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Das Zarenreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs

wurden. Die erste, am 17. April 1906 einberufene Reichsduma wies eine Mehrheit von liberalen und sozialistischen Vertretern auf und trat sogleich in Opposition zum Regime, worauf der Zar sie bereits am 8. Juli wieder auflöste. Auch der zweiten Staatsduma, die sich parteipolitisch noch radikaler zusammensetzte als die erste, war nur eine kurze Lebensdauer vom 20. Februar bis 2. Juni 1907 beschieden. Unter Missachtung der Verfassung setzte der Zar staatsstreichartig ein Zensuswahlrecht durch, das einer dünnen Schicht die Mehrheit in der dritten Staatsduma sicherte. Es benachteiligte nicht nur die breite, minderbemittelte russische Bevölkerung, sondern auch die vielen Angehörigen nationaler Minderheiten. So bestand die dritte Reichsduma aus konservativen, nationalistischen und regierungstreuen Parteien. Sie konnte sich eine volle Legislaturperiode vom 1. November 1907 bis zum 9. Juni 1912 halten.14

In den sieben Jahren zwischen 1907 und 1914 beruhigte sich die politische Lage in Russland zumindest an der Oberfläche. Zahllose Anhänger der revolutionären Untergrundbewegungen waren verhaftet und in Gefängnisse gesteckt oder in die weit entfernte Verbannung geschickt worden. Ab 1912 flammten erneute Studentenunruhen und Arbeiterstreiks auf, die zu einer Politisierung der Öffentlichkeit führten. Der Beginn des Ersten Weltkriegs löste wie in den anderen kriegsbeteiligten Ländern eine vorübergehende nationale Begeisterung aus. Die grossen Feierlichkeiten, die 1913 anlässlich des 300-jährigen Bestehens der Romanow-Dynastie im ganzen Land mit viel Pomp gefeiert wurden, können im Nachhinein eher als ein grosses Begräbniszeremoniell gesehen werden: Vier Jahre später existierte das Russische Kaiserreich nicht mehr.

Das Zarenreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs

Auch in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Russland noch in grossen Teilen ein Agrarstaat; rund drei Viertel der Bevölkerung, die sich zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs von rund 60 auf 120 Millionen verdoppelt hatte, waren Bauern. Noch 1913 stammten 4,6 Milliarden Rubel der Staatseinnahmen aus der Landwirtschaft, gegenüber 2,3 Milliarden aus dem Industriesektor. Zwar waren zu dieser Zeit bereits ein Viertel bis ein Drittel aller Bauern Eigentümer des von ihnen genutzten Bodens, im Schwarzerdegebiet in der Ukraine praktizierten aber noch immer über 95 Prozent der ländlichen Bevölkerung die Landumverteilung des «Mir». Stolypins Reformen hatten die Lebensumstände der breiten Bevölkerung nicht tiefgreifend verbes-

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