Mythos Vinyl - Die Ära der Schallplatte

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MUSEUM NEUKÖLLN 17. Mai bis 28. Dezember 2014

MAGAZIN

D I E

ZUR

Ä R A

AUSSTELLUNG

D E R

IM

MUSEUM

S C H A L L P L A T T E

D I E Ä R A D E R S C H A L L P L AT T E In der Ausstellung „Mythos Vinyl“ wird die Musik einer Ära hörbar, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Nachkriegsgeneration eingebrannt hat: Bill Haley, Elvis Presley, die Beatles und die Rolling Stones. Als der Boom der Schallplatte Anfang der fünfziger Jahre beginnt, produziert die Firma Wiegandt & Söhne in Berlin-Neukölln 1952 die erste deutsche Jukebox. Die Ausstellung zeigt ein Modell dieser Firma sowie Plattenspieler aus Neuköllner Familienbesitz. Sie zeigt aber auch die subjektive, persönliche Seite der Beziehungsgeschichte zwischen Schallplatten und ihren Hörern. Fünfzig Neuköllnerinnen und Neuköllner verschiedenster Jahrgänge haben dem Museum ihre Lieblingsplatte zur Verfügung gestellt.

Bezirksamt Neukölln von Berlin, Abt. Bildung, Schule, Kultur und Sport Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur / Museum Neukölln

Museum Neukölln

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NEUKÖLLN

Exklusiv

50 NEUKÖLLNER/INNEN UND IHRE LIEBSTE SCHEIBE Neuköllner Musikboxen erobern den Markt Jacky Spelter – ein Neuköllner Rock ’n’ Roller Vom Alltag eines DJs Musik als Heimatersatz


KULTUR IM KÖRNERPARK Regelmäßige Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in der Galerie im Körnerpark Führungen durch die Ausstellungen jeden Sonntag, 15 Uhr, Eintritt frei

Bezirksamt Neukölln von Berlin, Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur / Museum Neukölln


E D I T O R I A L MYTHOS VINYL – DIE ÄRA DER SCHALLPLATTE von UDO GÖSSWALD Vor 125 Jahren, am 26. November 1889, präsentiert Emil Berliner sein Grammophon den staunenden Experten der Berliner Elektrotechnischen Gesellschaft. Damit war der Prototyp für die technische Reproduzierbarkeit von Musik in Europa angekommen. Vor sechzig Jahren, im Jahr 1954, produziert die Neuköllner Firma Wiegandt den Diplomat 120 (A), eine der ersten Jukeboxen für Vinylschallplatten in Deutschland. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, Musik in öffentlichen Gaststätten und Tanzlokalen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die Musikbox wird zum magischen Anziehungspunkt für tanzbegeisterte Jugendliche, die sich einen Spaß daraus machen, die „älteren Herrschaften“ mit ein paar Rock ‘n‘ Roll-Songs aus dem italienischen Eiscafé zu vertreiben. Getanzt wird im selbstgenähten Petticoat, die Jungs mit Elvistolle, Lederjacke und engen schwarzen Jeans. Es beginnt die Ära der Vinyl-Schallplatte, die bis Mitte der achtziger Jahre der dominierende Tonträger für Unterhaltungsmusik ist. Die Schallplatte wird ab den fünfziger Jahren zum Medium einer neuen Jugendkultur und begleitet die weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Rockund Beatmusik vornehmlich aus den USA und Großbritannien reflektiert und befördert ein neues Selbstverständnis der Nachkriegsgeneration, die sich abwendet von den autoritären und obrigkeitsstaatlichen Traditionen deutscher Geschichte. In den Wohnzimmern entbrennt nun vor der heimischen, mühsam ersparten Musiktruhe ein heftiger Kulturkampf. Freddy Quinn und Fred Bertelmann gegen Bill Haley, Elvis Presley, Little Richard, Pat Boone und viele mehr. Deutsche Seemannsromantik, Fernweh und der unbedarfte Optimismus, der alles verdrängte, was deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg angerichtet hatten, stand jetzt gegen die Musik der amerikanischen Befreier. Doch der Zugang zu Rock, Beat, Pop, Jazz und Soul bleibt bis Mitte der sechziger Jahre hinein schwierig. Nur wenige können sich

Schallplatten leisten, wenn überhaupt, dann nur Singles. Das Geschäft „Musik-Bading“ in der Neuköllner Karl-Marx-Straße generiert einen nicht unerheblichen Teil seines Umsatzes mit dem Taschengeld von Schülerinnen und Schülern. Wichtig werden die Radiosendungen des AFN (American Forces Network) und später der RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) mit seiner Sendung „Schlager der Woche“. Und dann kommt im Fernsehen ab 1965 alle vier Wochen die Sendung Beat-Club von Radio Bremen mit den Moderatoren Uschi Nerke und Gerhard Augustin. Dort treten sie alle auf: The Rattles, The Small Faces, The Byrds, The Monkees, The Who, The Hollies, Procol Harum, Manfred Mann, Ike and Tina Turner und viele andere mehr. Doch wer hatte schon einen Fernseher? Und wer durfte Beat Club sehen? Immerhin besitzen 1966 schon 88 Prozent der Jugendlichen einen eigenen Plattenspieler. Tonbandgeräte oder Plattenspieler der Marken „Grundig“, „Saba“, „Telefunken“, „Braun“ oder „Dual“ werden zu den begehrtesten Geburtstagsoder Konfirmationsgeschenken. Einer, der in den sechziger Jahren als Fan und Rockmusiker ganz dicht dran ist an den späteren großen Stars, ist der Neuköllner Jacky Spelter. Er spielt mit seiner Band in Hamburger Clubs und lernt dabei auch die Beatles kennen. Jacky trifft die Liverpooler dann 1965 bei Dreharbeiten ihres Films „Help!“ in den österreichischen Alpen. Dabei entstehen Legenden, aber auch exklusive Fotos von John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr, die sich als Teil des Nachlasses von Jacky Spelter heute in der Sammlung des Museums Neukölln befinden. Während sich noch viele – auch der damals älteren Generation – mit den sympathischen Pilzköpfen anfreunden können, sind die Rolling Stones schlicht die Inkarnation der Gegenkultur. Mit ihnen verlassen viele der nach 1945 Geborenen endgültig den bürgerlichen Kanon der Wohlanständigkeit. Die Stones speisen ihre musikalische Energie aus dem Rhythm & Blues und treffen damit den Geschmack der 68er Protestgeneration. Das legendäre

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Plattencover: The Beatles, „HELP!“, Parlophone, 1965; Privatbesitz The Rolling Stones, „Aftermath“, Decca, 1966; Foto: Museum Neukölln / Friedhelm Hoffmann The Jimi Hendrix Experience, „Axis: Bold As Love“, Polydor, 1967; Foto: Museum Neukölln / Friedhelm Hoffmann The Golden Earring, „eight miles high“, Polydor, 1969; Foto: Museum Neukölln / Friedhelm Hoffmann Michael Jackson, „Thriller“, Epic, 1982; Foto: Museum Neukölln / Friedhelm Hoffmann

Ausdruck kommt und den Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt symbolisiert. Für viele Plattenfans ist die Band ein Vorbild, wie man sich als Gruppe oder Gemeinschaft den jeweils neuen Umständen anpasst. Ein wiederkehrendes Motiv ist das Gefühl von Freiheit und Grenzenlosigkeit, das die Musik eines Interpreten vermittelt. In anderen Fällen wird ein Musikstück zum Spiegel einer Liebesgeschichte, drückt die Beziehung zu einer verlorenen Heimat aus oder ist schlicht und einfach der Inbegriff des eigenen ästhetischen Empfindens. In der Musik erkennen die Menschen oft eine Welt, die sich für sie nicht rational durchdringen lässt und gerade deshalb ein so gigantisches Reservoir für Träume ist. Anhand von biografischen Erzählungen, Schallplatten und der Phonotechnik des Alltags, die zum größten Teil von Bürgerinnen und Bürgern des Bezirks Neukölln stammen, entfaltet sich in dieser Publikation und in der Ausstellung „Mythos Vinyl“ ein Panorama des Musikerlebens aus rund vierzig Jahren Vinyl-Ära. Die älteren Museumsbesucher und Leser werden in ihren Erinnerungen einem Teil des eigenen Lebens begegnen, der vielleicht lange verschüttet war. Vielleicht nehmen sie aber auch die Musik ihrer Jugendzeit heute mit ganz anderen Empfindungen wahr. Jüngere, die sich heute wieder verstärkt für die Vinyl-Schallplatte begeistern, können mit Sicherheit viele neue musikalische Entdeckungen machen. Wie heißt es doch so treffend in einem Song von John Miles aus dem Jahr 1976: „Music was my first love and it will be my last.“

Konzert der Rolling Stones in der Berliner Waldbühne 1965, das die Band bereits nach zwanzig Minuten beendet, führt zu wütenden Protesten der Fans und der völligen Demolierung des Mobiliars. Der Splitter einer Bank, die während des Konzerts zu Bruch ging, ist die persönliche Reliquie eines Neuköllner Lehrers, der heute noch ein begeisterter Sammler von Stones-Platten ist. Was für den Dandy um 1900 die Kunstsammlung war, wird in den siebziger Jahren für die popbegeisterte Jugend auf der ganzen Welt die Plattensammlung. Sie wird zum Spiegelbild des eigenen musikalischen Universums und damit eine wichtige Ressource der Identitätsbildung. Obwohl die Schallplatte zu einem überaus profitablen Massenprodukt wird und sich die Musik der Vinyl-Ära tief in das kollektive Gedächtnis einer Generation eingebrannt hat, ist die subjektive Seite der Beziehungsgeschichte zwischen Schallplatten und ihren Hörern von besonderer Bedeutung. Fünfzig Neuköllnerinnen und Neuköllner im Alter von 17 bis 85 Jahren haben dem Museum Neukölln ihre Lieblingsplatte zur Verfügung gestellt. Sie erzählen, welches Stück sie am meisten begeistert oder berührt hat. Das Spektrum reicht von Louis Armstrong, Glenn Miller und Frank Sinatra über Françoise Hardy, Barbara und Edith Piaf bis zu Jimi Hendrix, Golden Earring und Michael Jackson. Doch auch klassische Musik und Jazz sind dabei. Damit rückt die emotionale Bedeutung der Musik für jeden Einzelnen in den Vordergrund. Für die einen – eher männlichen – Hörer verkörpert ein bestimmter Song die Kraft und Energie, die ihn im Leben immer wieder nach vorne schauen lässt. Für die anderen – eher weiblichen – Hörer spielt der Mut eine Rolle, der in einem Lied zum

Dr. Udo Gößwald ist Leiter des Museums Neukölln.

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Editorial Mythos Vinyl – Die Ära der Schallplatte Udo Gößwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Wie die Vinyl-Schallplatte ins deutsche Wohnzimmer kam Jennifer Rasch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .4 Phonotechnik im Alltag – der Schallplattenspieler Nora Lackner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Meine liebste Scheibe 50 Neuköllnerinnen und Neuköllner und ihre Lieblingsplatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Wiegandt & Söhne – Neuköllner Musikboxen erobern den Markt Cersten Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Die Musikalienhandlung Bading – eine Neuköllner Institution Anke Schnabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Das Vinyl-Zeitalter denken – Anmerkungen zur Theoriegeschichte des Pop Bodo Mrozek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Die Schallplatte – das Medium der Jugendkulturen Kaspar Maase. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Starkult in Zeiten des Vinyls Mareen Maaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Der Soundtrack von Freiheit und Abenteuer Barbara Hoffmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Übungsraum für den Klassenkampf – „Ton Steine Scherben“ im Kottbusser Damm 76 Thomas Joerdens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 „You should, after all, judge a book by its cover“ – Design und Ästhetik der Plattencover Oliver Schweinoch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Pop am Fließband – Wie eine Schallplatte vermarktet wird Volker Banasiak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Ganz dicht dran – Der Neuköllner Plattenproduzent Norman Ascot Volker Banasiak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Jacky Spelter – ein Neuköllner Rock ’n’ Roller H. P. Daniels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Sprachrohr der linken Subkultur – das Magazin für Popkultur SPEX Berthold Seliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Alter und neuer Hass – Vinyl und RechtsRock Martin Langebach / Jan Raabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Musik als Heimatersatz – Das Paradies auf dem Plattenteller Gabriele Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Mit Vinyl und Spachtel – Vom Alltag eines DJs Giuseppe Pitronaci . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Der DJ wird zum Superstar Can „Khan“ Oral. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

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WIE DIE VINYL-SCHALLPLATTE INS DEUTSCHE WOHNZIMMER KAM

Die erste „Plattensprechmaschine“ von Emil Berliner, o. J., Foto: bpk, Nr. 200 320 24a

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von JENNIFER RASCH

Schallplatten, ihr runden, Verschönt uns die Stunden Laut oder leise, Tief oder hell, Wie wir euch bestellt. Dreht euch im Kreise. Das Karussell Der geistigen Welt […]1 Geschäft für Sprechmaschinen in der Bergstraße 142 (heute Karl-Marx-Straße), o. J.; Foto: Museum Neukölln

Joachim Ringelnatz ERSTE VERSUCHE DER SCHALLAUFZEICHNUNG – THOMAS ALVA EDISON UND SEINE „SPRECHMASCHINE“ Als der Amerikaner Thomas Alva Edison am 24. Dezember 1877 seine Erfindung der „Sprechmaschine“ als Patent einreicht, ahnt er nicht, dass er damit den Beginn der Unterhaltungsindustrie einläuten wird. Ihm gelingt es erstmals, Schall aufzuzeichnen und diesen auch wieder abzuspielen. Die aufzunehmenden Töne werden bei diesem Verfahren in eine Zinnfolie eingeritzt, die später in einer Wachswalze mit wendelförmiger Höhenschrift gespeichert werden. Um zu testen, ob sein Gerät funktioniert, singt Edison die ersten Zeilen des Kinderliedes „Mary Had a Little Lamb“ und spielt die Walze von Neuem ab. Die Aufnahme, so Edison, sei zwar leise und die Stimme leicht verändert, aber dennoch verständlich.1 Edisons Phonograph sorgt bereits nach kurzer Zeit für Schlagzeilen, sogar in europäischen Zeitungen. Die Presse vermutet hinter dieser Erfindung bereits die nächste Sensation, nachdem zwei Monate zuvor Alexander Graham Bell das Telefon vorgestellt hat. Es ist die Zeit einer optimistischen und erfindungsreichen Generation. Edison und viele seiner Kollegen ahnen bereits die kommenden Veränderungen voraus, die die Aufzeichnung der vertrauten Welt mit sich bringen würde. Das tatsächliche Ausmaß ihrer Erfindungen vermag jedoch keiner der Wissenschaftler vorherzusehen. Im Juni 1878 listet Edison in einer nordamerikanischen 1

Joachim Ringelnatz. In: Ringelnatz, Joachim; Pape, Walter (Hg.): Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Bd. 2 Gedichte. Berlin 1985, S. 184.

Zeitschrift die zehn möglichen Anwendungsbereiche seines Phonographs auf, wobei der Verwendungszweck zur Wiedergabe von Musik erst an vierter Stelle genannt wird. Edison sieht in seiner Erfindung vielmehr die Möglichkeit, das Berufsleben zu revolutionieren.2 „Der neue Phonograph wird dazu dienen, Diktat aufzunehmen, Zeugnis vor Gericht abzulegen, Reden festzuhalten, Vokalmusik wiederzugeben, Fremdsprachen zu unterrichten. [Außerdem] für Briefwechsel, zivile und militärische Befehle, […] die Distribution von Liedern großer Sänger, für Predigten und Ansprachen und die Worte von großen Männern und Frauen.“3 Das Interesse der Bevölkerung für den Phonographen ist anfangs ungebrochen, jeder will die neue Erfindung sehen und vor allem hören. Es werden sogar Sonderzüge zu seinem Labor in Menlo Park südwestlich von New York eingesetzt. Bald darauf treten auch Investoren mit Edison in Kontakt, um seinen Apparat zu vermarkten. Am 24. Januar 1878 entsteht mit 10.000 Dollar des Unternehmers Gardiner Green Hubbard die Edison Speaking Phonograph Company, an deren Bruttogewinn der Erfinder mit 20 Prozent beteiligt ist. Dennoch ist nicht jeder mit der Qualität der Aufnahmen zufrieden. Kritiker und Journalisten beanstanden die durch den Handbetrieb der Walze hervorgerufene Unregelmäßigkeit in der Wiedergabe sowie ihre 2

Vgl. Hiebler, Heinz: Hugo von Hoffmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003, S. 391.

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Zit. nach Rühr, Sandra: Tondokumente von der Walze zum Hörbuch: Geschichte – Medienspezifik – Rezeption. Göttingen 2008, S. 45.

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geringe Lautstärke. Ferner speichern die Walzen nur etwa zwei Minuten und können aufgrund ihrer empfindlichen Oberfläche nicht oft abgespielt oder gar transportiert werden. Auch die zahlreichen unerwünschten Hintergrundgeräusche werden bemängelt. Das Interesse schwindet zusehends, auch Edison selbst wendet sich enttäuscht ab und beschäftigt sich ab Juli 1878 mit der Herstellung der Glühbirne. Nun sind es andere findige Köpfe, die die Grundidee Edisons aufgreifen und an der Verbesserung des Phonographen tüfteln. Bereits zu dieser Zeit wird nun auch mit Schallaufzeichnungen auf Platten statt auf Zylindern experimentiert. Unter den erfindungsreichen Männern befinden sich bekannte Namen wie Alexander Graham Bell, doch so sehr sie sich auch bemühen, es ist ein 36-jähriger Deutscher, der ihnen die Schau stehlen wird. EIN BERLINER AUS HANNOVER EROBERT DIE WELT – EMIL BERLINER UND DIE GEBURT DER SCHALLPLATTE Der in Hannover geborene Emil Berliner wandert 1870 mit 19 Jahren in die USA aus, um dem preußischen Wehrdienst zu entgehen. Nach mehreren gescheiterten Tätigkeiten als Aushilfe beginnt er, aus einem großen Interesse für Elektrizität und Akustik heraus, Abendkurse in Elektrotechnik zu belegen. Um mehr über die Technik des Telefons zu erfahren, pendelt er immer wieder zwischen New York und Washington zu Bell. Berliner tüftelt bereits an seiner Erfindung des Fernsprechermikrofons, das er 1877 für 75.000 Dollar an die Bell Telephone Company verkauft. Mit seinem kleinen Vermögen kehrt er 1881 nach Hannover zurück und gründet


Emil Berliner, um 1925; Foto: Privatbesitz

zusammen mit seinem Bruder Joseph die erste europäische Telefonfabrik. Doch ihn hält es nicht lange in der Heimat und er geht erneut in die USA, wo er sich ein kleines Labor in Washington einrichtet. Hier stellt er nun Versuchsreihen zur Verbesserung des Phonographen an, dessen Potenzial er von Anfang an in der Unterhaltungsindustrie sieht. Um Edisons Patent zu umgehen und die anfälligen Walzen durch raumsparende Tonträger zu ersetzen, entwickelt er sein „Grammophone“ mit einer flachen, runden rotierenden Scheibe aus Zink von fünf Zoll Durchmesser – etwa die Größe einer Compact Disc (CD). Hier fällt auch erstmals der Begriff Schallplatte bzw. auf Englisch „plate“ und später „disc“. Das Verfahren der Schallaufzeichnung ähnelt dabei der Herstellung einer Radierung: die feinpolierte Metallscheibe wird vor der Aufnahme in eine dünnflüssige Wachs-Benzol-Lösung eingetaucht, die sich als gleichmäßige Schicht um die Zinkscheibe legt. In diese Wachsschicht ritzt der Schneidstichel die Schallinformation. Die bespielte Platte wird anschließend einer Chromsäurelösung ausgesetzt, die sich in die freigelegten Furchen der Zinkscheibe einätzen. Diese Methode ermöglicht es, die Platte beliebig oft abzuspielen, aber noch wichtiger ist, von der Zinkplatte können unzählige Kopien aus Hartgummi gezogen werden. Am 26. September 1887 meldet Berliner, der sich nun Emile nennt, sein GrammophonSchallplatten-System zum amerikanischen Patent an, am 8. November wird es ihm unter der Nummer 15232 erteilt.4 Bald darauf stellt er seine Konstruktion der Öffentlichkeit vor, wobei ihn sein Weg wieder nach Deutschland führt, um die Funktionsweise 4

Vgl. Haffner, Herbert: „His master‘s voice“. Die Geschichte der Schallplatte. Berlin 2011, S. 34.

seines Prototyps einer meinungsbildenden Elite vorzustellen. Der Elektrotechnische Verein hat sich dabei eine besondere Veranstaltung einfallen lassen: Vor einflussreicher Hörerschaft – die Teilnehmer rekrutieren sich aus Regierungsräten und Direktoren führender Firmen – sollen beide Systeme, Edisons Phonograph und Berliners Grammophon, verglichen werden. Die Veranstaltung verdeutlicht die aus der technischen Funktionsweise hervorgehenden Unterschiede beider Systeme. Für die Zuhörer ergibt sich hieraus die Frage, welchem System bei der Kommerzialisierung der Vorrang einzuräumen sei. Dabei überzeugt keiner der beiden Apparate auf Anhieb: die Qualität des Phonographen sei besser, dafür spiele das Grammophon lauter und besteche durch seine konstruktive Einfachheit.5 Für die Vermarktung seines Grammophons setzt Berliner zunächst auf das Spielwarengeschäft und überträgt die Patentrechte der Firma Kämmer, Reinhardt & Co., einer Puppenfabrik aus Waltershausen in Thüringen. Die Firma wird das Grammophon bis 1891 herstellen, denn die Markteinführung des Grammophons in Konkurrenz zum Phonographen wird durch seine mangelnde Klangqualität erheblich erschwert. Berliner arbeitet unterdessen an der Verbesserung der Schallplattenproduktion: Mithilfe von aus Indien importiertem Schellack gelingt es, ein leicht formbares und haltbares Material zu erzeugen; Ruß verleiht den Platten die schwarze Farbe. Daraufhin gründet er 1895 die Berliner Grammophone Company in Philadelphia, die sowohl Schallplatten als auch Grammophone herstellt. In der Telefonfabrik in Hannover lässt Berliner vier aus den USA importierte Schallplattenpressen aufstellen. Die im Londoner Schwesterunternehmen Grammophone Company6 aufgenommenen Platten werden nach Hannover geschickt, um sie dort zu vervielfältigen. Zu Beginn des Jahres 1899 ist der Standort in Hannover die erste Fabrik weltweit, die ausschließlich Platten herstellt, wobei die Anzahl der Pressen auf vierzehn ansteigt. Die Schallplattenfabrik erhält den Namen Deutsche Grammophon. Derweil ist man in den USA bereits dabei, den Massenmarkt für Phonoobjekte zu erschließen. Ermöglicht wird dies durch die strategische Veränderung des den Phonoobjekten implizierten Gebrauchszwecks, nämlich weg vom Bürogerät hin zum Unterhaltungsapparat. Der Pacific Phonograph Company gelingt der Durchbruch, indem sie Phonoautomaten zu Werbezwecken in einem Saloon in San Francisco bereitstellt. Durch einen Münzmechanismus und mithilfe ins-

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Vgl. Gauß, Stefan: Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900–1940). Köln 2009, S. 41.

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William Barry Owen und Trevor Williams gründeten 1898 die Gramophone Company. Berliner übergab ihnen Exklusivrechte zum Vertrieb von Grammophonen und Schallplatten in Europa.

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tallierter Abhörschläuche können vorgefertigte Aufnahmen angehört werden. Der Erfolg ist enorm, sodass weitere Lokale mit den Automaten ausgestattet werden. Bereits 1890 zählt eine Statistik 1 449 Automaten; inzwischen lassen sich auch Kneipen, Restaurants, Eisdielen, Drugstores und Vergnügungsparks damit ausstatten. Diese Methode soll nun auch in Deutschland von Erfolg gekrönt werden. Vor allem Schausteller, die das Hören vorbespielter Walzen anbieten, können so ihren Verdienst um einiges aufbessern. Der Schausteller Felix Schellhorn, der Aufzeichnungen des Rostocker Orchesters und des Berliner Schaefer’schen Gesangvereins produziert, führt seine Aufnahmen mit einem eigens umgebauten Phonographen in Berliner Vergnügungslokalen vor. Seine „Karriere“ beginnt in Neukölln, in der „Neuen Welt“ und dem „Ausstellungspark“ in der Hasenheide. Das Unternehmen erweist sich als äußerst rentabel, die zehn Schläuche seines Phonographens sind nahezu immer besetzt.7 DIE KONKURRENZ WÄCHST – DER KAMPF UM HOHE ABSATZZAHLEN Die verbesserte Vervielfältigungstechnik der Schallplattenproduktion sowie die publikumswirksame Vorführung der Phonographen lässt viele Geschäftsleute das große Geld mit dem Plattengeschäft wittern. So schießen in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende Schallplattenfirmen wie Pilze aus dem Boden. Es dauert nicht lange und es werden die ersten Plagiate entdeckt, sodass große Firmen Überlegungen anstellen, ihre Produkte zu schützen. Daraus resultieren bereits zu Beginn der aufkommenden Plattenindustrie diverse Variationen der einzelnen Hersteller sowie unermüdliche Verbesserungen in der technischen Ausstattung. Die wohl bekannteste deutsche Firma ist die Deutsche Grammophon. Als entscheidend hierfür gilt die Produktpolitik des Unternehmens: „Dies war uns ein Ansporn, unsere Fabrikate zu verbessern und zu vervollkommnen und ein Repertoire an Schallplatten zu schaffen, in welchem die hervorragendsten Kunstgrößen in reicher Auswahl vertreten sind.“8 Ihr Anspruch auf beste Qualität bezieht sich dabei sowohl auf die unter Vertrag genommenen Interpreten, als auch auf die Aufnahmen und die Produktion der Platten und Grammophone – ein Qualitätsmerkmal, das dem Unternehmen bis in die heutige Zeit anhaftet. Doch ihr anfänglicher Erfolg wird durch einen weiteren Umstand begünstigt. Der Reklamefachmann Frank Seaman bietet den Gebrüdern Berliner den 7

Vgl. ebd., S. 44.

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Zit. nach Tasch, Dieter: Die „Grammophon“ in Hannover – 100 Jahre Schallplattengeschichte. In: 100 Jahre Schallplatte. Von Hannover in die Welt. Hannover 1987, S. 50.


WIE DIE VINYL-SCHALLPLATTE INS DEUTSCHE WOHNZIMMER KAM Kauf der Exklusivrechte für Zahlteller mit Logo „His Master’s Voice“, o. J. Aus: Mark Caruana-Dingli: The Berliner Gramophone, an Illustrated nung und -wiedergabe den Verkauf von Grammo- History. Markham, Ontario / Canada 2005, S. 22. dominiert. Da die Prophonen in den USA an. Mitduktion von Tonträgern hilfe eines Vertrags von und Wiedergabegeräten fünfzehn Jahren Laufzeit anfänglich noch unter übernimmt er in einer eieinem Firmendach ergens in New York gegrünfolgt, entwickelt sich die deten Firma, der National Konkurrenz zunächst Gramophone Company, den nur auf gerätetechniVerkauf bzw. die Reklame scher Seite. Die angebofür die Produkte auf eigene tene Musik ist von den Rechnung. Es ist die KombiHerstellern zunächst nation aus qualitativ hochlediglich als Verkaufswertiger Ware und Seamans hilfe gedacht und beoffensivem wie fantasieschränkt sich in vielen reichem Marketing, die den Fällen auf solche MuUmsatz der Platten und sik, die die Vorzüge des Grammophone deutlich in jeweiligen Systems am die Höhe treibt. „Finden Sie besten zur Geltung brinnicht, dass die Winterabengen kann. Der größte Teil de immer länger und trüber der Abspielgeräte ist nach werden? Schließen Sie die wie vor mit einem MünzJalousien und hören Sie lieber mechanismus versehen und Grammophon!“9 So lautet einer aus diesem Grund vor allem in öffentlichen Räumen, wie der Werbesprüche aus der Feder in Gastwirtschaften, aufgestellt. des geschätzten Werbefachmanns. Daraus ergibt sich ein SchwerDie große Nachfrage zieht längere punkt im produzierten Repertoire, Lieferzeiten nach sich. Nach zwei Jahder vornehmlich auf den populären ren produziert die Firma bereits 700 000 Musikformen der Zeit beschränkt bleibt. Schellackplatten jährlich. Doch die gute ZuUnter den technischen Bedingungen erweisammenarbeit mit Seaman ist nur von kursen sich der Klavierton sowie das Frequenzzer Dauer. Zunächst verkündet er der Presse, spektrum von Blechblasinstrumenten als benun ebenfalls Sprechmaschinen produzieGramophone gründet Eldrige R. Johnson sonders geeignet. Der andere, kleinere Teil ren zu wollen, die weitgehend Imitationen 1903 eine Filiale seiner Victor Talking Mader Abspielgeräte ist für das zahlungskräftivon Berliners Grammophonen sind. Als chine Company in Berlin, die unter dem Nage Bürgertum konzipiert und hat dementSeamans Vorhaben, seine Firma an Berliner men Odeon firmiert. Bereits 1904 stellt die sprechend auch im Design den Charakter zu verkaufen, scheitert, setzt er alles daran, Firma auf der Leipziger Frühjahrsmesse die eines hochwertigen Möbelstücks angenomaus dem noch zehn Jahre laufenden Vertrag erste doppelseitig bespielte Schallplatte als men. Für diese Klientel werden hauptsächauszusteigen und an die Patente zu kommen. Sensation vor. Auch eigenständige Firmenlich Opernarien angeboten. Die französische Alles endet schließlich in einem Rechtsgründungen werden nun zunehmend regisSopranistin Mary Boyer, die russischen streit, in dem ein mit derlei Klagen völlig triert. Die ab 1895 bestehende und in Leipzig unvertrautes Gericht Berliner den Vertrieb ansässige Polyphon-Musikwerke AG expanseiner Grammophone in den USA untersagt. diert mit Tochterunternehmen bis in die Berliner beschließt daraufhin, seinen FirmenMitte der zwanziger Jahre in ganz Europa. sitz ins benachbarte Kanada zu verlegen und Ebenfalls in Deutschland entsteht mit der kümmert sich vermehrt um seine europäiCarl Lindström AG das Imperium des aus schen Tochterfirmen. In Montreal produziert Schweden ausgewanderten Mechanikers Carl er Frank Batas Lied „Hello, My Baby“ als Lindström, das Geschäftsbeziehungen über erste in Kanada gepresste Platte unter dem die ganze Welt unterhält, bevor es 1926 unneuem Markenzeichen: ein vor einem Gramter die Kontrolle der Columbia gerät. Charles mophon sitzender Hund nach dem Gemälde Pathé gründet bereits 1896 in Paris sein Unvon Francis Barraud. Der neue Standort tut ternehmen Pathé Frères und legt damit den dem Erfolg keinen Abbruch: Bereits 1901 Grundstein eines weltweit agierenden Meverzeichnet seine Gram-O-Phone Company dienunternehmens mit den Schwerpunkten bereits zwei Millionen verkaufte schwarze Film und Schallplatte. Bereits 1904 sind im Scheiben. Katalog der Pathé Frères 12 000 EinzelaufDie langwierigen Patentstreitigkeiten, an nahmen verzeichnet, ein Großteil davon bedenen sich immer mehr Akteure beteiligen, schränkt sich auf Opernarien für ein bildungsblockieren die Entwicklung der Musikindusbürgerliches Publikum.10 trie in den Vereinigten Staaten. Dieser UmDie anfängliche Entwicklung der Musikstand verleitet die Akteure, Firmen in Europa industrie wird im Wesentlichen von den zu gründen, wo sie, ohne sich zu behindern, technischen Fortschritten der Klangaufzeichagieren können. Neben den genannten englischen und deutschen Ablegern von Berliners

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Zit. nach Haffner 2011, S. 41.

10 Vgl. Wicke, Peter: Musikindustrie im Überblick. Ein historisch-systematischer Abriss. Berlin 1997. Verfügbar im Internet unter URL: www.crossover-agm.de/ txtwick2.htm, (letzter Zugriff: 30.10.2013).

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Werbeanzeige der Polyphon-Musikwerke AG, 1909. Aus. Franz Schorn: Alte Schallplatten-Marken in Deutschland. Wilhelmshaven 1988, S. 95.


Opernsänger Oskar Kamionski und Fjodor Schaljapin, der österreichische Tenor Leo Slezak sowie der italienische Startenor Enrico Caruso prägen somit diese frühe Entwicklungsphase.11 Letzterer verhilft dem neuen Industriezweig jedoch entschieden zur Popularität. Zwischen 1902 und 1921 werden insgesamt 234 Aufnahmen mit dem berühmten Opernsänger produziert. Das für Victrola (später RCA-Victor) aufgenommene „Vesti la giubba“ gilt seit seiner Veröffentlichung 1904 als erster Millionenseller der Schallplattenindustrie. Als Initiator für den Siegeszug der Schallplatte geltend, setzt sich sogleich das Bonmot „Caruso made the gramophone, and the gramophone made him“ durch.12 DIE PHONOINDUSTRIE UND IHRE STRATEGIEN DER MARKTERSCHLIESSUNG Die Schwierigkeit in der strategischen Markterschließung besteht während der Jahrhundertwende in der Transformation der Phonographie von einer Liebhaberei im Sinne einer interessanten Freizeitbeschäftigung in ein möglichst dauerhaft verankertes Bedürfnis breiterer Bevölkerungsschichten, ein Phonoobjekt zu besitzen. Zugleich zeigen sich die Einzelhändler stark verunsichert darüber, ob die Phonoobjekte nicht nur eine vorübergehende Erscheinung sein werden. Spezialfachgeschäfte für Schallplatten und Abspielgeräte sind aus diesem Grund kaum vorzufinden. Um sich existenziell abzusichern, erweitern die Einzelhändler ihr Warenangebot, indem sie zusätzlich Fotoapparate, Musikinstrumente, Schreibmaschinen und Ähnliches mehr verkaufen. Auch die Kompetenzen der Verkäufer lassen um 1900 zu wünschen übrig. Oftmals verfügen sie nur über vage, unvollständige oder auch falsche Informationen über die Gebrauchseigenschaften des neuen Angebots. Deshalb werden bald Verkaufsveranstaltungen abgehalten, die den Charakter einer Aufklärungsarbeit am Konsumenten annehmen. Hier wird versucht, die Funktionen, den richtigen Umgang sowie die Faszination am neuen Hörerlebnis zu vermitteln und darüber einen Besitzwunsch zu erzeugen. Dank der mit der Massenproduktion verbundenen Preissenkung geraten Phonoobjekte nun auch für finanzschwache Bevölkerungsschichten in greifbare Nähe. Innerhalb kürzester Zeit werden die Preise für Tonträger und Abspielgeräte gesenkt. Es dauert nicht lange und die ersten „billigen Phonographen“13 werden als 11 Vgl. ebd. 12 Zit. nach Jacobshagen, Arnold; Reininghaus, Frieder (Hg.): Musik und Kulturbetrieb. Medien, Märkte, Institutionen. Laaber 2006, S. 81. 13 Der damals niedrigste Preis liegt bei 1,95 Mark und bezieht sich auf den Verkauf zuvor von der Bank beliehener und nicht eingelöster „Lyra-Phonographen“. Mehr dazu vgl. Gauß 2009, S. 124–128.

talog zur Schaufensterdekoration, in dem Musterbeispiele abgebildet sind. Darin werden wiederkehrende ästhetische Grundmuster vorgeschlagen, die stets mit den neuesten Produkten ausgestattet werden können.16 KRISENBEWÄLTIGUNG – VOM ERSTEN WELTKRIEG IN DIE ROARING TWENTIES

Tanz vor dem Zelt zu den Klängen eines Koffer-Grammophons, o. O., 1928; Foto: bpk, Nr. 300 107 01

Mittel der Markterschließung angeboten. „Nach dem ersten billigen folgt meistens der zweite teurere, der ohne den ersten niemals gekauft worden wäre.“14 Doch die Billigproduktion wird zu einem diskursiven Problem. So weisen die günstigen Apparate im Vergleich zu jenen der mittleren und oberen Preisklassen etliche gravierende Mängel auf. Sie sind klanglich schlecht, ihre Technik spartanisch und die Inbetriebnahme kompliziert. Die sozialen Unterschiede zwischen den Konsumenten veranlassen die Händler zu einer unterschiedlichen Handhabe ihrer Werbe- und Umgangsformen. Der Verkauf an besser gestellte Haushalte setzt nun auf den angebotenen Service seitens der Händler. Wesentliche Serviceleistungen bestehen vor allem in unverbindlichen Angeboten, weitgehender Kulanz und größtmöglichem Entgegenkommen. So gilt 1908 das probeweise individuelle Vorspielen von Schallplatten als eine der Neuheiten. Emil Apelt macht es mit seinem im gleichen Jahr eröffneten Geschäft „Musiksalon“ in Frankfurt am Main vor und sendet eine Vorauswahl an Schallplatten kostenfrei in die Wohnzimmer seiner Kunden.15 Doch auch die Inszenierung der Ware im öffentlichen Raum stellt nun vermehrt eine verkaufsfördernde Strategie der Händler dar. Mit der Gestaltung der Schaufenster wird versucht, die Aufmerksamkeit der Passanten auf die ausgestellte Ware zu lenken. Das mediale Potenzial der Schaufensterdekoration wird auch von den Redaktionen in Fachzeitschriften und von der Phonoindustrie allgemein erkannt. Es erscheinen Fachartikel mit nützlichem Wissen zur besseren Schaufenstergestaltung, Preisausschreiben sollen die Händler anspornen, sich diesem Thema vehementer zu widmen. Die Deutsche Grammophon veröffentlicht 1909 einen Ka-

Die verstärkte Präsenz der schwarzen Scheiben in den Ladengeschäften spiegelt sich in den steigenden Verkaufszahlen wider: 1907 produziert die gesamte Phono-Industrie bereits 1,5 Millionen Platten und Walzen pro Monat, was einer Jahresproduktion von 18 Millionen entspricht. Davon entfällt ein Anteil von 7 Millionen bzw. 39 Prozent auf das Werk der Deutschen Grammophon in Hannover, das den Gesamtbedarf an Schallplatten für die europäischen Tochtergesellschaften deckt.17 Das Geschäft boomt und bis 1914 entstehen allein 78 verschiedene Plattengesellschaften. Mittlerweile werden diese auch nicht mehr ausschließlich in gemischten Sortimenten, zusammen mit Uhren, Fahrrädern oder Nähmaschinen feilgeboten, sondern nach und nach etablieren sich „gut sortierte“ Fachhändler. Platten sind zu einem Prestigeobjekt geworden und sind von Händlern wie von Kunden als ernstzunehmendes Medium anerkannt. Schließlich wird es ein Weltkrieg sein, der die stark exportorientierte Industrie nahezu zum Stillstand zwingt. Den Phonofirmen, die zu den ersten „Global Playern“ gehören, ist es nicht mehr möglich, internationale Geschäfte abzuwickeln. Konfiszierungen und Racheaktionen machen auch vor dieser Branche nicht halt, es setzt eine antideutsche Hysterie ein: Columbia schreddert sämtliche Aufnahmen von Bach, Beethoven, Brahms und Wagner, der deutsche Dirigent Carl Muck wird in den USA bis Kriegsende interniert, ihm wird vorgeworfen, militärische Geheimnisse in seinen Partituren zu verschlüsseln. Die englische Gramophone indes produziert patriotische Lieder für Koffergeräte, die man auch an der Front spielen kann. Fred Gaisberg, der erste Musikproduzent, nimmt das „Vaterunser“, gesungen von einem Priester, auf und landet damit einen Verkaufsschlager.18 Doch das hilft alles nichts und der Binnenmarkt streicht Verluste ein. Die Jahresproduktion der Deutschen Grammophon sinkt von 6,2 Millionen Schallplatten im Jahr 1908 auf 400 000 Stück im Jahr 1917. Nach dem Krieg trennt sich die Deutsche Grammophon als Ableger der englischen Gramophone von His Master’s Voice und wird ein selbstständiges Unternehmen mit eigenem Repertoire. Die Freude an Technik wächst nach dem Krieg und so 16 Vgl. ebd., S. 139f.

14 Zit. nach ebd., S. 125.

17 Vgl. ebd., S. 73.

15 Vgl. ebd., S. 128.

18 Vgl. Haffner 2011, S. 65.

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WIE DIE VINYL-SCHALLPLATTE INS DEUTSCHE WOHNZIMMER KAM

Der Detektorapparat liefert zum Kaffee im Grünen per Kopfhörer die Unterhaltung, o. O., 1925; Foto: bpk, Nr. 300 152 60

auch die Nachfrage nach Schallplatten. Nach den bitteren Kriegserfahrungen wollen die Menschen im Hier und Jetzt leben und sich vom Grammophon unterhalten lassen. Weniger durch Klassik, sondern vielmehr durch neue Tanzmusik. Es ist die Zeit, in der Onestep und Twostep, Dixieland und Charleston Europa erobern. Die neue Musik verschafft der Schallplattenindustrie reißenden Absatz: Zu Beginn der zwanziger Jahre werden in den USA 150 Millionen Tonträger verkauft. In Deutschland wird in den späten zwanziger Jahren ein vorläufiger Höchststand mit 25 Millionen im Jahr 1927 und 30 Millionen verkauften Tonträgern im Jahr 1930 verzeichnet.19 Doch das Produkt der Schallplatte mit seinem akustischen Aufnahmeverfahren scheint im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts nahezu ausgereizt. Um das Publikum neugierig und die Platte populärer zu machen, werden von New York bis Sankt Petersburg Grammophon-Salons gegründet. Obwohl der Plattenteller immer noch über eine Handkurbel bedient werden muss, gibt es jetzt „Koffer-Geräte“ mit Schalldose, die im Frei-

19 Vgl. Gauß 2009, S. 73.

en aufgestellt werden können. Sogar Taxis bieten eine Auswahl von Musik auf Platten an. Mitte der zwanziger Jahre ist der Plat-

Junges Paar vor einem Grammophon, o. O., o. J.; Foto: bpk / Friedrich Seidenstücker, Nr. 3000 057 42

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tenspieler im Alltag der Menschen angekommen.20 Die goldenen Zeiten der Tonträgerindustrie sollten jedoch nicht von langer Dauer sein. Mit der Einführung des Rundfunks, der in den USA ab 1920, in Deutschland mit der Eröffnung des Deutschen Unterhaltungsrundfunks 1923 beginnt, bekommt die Phonoindustrie einen ernst zu nehmenden Konkurrenten. Die drahtlose Übertragung von Musik weist dabei eine überlegenere Klangqualität auf und mit der Einführung des kommerziellen Rundfunks ist sie im Gegensatz zur Schallplatte für die Zuhörer kostenlos. Die Zahl der Rundfunkempfänger steigt in den USA innerhalb eines Jahres von 100 000 auf 500 000, die Zahl der verkauften Tonträger indes verzeichnet einen Einbruch. Für die Tonträgerfirmen wächst der Druck in zweierlei Hinsicht. Zum einen befürchten sie einen gefährlichen Konkurrenten zu ihren Produkten, da mittlerweile LiveÜbertragungen von Konzerten zu einem beliebten Repertoire des Rundfunks geworden sind. Zum anderen erhalten die Musikverleger mit der Lizenzierung ihres Materials

20 Vgl. Haffner 2011, S. 69–72.


für den Rundfunk eine ergiebige Einnahmequelle und sind demnach eher bereit, ihre Veröffentlichungspolitik an den Möglichkeiten des Rundfunkmarkts zu orientieren. Doch der Phonoindustrie gelingt es, einen Weg aus der Krise zu finden. Im Vergleich zum Rundfunk hat sie die Möglichkeit, kalkuliert auf zielgruppenspezifische Nachfragestrukturen zu reagieren. Den Vorstoß hierfür liefert die US-amerikanische OKeh Phonograph Corporation21, die ab 1920 die ersten BluesAufnahmen mit der afroamerikanischen Sängerin Mamie Smith herausbringt.22 Ferner wird die Bedeutung der Schallplatte durch elektrische Aufnahmeverfahren holländischer, amerikanischer und deutscher Firmen erhöht. Das Verfahren verdrängt ab 1925 nahezu vollständig die akustisch-mechanischen Aufnahmeapparate, wodurch die Kosten der Schallplattenaufnahme deutlich reduziert und die Klangqualität erheblich verbessert werden. Weitere technische Neuerungen der Abspielgeräte verhelfen den Herstellern zu einem enormen Absatz: Von jährlich 200 000 verkauften „Sprechmaschinen“ im Jahr 1925 steigt der Absatz bis 1929 auf 430 000. Der Verkaufsboom in den „Goldenen Zwanzigern“ hat nicht nur zur Folge, dass zahlreiche weitere Plattenläden öffnen, in den USA kommen nun auch die ersten vollelektronischen Musicboxes auf den Markt. Der Rundfunk als bedrohlicher Konkurrent scheint vergessen und für zu Hause werden die ersten Musiktruhen, die Plattenspieler und Radiogerät in einem Gehäuse vereinen, angeboten. Im Jahr

1928 verzeichnet die Deutsche Grammophon Millionenverkäufe mit der Platte „Der Erzengel Gabriel verkündet den Hirten Christi Geburt“ und trotzt damit dem allgemein aufkommenden Interesse für Jazz und Tanzmusik.23 DER „SCHWARZE FREITAG“ Das Jahr 1929 ist kein gutes Jahr. Im August stirbt Emile Berliner in Washington und am 24. Oktober fallen die Kurse an der New Yorker Börse und lösen eine weltweite Wirtschaftskrise aus. Der Tag wird als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte eingehen. Mit einem Mal fehlen Kredite, der Export geht zurück, Spekulanten, die alles verloren haben, treiben die Selbstmordstatistik in die Höhe, Preisverfall, Konkurse und Arbeitslosigkeit folgen. Zwar ist 1929 das geschäftlich beste Jahr seit Erfindung der Phonoindustrie, doch die Krise vergeht nicht spurlos. Die Verkaufszahlen von Schallplatten und Plattenspielern schrumpfen in den Folgejahren sowohl in den USA als auch in Deutschland um ein Vielfaches. Für die Firmen ist der Schuldige an ihrer Misere schnell gefunden: das Radio, aus dem täglich frische Musik ertönt. Doch die Kritik greift zu kurz. Die Rundfunksendungen, vor allem die Wunschkonzerte sind eine nicht zu unterschätzende Reklame für die Schallplattenindustrie. Das Potenzial erkennend, rücken die Erzrivalen enger zusammen und schließen Kooperationsverträge. Die Deutsche Grammophon,

Werbung der Firma Telefunken, 1933. Aus: Franz Schorn: Alte Schallplatten-Marken in Deutschland. Wilhelmshaven 1988, S. 101.

immer noch ein wichtiger Mitbewerber unter den großen Firmen, schließt mit der amerikanischen Brunswick einen Interessengemeinschaftsvertrag. Die Amerikaner liefern Unterhaltungsmusik und im Gegenzug beliefern die Deutschen sie mit klassischer Musik. Die Rundfunkanstalten verhelfen der Plattenindustrie stetig zu neuen Künstlern. Neben den erfolgreichen Swing-Vertretern Benny Goodman oder Lionel Hampton auch zunehmend die typischen Carnegie-HallStars24 der Klassikszene, die nun auf den Schellack-Scheiben erscheinen. Erstmals erlangen auch weniger bühnengeeignete Sänger die Chance auf eine ruhmvolle Karriere. So wird der nur 1,54 Meter große Rumäne Joseph Schmidt aufgrund eines Radio-Auftritts zum deutschlandweit bekannten Interpreten. Mit einer ausgesprochenen „Mikrofon-Stimme“ begabt, wird Schmidt einer der ersten deutschen Rundfunk- und Plattenstars. Da nun vermehrt verschiedene Aufnahmen ein und desselben Titels produziert werden, etabliert sich die Schallplatte in zunehmendem Maße als Sammelobjekt. Neben Zeitschriften werden auch Plattenkataloge, detaillierte Diskografien und Anthologien für Spezialisten produziert, die sich für seltene und ungewöhnliche Stücke interessieren. Einer, der diese Nachfrage besonders geschickt zu nutzen versteht, ist Walter Legge, den His Master’s Voice ab 1927 als Herausgeber ihrer Hauszeitschrift beschäftigt. Er entwickelt

Auf der Funkausstellung in Berlin, 1931; Foto: bpk / Kunstbibliothek SMB, Photothek, Willy Römer, Nr. 200 377 33 21 Die OKeh Phonograph Corporation wird 1920 als US-Repräsentanz von der deutschen Carl Lindström AG gegründet. 22 Vgl. Wicke 1997.

23 Vgl. Haffner 2011, S. 79.

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24 Die traditionsreiche Carnegie-Hall gehört zu den bekanntesten Veranstaltungsorten für klassische wie auch für Jazz- und Pop-Konzerte der Vereinigten Staaten. Seit 1897 befindet sie sich Manhattan in New York City.


WIE DIE VINYL-SCHALLPLATTE INS DEUTSCHE WOHNZIMMER KAM 1931 die Idee des „Society Project“: Wenn 500 Käufer im Voraus die Abnahme garantieren, gibt er die Produktion für die Aufnahme eines Albums in Auftrag. Das Ganze wird ein enormer Erfolg, sodass sieben weitere Jahre Einspielungen nach diesem Schema vorgenommen werden. Andere Firmen erkennen das Verkaufspotenzial dieser Strategie und es folgen unter anderem Subskriptionsreihen der Columbia zu Haydn und Bach-Werken.25 Das deutsche Unternehmen Bertelsmann wird ab 1956 ebenjenes Konzept aufgreifen und über den „Bertelsmann Schallplattenring“ Vinyl-Scheiben an ClubMitglieder im Abonnement nach den Methoden des Leserings verkaufen.26 Die deutsche Phonoindustrie kann sich dennoch lange Zeit nicht von der Krise erholen. Von 30 Millionen verkauften Tonträgern im Jahr 1929 verringert sich der Umsatz bis 1935 auf nur noch fünf Millionen Stück, 1938 sind es immerhin wieder zwölf Millionen. Erst 1955 kann an den Zahlen von 1929 angeknüpft werden. Erneut ist es ein Krieg, der der Musikindustrie den nötigen Absatz unmöglich macht.

25 Vgl. Haffner 2011, S. 84. 26 Ausführlich siehe Lehning, Thomas: Geschichte und Gegenwart des Bertelsmann-Konzerns. München 2004, S. 167–189.

Mit dem Machtantritt Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 erfolgt eine auf lange Zeit einschneidende Entwicklung innerhalb des Kulturbetriebs. Ihre „Machtergreifung“ verstehen die Nationalsozialisten gleichsam als eine Kulturrevolution und per Gesetz27 werden nunmehr alle Kammern von Autoren, Presse, Rundfunk, Theatern, Musikern, bildenden Künstlern und Filmschaffenden in einer Dachorganisation, der Reichskulturkammer, zusammengefasst und dem Propagandaministerium unterstellt. Für die Musikschaffenden wird ab November 1933 die Unterorganisation „Reichsmusikkammer“ installiert, die sich zentral um die berufsständische Einheit der deutschen Musiker kümmert. Mit anderen Worten: Mithilfe dieser staatlichen Zwangsorganisationen wird zunächst auf organisatorischer Ebene für „Ordnung“ gesorgt, die in einem zweiten Schritt die demokratisch-individualistische Kulturverfassung in eine einheitlich „völkische“ zu transformieren versucht. Der Versuch, den in Deutschland der zwanziger Jahre populär gewordenen Jazz als „entartete Niggermusik“ beim Volk unbeliebt

zu machen, ist nicht von Erfolg gekrönt. Mit ihrer Spontaneität, Improvisation und Individualität sind Swing und Jazz vor allem bei der Jugend beliebt. Die Nationalsozialisten sehen darin zwar eine Bedrohung ihrer Weltanschauung, verbieten die Musikrichtung jedoch nicht sofort von staatlicher Seite. Ab 1937 halten sogar amerikanische Musiker Gastspiele in deutschen Grenzstädten ab und zumindest in den Großstädten ist es bis zu Kriegsbeginn möglich, (ausländische) Jazzplatten zu kaufen. Dennoch wird der Schallplatte als eigenständigem Medium innerhalb der Reichskulturkammer keine große Bedeutung zugemessen. Das große Interesse der NSDAP gilt dem Rundfunk: als „das allermodernste und das allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument [zur] Vereinheitlichung des deutschen Volkes“28. Mit Einführung des Volksempfängers wird auch dem Letzten die Kaufentscheidung erleichtert, sodass der Rundfunk 1939 elf Millionen Hörer zählt. Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels sieht sich angesichts dieser Zahl bestätigt und setzt all seine Bemühungen der Propagandaarbeit weiterhin in den Funk. Die Plattenindustrie wird entgegen aller Befürchtungen nicht verstaatlicht, sodass weiterhin große private Schallplattenunternehmen existieren: bei-

27 Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933.

28 Zit. nach Haffner 2011, S. 88.

DIE PLATTE WIRD BRAUN UND DER ZWEITE WELTKRIEG BEGINNT

Soldaten hören Schallpatten an der Ostfront, Sowjetunion, Oktober 1942; Foto: bkp / Bayerische Staatsbibliothek, Archiv Heinrich Hoffmann, Nr. 500 729 12

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spielsweise die Telefunken-Schallplatten GmbH, die sich 1932 als Tochter der AEG abspaltet. Aber auch die Deutsche Grammophon, die zwar 1937 liquidiert wird, firmiert sich erneut unter der Deutschen Grammophon GmbH mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Bank bzw. der Telefunken, bis sie 1941 von Siemens & Halske übernommen wird. Dennoch verlangt das politische System von den Phonofirmen entsprechendes Arrangement. Unternehmen wie Electrola, ab 1925 Tochter der Gramophone Company, werden als ausländische Firmen unter sogenannte Feindvermögensverwaltung gestellt. Die Leiter der Polyphon und Lindström sowie alle jüdischen Mitarbeiter werden aus ihren Ämtern entlassen, an ihre Stellen treten langjährige Parteimitglieder, sogenannte „alte Kämpfer“. Auch auf Seiten der Musikschaffenden finden große Umwälzungen statt, die der Glanzzeit der Schallplatte ein vorläufiges Ende bereiten. Zahlreiche renommierte Künstler verlassen Deutschland freiwillig oder werden des Landes verwiesen, darunter Otto Klemperer, der große Erfolge an der KrollOper gefeiert hat, Oskar Fried oder Fritz Busch, der nach der Nomenklatur der Nazis als „Arier“ gilt, sich dem Regime jedoch nicht anpassen will. Den noch verbliebenen jüdischen Musikern tritt der Staat entschieden entgegen. Am 17. Dezember 1937 erlässt Goebbels eine Anordnung, die die Neuaufnahme und den Vertrieb von Schallplatten mit Musik jüdischer Komponisten und Interpreten gänzlich verbietet und bereits existierende Aufnahmen zu vernichten befiehlt.29 Die nunmehr „arisierten“ Firmen widmen sich fortan dem nationalen Repertoire. Die Reden der wichtigsten Staatsmänner Hitler, Goebbels oder Göring sind dabei ebenso Teil des Programms wie „völkisches“ Liedgut. Telefunken produziert beispielsweise 1934 die Hitler-Hymne „Gott sei mit unserm Führer“ oder man hört das Horst-Wessel-Lied „Die Fahne hoch!“. Die Lücke der Interpreten wird von einer Gruppe „arischer“ Solisten und Sänger gefüllt. Anfangs noch gut besetzte Orchester dünnen allmählich aus. Die Mitglieder werden zum Militärdienst eingezogen. Der Zweite Weltkrieg beginnt am 1. September 1939 und fordert bald jeden Mann. Für die Soldaten an den Fronten wird die Musik zu einer wichtigen Konstante, die ihnen ihre Heimat wieder ein Stück näher bringt und ihre Hoffnung ein wenig aufkeimen lässt. In der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August 1939 wird für die Electrola mit einem Orchester unter Leitung von Bruno Seidler-Winkler die Erstaufnahme des späteren Welterfolgs „Lili Marleen“ mit Lale Andersen eingespielt. Die Aufnahme ist zunächst ein Flop und verkauft sich nur etwa 700-mal, schnell gerät es in Vergessenheit.

29 Vgl. Gauß 2009, S. 215.

Dieter Thomas Heck, Moderator der ZDF-Sendung „Hitparade“, 1977; Foto: bpk / United Archives, Arthur Grimm, Nr. 5000 07 19

Mit der Besetzung Belgrads 1941 wird das Lied von einem Radiosender wieder aufgegriffen und stößt schnell auf große Begeisterung. Auch die britischen Truppen sind fasziniert und Marlene Dietrich singt es vor amerikanischen GIs. Der Titel umrundet schließlich in 50 Übersetzungen die Welt. Das melancholische Lied ist zum Symbol für Heimweh, Trennung, Sehnsucht, vor allem aber für die Hoffnung auf ein Wiedersehen geworden. Ein Wunsch, der alle Soldaten miteinander verbindet. NEUE MARKTSTRATEGIEN ZUR STEIGERUNG DER POPULARITÄT Zeitgleich erholt sich die Plattenindustrie in den USA allmählich von der Wirtschafts-

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krise, sodass der Absatz verkaufter Schallplatten von 33 Millionen im Jahr 1938 auf 127 Millionen 1941 steigt.30 Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat die Einführung des Platten-Münzautomaten bzw. der „Jukebox“, die sich bereits Mitte der dreißiger Jahre im gesamten Land etabliert hat. Aber auch findigen Marketing-Spezialisten ist es zu verdanken, dass die Schallplatte erneut reißenden Absatz findet. Edward Wallerstein, Präsident der Columbia, etwa senkt im August 1940 ohne jede Vorankündigung die Preise. Eine Klassik-Aufnahme kostet jetzt einen Dollar, eine Pop-Platte nur 50 Cent. Konkurrenten wie RCA Victoria können ledig-

30 Vgl. Haffner 2011, S. 97.


WIE DIE VINYL-SCHALLPLATTE INS DEUTSCHE WOHNZIMMER KAM

Alex Steinweiss mit eigenen Entwürfen, New York, April 1947; Foto: William P. Gottlieb

Werbeheft von Philips, 1951; Quelle: Museum Neukölln

Werbeheft von Austroton „Künstlerparade“, das in Schallplattengeschäften wie Musik-Bading in der Neuköllner Karl-Marx-Straße auslag, 1951; Quelle: Museum Neukölln

lich aufgrund ihrer berühmten Interpreten daneben bestehen.31 Eine weitere Neuerung, die für die PhonoIndustrie von enormer Bedeutung wird, ist die vom Billboard-Magazine am 4. Januar 1936 erstmals veröffentlichte Hitparade sowie seit 20. Juli 1940 die Einführung der noch heute geführten Charts. Das Magazin unterteilt die Charts in drei Kategorien: die meistverkauften Singles, die meistgespielten Jukebox-Platten sowie die meistgespielten Radiosongs. In Deutschland, damals drittgrößter Tonträgermarkt, erscheint erst ab April 1954 die erste Single-Hitparade durch die Zeitschrift „Der Automatenmarkt“. Grundlage der Hitlisten sind Statistiken der Einsätze in Musikboxen. Ab 1969 wird die von Dieter Thomas Heck moderierte und zur Kultsendung avancierende „ZDF Hitparade“ ausgestrahlt. Die Zuschauer entscheiden per Postkarte, was in der Sendung gespielt wer31 RCA kauft 1929 die Victor Talking Machine Company, der damals größte Schallplattenproduzent der Welt. Mit Victor erhält RCA auch die Rechte der Handelsmarke His Master‘s Voice mit dazugehörigem Logo Nipper. RCA-Victor verzeichnen renommierte Künstler wie Sergei Kussewizki und die Bostoner Sinfoniker sowie Arturo Toscanini und sein NBC Symphony Orchestra und sichern sich somit ein Klassikmonopol.

den soll. Die Sendung kurbelt den Verkauf der Tonträger enorm an – so sehr, dass die Gefahr der Manipulation solcher Charts bzw. Hitparaden erheblich ansteigt.32 Der Gerüchte zum Trotz sind Hitlisten bis heute als Instrument für die Marktbeobachtung unverzichtbar, denn sie tragen wesentlich zur Optimierung der Musikindustrie und zur Herausbildung zielgruppenspezifischer Marketingstrategien bei. Eine dieser Strategien betrifft die Schallplatte in ihrem äußeren Erscheinungsbild. Die seit etwa 1910 existierenden Plattenhüllen sind für viele Firmen nicht viel mehr als Verpackungsmaterial. Erst nach und nach ändert sich das und sie werden mit Schmuckelementen verziert bzw. als Werbeträger für andere Aufnahmen oder Plattennadeln genutzt. Ab den zwanziger Jahren kommen Informationen über die Komponisten bzw. Interpreten hinzu. Wieder ist es der Riese Columbia, der mit einer Neuerung aufwarten kann. 1939 wird der 22-jährige Grafiker Alex Steinweiss als Artdirector eingestellt. Dieser kommt auf die Idee, neben Werbeanzeigen und Broschüren auch die Packpapierund Papphüllen künstlerisch zu gestalten.

Das Plattencover ist geboren. Anfängliche Gegner kann Steinweiss mittels signifikant besserer Verkaufserfolge überzeugen,33 sodass die ansprechend gestalteten Hüllen schnell zu einer wirtschaftlich bedeutenden Sparte der Designkunst werden. Nachdem die USA Ende 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintreten, erlebt auch hier die Musikindustrie einen erneuten Einbruch. Die Clubs führen Sperrstunden ein und Schellack wird rationiert, da man das Material nun vornehmlich als Isolatorlack einsetzt. Für die Herstellung von Schallplatten wird ein aufwendig organisiertes Recyclingsystem eingeführt: Für den Kauf einer neuen Platte müssen die Kunden eine alte abgeben. Peter Goldmark entwickelt daraufhin für die Columbia die Schallplatte aus PVC34 und läutet nach nur vier Jahrzehnten das Ende der Schellackära ein. Nicht nur bezüglich Frequenzgang und Dynamik ist die Langspielplatte aus PVC der Schellackplatte überlegen, sie ist auch bedeutend leichter und beständiger.

32 Vgl. Haffner 2011, S. 155.

34 Polyvinylchlorid, kurz: Vinyl.

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33 Die mit gestaltetem Cover versehene Platte „Eroica“ von Beethoven verkauft sich um 895 Prozent häufiger. Vgl. ebd., S. 100.


Die Einführung der Langspielplatte zieht zudem Veränderungen in Produktion und Vermarktung nach sich, die sich ebenfalls auf die Konsumgewohnheiten der Hörer übertragen: Dauern zu Schellack-Zeiten Songs etwa drei Minuten, etabliert sich mit der Langspielplatte ein Markt für Alben. Für kleine Plattenlabels hat die nahezu unzerbrechliche Vinyl-Schallplatte ebenfalls den Vorteil, dass sie per Post verschickt werden kann, wodurch diese nicht mehr auf die Distributionswege der Majors angewiesen sind. Mit Ende des Krieges und Genehmigung der Besatzer werden in Deutschland ab 1947 wieder Neuaufnahmen produziert. Die Deutsche Grammophon fasst dabei als erste Firma wieder Fuß, vor allem weil die alten Produktionsstätten in Hannover nach dem Krieg weitgehend erhalten geblieben sind.35 1949 werden die Exklusivrechte am Warenzeichen His Master‘s Voice in Deutschland an die Electrola übertragen und fortan ziert eine gelbe Kartusche mit Tulpenkrone die Platten des Traditionsunternehmens.36 Zusammen mit EMI, Decca und Philips gehört sie zu den Großen unter den Plattenlabels. Wieder wird Musik zum probaten Mittel, sich über die Nachkriegstristesse hinwegzusetzen. Besatzer-Swing ist in den ersten Jahren nach 1945 beliebtes Repertoire. Aber auch der deutsche Schlager steht in den Startlöchern. Rudi Schuricke, Caterina Valente, Freddy Quinn und Peter Alexander erobern mit ihren Liedern die Herzen der Deutschen. Der Vertrieb von Schallplatten in der Nachkriegszeit gleicht einem ruhigen und stetigen Geschäft. Die großen Schallplattenfirmen wie Capitol, RCA-Victor und Decca verkaufen ihre Tonträger über Zweigunternehmen. In den meisten Fällen sind dies die Filialen, die Geräte verkaufen. Eine der wichtigsten Veränderungen jener Zeit ist die zunehmende Gewährung eines Discounts. Lange Zeit werden Schallplatten in kleinen „TanteEmma“-Läden zu „vom Hersteller empfohlenen Preis“ oder zum „Listenpreis“ angeboten. Die Inhaber der Geschäfte setzen wenig auf Werbung, untereinander herrscht kaum Konkurrenzdruck. Mit der Ausbreitung von Ladenketten, wie es in den Vereinigten Staaten seit den fünfziger Jahren zu beobachten ist, werden weitreichende Veränderungen im Kaufs- und Verkaufsverhalten eingeläutet. Supermärkte drängen sich nun auf die Plätze, an denen vormals private Einzelhandelsgeschäfte zu finden waren. Die moderne Idee, Waren im Preis herabzusetzen, die Preisreduzierung mittels großer Werbekampagnen bekanntzumachen und durch Massenabsatz die erforderlichen Gewinne zu machen, ist geboren. Für den Schallplattenhandel revo35 Vgl. Wicke 1997. 36 Deutsche Grammophon History: Das fünfte Jahrzehnt (1940–1949). URL: http://history.deutschegrammophon.com/de_DE/home (letzter Zugriff: 25.1.2014).

lutioniert der erfindungsreiche Unternehmer Sam Goody das Geschäftsmodell des konventionellen Schallplattenhandels. Goody beginnt in seinem New Yorker „Tricks, Games and Magic“-Laden den Verkauf gebrauchter Platten aus Musikautomaten. Sein Verkaufsprinzip ist dabei denkbar einfach: Er senkt den Listenpreis des Herstellers um 30 Prozent und verkauft eine 3,98-DollarPlatte für 2,80 Dollar. Preise und Sonderangebote propagiert er in weit gestreuten Zeitungsanzeigen – für diese Zeit eine sensationell neue Idee. Goody erreicht mit seinen Geschäftspraktiken einen Massenumsatz und schafft die Grundlage für einen sich weiter ausbreitenden Schallplatten-Discounthandel. Der Prozess verläuft jedoch nicht ohne Widerstand: Kleine Händler sehen sich aus dem Geschäft getrieben, die übrigen verbinden sich in der Association of Record Dealers und erheben schwere Vorwürfe gegen Goody. Dieser verweist darauf, dass die Listenpreise der Hersteller keine von der Regierung überwachten und regulierten Festpreise seien. Bis Mitte der fünfziger Jahre werden die Discounts zu einer Art Selbstverständlichkeit. Kleine Händler, die Protest hätten anmelden können, verschwinden zusehends.37 In Deutschland wird dem Trend des Preisverfalls von staatlicher Seite entgegengewirkt und so markiert die Einführung der Preisbindung für Schallplatten Anfang der sechziger Jahre ein entscheidendes Datum für den Tonträgerhandel. Mit der gesetzlichen Regelung wird der verbindliche Verkaufspreis einer Schallplatte auf 22 DM festgelegt und soll den Preiswettbewerb der Händler, wie er in den USA praktiziert wird, verhindern.38 „ZUM GUTEN BUCH GEHÖRT EIN SCHÖNER KLANG“ – DER BERTELSMANN SCHALLPLATTENRING Die Nachkriegszeit läutet weitere Veränderungen im Tonträgerhandel ein: Zunehmend erkennen die vormals elitären Buchgemeinschaften das Potenzial in der Erweiterung ihres Angebots. Seine Monopolstellung erlaubt es dem Bertelsmann-Konzern, Neues auszuprobieren, und so werden Mitte der fünfziger Jahre – zunächst nur zögerlich – Schallplatten im Sortiment aufgenommen. Unter erschwerten Bedingungen wagt sich das Unternehmen in der Erschließung eines neuen Medienbereichs vor, denn der deutsche Tonträgermarkt gilt als geschlossene Gesellschaft, nur Insidern des Plattengeschäfts würde der Zutritt gewährt. Dennoch, un37 Vgl. Chapple, Steve; Garofalo, Reebee: Wem gehört die Rock-Musik. Geschichte und Politik der Musikindustrie. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 32 f. 38 Vgl. Moser, Rolf; Scheuermann, Andreas (Hg.): Handbuch der Musikwirtschaft. 4. vollst. überarb. Aufl. Starnberg 1997, S. 245.

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Werbematerial des Bertelsmann Schallplattenrings, um 1960; Quelle: Bertelsmann

ter dem Slogan „Zum guten Buch gehört der schöne Klang“39 wird am 1. Juni 1956 der Bertelsmann Schallplattenring gegründet, der Schallplatten an seine Mitglieder im Abonnement verkauft. Das Angebot umfasst Hauptvorschlagsplatten, Platten zur freien Auswahl sowie Treueplatten. Ein relevanter Faktor, der für die Buchgemeinschaft spricht, ist die im ersten Nachkriegsjahrzehnt noch teilweise schlechte Infrastruktur, sodass vor allem jene Musikinteressierte davon profitieren, denen die Beschaffung von Tonträgern mangels Zugangsmöglichkeiten über den Einzelhandel erschwert oder gar nicht möglich ist. Die Rechnung geht auf: Bereits nach einem Jahr zählt der Ring über 100 000 Mitglieder. Da die wenigsten Haushalte bereits über einen Plattenspieler verfügen, nimmt das Unternehmen zwei Modelle im Repertoire auf: „ […] so herrliche und preiswerte Abspielgeräte […] wie die neue Cortina (auch für Stereoplatten!) und die Eltec Minetta.“40 Doch vor allem im Bereich der breitenwirksamen Unterhaltungsmusik sieht sich Bertelsmann vor dem Problem der Lizenzen eingeschränkt handlungsfähig. Hierfür eröffnet 1957 das Presswerk Sonopress in Gütersloh und Bertelsmann produziert fortan seine eigenen Platten. Doch um auch einen eigenen Interpretenstamm aufbauen zu können, bedarf es der Gründung eines Labels. Zu diesem Zweck wird 1958 die Bertelsmann-Schallplattenfirma Ariola gegründet, die zunächst vor allem den Lesering beliefert. In der Anfangsphase fehlt es der Ariola noch an guten Verbindungen, sodass zu-

39 Zit. nach Lehning 2004, S. 168. 40 Zit. nach ebd.


WIE DIE VINYL-SCHALLPLATTE INS DEUTSCHE WOHNZIMMER KAM

Cover einer frühen Ausgabe der Bertelsmann Schallplattenring Illustrierten, 1956 / 1957; Quelle: Bertelsmann

die über den Schallplattenring oder den Einzelhandel vertrieben werden. Indikatoren für eine gute Clubarbeit ist die Haltbarkeit einer Clubmitgliedschaft, weshalb die Zufriedenheit der Mitglieder ebenso wie die Schaffung und Erhaltung eines Mitgliederbestandes die wichtigsten strategischen Maßnahmen der Buchgemeinschaften sind. Denn nur hohe Mitgliederzahlen ermöglichen hohe Auflagen, die wiederum die Preisvorteile sichern, die Mitglieder zufrieden stimmen. Die Werbeansprachen der Buchclubs haben sich im Laufe seiner Entwicklung immer wieder den neuen gesellschaftlichen Umständen anpassen müssen. Eine seiner erfolgreichsten Werbearten ist die Freundschaftswerbung: Durch Prämien werden Mitglieder zu Werbevertretern in ihrem privaten Bekanntenkreis. Der größer gewordene Anteil der jüngeren Bevölkerungsschicht und ihr Wunsch nach einem freizügigen Konsumverhalten veranlasst die Buchclubs dazu, in ihrer Werbung vermehrt auf das Musikangebot Bezug zu nehmen.42 DIE UNRUHIGEN WILDEN

nächst Alben und Kompilationen von Künstlern „zweiten Ranges“ erscheinen. Als erste Veröffentlichung erscheint „Die Regenbogenkinder“ mit Josephine Baker, die nur noch älteren Mitgliedern ein Begriff ist. Der Verkaufsdruck seiner 200 000 Mitglieder erlaubt es Ariola, hohe Gagen an seine Interpreten zu zahlen, sodass bald bekannte Musiker im Repertoire aufgenommen werden können. Bereits 1959 beschert ein exklusiver Vertragsabschluss mit der Deutschen Grammophon eine erhebliche Erweiterung des Angebots und schon Mitte der sechziger Jahre kann das Unternehmen Pop-Stars wie Peter Alexander, Rex Gildo, Heintje, Mireille Mathieu oder Udo Jürgens an sich binden. Ein Jahrzehnt darauf gehört Ariola zu den umsatzstärksten Labels in Deutschland. Für die Sammler unter den Mitgliedern erfolgt eine Zusammenarbeit mit den sozialistischen Staaten. So öffnet der Prager Sugraphon seine Archive und in der Bundesrepublik werden Namen wie Václah Talich und Karel Ancˇerl bekannt. Auch das russische Label Melodjia willigt der Zusammenarbeit ein und autorisiert Ariola, unter dem Namen Eurodisc in Österreich und Deutschland Aufnahmen der Solisten David Oistrach oder Mstislav Rostropovich zu vermarkten.41 Die Verträge mit den deutschen Spitzenkünstlern katapultiert die Bertelsmann-Tochter in die vordersten Ränge der europäischen Musikindustrie. Eine beliebte Methode neben der Aufnahme regulärer Alben und Singles ist die Produktion von Sammel- und Jubiläumsausgaben wie „Weihnachten mit Heintje“ oder „Schlagerexpress mit Udo Jürgens“,

41 Vgl. Haffner 2011, S. 148.

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen in den sechziger Jahren, die sich aus der Entwicklung hin zu einer hoch entwickelten Industriegesellschaft ergeben, muss die wesentliche Charakteristik der Buchgemeinschaften genauer hinterfragt werden. Denn ihrem Selbstverständnis, dem Geschmack einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht gerecht zu werden, steht die Tendenz eines zunehmenden Strebens nach Individualisierung entschieden entgegen. Mit den sechziger Jahren beginnt in Deutschland für eine ganze Generation die Suche nach Einzigartigkeit, Distinktion, Enttraditionalisierung und Pluralisierung, die sich im Wesentlichen auf eine von jungen Intellektuellen getragene „soziale Bewegung“ konzentriert. Als Trägergruppe des gesellschaftlichen Wandels wird erstmals die Gruppe der Jugendlichen identifiziert. Als in den fünfziger Jahren Jugendliche zunehmend frei über ihre Geldmittel entscheiden können, entsteht ebenso ein altersspezifischer Markt, der speziell auf die Zielgruppe zugeschnittene Waren und Dienstleistungen zur Verfügung stellt. Deren Besitz richtet sich primär nach dem jeweiligen Geschmack des Konsumenten. Der Musik kommt in dieser Zeit eine entscheidende Rolle zu. Sie ist ständiger Begleiter einer ganzen Generation, bietet Schutz und ist gleichsam Ausdruck der Gefühlswelt Heranwachsender. Musik wird zum Aushängeschild der eigenen Individualität, des guten Geschmacks wie der Rebellion. Richtlinien zur Meinungsbildung bieten die Jugendmedien, die ihre Themen fast ausschließlich aus der Musik speisen. Nach Aussage diverser

42 Vgl. Moser; Scheuermann 1997, S. 259.

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Studien zum Thema Konsumverhalten von Jugendlichen43 steigt der Konsum von Schallplatten Mitte der sechziger Jahre. Demnach wird ihr vor dem Radio der Vorzug gegeben, „weil sie selbstbestimmte Abrufbarkeit der gewünschten Musik“ ermögliche.44 Das Sammel- und Tauschpotenzial der Platten stifte darüber hinaus den sozialen Kontakt und trage überdies zur Herausbildung kultureller Kompetenz bei. Bereits Ende der fünfziger Jahre nehmen Jugendliche den größten Teil der Schallplattenproduktion im Unterhaltungssektor ab.45 Doch für viele ist Musik nicht viel mehr als Konsumware, selten und zu Beginn noch zögerlich wird Musik als Erzählweise, als politisches Mittel zur Kritik verstanden. Wolfgang Spindler berichtet erst 1978 von einem Boom der Songbücher bzw. der Texte auf den LP-Covern. Grund genug für den Autor, dahinter die „kommerzielle Grundlage“ für eine Brücke von der Musik zur politischen Intelligenz zu vermuten.46 Die wichtigsten Schallplattengeschäfte jener Zeit sind gleichzeitig gut sortierte Buchläden, wie die Ladenketten Montanus und Zweitausendeins. Letztere verdankt ihren wirtschaftlichen Aufschwung vor allem der aggressiven Preispolitik und außerordentlich stark verbilligten Sonderangeboten, die mit dem Wegfall der Preisbindung für Schallplatten 1972 nun wieder möglich sind. Ganz anders verläuft die Entwicklung in der DDR. Zwar erobern auch hier Plattenspieler in den sechziger Jahren die Konsumherzen der Bürger. Allerdings verfügen nur 6,5 Prozent aller Haushalte über ein elektrisches Abspielgerät. Erst zehn Jahre später, mit der Einführung preiswerter Geräte von 100 und 150 MDN47, steigt die Zahl der Besitzer auf 35,8 Prozent.48 Jugendlichen werden zunächst Vorbehalte unterstellt, um ihre Unterrepräsentanz in Studien zum Konsum der Phonogeräte zu erklären. Bezeichnenderweise steigt die Nachfrage der Jugendlichen erst an, als sich die Schallplattenindustrie der DDR dazu durchringt, neben den klassischen Titeln auch Neuheiten der internationalen Tanzmusik zu pressen. Doch die Lizensierungspolitik ist rigide. Das geringe Angebot an westlicher Musik, vornehmlich Best-ofAlben, bleibt durch niedrige Auflagen weiterhin beschränkt, sodass viele Platten nach

43 Ausführlich dazu Siegfried, Detlef: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen 2006. 44 Zit. nach ebd., S. 81. 45 Vgl. ebd., S. 82. 46 Vgl. Spindler, Wolfgang: „Rock me!“. Diskotheken, Buden, Läden. In: Kursbuch. H. 54 Jugend, 1978, S. 1–12. 47 Mark der Deutschen Notenbank (bis 1969, ab 1969 Mark der DDR [M]). 48 Vgl. Kaminsky, Annette: Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR. München 2001, S. 113.


schließlich zum Durchbruch, vor allem bei der jüngeren Generation. Als Sony am 2. Juli 1979 seinen Walkman lanciert, wird dieser schnell zum Statussymbol der Jugendkultur. Über 300 Millionen Geräte werden verkauft. Als endgültige Ablösungstechnologie der Vinyl-Platte erobert schließlich „eine Scheibe zur Speicherung von Musik und Wort in digitaler Technik“52 den bisherigen Plattenmarkt: die Compact Disc (CD). Vorbei ist es nun mit dem Knistern, Knacken und Rauschen. Weder Kratzer noch jaulende Gleichlaufschwankungen stören, und das bei größerer Spieldauer. Es ist ein Tonträger von hervorragender Klangqualität, ohne den Störballast der altmodischen LP. Ist das der Tod der Schallplatte? Fakt ist, mit der CD verschwindet die Schallplatte aus den Regalen der Händler und auch die Majors setzen auf die Silberscheibe, sodass die Vinyl-Platte allmählich aus dem Bewusstsein verschwindet und lediglich als Liebhaberei ein Nischendasein fristet. Doch hier hält sie sich hartnäckig, wird ihre Klangqualität von vielen doch so sehr geschätzt. Auch die ältere Generation hält standhaft an ihre über Jahre aus aller Welt zusammengetragene Plattensammlung fest, nicht willens, diese gegen die Neulinge einzutauschen. Schließlich sind es auch die Jazz-Freaks, die so sehr am Vinyl hängen, dass Labels wie ECM oder Blue-Note ihre Produktionen gleichzeitig als LP herausbringen. Online vermarktet oder in wenigen Plattenläden angeboten, verfallen die Menschen in Andacht.53 Mittlerweile hat sich die Vinyl-Platte wieder einen Platz in den Regalen der Fachgeschäfte zurückerobert. Weniger Massenmedium, dafür aber geliebtes Sammlerstück, das von einem nicht unerheblichen Kreis von Musikliebhabern nach wie vor geschätzt wird. Das Hören von Schallplatten ist nun wieder ein bewusster Prozess; ein Moment, dem Alltag zu entfliehen und sich den einzigartigen Klängen der schwarzen Scheibe hinzugeben.

Im HO-Industriewarenladen „Die Schallplatte“ im Prenzlauer Berg, 12. Februar 1955; Foto: bpk / Hildegard Dreyer, Nr. 300 198 90

kürzester Zeit bereits vergriffen sind. Demzufolge stellt der Besitz von Schallplatten für die meisten Jugendlichen ein erstrebenswertes, aber unerreichbares Ziel dar. Der staatlichen Beschränkung zum Trotz gelangen Pressungen aus den sozialistischen „Bruderstaaten“ Ungarn oder Bulgarien, wo auch Platten von Nina Hagen produziert werden, ins Land. Doch die Preise sind enorm, vor allem weil die Käufer Forint bzw. Lei illegal erwerben müssen,49 sodass eine Schallplatte schwarz getauscht umgerechnet 100 Mark kostet.50 Eine legale Möglichkeit, um an Platten zu kommen, besteht in den Inter49 Selbst im Ungarn-Urlaub dürfen DDR-Bürger nur eine festgelegte, sehr niedrig angesetzte Menge Forint eintauschen.

shops, der Einzelhandelskette, deren Waren ausschließlich mit konvertierbaren Währungen bezahlt werden können. Doch bei den vermeintlichen Westplatten handelt es sich um Ostproduktionen, lediglich Plattencover und Originalbestellnummer stammen aus der BRD. Aufgrund der günstigeren Herstellung werden die Platten selbst von der Amiga51 gepresst. Es ist die Tonträgerindustrie selbst, die das vorläufige Ende der Schallplatte als Quasi-Monopol der Musikvermittlung nach und nach bereitet. Nach weniger erfolgreichen Vorläufern werden ab 1965 kommerziell bespielte MusiCasetten (MC) auf den Markt gebracht. Eine Zeitlang erscheinen LPs und MCs gleichzeitig. Die Entwicklung noch mobilerer Wiedergabegeräte verhilft der MC

50 Vgl. Dokumentationszentrum Alltagskultur in der DDR: Alltag: DDR. Geschichten, Fotos, Objekte. Berlin 2012, S. 257.

51 Für Unterhaltungsmusik eingeführte Marke der VEB Schallplatten.

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VOM ELITÄREN MUSIKGENUSS ZUR MASSENKULTUR Die Erfindung der Schallaufzeichnung hat für die Verbreitung von Musik Revolutionäres geleistet. Mit der Entwicklung der Schallplatte ist die gesamte Breite musikalischer Stilarten aus den elitären Kammermusikzirkeln befreit und einem schnell wachsenden Publikum zugänglich gemacht worden. Auch die Rezeptionsmöglichkeiten von Musik haben sich mit der Schallplatte grundlegend geändert und erweitert. Die bis dahin ausschließlich unmittelbare Musikdarbietung ist mit der Schallplatte zu einem wiederholbaren Ereignis geworden. Nun ist es dem Rezipienten möglich, eine analytische

52 Zit. nach Haffner 2011, S. 163. 53 Vgl. ebd., S. 176.


WIE DIE VINYL-SCHALLPLATTE INS DEUTSCHE WOHNZIMMER KAM

Junges Mädchen beim Plattenhören im Wohnzimmer, Berlin, 1959; Foto: Privatbesitz

und nachvollziehbare Wertung anzustellen. Nicht zu vergessen, erstmals kann Musik unabhängig von Zeit und Ort gehört werden. Der erleichterte Zugang hat ferner ein Bewusstsein für die Vielfältigkeit musikalischer Ausdrucksformen und Inhalte geschaffen, das nun ebenfalls von einem breiteren Publikum erfahren werden kann.54 Innerhalb der Geschichte der Musikindustrie sind es vor allem die Distributionsfunktionen, die kreatives Schaffen befördern oder einschränken können. Große Labels wie die Gramophone Co., Victor und Columbia verfügen bereits kurz nach 1900 über weltweite Distributionsnetzwerke, die es ermöglichen, europäische Opernstars wie Enrico Caruso weltweit bekannt zu machen. Schließlich ist es diesen Netzen zu verdanken, dass der Jazz oder auch der Tango Einzug in Europa halten. Doch die weltweite Kontrolle der Distribution durch einen europäischen und zwei US-amerikanische Musikkonzerne verdeutlichen im Gegenzug die Beschränkungen, die von der jungen Industrie ausgehen. Es ist vor allem die westliche Musik, die weltweite Verbreitung findet, indigene Musikformen gelangen lediglich zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Exotik

bzw. zu musikethnologischen Forschungszwecken in die USA oder nach Europa.55 Die Kontrollmacht der Großen wird jedoch im Verlauf technischer Innovationen und der daraus resultierenden Öffnung der Musikindustrie von verschiedenen Seiten untergraben. Nicht unerheblich ist hier die Rolle der ersten Rundfunkstationen, die, von den Majors als potenzielle Gefahr abgewehrt, Kooperationen mit kleinen alternativen Labels suchen.56 Zunehmend findet eine Demokratisierung des Musikmarkts statt; es entwickeln sich Underground-Bewegungen, gar ganze Subkulturen, die wiederum von den Marktstrategen aufgegriffen und „salonfähig“ gemacht werden. Oftmals sind es Plattenhändler, die den Bewegungen erst ihren Namen geben. So bewirbt der Betreiber des Berliner Plattengeschäfts „Zensor“, Burkard Seiler, in einer Anzeige im Musikmagazin „Sounds“ vom August 1979 eine Rubrik von Neuerscheinungen erstmals unter der Bezeichnung „Neue Deutsche Welle“.57 Oder Andreas Tomalla, der Anfang der achtziger Jahre in einem Frankfurter Plattenladen

arbeitet: Bei dem Versuch, die neuen Scheiben von Depeche Mode, Kraftwerk und Co. zu kategorisieren, kreiert er kurzerhand eine neue Bezeichnung für die Sparte der technologisch produzierten Musik: Techno.58 Die Schallplatte als einstiger Wegbereiter hat überlebt, hat den zahlreichen Neuerungen und technischen Innovationen standgehalten. Die Zeit des weltweiten Erfolgs ist jedoch vorbei. Was bleibt, ist ihre lange Erfolgsgeschichte. Erinnern wir uns daran. Jennifer Rasch studiert Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universiät Viadrina in Frankfurt / Oder.

55 Vgl. Tschmuck, Peter: Kreativität und Innovation in der Musikindustrie. Innsbruck 2003, S. 323. 56 Vgl. ebd., S. 325.

54 Vgl. Zombik, Peter: Schallplatte = Tonträger + Kulturträger. In: Faulstich, Werner (Hg.): Medien und Kultur. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposium der Universität Lüneburg. Göttingen 1991, S. 151.

57 Vgl. Sahler, Günter: Neue Deutsche Welle und Neue Deutsche Erinnerungswelle. Protokoll einer Entwicklung. In: Paraplui 18/2004. URL: http:// www.parapluie.de/archiv/epoche/erinnern/ (letzter Zugriff: 1.2.2014).

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58 Vgl. Frankfurter Gesichter: Andreas Tomalla. In.: faz.net, 2.4.2004. URL: http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/persoenlich/frank-furter-gesichter-andreas-tomalla-1159173.html (letzter Zugriff: 1.2.2014).


Für die Ausstellung „Mythos Vinyl – Die Ära der Schallplatte“ haben fünfzig Neuköllnerinnen und Neuköllner dem Museum Neukölln eine Schallplatte mit ihrem Lieblingssong zur Verfügung gestellt. Sie erzählen über ihre musikalischen Idole und die besondere Bedeutung, die diese Platte für sie hat. Die Beiträge finden Sie fortlaufend im Magazin. Fotos Plattencover: Museum Neukölln / Friedhelm Hoffmann

MEINE liebste

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Foto: Arne Reinhardt / asphalt tango production


Frank Sinatra – Don’t Sleep in the Subway LUKAS A., 19 JAHRE Als seine Mutter mit einem Stapel ausrangierter Schallplatten der Nachbarn nach Hause kommt, fischt sich Lukas A. eine Platte von Franz Sinatra heraus. Ein paar Titel von ihm hat er schon im Radio gehört und fand sie gut. Wenn er sich etwas Besonderes gönnen will, hört er die LP auf seinem eigenen Plattenspieler. Vor allem der Song „Don’t Sleep in the Subway“ hat es ihm angetan. „Es ist besonders der Refrain des Songs, der sich in meinem Kopf festgesetzt hat: ‚Don‘t sleep in the subway, don‘t stand in the pouring rain / Don‘t sleep in the subway, the night is long / Forget your foolish pride …‘ Für mich ist das eine Aufforderung, seinen falschen Stolz abzulegen und offen zu sein für andere Menschen. Gleichzeitig hat der Song etwas Leichtes und für mich die Botschaft, das Leben zu genießen. Frank Sinatra hat für mich so ein nostalgisches Flair: Man blickt auf eine vergangene Zeit zurück, wobei Assoziationen entstehen. Ich finde, man muss Musik mit Bildern füllen, und das geht bei diesem Lied sehr gut. Ich sehe dann immer einen Mann in der U-Bahn sitzen, der kurz vor dem Einnicken ist, statt seine Umwelt wahrzunehmen. Das läuft bei mir wie in einem Film ab. Ich habe mich eine Zeit lang mit HipHop beschäftigt. Da ist es ja durchaus üblich, Vocal-Spuren von älteren Songs in die instrumentalen Beats zu mischen. Es wäre sicher interessant, Frank Sinatras Texte in einen neuen Kontext zu stellen und für die eigene Interpretation der Welt zu nutzen. Der Hip-Hop ist ja recht breit aufgestellt, es muss nicht immer dieses gängige Straßenimage bedient werden. Es gibt Interpreten, die sprechen über ihre Stadt oder unmittelbare Umgebung, wieder andere sind durchaus gesellschaftskritisch. Mir ist es vor allem wichtig, dass die Interpreten authentisch sind und wirklich hinter dem stehen, was sie singen. Deshalb habe ich auch Schwierigkeiten mit der Popmusik, die in den Charts läuft. Das kommt mir manchmal sehr unehrlich und theatralisch vor. Ansonsten ist mein Musikgeschmack sehr breit gefächert. Vielleicht liegt das an

meiner Mutter, die Gesangslehrerin ist und die mich früh an die Musik herangeführt hat. Irgendwann habe ich den Jazz entdeckt. Dann kam eine Phase, in der ich viel Psychedelic-Rock gehört habe, weil sich ein Freund von mir dafür begeistert hat. Ich bin dann auch in diese Welt eingetaucht. Meine Musiksammlung ist relativ groß. Ich habe CDs und Kassetten und viel auf dem iPod. Da gibt es Jazz, aber auch alte Rockgruppen, Brit-Pop und Hip-Hop, den ich für mich als Ausdrucksform entdeckt habe. Eine Weile habe ich Klangflächenkompositionen gehört, bei denen die Akkorde einfach übereinander gelegt werden. Das fand ich sehr eindrucksvoll, zum Beispiel in dem Film ‚Odyssee im Weltraum‘, in dem so etwas eingesetzt wird. Dann habe ich noch György Ligeti oder Friedrich Serans. Das ist sehr breit gefächert, denn ich höre alles, was mir gefällt. Schallplatten habe ich mir noch nicht gekauft, ich bin ja ein relativ armer Schüler. Ab und zu bekomme ich eine Platte geschenkt, zum Beispiel von Georges Moustaki oder Jack Teagarden, die sind jetzt in meiner Sammlung. Ich habe mir vor ein paar Jahren einen eigenen Plattenspieler gewünscht, weil ich keine Lust hatte, die Musik im Wohnzimmer meiner Eltern zu hören. Lieber bin ich in meinem Zimmer und wenn ich Lust dazu habe, lege ich eine Schallplatte auf. Das ist ja irgendwie etwas ganz Besonderes. Auf Musik könnte ich nicht verzichten. Sie ist sowieso allgegenwärtig. Auch die Geräusche der Stadt sind ja Musik. Man muss nur das Fenster öffnen und zuhören, wenn der Regen fällt – das ist Sound.“ Lukas A. lebt mit seinen Eltern in Baumschulenweg und geht in Britz zur Schule. Interview und -bearbeitung: Barbara Hoffmann, Volker Banasiak; Quelle: Sammlung Museum Neukölln

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Interpret: Frank Sinatra Titel: Don’t Sleep in the Subway Komponist: Jackie Trent, Tony Hatch Album: The World We Knew Veröffentlicht: Reprise Records, 1967 Das britische Komponistenduo Trent / Hatch schreibt „Don’t Sleep in the Subway“ im Jahr 1967 für Petula Clark. Tony Hatch ist seit dem weltweiten Erfolg von „Downtown“ zwei Jahre zuvor Stammkomponist der englischen Sängerin. Der Anteil Jackie Trents an dem Hit ist unbekannt, obwohl die Zusammenarbeit beider Autoren schon in dieser Zeit über die berufliche Tätigkeit hinausgeht. 1966 erscheint mit der Clark-Single „I Couldn’t Live Without Your Love” das öffentliche Eingeständnis der Liebe zwischen Jackie Trent und dem verheirateten Tony Hatch. Ein Jahr später heiraten sie. Ihr „Don’t Sleep in the Subway“ erreicht 1967 Platz Zwölf in England und Platz Fünf in den amerikanischen BillboardCharts. Frank Sinatra nimmt den Song im gleichen Jahr für sein Studioalbum „The World We Knew“ auf. Arrangiert wird es von Ernie Freeman, der durch seine Arbeiten mit Dean Martin, Johnny Mathis, Connie Francis und Petula Clark zu den renommiertesten Tonsetzern der leichteren Musik der sechziger Jahre zählt. Bis zum Verkauf von Frank Sinatras Plattenlabel Reprise Records an Warner Bros. im Jahr 1963 ist er außerdem musikalischer Direktor der Firma.


Jethro Tull – Locomotive Breath HARTMUT B., 60 JAHRE In den siebziger Jahren ist diese Schallplatte in einigen Jugendzimmern und immer wieder auf Feten in Neukölln zu hören. Hartmut B. und seine Clique begeistern sich neben Deep Purple, Queen und Santana für Jethro Tull, weil diese mit ihrer Querflöte einen ganz ungewöhnlichen Sound schaffen. Hartmut organisiert mit seinen Freunden Partys. Sie tragen Lederjacken, besuchen RockKonzerte und kultivieren einen regen Austausch von Musik. „Ein richtiges Lieblingslied habe ich bei den vielen Platten, die ich besitze, nicht. Ich habe überlegt, was wir damals sehr oft gehört haben und warum wir das taten. Jethro Tull waren diejenigen, die über die Grenzen gingen, wo sich Klassik und Rock mischen. Das hat mich damals schon immer gereizt und auch unsere Gruppe. Sobald Leute anfangen, auf mehreren Ebenen zu arbeiten, wird es richtig interessant. Jethro Tull setzte eine Querflöte ein und das war damals vollkommen ungewöhnlich. Wer käme auf die Idee, so eine Musik mit einer Querflöte zu verbinden? In unserer Gruppe kamen immer wieder Leute mit neuen Platten und es war spannend, etwas Neues zu hören. Sobald jemand eine Platte gekauft hatte, haben wir sie zuerst auf Tonband aufgenommen, damit wir alle sie auch hören konnten. Und so hatte man am Ende neben der eigenen Plattensammlung die Sammlung seiner Freunde und eine riesige Ansammlung von Tonbändern. Bei ‚Locomotive Breath‘ gefallen mir der Aufbau und der Rhythmus, es war das CoverLied für ‚Aqualung‘. Das war das erste Konzeptalbum von Jethro Tull, keine Sammlung einzelner Lieder querbeet, sondern mit einer Klammer versehen. Damals war es ja schick, Konzeptalben zu machen. Mich hat auch das Cover angesprochen, weil es anders war als die ganzen grellen, bunten Cover, die es damals gab. Und wie der Sänger Ian Anderson immer da stand auf einem Bein und so richtig wreckig aussah! Es war ja die Zeit, als der Glam Rock aufkam. Die hatten super Outfits und er stand da mit seinen ollen Klamotten und mit diesem Käppchen. Ein bisschen mittelalterlich, aber trotzdem ging es gut voran.

Meine Plattensammlung ist irgendwann stehen geblieben, als die CDs aufkamen. Da war man natürlich total begeistert von den CDs. Aber ein Plattenspieler war bei mir immer angeschlossen, Platten liefen eigentlich immer. Wir haben auch nicht, wie es andere gemacht haben, CDs von den Platten nachgekauft, die wir hatten. Ich habe dann oft Schallplatten von Freunden digitalisiert und eine CD daraus gemacht, das Cover abfotografiert und ihre Platte als CD mit Cover gestaltet. Die Freunde haben mir dann ihre Platte gegeben, weil sie meinten, die brauchen sie nicht mehr, weil sie keinen Plattenspieler mehr haben. So sind ein paar Platten dazugekommen, aber sonst ist es meine alte Sammlung. Als die iPods auf den Markt kamen, habe ich alle meine Platten digitalisiert. Da habe ich natürlich ganz links angefangen bis ganz rechts durch. Dabei habe ich Lieder entdeckt, die ich total vergessen hatte. Es war eine echte Entdeckungsreise, mal wieder alle Platten von vorne bis hinten zu hören. Das musste ich ja machen, weil das in originaler Geschwindigkeit lief, damals konnte man nicht wie heute schnell einen File kopieren und, zack, ist es auf dem Rechner. Nein, da musste ich abends immer schön lange sitzen, ein Glas Wein trinken, Platte für Platte hören und mitschneiden. Und danach fing die Arbeit erst richtig an: die Schnipsel auseinandernehmen, einzelne Lieder daraus machen, denn eine Seite lief natürlich immer durch, beschriften. Ich habe die Platten auch so digitalisiert, wie sie sind, also nicht nachbearbeitet, keine Knackser oder das Rauschen entfernt. Das hat Spaß gemacht, aber es hat sich hingezogen, bestimmt über ein Jahr. Man darf Platten nicht zu oft hören, weil immer ein mechanischer Abrieb da ist. Aber das ist ja auch das Witzige, weil sich die Platte mit jedem Mal Abspielen verändert. Irgendwie hört man die Musik weg. Sie wird immer weniger und faded aus. Was man dagegen digital hat, kann man beliebig oft kopieren, es ist immer gleich und entwickelt sich nicht. Man kann eine Schallplatte zwar eine Weile konservieren, dass es sich noch schön anhört, aber irgendwann muss man feststellen, dass die Lebensdauer vorbei ist. Ich liebe alte Sachen und versuche immer, sie lange zu erhalten. Aber es ist auch schön, wenn Sachen altern und dann irgendwann nicht mehr da sind. Bei Schallplatten wird man gezwungen, Ruhe zu haben. Man hat keine Fernbedienung, kann nicht einfach rüber springen, sondern man sitzt da und hört sich eine ganze

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Interpreten: Jethro Tull Titel: Locomotive Breath Komponist: Ian Anderson Album: Aqualung Veröffentlicht: Chrysalis Records, 1971 „Ich wurde ein Rockstar und hätte es genießen müssen. Stattdessen hatte ich eine schlechte Zeit und war nah dran, alles hinzuschmeißen“, so Jethro-Tull-Mastermind Ian Anderson später über seine Karriere am Ende der sechziger Jahre. Und auch an „Aqualung“, dem vierten und bis dahin künstlerisch besten Album des englischen Quintetts, mäkelt der Sänger, Gitarrist, Flötist, Komponist und Produzent. „Ich war überhaupt nicht glücklich mit dem, was ich tat.“ Über sieben Millionen Mal wird „Aqualung“ verkauft, erreicht die Top-Ten der Albumcharts in England und den USA. „Ein komplettes Album von der Verpackung bis zur Musik“, schreibt das britische Musikmagazin Sounds zur Veröffentlichung 1971. „Und das von einer Gruppe, die wir bis dahin nur als Live-Act wahrgenommen haben.“ Auch die Tull-Konzerte gefielen Bandchef Anderson nur mäßig: „Einmal schrieb die Presse, dass wir Led Zeppelin weggeblasen hätten. Wenn sie gut drauf waren, sahen wir aus wie Idioten.“

Seite in Ruhe an. Entschleunigung des Lebens. Ist doch gar nicht so schlecht. Meine Frau teilt meine Freude an der Musik. Das ist schon sehr wertvoll. Vor allem macht es doppelt so viel Spaß, wenn man das mit jemandem teilen und sich darüber unterhalten kann. Nur für sich alleine die Musik zu hören, das wäre weniger als die Hälfte der Freude.“ Hartmut B. wuchs in der Gropiusstadt auf, in den siebziger Jahren zogen seine Eltern mit ihm ins Blumenviertel, wo er heute noch lebt. Interview und -bearbeitung: Anke Schnabel; Quelle: Sammlung Museum Neukölln


Perez Prado – Cherry Pink and Apple Blossom White HANS-JOACHIM B., 64 JAHRE Diese Schallplatte hat HansJoachim B. ausnahmsweise in einem Trödelgeschäft in der Emser Straße gekauft. Ansonsten gelangt der größte Teil seiner Single-Sammlung durch einen regen Tauschhandel in seinen Besitz, den er als Schüler Ende der fünfziger Jahre betreibt und der dafür sorgt, dass sich einige Raritäten unter seinen Singles befinden. „Als Schüler hatte ich zwar wenig Taschengeld, aber schon einen Plattenspieler. Viele Singles habe ich durch Tausch von einem Mitschüler bekommen. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie ich bei ihm im Garten stehe und er mir die Platten anbietet, als Gegenleistung für Hausaufgabenhilfe. Die Singles hatte er von seinem Bruder, der in einem Lokal kellnerte und die ausrangierten Platten aus der Musikbox mit nach Hause brachte. Deshalb haben diese Scheiben alle kein Cover mehr. Meine Lieblingsmusik aus den fünfziger Jahren sind jedoch Perez Prados Mambos. Sein ‚Cherry Pink‘ oder ‚Patricia‘ haben mir so gut gefallen, dass ich sie mir gekauft habe. Wenn ich sie heute höre, muss ich immer an meine erfolgreichen Tauschgeschäfte von damals und erfolglosen Tanzstunden in den Sechzigern denken. Musik war für uns Jugendliche enorm wichtig. Was aus Amerika oder England zu uns herüberkam, drückte ein völlig neues Lebensgefühl aus. Wir hörten regelmäßig die RIAS-Sendung ‚Schlager der Woche‘ mit Fred Ignor und diskutierten dann auf dem Schulhof die Neuerscheinungen. Durch meine Tauschaktionen habe ich sehr viele Singles von Elvis Presley bekommen, die in den Musikboxen viel gespielt wurden und entsprechend abgenutzt waren. Elvis und dann auch Jazz habe ich zum Leidwesen meines Vaters ständig gehört. Wenn ich merkte, dass es ihm zuviel wurde, habe ich etwas aufgelegt, das in seinen Ohren angenehmer klang, zum Beispiel den ‚March of the River Kwai“ aus dem Film ‚Die Brücke am Kwai‘, der 1957 in die Kinos kam. Das war Marschmusik ganz nach seinem Geschmack. Als mir mein schwunghafter Handel Geld einbrachte, konnte ich in der Hermannstraße die Schallplatten kaufen, die ich im Radio gehört hatte. Ich brauchte der Verkäuferin

nur die ersten Takte vorzusingen, dann wusste sie schon, was ich wollte. Eine Single kostete damals 4,50 Mark, das war für mich nicht wenig. Aber wir Kinder haben ja damals alles zu Geld gemacht, was wir in den Trümmern fanden: weggeworfene Waffen und Stahlhelme, sogar Patronengürtel oder SS-Dolche. Nach der Schule waren wir pausenlos „geschäftlich“ unterwegs und suchten nach verkaufbaren Sachen. Und das Geld konnte ich dann wieder in Schallplatten investieren. In den sechziger Jahren haben wir uns in eine Beatles- und in eine Rolling-StonesFraktion geteilt. Ich gehörte ganz klar zur Beatles-Fraktion und war bis zum Schluss ein großer Fan von John Lennon. Als er 1980 in New York ermordet wurde, war ich zutiefst traurig. Lennon war ja nicht nur Musiker, sondern hatte auch ein politisches Anliegen, was mir imponiert hat. Später, als der Vietnamkrieg ausbrach, haben wir begriffen, dass nicht alles toll ist, was aus Amerika kommt. Und dann manifestierte sich die 68er-Protestbewegung und wir begannen, unsere Eltern über die Zeit des Nationalsozialismus auszufragen. Aber die haben darüber, wenn überhaupt, nur hinter verschlossenen Türen gesprochen, oder uns hinausgeschickt oder wichen Fragen aus. Auch in der Schule haben wir darüber kaum etwas erfahren. Antworten mussten wir woanders suchen.“ Hans-Joachim B. ist in der Britzer Hufeisensiedlung aufgewachsen und lebt heute noch hier. Interview und -bearbeitung: Barbara Hoffmann, Volker Banasiak; Quelle: Sammlung Museum Neukölln

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Interpreten: Pérez Prado and his Orchestra Titel: Cherry Pink and Apple Blossom White Komponisten: Piero Leonardi, Louiguy (Louis Guglielmi) EP: Mambo Mania Veröffentlicht: RCA Victor, 1955 Im Dezember 1949 nimmt der kubanische Orchesterleiter Dámasio Pérez Prado seinen Song „Mambo No. 5“ auf, der ihm im Folgejahr den Titel „King of Mambo“ einbringt. Das Stück „Cherry Pink and Apple Blossom White“ entsteht 1951 durch den katalanischen Komponisten Louis Gugliemi alias Louiguy, der schon für Edith Piaf die Melodie zu „La Vie en Rose“ lieferte. Als „Cerisier Rose et Pommer Blanc“ wird die Nummer von Mack David, später erfolgreicher Filmmusiker für viele TV-Serien, darunter „77 Sunset Strip“, ins Englische übersetzt, doch es dauert weitere vier Jahre, bis er sich Prados „Cherry Pink“ wieder vornimmt. 1955 tanzt Hollywoods Sex-Symbol Jane Russel zu einer Instrumentalversion des Songs im Film „Underwater!“ (deutsch: „Die goldene Galeere“) von John Sturges. Für zehn Wochen steht „Cherry Pink“ anschließend auf Platz Eins der amerikanischen Billboard-Charts. Deutschland, Australien und Großbritannien folgen, in letzterem stürmt wenige Wochen später gleich eine Vokalversion an die Spitze der Hitparade. „Cherry Blossom“ gehört bald zum Repertoire der Unterhaltungsorchester von Xavier Cugat, Edmundo Ros, James Last, großer Filmmusiker wie Hugo Montenegro oder John Barry, und dem amerikanischen Popsänger Pat Boone gelingt sogar 1960 ein erneuter Hit auf den Philippinen. Pérez Prado kann 1958 mit „Patricia“ einen weiteren Hit in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten nachlegen. Mit dieser Nummer ist Nadia Grays Striptease-Szene in Frederico Fellinis „La Dolce Vita“ unterlegt.


Impressum Udo Gößwald (Hg.) Mythos Vinyl – Die Ära der Schallplatte Dieses Musikmagazin erscheint zur gleichnamigen Ausstellung. 16. Mai bis 31. Dezember 2014 Museum Neukölln Alt-Britz 81 12359 Berlin Im Auftrag des Bezirksamtes Neukölln von Berlin, Abteilung Bildung, Schule, Kultur und Sport, Amt für Weiterbildung und Kultur, Fachbereich Kultur / Museum Neukölln Musikmagazin Herausgeber: Dr. Udo Gößwald Chefredaktion: Barbara Hoffmann Redaktion: Volker Banasiak, Dr. Udo Gößwald Gestaltung: Claudia Bachmann Druck: Griebsch & Rochol Druck, Hamm Ausstellung Gesamtleitung: Dr. Udo Gößwald Ausstellungsleitung: Barbara Hoffmann Konzeption: Dr. Udo Gößwald, Barbara Hoffmann, Volker Banasiak Ausstellungstexte: Volker Banasiak, Barbara Hoffmann, Mareen Maaß, Jennifer Rasch, Anke Schnabel Wissenschaftliche Mitarbeit: Mareen Maaß, Jennifer Rasch, Anke Schnabel Medientechnik und -design: Claudia Bachmann Audioproduktion: Volker Greve / GREVE STUDIO Berlin Videoschnitt: Christian Korthals / GREVE STUDIO Berlin Ausstellungsgrafik und -einrichtung: Annette Muff Ausstellungsbau: Bruno Braun, Dieter Schultz Sekretariat: Andreas Ernst © Berlin 2014 ISBN 978-3-944141-09-1

Geschichte zum Anfassen Der Geschichtsspeicher des Museums Neukölln Der Geschichtsspeicher des Museums vereint erstmals Archiv- und Depotbereich an einem Standort und ermöglicht es den Besuchern, selbst Informationen zur Geschichte, Kultur und Alltag Neuköllns zu recherchieren. Hierüber wird ein Dialog zwischen Besucher und Museum ermöglicht, der es beiden Seiten erlaubt, von- und miteinander zu lernen. Unsere Mitarbeiter freuen sich über Ihren Besuch und stehen Ihnen mit fachlicher Kompetenz zur Seite. Vor Ihrem Besuch sollten Sie jedoch einen Termin vereinbaren.

Anmeldung: Telefonisch unter 030 627 277 72 oder per E-Mail an geschichtsspeicher@museum-neukoelln.de

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