-strukturellen Indikatoren, die dem Programm zugrunde liegen, der Zuzug von einkommensstärkeren, gebildeteren Einwohner*innen und Verbesserungen im Wohnumfeld waren Gründe, das Programm dort zu beenden, bzw. zwischen 2017–18 zu „verstetigen“.20 Andreas Berg erinnert sich, dass mit ihm viele der Bewohner*innen diese Einschätzung nicht geteilt haben. Der Zuzug von Studierenden, jungen Kreativen und später vielen Einkommensstärkeren hat die Sozialindikatoren des Kiezes zwar insgesamt verändert, die Situation von lange dort wohnenden benachteiligten Bewohner*innen aber nicht verbessert, im Gegenteil. Mittlerweile sind die Mieten rasant gestiegen, bei Neuvermietungen erzielt der Reuterkiez eine der höchsten Steigerungen Berlins. Heute ist die Verdrängung von alteingesessenen, sozial benachteiligten Mieter*innen, sozialen Einrichtungen und Kleingewerbe ein zentrales Thema. Andreas Berg weist darauf hin, dass Initiativen im Bezirk schon lange vorher vor Verdrängung gewarnt hatten, aber ohne politischen Erfolg. 2015, nach großem Engagement des Mietenbündnisses und anderen Gruppen, richtete der Bezirk ein Milieuschutzgebiet im Reuterkiez ein. Dies ist ein politisches Steuerungsinstrument, das teure Sanierungsmaßnahmen, die stark steigende Mieten nach sich ziehen können, genehmigungspflichtig macht. Die Berliner Zeitung schreibt: „Milieuschutz in Berlin Neukölln. Mieten im Reuterkiez um 80 Prozent gestiegen“.21 Auch über die großflächige Umwandlung von Miet- und Eigentumswohnungen wurden sehr viele Bewohner*innen in den letzten Jahren verdrängt, erklärt Andreas Berg und führt aus, dass die rechtliche Grundlage für die Verhinderung von Umwandlung Schlupflöcher enthalte, die den Eigentümer*innen die Maßnahme am Ende doch ermögliche. Dies müsse auf Bundesebene korrigiert werden, da könne der Bezirk Neukölln alleine nichts ausrichten. Mit Investor*innen aus dem In- und Ausland, die große Häuser kauften und als Vermieter*innen 20 Grundlage hierfür war ein Gutachten des DifU von 2013: „Verstetigungsmöglichkeiten Berliner QM-Verfahren“, das für den Reuterkiez allerdings auch deutlich auf die neuen Herausforderungen durch Gentrifizierung, besonders für benachteiligte Bewohner*innen, hinwies und viele Vorschläge zur Entwicklung des Konzeptes der Verstetigung enthielt. 21 Iris Brennberger: „Milieuschutz in Berlin-Neukölln. Mieten im Reuterkiez um 80 Prozent gestiegen“, in: Berliner Zeitung, 05.10.2015, https://www.berliner-zeitung.de/berlin/milieuschutz-in-berlin-neukoellnmieten-im-reuterkiez-um-80-prozent-gestiegen-22697734, aufgerufen am 01.02.2018.


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kein Gesicht mehr hätten, mit dem Tourismus vor allem von jungen Menschen, die für ein Partywochenende nach Neukölln kämen, hätten sich neue Situationen ergeben, die lang ansässige Bewohner*innen verunsichere, fügt er an. Dies machte eine Kiezbegehung des Reuterforums mit Kinderwagen und Rollatoren deutlich, bei der die Gruppe Mühe hatte, die Gehwege zu benutzen wegen der dicht gestellten Tische und Stühle der gastronomischen Betriebe.22 Hier müssten Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen im Kiez, zum Beispiel Senior*innen, junger Bewohner*innen und Gästen sowie Eltern mit kleinen Kindern, in Einklang gebracht werden, sagt Rabea Zeller vom Stadtteilbüro und beschreibt so ihre Arbeit. Es gehe um Vernetzung, Austausch und auch darum, Gruppen im Kiez, deren Anliegen noch nicht gut vertreten sind, einzubinden und ihre Anliegen an die Bezirksverwaltung heranzutragen. Zu diesen Gruppen gehörten länger ansässige Bewohner*innen mit Migrationsgeschichte, Senior*innen, Geflüchtete. Neben Bürgerbeteiligung und Bildung sind auch Tourismus, Mietensteigerungen und Verdrängung wichtige Themen. Auf einer Berlin-Karte, die Inserate der Vermietungsplattform Airbnb für private und gewerbliche Unterkünfte darstellt, bildet sich die neue Situation eindrucksvoll ab. Der Reuterkiez erzielt die höchste Dichte von angebotenen Unterkünften in ganz Berlin. Auf den wenigen Straßenzügen des Reuterkiezes werden 476 Inserate verzeichnet.23 Vermietungen als Ferienwohnungen üben weiteren Druck auf den Mietwohnungsmarkt aus, es wird immer schwieriger, noch bezahlbaren Wohnraum zu finden. Der Soziologe Andrej Holm von der Humboldt-Universität verweist auf den Zusammenhang von Mietpreissteigerungen, städtischer Wohnungspolitik und internationaler Wohnungswirtschaft mit ihren Gewinninteressen. Er fordert wirkungsvolle politische Maßnahmen zur Regulierung der Mieten in den Innenstädten und der Erhaltung und dem Ausbau von Sozialem Wohnungsbau.24 Beim Besuch im Elele-Nachbarschaftszentrum in der Hobrechtstraße erfahre ich von Christine SkowronskaKoch, was ihre Arbeit seit 1993 hier ausmacht. Es gehe um Basisarbeit, vor allem für Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund und mit geringer Bildung: Schulaufgabenhilfe, Beratung bei Problemen in der Schule, das Schaffen von Vertrauensräumen und Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Dies sei ein auch Beitrag für Chancengleichheit. 22 www.reuterforum.de 23 http://airbnbvsberlin.de/#introduction, aufgerufen am: 01.02.2018. 24 https://gentrificationblog.wordpress.com/2011/06/16/berlin-warum-diemieten-steigen, aufgerufen am: 03.02.2018.

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Der Reuterkiez hat ein riesiges Potenzial an gewachsenen Strukturen des Engagements und der Beteiligung. Aber auch diese Initiativen und sozialen Einrichtungen werden durch die steigenden Mieten und finanzielle Unsicherheit bedroht. Dabei sei dieser Bedarf nicht weniger geworden, aber weiterhin unterfinanziert. Sie beschreibt lange Schlangen bei der kostenlosen Mieterberatung, die angeboten wird. Die Bedrohung, die günstigen Mietwohnungen zu verlieren, ist auch für die Menschen, die das Nachbarschaftszentrum besuchen, ein zentrales Thema geworden. Christine Skowronska-Koch ist es bei allen neuen und alten Konflikten im Kiez wichtig, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Diesen Ansatz teilt sie mit vielen Aktiven im Kiez. Die Sorge um einen „abgehängten“ Stadtteil ist der Frage gewichen, wie alteingesessene Bewohner*innen vor dem Verlust ihres günstigen Wohnraums geschützt werden können und wie die Teilhabe von sozial Benachteiligten und Menschen mit Migrationsgeschichte an der Entwicklung ihres Kiezes hergestellt und gesichert werden kann. Aus der Frage des Umgangs mit Ladenleerstand ist die Frage geworden nach dem Konflikt zwischen touristischer Nutzung des Stadtraums und den Bedürfnissen anderer Gruppen, etwa Senior*innen und Familien. Der Reuterkiez hat ein riesiges Potenzial an gewachsenen Strukturen des Engagements und der Beteiligung, die hierfür einen zentralen Beitrag leisten können. Aber auch diese Initiativen und sozialen Einrichtungen werden durch die steigenden Mieten und finanzielle Unsicherheit bedroht. Diese Veränderungen manifestieren sich bereits auf dem Campus Rütli. Schulleiterin Cordula Heckmann erinnert sich: „Das kam plötzlich, aber mit Wucht.“ In den Kitas habe sich die soziale Zusammensetzung der Kinder zuerst verändert. Die Kitaleitungen steuerten mittlerweile Verdrängungsprozessen von Kindern aus sozial schwächeren Familien mit Migrationshintergrund entgegen. Viele zuge-


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Im Logbuch dokumentieren die Schüler*innen des Campus Rütli ihren eigenen Lernweg, 2015 Foto: Ridvan Yumlu, ridvan-yumlu.info

zogene Eltern mit höherer Bildung seien auch von den Angeboten der Grundstufe überzeugt, auch dort haben sich die Quoten von Familien mit und ohne Migrationsgeschichte deutlich verändert. Wie im Stadtteil führe das auch im Schulbetrieb zu neuen Herausforderungen. Als größte davon benennt sie „die große Spreizung, die große soziale Diversität, die wir am Campus haben.“ Da gelte es zu vermitteln, zusammenzubringen. Bildungsaffine Eltern könnten beispielsweise sehr gut ihre Interessen einbringen, für Eltern mit Migrationshintergrund müssten pädagogische Ansätze anders inhaltlich übersetzt werden, andere Angebote gemacht werden. Gleichzeitig ist sie überzeugt, dass die Herausforderungen, die heute an Schule gerichtet sind, „nicht selbstreferenziell zu lösen sind“. Die Öffnung der Schule in den Stadtraum und andersherum sei dabei zentral. Die Abschaffung der Hauptschule im Jahr 2010 in Berlin und die Einrichtung des Campus Rütli im Reuterkiez markieren einen neuen Abschnitt. Abzuwarten bleibt, ob

die Gemeinschaftsschule auch in der Sekundarstufe eine soziale Mischung erreichen wird oder ob das mehrgliedrige, trennende deutsche Schulsystem den Traum einer echten Kiezschule, die den Kiez in seiner Vielfalt abbildet, wie Cordula Heckmann sie anstrebt, verhindert. Es ist zu fragen, welche Chancen den Schüler*innen offenstehen, die diese und andere Gemeinschaftsschulen mit der Berufsbildungsreife, dem Äquivalent zum Hauptschulabschluss, verlassen. Am Beispiel des Campus Rütli zeigt sich, wie viele Veränderungen möglich sind, wenn viele engagierte Menschen sich für Bildungschancen einsetzen. Es wird auch deutlich, wie eng die Entwicklungen von Stadtraum und Schule verknüpft sind und welche Herausforderungen heute gestellt sind: nicht nur keinen Schüler und keine Schülerin, sondern auch keine Kiezbewohner*in zurückzulassen. Hier offenbaren sich gleichzeitig die Grenzen des lokalen Tuns, ragen die strukturellen Gründe für Arbeitslosigkeit, Mietensteigerungen und Armut in den Kiez hinein und


SCHULISCHE PRAXISFELDER 2

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Erster Abiturjahrgang am Campus Rütli mit Bildungsstadträtin Dr. Franziska Giffey (3. v. r.), links daneben Schulleiterin Cordula Heckmann und Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, 2014 Foto: Bezirksamt Neukölln

verlangen Lösungsansätze auf anderen Ebenen. Damit stehen Schule und Stadtraum sowohl symptomatisch als auch symbolisch für die großen Fragen nach Teilhabe an und Gestaltung der Gesellschaft.

Ich danke den folgenden Personen für die Interviews, in denen sie ausführlich über ihre Arbeit und ihre Erfahrungen im Reuterkiez berichtet haben, über welche noch viel zu schreiben wäre: Cordula Heckmann, Schulleiterin der Gemeinschaftsschule des Campus Rütli Andreas Berg vom Mietenbündnis Neukölln Dr. Anika Duveneck vom Institut Futur der FU Berlin Christine Skowronska-Koch vom Elele-Stadtteilzentrum Rabea Zeller und Dominik Biewer vom Stadtteil-Büro auf dem Campus Rütli


IMPRESSUM Udo Gößwald (Hg.) Diese Publikation erscheint zur Ausstellung „Neukölln macht Schule. 1968–2018“ 17. Mai bis 30. Dezember 2018 Museum Neukölln Alt-Britz 81 12359 Berlin Im Auftrag des Bezirksamtes Neukölln von Berlin, Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur/Museum Neukölln

ISBN 978-3-944141-21-3 © Museum Neukölln, Berlin 2018

Katalog Redaktion: Julia Dilger, Dr. Udo Gößwald Redaktionsassistenz: Ramona Krammer Gestaltung/Satz: Claudia Bachmann Titelbild: Staab Architekten Fotodokumentation Schulen: Lukas Fischer Druck: Griebsch & Rochol Druck GmbH

Ausstellung Projektleitung: Dr. Udo Gößwald Projektkoordination: Julia Dilger, Jennifer Rasch Konzeption: Julia Dilger, Dr. Udo Gößwald, Jennifer Rasch Ausstellungstexte: Jennifer Rasch, Ramona Krammer, Sebastian Steininger Öffentlichkeitsarbeit: Jennifer Rasch Sekretariat: Andreas Ernst Mediendesign: eckedesign, Potsdam Architekturfotografie: Lukas Fischer Ausstellungseinrichtung: Bruno Braun, Annette Muff, Dieter Schultz Das Projekt wurde aus Mitteln des Fonds zur Förderung der bezirklichen Kulturarbeit finanziert.


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