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Die kurze Unabhängigkeit der Ukraine

«Kriegskommunismus» widersetzten. Der Widerstand gegen die Bolschewikenherrschaft formierte sich zunächst unter Freiwilligenarmeen in Süd-, Nord- und Nordwestrussland sowie unter Admiral Alexander Koltschak in Sibirien, der schliesslich in einem Militärputsch am 18. November mit der Billigung der Alliierten als «Oberster Regent Russland» die Macht an sich riss. Es folgte ein unerbittlicher Machtkampf zwischen den «Roten» und den «Weissen», der rund 16 Millionen Menschen das Leben kostete und nebst einem allgemeinen Chaos ein wirtschaftliches Debakel und eine vollkommen traumatisierte Bevölkerung zurückliess. Wer die nötigen flüssigen Geldmittel hatte, sich rechtzeitig einen Reisepass beschaffen konnte und ein Transportmittel fand, verliess die verbrannte Erde des postrevolutionären Sowjetrusslands. Zu ihnen gehörte ein Grossteil der Russlandschweizer und -schweizerinnen, die Jahre und teils Jahrzehnte im Zarenreich gelebt hatten, so auch Marie und August von Schulthess und ihre Angehörigen. Es gab jedoch auch Hunderte von Schweizerinnen und Schweizern, die trotz allem an die Ideen der sozialistischen Revolution glaubten, in Russland blieben oder in die junge Sowjetunion reisten und ihre weiteren Lebensjahre in den Aufbau ihres sozialistischen Traums investierten.16

Die kurze Unabhängigkeit der Ukraine

Nach der Februarrevolution hielt man in der Ukraine die Chance für gekommen, einen unabhängigen Staat zu errichten. Am 17. März 1917 bildeten in Kiew Repräsentanten politischer, kultureller und beruflicher Organisationen die «Zentralna Rada», einen Zentralrat, aus dessen Mitte eine provisorische Regierung gebildet werden sollte. Zum Regierungschef wurde Mychailo Hruschewskij ernannt. Die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die Ukrainische Partei der Sozialrevolutionäre waren die wichtigsten Parteien im Zentralrat. Am 7./20. November 1917 rief die Zentralna Rada in Kiew die Ukrainische Volksrepublik als autonomen Staat innerhalb des neuen Sowjetrusslands aus. Nur eine Woche später fanden die ersten unabhängigen Wahlen statt, bei denen die Bolschewiki 25 Prozent und die anderen Parteien zusammen 75 Prozent der Stimmen erhielten. Diese Niederlage wollten jene nicht hinnehmen. Mitte Dezember begannen die Roten Truppen mit der Gebietseroberung in der östlichen Ukraine. Danach überschlugen sich die Ereignisse, sodass die Ukraine in ein politisches Chaos stürzte und kaum jemand in der Lage war festzustellen, wer die Regierungsgewalt hatte und welche Gesetze gültig waren.

Am 24./25. Dezember fand in Charkow der erste Delegiertenkongress der Bauern-, Arbeiter- und Soldatenräte statt, der die Beschlüsse der Zentralna Rada für ungültig erklärte; am nächsten Tag marschierten die bolschewistischen Truppen in die Stadt ein. Am 30. Dezember proklamierte das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjetukraine die Ukrainische Volksrepublik der Sowjets. Am 9. Januar 1918 fanden in den nicht besetzten Gebieten der Ukraine Wahlen zur konstituierenden Versammlung statt, bei denen die ukrainischen nationalen Parteien 70 Prozent der Stimmen erhielten, die Bolschewiki hingegen nur 10 Prozent. Dennoch wurde die Versammlung nie einberufen, die Zentralna Rada blieb das politische Entscheidungsgremium der Volksrepublik, und am 22. Januar 1918 rief sie die staatliche Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik aus. Erwartungsgemäss lehnten die Bolschewiki diesen Entscheid ab und zettelten am 29. Januar in Kiew einen Regierungsputsch an, der zunächst niedergeschlagen werden konnte. Doch bereits am 7. Februar marschierten die sowjetrussischen und sowjetukrainischen Truppen in die Hauptstadt Kiew ein.

Auch diesmal war der Triumph der Bolschewiki nur von kurzer Dauer. Nachdem die Ukrainische Volksrepublik am 9. Februar mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich in Brest-Litowsk einen Separatfrieden geschlossen hatte, begannen deren Truppen Mitte Februar mit der Eroberung der westlichen Ukraine. Anfang März erreichten sie Kiew, wo sie die Zentralna Rada wieder einsetzten. Bis Anfang Mai stand die ganze Ukraine mit der Krim und bis östlich von Rostow am Don unter der Besatzung Deutschlands und Österreichs, die die Separationsbemühungen der Ukrainer als Kriegsmittel zur Schwächung Russlands unterstützten. Schon bald mit der Politik des Zentralrats unzufrieden, setzte die deutsche Besatzungsmacht am 29. April in Kiew den nationalistisch gesinnten Kosakenführer (Hetman) Pawlo Skoropadski (1873–1945), einen Grossgrundbesitzer, der unter dem Zaren als General gedient hatte, als regierenden Machthaber ein. Er hielt sich allerdings bloss siebeneinhalb Monate an der Macht; Mitte Dezember wurde er vertrieben und die Ukrainische Volksrepublik wiederhergestellt. Kurz darauf eroberten wiederum die Bolschewiki Kiew, diesmal dauerhaft: Die Ukraine wurde zur Ukrainischen Sowjetrepublik erklärt und war ab 1922 Teil der neu gegründeten Sowjetunion.

Vom jungen August von Schulthess, dem ältesten Sohn des Gutsverwalters, gibt es eine «Aktennotiz», wie er sein Schreiben selber betitelte, «über die Zustände im Gouvernement Charkow (Ukraine)» nach dem Sturz von General Skoropadski. Wahrscheinlich verfasste er diesen Bericht zuhanden des Amts für

Auswärtiges in Bern, zumal sich zu diesem Zeitpunkt sein Bruder Fritz und seine Schwester Emma noch immer in der Ukraine befanden und die Familie sich wohl erhoffte, über das Einschalten des schweizerischen diplomatischen Diensts den Kontakt zu den Geschwistern herzustellen und ihnen bei der Ausreise zu helfen. Augusts Situationsbericht basiert auf zwei Briefen seines Bruders Fritz von Ende November und Mitte Dezember, die sich jedoch nicht erhalten haben.

«Den Nachrichten, die ich gestern durch Vermittlung des Kiewer Konsulates erhalten habe, und die mein Bruder mir aus Sumy am 30. November und 13. Dezember zusandte, entnehme ich Folgendes: Nachdem die

Regierung des Hetman Skoropazky durch den Aufstand unter Petljura gestürzt worden ist, herrscht in der Ukraine vollständige Anarchie. Der nördliche Teil der Ukraine (Sumy, Charkow) ist den Einfällen der

Bolschewisten ausgesetzt. Diese standen Ende November nur noch 10–12 km. von Sumy entfernt. Zu dieser Zeit wurde die Grenzstadt

Sudscha unter Verübung von Gräueltaten von Bolschewisten genommen.

Auf die schwachen Bestände von deutschen Truppen, die sich noch in der

Ukraine befinden, ist kein Verlass, da sich die Leute heimsehnen und ihr

Leben für die Ordnung in der Ukraine nicht riskieren wollen. Besonders schlimm soll es auf dem Lande zugehen, namentlich im achtyrk’schen

Kreise. Weil eine Regierungsgewalt vollständig fehlt, ziehen die demoralisierten Bauern auf Raub und Plünderung aus. Von den Gutshöfen wird das Getreide, das lebende und tote Inventar, von den Zuckerfabriken die

Zuckerbestände weggefahren. Die meisten Gutsbesitzer, die hiezu in der

Lage sind, sind nach der Krim geflohen.

Unter der Regierung des Hetmans waren seinerzeit besondere Untersuchungskommissionen eingesetzt worden, die den Schaden festhalten sollten, der durch Plünderung unter der Herrschaft der Bolschewisten vor der Besetzung der Ukraine durch die deutschen Truppen angerichtet worden war. Ein gewisser Prozentsatz des erlittenen Schadens wurde den

Geschädigten sofort von der Regierung überwiesen; den Rest hatten sie auf gerichtlichem Wege einzufordern. Nachdem die Regierung von Petljura übernommen wurde, existieren diese Kommissionen nicht mehr. In den

Städten war die Lage Ende November wegen der Anwesenheit stärkerer deutscher Truppen noch ruhig. Doch rechnete man damals auf den

Abmarsch der Deutschen per Mitte Dezember.

Gegen die Anarchie macht sich bereits unter den ruhigeren Elementen der Bauern eine gewisse Opposition bemerkbar. Doch ist bei dem passiven Charakter der Russen kaum zu hoffen, dass sie sich bald aus eigener Kraft aufraffen werden. Allgemein wird auf das baldige Eingreifen der Alliierten gehofft.»17

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