obacht_ #4

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utopie



Weshalb also eine obacht_ (Auflage: 1.000) zu Utopie? Erinnern wir uns an Aktivisten der Yes Man Group, die 2009 eine gefälschte Sonderausgabe der New York Times (Auflage: 1,2 Millionen) mit positiven News verteilten. Der Aufmacher lautete: »IRAQ WAR ENDS.« In solchen Zeiten bleibt uns nichts anderes übrig, als bessere Welten zu erträumen. Probieren wir das mal für Berlin aus: »Wohnungen im S-Bahn-Ring werden Milieuschutzgebiet.« Oder: »BER-Verkehrsvolumen auf Rekordhoch.« Noch besser: »AfD scheitert auch in Berlin an Fünf-Prozent-Hürde.« Am schönsten träumt es sich übrigens demnächst im Vergnügungsviertel zwischen East Side Gallery und Mercedes Benz-Arena. 28 Bowlingbahnen, Biergarten, Kino mit 14 Sälen, Music Hall, Hotels, Restaurants, Cafés – und das auf 20.500 Quadratmetern! Wir quietschen vor Freude und bangen um unser Berlin, das bald schrecklicher ausschaut als die Münchner Innenstadt. Der Leser genießt derweil unser Weihnachts-Spezial – eine post-dadaistische Textcollage für Gutmenschen, Dauerstudenten und MDMA-Kids. Viel Spaß bei der Lektüre wünscht

Thorsten Gutmann

:

zugegeben, es ist ein schlechter Witz, kurz vor Weihnachten 2016 eine »Utopie«-Ausgabe zu machen. Die Welt liegt in Trümmern. Der Kapitalismus wütet. Er hinterlässt nichts als Blut und Asche. Im Westen regt sich kaum Widerstand, erst recht nicht bei Studenten. Die Anführer der einstigen Revolten sind heute Rassisten mit Öko-Anstrich. Heute streitet jeder AStA in Berlin über Unisex-Toiletten, Gebetsräume für Muslime und frei zugängliche Kühlschränke, um veganen Brotaufstrich zu sharen.

: agentur für bewegtbild

liebe leserinnen und leser,


inhalt 18

30 der krieg gegen drogen ist verloren

foto tim kirchner

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leben 10 lea, die wagenburgprinzesssin

paula lou riebschläger

14 wir sind jung und brauchen das glück

alina boie

16 die lust an der utopie

laura von stebut

18 saving private schlösser

robert schlösser

träumen 10

24 meine utopie ist gar nicht mal so utopisch

tom reed

26 say know to drugs

thorsten gutmann

30 fremd unter fremden

laura kirsten

32 das diktat des mentalen niemandslands

georg tierbach

bewegen 36 grabschen in tokio – wie ich chikan lieben lernte

anonyme autorin

41 bei einer glaubensgemeinschaft in sibirien

paula lou riebschläger

44 klimawandel

41

patrick volknant

45 die utopie der chancengleichheit robert rienass


thorsten gutmann Transzendenz klingt schön. Aber eigentlich ist es immer dasselbe. Arrogante Männer machen alles kaputt.

laura kirsten Ich würde gerne die Welt durch die Augen eines anderen Menschen sehen.

alina boie In meiner Utopie werden bei wichtigen Entscheidungen die sozialen Ziele vor die wirtschaftlichen Interessen gestellt.

katharina conrad Eine Welt, in der man keine Wörter braucht, um zu kommunizieren.

meine tim kirchner Meine Utopie ist es, dass sich Menschen wahrhaftig verstehen und respektieren.

tom reed Ich will mal bei der Geburt von einem Tier dabei sein, damit es denkt, ich wäre seine Mutter und mir immer hinterher läuft.

nils tarnowski Eine Welt, in der ich nicht das Gefühl habe, immer mehr enttäuscht zu sein, je mehr ich darüber erfahre, wie sie funktioniert.

daniel schreck Dass ich eine gute, durchdachte und konkrete Antwort auf diese Frage finde.


ciara mac gowan

laura v. stebut

In 100 Jahren gibt es das obacht_ immer noch!

Utopien sind heutzutage lediglich Massenware. Von den damaligen Luftschlössern großer Denker ist kaum etwas übrig geblieben.

paulina noah Meine Utopie ist ein Abendessen mit Don Draper.

tabea otto Weltfrieden, ewige Jugend, Unsterbichkeit.

utopie robert schlösser Eine Welt ohne Chemtrails und Echsenmenschen.

paula lou Meine Utopie ist es, dass Reflexionsfähigkeit gegenüber Prinzipientreue vorherrscht.

sophie schmidt Unser utopischer Unsinn untersucht Ursachen umnachteter ultrarotziger Überkreativität.

kai maier Eine Welt, in der Geld keinen Wert mehr hat, wäre Gold wert.


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leben

foto daniel schreck

ressort


10 lea, die wagenburgprinzesssin

paula lou riebschläger

14 wir sind jung und brauchen das glück

alina boie

16 die lust an der utopie

elena von stebut

18 saving private schlösser

robert schlösser


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die wagenburg prinzessin Nach ihrer Ausbildung zur Designerin entscheidet sich Lea für ein unkonventionelles Leben auf einem Wagenplatz. text paula lou riebchläger

Ich stehe vor einem bewachsenen Eisentor in Leipzig, vor mir ein Graffiti: Refugees Welcome. Ich auch? Für die nächsten drei Tage besuche ich Lea und erlebe ihren Alltag. Ich möchte herausfinden, warum sie sich von ihrem komfortablen Leben in Berlin abgewandt hat und stattdessen ein spartanisches Leben im Bauwagen vorzieht. Eine junge Frau springt mir lachend entgegen. Sie trägt kurze Blümchen-Shorts und eine cremefarbene Leinenbluse mit Perlmuttknöpfen. Ihre kurzen Haare lassen nicht vermuten, dass ihnen vor ein paar Tagen die Hundeschermaschine zu Leibe gerückt ist. Sie hätten auch von einem Hair-Stylisten in New York City frisiert sein können. Lea führt mich zu ihrem Zuhause, einem in die Jahre gekommenen grünen Mercedes-Sprinter. Ihre Initialen prangen auf dem Nummernschild. Am Eingang stehen drei Blumentöpfe, in denen Lavendel blüht. Als sie die Tür öffnet, Chaos: Klamotten, Stoffe und Hygieneprodukte überall und nirgendwo. Ein selbstgebautes Bett befindet sich direkt neben einem Herd samt Spüle, der momentan als Auffangbecken für Gewürze aller Art herhält. Hier werde ich die kommenden drei Nächte verbringen.

kein pool

leben

Lea macht Kaffee. Mit der Porzellan-Tasse in der Hand zeigt sie mir den Rest des Geländes. Von der Outdoor-Küche, bestehend aus zwei Herdplatten und einem Gemeinschaftskühlschrank, gelangen wir zur Sitzecke. Laub bedeckt beide Sofas, die im rechten Winkel um einen Tisch gruppiert sind. Auf dem Tisch stehen eine Kerze und eine Flasche Rum. Wir spazieren an weiteren Wohnstätten vorbei. Manche ihrer Mitbewohner leben in ausgebauten LKWs, manche besitzen einen klassischen Bauwagen mit Holzofen und Hochbett. Im Dickicht steht eine Kompost-Toilette, die mit Holzspänen und einer Bravo-Zeitschrift ausgestattet ist.

In der Nähe des Eingangs liegt der kleine Gemüsegarten. Hier wachsen Tomaten, Zucchini, Salate und einige Kräuter. Duschen gibt es hier keine, fließendes Wasser wird im benachbarten Kulturzentrum in Kanister abgezapft. Nach dem kleinen Rundgang setzen wir uns vor ihren Wagen an einen runden Tisch mit wild zusammengewürfelten Stühlen. Lea erzählt mir von ihrem Leben vor dem Wagenplatz und dreht sich eine Zigarette. Brutus, ihr brauner Jagdhund, schnarcht entspannt neben uns in der Nachmittagssonne.

neustart Bevor sie nach Leipzig kam, absolvierte Lea in Berlin eine Ausbildung zur Designerin. Obwohl sie das Nähen und das Spiel mit unterschiedlichen Stoffen und Mustern liebt, brachte sie die Ausbildung häufig an ihre Grenzen. Jeden Morgen fuhr sie mit dem Fahrrad viele Kilometer, um Brutus beim Hundesitter abzuliefern. Dann folgten nervige Mitschüler und noch nervigere Lehrer. Nach ihrem Abschluss packte sie deshalb ihre Sachen, nix wie weg aus Berlin. »Ich habe mich einfach nicht mehr wohlgefühlt. Das Feiern, die Druffis und die grauen Gesichter konnte ich nicht mehr ertragen«, sagt sie bestimmt. Mit Brutus auf dem Beifahrersitz brauste sie in ihrem Sprinter durch Europa. Am längsten hielt es sie in Italien, wo sie zusammen mit einer Band auf den Straßen Roms performte. Eine Stimme wie ein rostiges Ofenrohr? Egal, der Spaß stand im Vordergrund. In ihrer Kindheit durfte Lea offenbar aus gutem Grund nur dann singen, wenn gleichzeitig gestaubsaugt wurde. Jetzt wird rebelliert. Danach zog es sie nach Leipzig, auf der Suche nach alternativen Lebenskonzepten fernab des Mainstreams. Unbedarft klapperte sie einige Wagenburgen ab, bis sie hier strandete. Wir machen uns auf den Weg, Brutus will laufen. Ein langer Waldspaziergang gibt mir Gelegenheit, einige Fragen zu stellen. Warum Wagenplatz statt Wohnung? ►


leben

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12 Wo liegen die Herausforderungen? Wie finanziert sie sich? Der Grund, warum Lea sich für ein Leben im Bus entschied, war zunächst einmal finanzieller Natur. 25 Euro pro Monat inklusive Strom und Internet – ja, WLAN ist vorhanden – sind unschlagbar. Eine Wohnung für diesen Preis zu finden ist nicht möglich. Außerdem war Leas bisheriges 26-jähriges Leben getrieben von Neugier. Für sie war es schon immer wichtig, Fremdes unvoreingenommen kennenzulernen. Trotzdem bringt das Wohnen in einem circa sieben Quadratmeter großen Fahrgestell auch Herausforderungen mit sich. »Man kann sich nicht aufrecht hinstellen, man kann sich nicht nach Belieben duschen und bei schlechtem Wetter Wäsche trocknen ist auch nicht so prickelnd«, berichtet sie. Zusätzlich beschränkt man sich auf die allernötigsten Habseligkeiten, was Fluch und Segen zugleich ist. »Wenn ich an meiner Lebenssituation etwas ändern könnte, würde ich eine Hollywood-Schaukel bauen, einen rosa Bauwagen kaufen, einen Hundepool anschaffen und jedem eine Margerite vor seinen Wagen stellen.« Sie lacht und strahlt dabei über das ganze Gesicht.

es rollt Momentan lebt Lea noch von ihren Ersparnissen und arbeitet in zwei Fahrradwerkstätten. Nebenbei leitet sie ehrenamtlich ein Projekt, in dem Flüchtlinge gespendete Fahrräder bekommen und diese zusammen mit Fachpersonal in Schuss bringen. Zwar liebt sie das Konzept und setzt sich leidenschaftlich dafür ein, mitunter kommt sie nervlich aber auch an ihre Grenzen. Mit Händen und Füßen verständigt man sich, wenn alle zusammen an den alten Drahteseln herumschrauben. Dabei kommt es häufig zu Konflikten, denn natürlich sind nicht alle Räder gleichwertig. Gerade für Jugendliche ist es schwer zu verstehen, warum der eine ein Mountain-Bike und der andere nur ein klappriges Damenrad erhält. »In diesem Fall muss man die Zähne zusammenbeißen und darf das Ziel nicht aus den Augen verlieren«, sagt sie. Brutus platscht in den Fluss neben uns

und jagt einen Schwarm Enten. Eine erfrischende Dusche könnten wir an diesem heißen Sommertag auch gebrauchen. »Es liegt auf der Hand, dass in meinem jetzigen Alltag die fehlenden sanitären Anlagen die größte Herausforderung darstellen. Als ich frisch nach Leipzig kam, hatte ich keinen Plan, wo die besten Seen zum Baden sind. Deshalb habe ich mein Geld darauf verwendet, zum Duschen ins Schwimmbad zu gehen oder für den Waschsalon.« Der Magen knurrt, mittlerweile ist es 19 Uhr und wir machen uns auf den Rückweg zum Wagenplatz. Dort angekommen montiert Lea einen Fahrradanhänger an ihr Rennrad. Ich schaue sie verdutzt an. »Brutus hat Artrose und sollte keine längeren Strecken auf Asphalt laufen. Außerdem hat man mit einem Kinderanhänger am Fahrrad viele Vorteile«, erzählt mir Lea grinsend. »Die anderen Verkehrsteilnehmer sind plötzlich viel rücksichtsvoller.« Sie schnappt eines der unzähligen Fahrräder, die auf dem Platz herumstehen und hält es mir hin. Schon vor meiner Anreise hatte mich Lea vorgewarnt, dass sie alle Strecken mit dem Fahrrad fährt. Da summieren sich an einem durchschnittlichen Tag gut und gerne 30 Kilometer. Kaum aufgestiegen geht es los in Richtung VoKü, was die Abkürzung für Volksküche ist. Von diesen Volksküchen gibt es in Leipzig viele. Hier wird veganes oder zumindest vegetarisches Essen zu günstigen Preisen angeboten. Alle Köche und das Thekenpersonal arbeiten ohne Bezahlung, um auch Geringverdienern das Essengehen zu ermöglichen. Vor dem Lokal sitzen viele Leute, die meisten von ihnen auf dem Boden. Sie unterhalten sich angeregt und mustern Brutus belustigt, der seinen Kopf aus dem Fahrradanhänger streckt. Heute gibt es gebratenes Gemüse mit Kräuterquark und Salat. Nach der langen Fahrradfahrt schlingen wir beide unsere Portionen in Windeseile hinunter. Nachschlag umsonst? Challenge accepted.

sammler, keine jäger Als wir uns nach der Rückfahrt Leas Zuhause nähern, werden wir bereits vom Gebell der Hunde ihrer Mitbewohner empfangen. Der ängstliche Brutus hat sich trotz seines imposanten Namens noch keine höhere Stellung im Rudel erarbeiten können. Die anderen Wagenplatz-Bewohner sitzen um einen Esstisch herum. In ihrer Mitte verströmt eine Kerze warmes Licht. Patrick ist gelernter Koch und hat aus containerten Lebensmitteln vegane Kost zubereitet. Containern, auch Dumpstern genannt, bezeichnet die Mitnahme weggeworfener Lebensmittel aus Abfallcontainern. Das Containern erfolgt in der Regel auf dem Gelände großer Supermarktketten. In Deutschland ist dieses Vorgehen verboten und wird meist als Hausfriedensbruch und/oder als Diebstahl gewertet. »Momentan ist eine schlechte Zeit, um Lebensmittel zu dumpstern. Das meiste ist von Fruchtfliegen übersät oder in der Hitze schon vergammelt. Außerdem sind die Supermarktangestellten ziemlich wachsam«, sagt Lea. In der Wagenplatz-Gemeinschaft gibt es kein Mein und Dein. Jeder nimmt sich aus dem Kühlschrank, was er braucht und füllt ihn auf, wenn Bedarf besteht. Dies tut jeder auf seine Weise. Abgewaschen wird von dem, der gerade Zeit hat mit Hilfe einer Spülschüssel und kaltem Wasser aus Kanistern. Zähneputzen und die restliche Körperhygiene folgt dem selben Prinzip.

tauschgeschäfte Langsam wird es kühl und ich ziehe mich in Leas Sprinter zurück. Trotz des dicken Schlafsacks und einiger Decken friere ich die ganze Nacht. Nur meine Nase lugt aus dem Schlafsack, ab und zu reibe ich sie warm. Ich schlafe erst ein, als die Sonne wieder am Himmel steht und den Bus etwas aufgewärmt hat. Als ich aufstehe, ist Lea bereits bei der Arbeit in der Fahrradwerkstatt. Nach einem Kaffee, den ich zusammen mit Patrick und seiner Freundin Mirja trinke, hole ich Lea von ihrem Arbeitsplatz ab. Heute schraubt sie nur halbtags und dann ist endlich Wochenende. Lea sitzt vor einem abmontierten Rad und versucht, die Speichen gerade zu spannen. Ihre Stirn bedecken ein paar winzige Schweißperlen und auf ihrer linken Wange hat sich eine beträchtliche Menge Kettenschmiere verteilt. Brutus schläft zusammengerollt neben ihr und schnarcht wie so oft. »Puh, gleich bin ich fertig«, stößt Lea aus und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sie hat in stundenlanger Arbeit Mirjas Radlager repariert, zum Dank wird sie später von Mirja eine selbstgemachte Hundeleine erhalten.


spaß »do it yourself«

Ich weigere mich dagegen, mich selbst in irgendwelche Schubladen zu stecken«, sagt sie bestimmt. »Es kann sein, dass ich an einem Tag einen Wellness-Trip mit meiner besten Freundin unternehme und am nächsten Tag bei einer linken Demonstration in Connewitz Pfefferspray schlucke. Auch wenn ich mich größtenteils vegan ernähre, würde ich mich nie als Veganerin bezeichnen. Vielleicht habe ich ja morgen Bock auf einen Burger. Wer weiß.«, sagt sie schulterzuckend.

Wir verlassen die Werkstatt und fahren zu ihrem Freund Till, der ebenfalls auf einer Wagenburg lebt und morgen seine Geburtstagsparty feiert. Eine unscheinbare Abzweigung führt einen steilen, hubbeligen Weg hinauf. Ein Tor mit Zahlenschloss schützt vor unliebsamen Besuchern. Wir fahren an vielen Bauwagen vorbei, die links und rechts des Weges liegen. Sofort fällt auf, wie weitläufig dieses Gelände ist. 13 liebevoll ausgebaute Wagen stehen auf einer mehrere tausend Quadratmeter großen Stellfläche. In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Als wir aussteigen, werden wir sofort von Till und vier weiteren Bewohnern begrüßt. Am Nachmittag war ein kleines Grüppchen zum nahegelegenen Schrottplatz gefahren. In Eigenregie eine Minigolfbahn zu bauen lautete das erklärte Tagesziel. Sie haben zusammen stundenlang gewerkelt und das Endprodukt sieht beeindruckend professionell aus. Mit einem Baustrahler und einer Discokugel bestückt, lässt sich die Bahn sogar bei Dunkelheit bespielen. Gesagt, getan. Lea stellt ihr Bier ab und schwingt den Golfschläger, der zusammen mit fünf weiteren und einer Golftasche auf dem Schrott erbeutet wurde. Vorbei an Holzteilen, alten Fahrrad-Schutzblechen und zerschnittenen Pylonen schmettert sie den Ball in Richtung Loch. Er erreicht sogar die letzte Hürde, ein gekürztes Ofenrohr, dort bleibt er stecken. Egal, nächstes Mal klappt es bestimmt. Von der sportlichen Betätigung ermattet fallen wir alle ins Bett.

Je mehr Zeit wir miteinander verbringen, desto mehr beginne ich, Lea zu verstehen. Oberflächlich betrachtet könnte man denken, sie weiß nicht so recht, wer sie eigentlich ist und was sie in ihrem Leben erreichen möchte. Bei genauem Hinsehen merke ich aber, dass Lea eine Person ist, die weder sich noch andere einschränken möchte. Schubladendenken lehnt sie ab. Vielmehr ist sie sich ihrer Vielseitigkeit bewusst und akzeptiert die Widersprüche in ihrer Persönlichkeit. Nächstes Jahr möchte Lea eine Ausbildung zur Zweiradmechanikerin beginnen, vielleicht verschlägt es sie aber auch zur Olivenernte nach Griechenland. Was Lea vom Großteil der Menschen unterscheidet, ist, dass sie Unsicherheiten zulässt und diese auch aushält. Trotzdem plant sie, in den nächsten Monaten vorerst sesshaft zu werden. Sie möchte einen eigenen Bauwagen kaufen, in dem man aufrecht stehen kann. »Als Kind war ich unglaublich weinerlich und wusste mir in vielen Situationen nicht zu helfen«, erzählt Lea. »Wie stehen deine Eltern zu deinem jetzigen Leben?«, möchte ich wissen. »Anfangs war das wirklich schwierig. Für sie war es ungewohnt zu sehen, dass mein Lebensweg nicht so eindimensional verläuft wie bei vielen Leuten meines Alters. Zwar wollten sie früher immer, dass ich eine taffe Frau werde, aber als es dann so war, hat sie das erst einmal überfordert. Mittlerweile ist es für sie aber okay«, erzählt sie nachdenklich.

schubladendenken verboten

pippi langstrumpf Die ersten Gäste kommen, die befreundeten DJs bauen ihre Plattenspieler auf, der Grill wird entzündet. Als es plötzlich anfängt, wie aus Kübeln zu schütten, bauen alle gemeinsam aus Plastikplanen ein Regendach. Nach dem Essen wird getanzt und ausgelassen gefeiert. Zur Erholung sitzen einige um ein Lagerfeuer herum und unterhalten sich beschwingt. Ich blicke von der großen Holzterrasse auf das Treiben und kann verstehen, warum sich Lea für ein Leben auf der Durchreise entschieden hat. »Vielleicht lebe ich in ein paar Jahren in einer Altbauwohnung und mache mir über die Farbe der Teppiche Gedanken. Man kann nie wissen.« Auch wenn es in der jetzigen Situation keinen Anhaltspunkt dafür gibt, würde ich in Bezug auf Lea nichts ausschließen. Sie lebt die Utopie, sich jeden Tag aufs Neue frei entscheiden zu können. Dafür trägt sie die Konsequenzen. Auf ihren rechten Unterarm ließ sie sich eines Nachts 3 x 2 = 4 in gelber Farbe tätowieren. Zum Pippi-Langstrumpf-Lifestyle fehlt ihr eigentlich nur noch das eigene Pony und Herr Nilsson. Mit Brutus an ihrer Seite und einem Pflegepferd ist sie auf dem besten Weg. Nach einer schlaflosen Nacht führt mich Lea am nächsten Morgen durch einen verschlungenen, urwaldähnlichen Pfad zurück in die Zivilisation. Mein Bus nach Berlin wartet. _

leben

fotos paula lou riebschläger

Der nächste Morgen startet mit einem ausgiebigen Frühstück, bestehend aus selbst gemachten Aufstrichen, Brötchen und frischem Obst. Danach machen wir uns an die Partyvorbereitungen. Die einen beschaffen Baumaterialien für eine Bar, Lea und ich bereiten diverse Salate zu. Ich frage sie nach ihrer Einstellung zur Liebe. »Vor Till habe ich polyamore Beziehungen ausprobiert. Für mich klang das Konzept, mehrere Menschen zu lieben, stimmig und irgendwie auch verlockend«, erzählt sie mir. »Dann haben Till und ich uns angenähert. Er hat mir relativ schnell eröffnet, dass er nichts von Polyamorie hält. Seiner Meinung nach ist das nichts anderes als Feigheit, weil man sich nicht traut, sich für einen Partner zu entscheiden. Ich habe mich in ihn verliebt und seit drei Monaten sind wir ein Paar. Bis jetzt läuft das sehr gut«, plaudert sie lächelnd. Wir sitzen im Schneidersitz auf dem frisch verlegten Dielenboden in Tills Bauwagen. Zwischen uns steht eine große Schüssel, in die Lea Tomaten, Gurken und grünen Salat schneidet. Ich versuche mich an einer Salatsauce und möchte von Lea wissen, inwiefern sich ihre moralischen Wertegrundsätze und das Leben in einer links-alternativen Gemeinschaft gegenseitig beeinflussen. »Im Gegensatz zu vielen anderen Wagenplatz-Bewohnern war ich nie sonderlich politisch aktiv. Aber das hat sich mit dem Krieg in Syrien und den vielen Flüchtlingen deutlich geändert. Vorher habe ich nie den Druck gespürt, mich gesellschaftlich engagieren zu müssen. Das ist jetzt definitiv anders.« Im Gespräch mit ihren Mitbewohnern erfährt sie von Hausbesetzungen, von Demos und deren Hintergründen. »Wenn ich bezüglich eines Themas keine Ahnung habe, gehe ich damit komplett offen um«, sagt Lea. Ihre Mitbewohner und die nahestehende alternative Community haben dafür Verständnis. »Generell ist es mir aber sehr wichtig, keine Dogmen aufzustellen.


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wir sind jung und brauchen das glĂźck


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Nine-to-Five-Job im Büro? Über eine Generation, die nach Sinn sucht und einen Soziologen, dessen Prognosen heute aktueller sind denn je. text alina boie

»Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, um mir meine Wohnung leisten zu können, in der ich kaum wohne, weil ich immer arbeite«, lese ich als Überschrift bei einem Bild auf Facebook, das eine Bekannte von mir geteilt hat. Diese Bekannte ist so alt wie ich – Anfang 20, Teil der »Generation Y«. Ihr Posting beschreibt genau das Szenario, in dem sich unsere Generation befindet und die Einstellung zum Leben, die uns zugesprochen wird.

In dieser Krise befindet sich momentan die »Generation Y«. Sie sind junge Arbeitnehmer oder stehen kurz davor, in den Arbeitsmarkt einzutreten. Aber ist es nicht sogar erstrebenswert, einen neuen Sinn in einer Tätigkeit zu suchen? Wie kann dieser Sinn gefunden werden? Und wie ändern sich dadurch die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt?

selbständigkeit und leiharbeit

weshalb ein leben lang arbeiten?

nehmen zu

»Generation Y«. Es ist kein Zufall, dass der englische Buchstabe »Y« dem englischen Fragewort für »Warum?« so ähnlich ist. Denn wir, geboren zwischen 1980 und 1998, hinterfragen bei unseren Handlungen vor allem das »Warum?«.

Wir fordern heute einen Job, der Spaß macht und uns erfüllt. Die Arbeit soll etwas bewegen – und auf das Individuum zugeschnitten sein. Auf jeden Fall sollte Arbeit mit Familie und Freizeit vereinbar sein (»Work-Life-Balance«). Unsere Generation kann es sich durchaus leisten, hohe Anforderungen zu stellen. Denn bis 2030 soll die Zahl der Deutschen im erwerbsfähigen Alter – je nach Studie – um bis zu sechs Millionen sinken. Daraus ergibt sich in einigen Arbeitsbereichen ein Personalmangel. Das zeigt sich schon jetzt in sozialen Berufen, wie dem des Altenpflegers und Kindergärtners. Die gut ausgebildete »Generation Y« kann in Bewerbungsgesprächen selbstbewusst auftreten und fragen: »Warum soll ich genau bei Ihnen anfangen? Was können Sie mir als Arbeitnehmer bieten?«

Wir suchen nach dem Sinn. Wir suchen nach einer Arbeit, in der wir Sinn erfahren. Eine Arbeit, die uns erfüllt und glücklich macht. Wir verlangen mehr als stumpfes Zeitabsitzen bei einer Tätigkeit, die fast ein Dreiviertel unserer Lebenszeit einnimmt. Und überhaupt, warum müssen wir eigentlich so viel arbeiten? Eine 40-Stunden-Woche – wie viel Freizeit bleibt da noch? Wie viel bleibt uns vom Leben übrig? Diesen Fragen widmete sich auch Max Weber, der als Klassiker unter den Soziologen und Kulturwissenschaftlern gilt. Er suchte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach einer Erklärung, warum Menschen viel arbeiten und warum wir diesen Menschen großen Respekt gebieten. Weber begründete das Streben nach Arbeit mit der Religiosität, die wegbereitend für das Aufbegehren des Kapitalismus im 16. Jahrhundert war. Wenn ein Mensch Erfolg hatte und viel Geld besaß, war er für Calvinisten – die damals zweitgrößte protestantische Richtung neben den Lutheranern – von Gott gesegnet. Somit war es garantiert, dass er in den Himmel kam. Menschen, die wiederum nicht wohlhabend waren, suchten nach einer Möglichkeit, sich die Gnade Gottes und damit die Chance auf das Himmelreich zu sichern – durch mehr Arbeit. Nach und nach entwickelte sich eine positive Haltung zu Geld und Wohlstand. Der Calvinist wollte verdeutlichen: »Ich gehöre zu den Auserwählten.« Die Arbeitsethik übte Konkurrenzdruck auf die restliche Bevölkerung aus, zum Beispiel auf Katholiken und Atheisten. Diese mussten nun mehr arbeiten, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen und als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu gelten. Es war ein perfekter Zeitpunkt für die volle Entfaltung des Kapitalismus, der zu dieser Zeit am Anfang stand und eine Eigendynamik entwickeln konnte.

Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sind schon jetzt zu spüren. Bereits heute arbeiten rund elf Prozent der Erwerbstätigen als Selbstständige, bei der »Generation Y« sind 29 Prozent als Freelancer tätig. Immer weniger Menschen geben sich mit einem Nine-toFive-Bürojob zufrieden, sondern wollen selbst bestimmen, wann und wo sie arbeiten. Vor allem im Kreativbereich sinkt der Anteil der Festanstellungen und wird durch freie Mitarbeiter ersetzt. Deshalb gibt es in Deutschland viel Leiharbeit. 50.000 Menschen betätigen sich laut einer Statistik der Arbeitsagentur in einem solchen Modell. Handwerker und Übersetzer versteigern ihre Arbeitskraft auf Internetplattformen. Hier gilt oft das Prinzip: Der Billigste bekommt den Job. Die modernen Tagelöhner haben weder Absicherung noch Gewerkschaft. Sie leben mit Existenzängsten. Die Arbeit als Freelancer ermöglicht zwar mehr Freiheit, bietet aber weniger Sicherheit.

modell »sechs-stunden-tag« Auf der anderen Seite steht der Stellenabbau, der mit der Digitalisierung einhergeht. Neue Maschinen ersetzen menschliche Arbeitskraft. Jeremy Rifkin, einer der einflussreichsten Soziologen der USA, ist der Meinung, dass wir in Zukunft alle weniger arbeiten können. Denn weniger benötigte Arbeitskraft bedeute laut Rifkin entweder eine hohe Arbeitslosenquote oder eine Verteilung des Arbeitsangebots auf mehr Menschen als bisher. Sechs-Stunden-Tage und mehr Freizeit für alle könnten Wirklichkeit werden. In Schweden wird dieses Modell bereits als zweijähriges Experiment in einem Pflegeheim getestet. Pflegerinnen und Pfleger berichten, sie hätten mehr Energie, seien entspannter und täten Dinge, für die sie früher keine Zeit hatten. Klingt vielversprechend. Ein Modell, das so auch auf Deutschland übertragbar wäre? Fakt ist: Meine Bekannte, die den Beitrag auf Facebook gepostet hat, könnte so mehr Zeit in ihrer Wohnung verbringen, für die sie jeden Tag arbeitet. Ein Modell, das der anspruchsvollen »Generation Y« durchaus gefallen könnte._

leben

Laut Weber etablierte sich so unsere heutige 40-Stunden-Woche. Aber: Während der Calvinist früher aus freien Stücken Berufsmensch sein wollte, sind wir heute dazu verpflichtet. Ist man auf einer Feier eingeladen und lernt jemand Neues kennen, ist eine der ersten Fragen: »Und, was arbeitest du so?« Sich am Beruf zu orientieren und sein Leben danach zu planen ist allgegenwärtig. Aber hat das für uns heute noch einen Sinn? Was man früher mit dem Glauben und dem Bestreben begründete, in den Himmel zu kommen, wird heute vor allem von jungen Menschen vielfach hinterfragt. Religion verliert zunehmend an Bedeutung. Kaum ein junger Mensch würde heute dem calvinistischen Gedanken zustimmen. Ein neuer Sinn muss also her. Weber prognostizierte, dass die Frage nach dem »Warum?« mit einer tiefen Sinnkrise einhergeht.

collage tim kirchner

sinnfrage neu gestellt


Sie schleichen sich klammheimlich in unser Leben. Sie ergreifen Besitz von unserem Alltag, unserer Zeit und unserer Wahrnehmung. Sie nehmen uns gänzlich ein und ohne große Zweifel lassen wir es zu. Technische Utopien sind der Grund, warum sich ein gesellschaftliches Konstrukt um die eigene Achse dreht, wöchentlich aus den Fugen gerät und Welten auf den Kopf stellt. text laura von stebut

die lust an der utopie


17 Es ist kaum noch möglich, einen Überblick darüber zu behalten, was diese neuen Errungenschaften in ihrer Gänze bedeuten. Vernetzen lautet die Devise. Smart muss es sein. Vorantreiber, wie das die IFA (Internationale Funkausstellung Berlin) jedes Jahr aufs Neue beweist, sind der Äther der Technik und des Voranschreitens der Konsumgesellschaft. Wann wurde aus einem Zuhause ein Smart-Home? Wann wurde aus einer Drehscheibe der Mittelpunkt eines ganzen Lebens?

Aber woher kommt das? Das wir immer schneller, weiter, höher Wollen? Ist es in unserer DNA angelegt? Wissensdrang und Forschungsbegeisterung haben uns das Feuer gebracht, es folgten Werkzeuge zur Nahrungsaufnahme. Die Menschheit hat sich selbst zum Scheitern verurteilt, als Erfindungen nur noch der eigenen Müßigkeit und Passivität dienten. Der Erste, der sich der absoluten Utopie der Erfindungen hingegeben hat, war Leonardo da Vinci. Er rationalisierte alles und jeden um sich herum, sogar die Kunst. Das Himmlische und das Weltliche waren eins. Seine Beobachtungen zum Kosmos, zur Anatomie, zur Architektur und zur Mathematik notierte er wie eine Maschine, bekannt als Codex Leicester. Er erschuf Automobile, Turbinen und Kriegsgeräte. Als Prophet unserer technologischen Zeit war er ein Genie auf dem Gebiet des Fortschrittsdenkens. Aber der wahre und entscheidende Grund für sein Tüfteln, Erforschen und Entdecken war eben nicht - wie heutzutage - die Wirtschaftlichkeit, sondern das reine Verlangen nach dem Wissen an sich. Ist dieses utopische Konstrukt der virtuellen Welt, abgebildet auf etlichen Bildschirmen in allen Ländern dieser Erde, zum Scheitern verurteilt? Wie lange kann dieses rasende Tempo des Erfindens noch aufrecht gehalten werden? Wie Diebe stehlen Erfindungen heute nicht nur Zeit, sondern auch Fähigkeiten. Sie werden einige Wenige in die Zukunft weisen und hoch hinaus bringen, aber die Meisten tief fallen lassen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, Dinge zu entdecken, zu erforschen und sie daraufhin zu optimieren. Das Problem ist, dass den Menschen das Geld am Ende des Tages immer noch wichtiger ist, als alles andere. Egal ob es gesund ist oder nicht. _

leben

Es fing alles damit an, dass man mobil sein wollte. Geräte bekamen Bildschirme. Erst wurden sie kleiner, dann wieder größer. Es kam Farbe dazu. Töne. Musik. Gadgets zur Vereinfachung des Alltags. Apps zur Bespaßung, Organisation, zur sozialen Interaktion. Das Internet behauptet sich als paralleles Phänomen, als ungefilterte Wissensquelle, für das man beinahe einen Waffenschein bräuchte. Denn die Naivität der Menschen hat sich bis heute nicht geändert. Stabil und unabdingbar zieht sie sich durch unsere Geschichte. Es gibt Menschen, die wissen, wie sie mit gewissen Informationen umgehen müssen. Viele wissen es jedoch nicht. Unwissenheit führt zu hemmungslosem Konsum. Zu Virtualisierung. Physisch ist nur noch der Bildschirm. Meistens mit Touch-Funktion.

illustration tom reed

Effizienz ist ein Stichwort, mit dem sich die technische Avantgarde brüstet. Zu schnell. Was soll noch kommen? Die Absatzzahlen von immer neuen Geräten und Anwendungen schießen exponentiell in die Höhe. Noch ist Luft nach oben. Aber wie lange noch? Was kommt nach dem iPhone 10? Sind die Kosten, die die Mehrheit der Gerätebesitzer meist über eine Dauer von 24 Monaten auf sich nimmt, gerechtfertigt? Was stimmt nicht mit den guten alten Dingen? Optimierung ist der eine Grund. Im Stundentakt über Grenzen hinauszuschießen, der andere.


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saving private schlösser Ich fing an, anders zu sprechen, anders zu laufen und in letzter Konsequenz auch anders zu denken. text robert schlösser

Der zu meiner Überraschung überaus freundliche Herr am Telefon gab mir einen zeitnahen Termin bei einem sogenannten Karriereplaner. Als nächstes rief ich meine Eltern an, um ihnen zu erklären, dass ich nach den Semesterferien nicht mehr in die Universität zurückkehren würde, sondern der Armee beitrete. Meine Mutter lachte sich schlapp und wünschte mir in einem ironischen Unterton viel Glück. Mein Vater hingegen blieb sehr ruhig und fragte nur, ob ich da auch Geld bekommen würde. Als ich seine Frage bejahte, schien er mehr als einverstanden zu sein.

Die Schule war vorbei, und das bereits seit einem Jahr. Die Sonne schien, der Himmel war blau und ich hatte einen Studienplatz an der juristischen Fakultät der Freien Universität in Berlin bekommen. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen. Schließlich geben sich viele Menschen in meinem Alter mit weitaus weniger zufrieden. Ich hingegen war tief deprimiert. Gegen Ende des zweiten Semesters kristallisierte sich heraus, dass mein Traum, Jura zu studieren, mit der Realität kollidierte. Das Ideal, durch mein erlangtes Wissen eine gerechte Welt zu schaffen, war nichts weiter als ein Wunschdenken. Denn die Wörter »Recht« und »Gerechtigkeit« entstammen höchstens derselben Wortfamilie. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn nicht auch mein Privatleben ein schwarzes Loch gewesen wäre, das Chaos förmlich anzog.

Meine Freunde dagegen wiesen kein Verständnis für meine Entscheidung auf. Ich solle doch lieber nach Australien und ein bisschen surfen, bis ich weiß, was ich studieren möchte. Aber ich war nicht mehr von meiner Idee abzubringen. Ich wollte ein solcher Soldat werden, wie er mir durch die verzerrten Darstellungen aus Hollywood implantiert wurde: Aufrichtig, unerschrocken und voller Tatendrang. Erst kam der Termin beim Karriereplaner der Bundeswehr, dann die Musterung. Letztendlich verging nur ein Monat, bis ich vor einem überdimensionalen Tor stand: »Militärischer Sicherheitsbereich! Unbefugtes Betreten verboten! Vorsicht Schusswaffengebrauch!«. Von diesem Tag an war mein Leben, wie ich es kannte, vorbei. Meine Identität beschränkte sich nur noch auf meinen Nachnamen und eine Personenkennziffer, die jeder Soldat um den Hals trägt und auswendig wissen muss. Rückblickend betrachtet sind die ersten drei Monate, die aus der Allgemeinen Grundausbildung bestehen, eine metamorphische Umerziehung. Bevor ich bei der Bundeswehr war, verließ ich um fünf Uhr morgens den Club, und jetzt wurde ich um diese Uhrzeit von einem durch den Raum fliegenden Mülleimer geweckt, der von einem meist schlecht gelaunten Ausbilder geworfen wurde. Ich fing an, anders zu sprechen, anders zu laufen und in letzter Konsequenz auch anders zu denken. Ich achtete auf Dinge, die mich zuvor nie interessierten. Mein Bett musste perfekt gemacht sein, weil sonst Decke und Kopfkissen aus dem Fenster flogen und man fünf Minuten Zeit hatte, es neu zu machen. ►

leben

Wenn ich nicht mit einem intolerablen Kater aufwachte, ging ich joggen oder vertrieb mir sonst irgendwie die Zeit, bis ich wieder zum Nachtschwärmer mutierte. So borniert ich mich auch verhielt, wurde mir zunehmend bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich war nicht der, der ich sein wollte und wollte nicht der sein, der ich war. Ein weiterer Tropfen Selbstmitleid hätte gereicht und ich wäre darin ertrunken. Ich wollte einen Wandel; und der sollte möglichst radikal sein. Ich wollte weit weg von allem Vertrauten. Aber anstatt einen Flug nach Südostasien zu buchen, um ein bisschen Work und viel Travel zu machen, griff ich zu meinem Telefon und rief in einem Rekrutierungsbüro der Bundeswehr an.

illustration sophie schmidt

Mein Großvater, eine tragende Säule meines Lebens, war verstorben. Meine erste Freundin hatte mich nach zwei Jahren Beziehung abgesägt (Gründe gab es für sie genug) und meine Freunde hauten, einer nach dem anderen, ins Ausland ab. Wie ein kleines und bockiges Kind fühlte ich mich allein und ungeliebt. Vom Werther-Komplex geplagt und dem Gefühl, von der Welt verlassen worden zu sein, schlug ich mir die Nächte um die Ohren. Ich traf fragwürdige Menschen und fragwürdige Entscheidungen und wartete auf Godot. Aber der kam nicht. Meinen Alltag durchlief ich mit absoluter Müßigkeit, weil mir klar war, dass ich bis zu den Semesterferien keinen Vorlesungssaal mehr von innen sehen würde.


20 Auch in meinem Spind mussten alle Gegenstände pedantisch genau am vorgeschriebenen Ort stehen, weil sie sonst rausgerissen wurden und komplett neu eingeordnet werden mussten. Täglich wurde stundenlang Sport getrieben, Liegestützen und Joggen in Dauerschleife. Mein Wortschatz beschränkte sich zunehmend, weil bei der Bundeswehr vieles nur mit Abkürzungen ausgedrückt wird. So steht beispielsweise WaKa für Waffenkammer oder PK für Personenkennziffer. So zermürbend die Umgewöhnung an dieses hierarchische, um nicht zu sagen drakonische System auch war, man hatte links und rechts von sich immer einen Kameraden, dem es genauso beschissen ging, wenn nicht sogar beschissener. Jeder von den Jungs, mit denen ich gedient habe, hatte seinen ganz eigenen Grund, der ihn in die Armee führte. Der eine war hier, weil seine Mutter arbeitslos wurde und die Familie das Geld brauchte, der andere tat es für sein Vaterland. Und ich? Ich war weder aus finanziellen Gründen noch aus tiefer Verbundenheit zu meinem Vaterland hier. Ich wollte etwas an mir verändern, vielleicht sogar ein besserer Mensch werden. Doch ich verschloss meine Augen nicht vor der Realität. Bei all der Indoktrinierung stellte ich mir immer öfter die Frage: Willst du ein guter Mensch sein oder willst du ein Mensch sein, der sich für das Gute entscheidet, wenn es darauf ankommt? Ist es in einer heterogenen Gesellschaft nicht sogar besser, ein schlechter Mensch zu sein, wenn man sich dafür frei entschieden hat? Viel Zeit darüber nachzudenken hatte ich jedoch nicht. Der Tagesablauf war von fünf Uhr morgens bis um elf Uhr abends akribisch durchgeplant. Viele meiner Kameraden hielten den Schikanen der Ausbilder, der Entfernung zur Familie und Freundin oder der strengen Reglementierung nicht stand und machten vom Kündigungsrecht Gebrauch. Denn schließlich war jeder freiwillig hier, auch wenn man das oft vergaß. Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, aufzugeben.

Ich wollte nicht nochmal vor meinen Problemen kapitulieren. Und es war genau diese Angst, endgültig den Respekt vor mir selbst zu verlieren, die mich durch meine zwölf Monate Wehrdienst brachte. Mein Wille wurde gebrochen, meine mentalen und körperlichen Grenzen überschritten und ich fühlte mich verdammt stark. Über Weihnachten und Neujahr bekamen wir das erste Mal zwei Wochen Urlaub am Stück. Auf der Geburtstagsfeier eines guten Freundes merkte ich, dass ich durch die Zeit in der Kaserne das Verständnis und den Bezug zum zivilen Leben ein wenig verloren habe. Während die anderen in der Uni irgendwelche Formeln und Theorien gelernt haben, wusste ich nun, wie man ein Sturmgewehr mit verbundenen Augen zerlegt und wieder zusammensetzt oder wie ich Funksprüche verschlüsseln kann. Als sich jemand beklagte, dass sein Stundenplan immer bis 17 Uhr gehen würde, verlor ich die Fassung. Ich war darauf abgerichtet, mich nicht zu beklagen. Sich zu beklagen hieß in meiner Welt: 20 Liegestütze für alle! Der preußische Tugendkatalog wurde zu meinem Mantra. Und das hielt ich für eine großartige Errungenschaft. Aber zunehmend wurde mir bewusst, dass der Wandlungsprozess, den ich durchlaufen habe, fremdgesteuert war. Ich sollte funktionieren, gehörig sein und so wenig Dinge in Frage stellen, wie nur möglich. Ich gab einen Großteil meiner Freiheit auf, um der Utopie eines bedingungslos treuen Staatsdieners zu entsprechen. Natürlich wurde ich ein anderer Mensch. In den Augen meines Dienstherrn wahrscheinlich auch ein besserer Mensch. Aber wollte ich das? Die Zeit verging, ich erlebte alle vier Jahreszeiten in der Kaserne und entschied mich nach zwölf Monaten, meine Dienstzeit nicht zu verlängern. Denn mir wurde bewusst, dass ich ein Mensch sein möchte, der das Gute wählt, wenn es darauf ankommt und auch das Schlechte, wenn mir danach ist. Ich verdanke meinem Dienst bei der Bundeswehr eine Menge. Und deswegen bereue ich keine Sekunde, die ich dort verbracht habe. Aber ich würde jede weitere Sekunde bereuen, die ich noch dort wäre. _

ressort


*

Klinik fĂźr Plastische Chirurgie / Noahklinik

Prof. Dr. Ernst Magnus Noah noahklinik.de noahklinik-mann.de Berlin 030-8200704-0 Kassel 0561-308674501

* Nationalgalerie Kyoto, Japan


24 gar nicht mal so utopisch

tom reed

26 say know to drugs thorsten gutmann 30 fremd unter fremden

laura kirsten

32 diktat des mentalen niemandslandes

georg tierbach


ressort

träumen 23


24

meine utopie ist gar nicht mal so utopisch

ressort


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Ich will zuerst alleine sein. Meilenweiter Betonboden wie auf einer Landebahn und ich in der Mitte. Ich will, dass der Wind weht. So kühl, dass ich mich bewegen muss, damit mir nicht kalt wird. Und dann will ich loslaufen. text tom reed

Next step, Gesellschaft. Freunde, Familie, Mädchen, mit denen ich immer mal was haben wollte - na klar, kein Problem, die dürfen in meiner Utopie machen, was sie wollen. Was wäre aber eine Welt, in der man keine neuen Leute kennenlernt? Wenn ich mir vorstelle, dass ich auf der Betonwüste in eine Richtung laufe, dann will ich, dass dauerhaft Menschen in die entgegengesetzte Richtung laufen. Manche davon sprechen mich an, aber die meisten warten nur darauf, angesprochen zu werden. Ich will in meiner Utopie die Gelegenheit haben, Freundschaften zu schließen – aber nicht, während ich auf meine 50 Welpen aufpasse oder einen Dürüm in der Hand halte. Bisher war ich ziemlich konservativ, denke ich. Ich fange an, etwas schneller zu laufen.

Das Erste, was ich mir wünsche, sind Musik und Kopfhörer. Nicht irgendwelche, sondern die runden iPhone-Kopfhörer, die mit dem 4S auf den Markt kamen. Spotify, »Utopia«-Playlist an und los geht’s. Memo an mich selbst: Erstelle eine Utopia-Playlist auf Spotify. Während ich einen Fuß vor den anderen setze, merke ich, dass es mir an selbstverständlichen Alltagsobjekten mangelt. PENG – links und rechts von mir quietschen 50 Labrador-Welpen um meine Aufmerksamkeit. Sie folgen mir, und ich laufe weiter. In meiner Utopie habe ich immer Hunger. Die Art von Hunger, die man hat, wenn man nachts aus dem Club kommt. Muss nicht sein, aber ich hab halt Bock. PENG – alle 100 Meter ploppt abwechselnd ein Gemüsedönerladen, ein Burgerrestaurant und ein richtig geiler türkischer Bäcker auf.

illustration katharina conrad

Genau deswegen will ich zuerst alleine sein. Meilenweiter Betonboden wie auf einer Landebahn und ich in der Mitte. Ich will, dass der Wind weht. So kühl, dass ich mich bewegen muss, damit mir nicht kalt wird. Und dann will ich loslaufen.

Betonwüste ist sowas von vor drei Minuten. Ich will wieder Natur in meinem Leben. PENG – mein Weg wird zu einem zehn Meter breiten Pfad durch eine Wiesenlandschaft und um mich herum sprießen Bäume aus der Erde. Die Sonne scheint – aber ab und zu fällt kurz ein leichter Nieselregen. Eichhörnchen schlüpfen aus Haselnüssen, alle Wildschweine sind in einer einheitlichen Teacup-Größe und meine Welpen lieben mich immer noch. Natur halt. Während ich weiterlaufe, umringt von alten und neuen Freunden, wünsche ich mir ein paar Orte her, die mir die Gelegenheit geben, mich in angenehmer Atmosphäre mit meinen Mitmenschen hinzusetzen. PENG – zwischen den Dönerbuden und Bäckern füllen sich die Reihenhäuser mit meinen Lieblingsbars, Clubs und Altbau-Zweiraumwohnungen mit Balkon. Ich habe jetzt alles, was ich will. Musik, Welpen, Essen, Freunde, Natur, Bars und Balkone. Es stellt sich für mich nur eine Frage: Warum erkenne ich erst jetzt, dass ich Berlin so sehr liebe? _

ressort

Für mich gibt es zwei Arten von Menschen auf dieser Welt. Dorfkinder und Stadtkinder. Die Einen sind in der unendlichen Wildnis aufgewachsen, mussten sieben Kilometer auf dem Fahrrad zur Schule fahren und trinken seitdem sie 13 Jahre alt sind. Die Anderen, naja… die trinken auch, seitdem sie 13 Jahre alt sind. Ich bin ein hundertprozentiges Dorfkind. Das merke ich vor allem jetzt, wenn ich über Utopie nachdenke. Ich erinnere mich an meine sorgenfreie Kindheit. Es war so ruhig, da wo ich aufgewachsen bin. So leer. Man war glücklich über jeden kleinen Input und jeden kleinen Reiz, den man bekam. In der Stadt wird man von Reizen überflutet. Da hat man so viel, dass man schon gar nicht mehr weiß, was man eigentlich will.


say know

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Richard Nixons »War on Drugs« ist gescheitert. An den Händen der Politiker, die damals bis heute für Prohibition kämpften, klebt das Blut hunderttausender Menschen. Die Idee einer drogenfreien Gesellschaft ist nichts als eine Illusion. Wir berauschen uns seit Anbeginn der Geschichte – und werden es die nächsten 100.000 Jahre tun. Deshalb ist auch in Deutschland Zeit für ein Umdenken. Wir sollten den Rausch zum unveräußerlichen Menschenrecht erklären. text thorsten gutmann

träumen


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to drugs. und Freiheitsstrafen, gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung als »Kriminelle« und berufsbedrohende Repressalien wie Führerscheinentzug – selbst dann, wenn der Konsument noch nie im Leben berauscht am Steuer saß. Warum wird eine »harte« Droge wie Alkohol verehrt, eine »weiche« Substanz wie Marihuana dagegen mit allen Mitteln bekämpft? Bundesrichter und ZEIT-Kolumnist Thomas Fischer zieht einen tierischen Vergleich: »Man bestraft das Halten von Dackeln und subventioniert die Zucht von Rottweilern.« Strafrechtler und Kriminologe Lorenz Böllinger bezeichnet diesen Umstand als »willkürliche, historisch zufällige Konstellation«. Böllinger war es auch, der 2014 gemeinsam mit 122 deutschen Strafrechtsprofessoren eine Resolution verfasste, die eine Entkriminalisierung aller Drogen verlangt: »Nicht die Wirkung der Drogen ist das Problem, sondern die repressive Drogenpolitik schafft Probleme.« ►

träumen

Auf der anderen Seite steht das Cannabis, oft konsumiert von Genussmenschen, neugierigen Jugendlichen oder Künstlern, die im Rausch Inspiration finden. Sie bekommen die volle Härte des Rechtsstaats zu spüren. In Asien und im Nahen Osten müssen sie mit der Todesstrafe rechnen. Aber auch in der BRD ist die Repression gnadenlos: Soziale und wirtschaftliche Isolation durch Geld-

illustration katharina conrad

Eigentlich ist es Wahnsinn. In der deutschen Enklave am Ballermann dröhnt sich der Patriot frühmorgens die Molle ins Vakuum, ergötzt sich an »geilen Fotzen« am Strand, stampft auf Bierbänken zum Horst-Wessel-Lied und poliert »Schwuchteln« die Fresse. Gefeiert wird er dafür nicht nur von Witzbolden wie Atze Schröder. Auch Ökonomen, Politiker und die Werbeindustrie glorifizieren das Rauschgift Alkohol. Und das, obwohl unter Alkoholeinfluss unvorstellbares Grauen geschieht: Beleidigung, Körperverletzung, Volksverhetzung, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, Totschlag, Mord.


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der krieg gegen drogen ist verloren.

Leider ist in Deutschland vorerst kein Umdenken zu erwarten. Die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) ist eine politische Lach- und Nullnummer. Als ehemalige Tourismusexpertin hat sie so viel Ahnung von Drogen wie Mario Barth von Adornos ästhetischer Theorie. Natürlich ist die Personalie politisches Kalkül. Drogen sind ein unbeliebtes Wahlkampfthema. Die Botschaft lautet: »Bloß nicht nachdenken.« Bayerische »Law-and-Order«-Politik kommt gut an in Zeiten, in denen rassistische Medien die Republik wegen der »Asylflut« sowieso kurz vor dem Zusammenbruch wähnen. Die Volksgesundheit hat oberste Priorität. Woher soll ein abgemagerter Heroinjunkie die Kraft nehmen, an den Außengrenzen auf Flüchtlingskinder zu schießen? Gleichzeitig überlegt unsere Verteidigungsministerin, die Aussetzung der Wehrpflicht zu beenden – damit die Jugend ja nicht auf dumme Ideen kommt. Fakt ist, die Prohibition ist gescheitert. Richard Nixon verkündete 1971: »America‘s public enemy number one is drug abuse.« Es folgten Jahrzehnte voller Leid. Die Politik hat Menschen gefoltert und getötet, Familien zerrissen, den internationalen Terrorismus finanziert, Nationen destabilisiert und Steuergelder in Milliardenhöhe verfeuert. Trotzdem warb die Uno bis 2008 mit dem Slogan: »A drug free world: We can do it.« Heute schreiben wir das Jahr 2016. Fast jeder Jugendliche kifft, Transen verkaufen auf dem Berghain-Klo Pillen für drei Euro und Crystal Meth zerfrisst die US-Zivilgesellschaft. Hat sich irgendwas verändert? träumen

Der Krieg gegen Drogen ist verloren. Diese Einsicht haben selbst jene Politiker, die jahrelang mitgemischt haben. Juan Manuel Santos, Präsident von Kolumbien: »Wenn die Welt sich zur Legalisierung von Drogen entscheidet und denkt, damit könnten wir Gewalt und Kriminalität mindern, dann wäre ich damit einverstanden.« Otto Pérez


Molina, Präsident von Guatemala: »Konsum und Produktion von Drogen sollten innerhalb bestimmter Grenzen legalisiert werden.« José Mujica, Ex-Präsident von Uruguay: »Ich habe Angst vor dem Drogenhandel. Nicht vor den Drogen.« Vicente Fox, Ex-Präsident von Mexiko, kämpfte die »Mutter aller Schlachten«. Heute sagt er, der Krieg sei »total gescheitert«.

und öffentlicher Stellen für sogenanntes »Drug-Checking«, zum anderen durch Entkriminalisierung – oder sogar Legalisierung. Natürlich ist die Lösung nicht, demnächst abgepacktes Kokain beim Aldi aus der Kühltruhe zu fischen. Experten plädieren für staatlich kontrollierte Abgabestellen. Die Idee sieht vor, dass nur Erwachsene konsumieren. Ihnen steht ein breites Angebot an Aufklärung und Beratung bereit. Verantwortungsvoller Konsum wird propagiert: Niemand sollte Mitbürgern schaden, niemand sollte gesellschaftliche Fürsorgepflichten wie Kindererziehung vernachlässigen, niemand sollte berauscht am Straßenverkehr teilnehmen.

Ein Spiegel-Journalist fragte den Massenmörder Popeye, Handlanger von Pablo Escobar, ob und wie man Menschen wie ihn verhindern könne. Popeyes Antwort: »Leute wie mich kann man nicht verhindern. Das ist ein Krieg. Die verlieren Männer, wir verlieren Männer. Die verlieren Skrupel, wir hatten nie welche. Am Ende jagst du sogar ein Flugzeug in die Luft, weil du glaubst, der kolumbianische Präsident sitzt in der Maschine. Ich weiß nicht, was ihr machen müsst. Kokain in Apotheken verteilen oder so. Ich bin seit 20 Jahren im Gefängnis, aber diesen Krieg, bei dem so viel Geld zu verdienen ist, den gewinnt ihr nicht. Nie.«

Also lasst uns die Utopie wagen, das Experiment, von dem niemand weiß, wie es ausgeht: Legalize it! Nicht alles auf einmal und nicht alles nach demselben Modell. Wissenschaftler werden diskutieren müssen, bis zu welchem Grad und unter welchen Voraussetzungen eine Legalisierung stattfindet. Die Bedingungen für die Heroinabgabe werden anders ausfallen als bei Cannabis und LSD. Aber eins ist klar, liebe Frau Mortler: So wie bisher geht es nicht weiter. Tschechien, Portugal, Niederlande und zahlreiche US-Bundesstaaten sind der Beweis, dass ein Umdenken stattfindet. Bald ist es auch in der BRD soweit. Im 21. Jahrhundert muss die Devise lauten: »Say know to drugs.« _

träumen

Das alles ließe sich vermeiden. Zum einen mittels Enttabuisierung

In Deutschland ist der Konsum zwar erlaubt, doch wer Rausch erlangen will, macht sich vorher durch Besitz strafbar. Dabei geht es den Staat überhaupt nichts an, wie ich fühle, was ich fühle, oder wie ich diesen Zustand erreiche. Das sage ich als jemand, der höchstens mal ein kaltes Bier oder Schnaps mit Freunden trinkt – und deshalb keine Repressionen zu befürchten hat.

foto tim kirchner

Die Prohibition schadet nicht nur Zivilisten, die direkt oder indirekt an der Produktionskette beteiligt sind. Sie schadet auch den Konsumenten: Rattengift im Kokain, Autoreifen im Haschisch, Glasscherben im Speed. Hinzu kommen Probleme bei der Dosierung, bedingt durch mangelnde Aufklärung auf dem Schwarzmarkt. Thomas Fischer schreibt: »Das Betäubungsmittelstrafrecht in Deutschland ist ein großes Elend. Es produziert Elend, und trägt es fort und fort. Nichts ist in den letzten 40 Jahren dadurch besser geworden: weder gibt es weniger Süchtige, noch weniger Straffällige, noch weniger soziale Probleme. Was es gibt, ist allerdings eine gigantische, milliarden-verschlingende Prohibitionsindustrie, die die Preise hoch, die Qualität der Drogen miserabel und das Elend der Abhängigen konstant hält.«

Der Staat mischt sich in intimste Sphären ein. Er befiehlt Seins-Zustände, Emotionen, Gedanken und entscheidet über die Art und Weise, wie Menschen Erfahrungen sammeln. Dabei ist Rausch ein Menschenrecht.


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fremd unter fr Klimawandel. Umweltverschmutzung. Krankheiten. Terror. Menschen verlassen ihre Heimat und suchen Schutz. Wie lange dient uns der Planet noch? Wie lange bleibt alles so, wie es jetzt ist? Und wo können wir hin, wenn wir kein Zuhause mehr haben? Eine Geschichte über Flucht und Neubeginn. text laura kirsten

träumen


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emden Die Sonne scheint auf meine schneeweißen Beine und bedeckt sie mit einem glänzenden Schimmer. Ein Schweißtropfen löst sich von meinem Kinn und rinnt über das Dekolleté. Meine Lippen berühren den schwarzen Strohhalm im Cocktailglas. Eine leichte Brise streicht sanft über meine Haut. Ich fühle mich gut. Zum ersten Mal seit langer Zeit genieße ich die Ruhe um mich herum.

Doch wenn sie Menschen begegnen, sind sie skeptisch. Manche akzeptieren Außenstehende wie mich nicht. Sie fürchten um ihr Hab und Gut. Sie fürchten um ihr Leben. Um ihre Existenz. Sie wollen nicht, dass wir Menschen an ihrem Leben teilnehmen, sie wollen nicht, dass wir mit ihnen eine Gesellschaft bilden. Stattdessen fordern sie, dass wir Teop so schnell wie möglich wieder verlassen. Ich wurde mit Neid, Hass und Angst konfrontiert. Einige von uns wurden abgeschoben und vom Planeten verbannt. Andere werden angegriffen und verlassen den Planeten freiwillig, auch wenn sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Die Aliens vergessen, dass wir Menschen nicht freiwillig hier sind. Es war nicht unser Wunsch, die Erde zu verlassen und nach Teop zu kommen. Wir suchten lediglich Zuflucht. Wir nehmen niemandem etwas weg. Wir sind nicht bösartig. Wir sind nur anders.

Die Balkontür hinter mir knarrt. Ich drehe mich um und schaue durch die Fensterscheiben der Tür. Große dunkle Augen starren mich an. Ich erkenne ein verzogenes Gesicht und eine gerümpfte Nase, so als müsste sie gleich niesen. Der Kopf der Gestalt schnellt nach vorn und prallt mit einem lauten Knall gegen die Scheibe. Die Schultern sinken herab und das Wesen verschwindet ganz langsam wieder in der Dunkelheit des Zimmers. Zari, so der Spitzname meines außerirdischen Freundes, ist gerade erst aufgestanden und schlecht gelaunt. Morgens kann er kaum sehen. Sein Körper braucht Zeit, um in Gang zu kommen. Er funktioniert anders als meiner.

Ich bin sehr froh, dass ich bei Zari leben kann. Er hat ein großes Herz, er geht auf mich ein und er versteht, dass ich anders bin und dennoch so wie er. Ich bin verletzlich und zeige es nicht gern. Ich kann lieben und ich kann mich sorgen. Ich brauche Zuflucht und erwarte Respekt. Zari geht es ähnlich.

Seit einem Jahr lebe ich bei Zari, hier auf dem Planeten Teop. Meine Heimat gibt es nicht mehr. Denn eines schönen Tages kam eine große dunkle Welle über meinen Planeten und nahm alles mit sich. Sie verwüstete die gesamte Erde und schluckte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Viele Menschen starben, wenige konnten fliehen. Ich verließ die Erde gemeinsam mit ein paar Fremden in einem fliegenden Schiff, das bis ins All vorstieß. Wir hatten keine Nahrungsmittel an Bord und kaum Raum zum Atmen. Mein Körper war zwischen Stahl und Fleisch eingeklemmt. Ich bekam kaum Luft. Die Reise war sehr lang. Einige überlebten die Fahrt nicht. Ihre Namen kenne ich nicht. So als hätten sie nie existiert.

Als ich damals auf Teop ankam, lebte ich mit vielen hundert Menschen in großen Kanistern. Wir bekamen Essen und hatten ein Dach über dem Kopf. Wir aßen und schliefen zusammen. Mehrere hundert Menschen in einem Raum. Wir waren eingesperrt und durften nicht nach draußen. Ich war eine unter vielen. Privatsphäre gab es nicht. Ich konnte nicht zurück, egal, wie sehr ich wollte. Doch auch den Weg in die neue Welt verwehrte man uns. Ein Leben in Freiheit schien nicht möglich. Bis ich auf Zari stieß. Er nahm mich bei sich zu Hause auf. Er zeigte mir, wie ich hier überlebe und wie ich Gefahren aus dem Weg gehe. Ohne ihn wäre ich vielleicht nicht mehr hier.

Ich grüße freundlich und nehme auf meinem Handtuch Platz. Der Sand umspielt meine Füße. Zari legt sich neben mich und fängt an zu schnarchen. Ich schlage ihm mit der flachen Hand auf die Brust. Er stöhnt laut auf. Dann gibt er Ruhe. Fast jeden Tag bedecken tausende Handtücher den Strand und ergeben eine Art bunten Teppich. Die meisten Bewohner von Teop tummeln sich hier. So etwas wie Arbeit gibt es nicht. Güter werden geteilt und der Pragmatismus prägt den Lebensstil. Die Bewohner brauchen nicht viel. Sie geben sich mit wenig zufrieden. Sie sind tolerant und leben friedlich miteinander.

illustration tabea otto

Wir schlendern zum Strand. Ich schlage mein Handtuch auf. Ein großes, grünes, sackförmiges Alien sitzt vor mir. Aus seinem Hinterkopf ragen acht kleine Augen, die mich anstarren. Ich fühle mich unwohl. Das Alien beobachtet mich. Es misstraut mir. Wahrscheinlich, weil ich anders aussehe und ich mich anders verhalte. Ich komme von einem anderen Planeten. Ich besitze keine acht Augen und auch keinen sackförmigen Körper. Ich bin weder grün, noch violett, noch verstehe ich seine Mimik und Gestik.

Ich nehme Anlauf und renne der Brandung des Meeres entgegen. Die Wellen schlagen gegen meinen Körper. Ich tauche tief unter. Stille. Ein leises Knacken. Ich stoße aus dem Wasser, hole tief Luft und reibe mir das Salzwasser aus den Augen. Mein Blick wird klar. Zari wirft mir einen Ball an den Kopf. Ich schaue ihn verschmitzt an und werfe zurück. Er fängt den Ball mit Leichtigkeit und lächelt. Ich stapfe durch das Wasser und dränge mich an anderen Aliens vorbei. Die meisten ignorieren mich. Bis auf eines. Ein längliches Alien mit Tentakeln rempelt mich an. Ich komme ins Wanken und verliere mein Gleichgewicht. Eine riesige Welle zieht mich nach unten. Ich reiße meine Augen auf, um zu sehen, wo ich mich befinde. Dann versuche ich, an die Oberfläche zu gelangen. Doch die nächste Welle bricht über mir zusammen. Mein Gesicht landet auf dem Grund. Alles wird schwarz. Im nächsten Moment packt mich jemand an der Hüfte und zieht mich aus dem Wasser. Zaris Arme halten mich. Ich kann wieder atmen. Mein Körper ist ganz schlapp und ich ringe nach Luft. Die Sonne brennt in den Augen. Arm in Arm stolpern Zari und ich aus dem Wasser. Er legt mich sanft auf mein Handtuch. Ich schließe meine Augen und denke nach: »Warum werde ich diskriminiert? Ich versuche mich zu integrieren, halte mich an Regeln, bin höflich und respektvoll. Ich verlange nicht viel, ich möchte doch nur wie ein lebendiges Wesen behandelt werden, egal, wo ich herkomme und egal, wie ich aussehe.« Ich fühle mich schmerzlich einsam, hier draußen auf dem offenen Meer, ohne Wasser und ohne Rettungsweste. Ich halte durch, weil die Hoffnung in mir bleibt, aber ich weiß, dass ich irgendwann keine Luft mehr bekomme und dass mir irgendwann die Kraft fehlt, um weiterzukämpfen. _ träumen

Ich verlasse den Balkon und betrete das Zimmer. Es ist schlicht gehalten. Zari steht in Blickrichtung zur Wand, sein Rücken ist mir zugewandt. Ich trete an ihn heran und umarme ihn. Sein Körper schmiegt sich an meinen. Seine Haut ist ganz weich und von dunkelroten kleinen Hörnern übersät. Die Anzahl der Hörner entspricht seinem Alter, ähnlich wie die Lebensringe eines Baumes. Er dreht sich zu mir und seine langen Arme winden sich um mich. Mir wird kalt, denn seine Körpertemperatur liegt deutlich unter meiner. Doch an heißen Sommertagen wie heute tut die Abkühlung ganz gut. »Ich möchte ans Meer«, quietsche ich unter seinem festen Griff.


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das diktat des mentalen niemandslandes

text georg tierbach

träumen


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Oh, wie schön ist Utopie! Ich will nicht wissen, wie viele Nächte ich mit Freunden verbrachte, in denen wir gedanklich neue Welten schufen. Getrieben von Bier, Pizza, linkem Idealismus und dem ein oder anderen Joint erträumten wir uns fiktive Konstrukte – seien es neue Gesellschaftskonzepte, umgekrempelte Moralvorstellungen oder einfach nur flächend e c ke n d e s W L A N … Ideen gibt es genug. Nur ihre Umsetzung ist meist sehr schwer. Sie klingen nicht umsonst wunderbar, fast schon magisch. Zumindest auf dem Papier. Denn viele von ihnen sind utopisch. Und Utopie ist per definitionem eine Welt, ein System oder ein Ideal, das nicht zu erreichen ist. Für die einen ist Utopie eine neuronale Befreiung. Sie ist eine Anregung, Gedanken in neue Gefilde schweifen zu lassen. Diese Menschen verstehen Utopie als Ideal. Als Ziel, bei dem klar ist, dass es unerreichbar ist. Aber sie packen es trotzdem an. Für andere ist Utopie der Schlusspunkt ihrer Welt. Wozu über etwas nachdenken, wenn die Umsetzung der Idee unmöglich scheint? Diese Haltung wirkt auf den ersten Blick plausibel, verlockend, sogar entspannend. Doch in erster Linie ist sie faul. Blind durch die Gegend zu laufen und die Gegenwart zu ignorieren ist nicht nur langweilig. Es klammert auch das wunderbare Spiel der Gedanken aus und lässt einem nur noch ein Wort übrig: Alternativlosigkeit. Irgendwann starrt man ins Gesicht von Gabriel oder landet bei den Christdemokraten… Wohin solch eine Haltung führen kann, hat der Brexit unter Beweis gestellt. Ohne den Freiraum einer Utopie verkommt der politische Diskurs zur Argumentation mit Scheuklappen, in dem die Frage des vermeintlich Machbaren alles andere schluckt. Komplexe Sachverhalte werden auf Bierdeckelgröße heruntergebrochen, um sie dem politikverdrossenen Volk verständlich zu präsentieren. Jedes Gegenargument wird als nicht umsetzbar deklariert. Eine perfekte Inkubationskammer für Demagogen und Populisten.

Genau dieser Freiraum hat dem Vereinigten Königreich gefehlt. Nach aggressiven Kampagnen der UKIP unter Nigel Farage und Boris Johnson blieb den progressiven Stimmen kaum Aufmerksamkeit. Sie waren nicht laut genug und gingen einfach unter. Nicht nur der Diskurs leidet unter Ideenlosigkeit. Auch die Wahlergebnisse verdeutlichen das Problem. Die Briten haben sich entgegen aller Prognosen mit 51,9 Prozent für den Brexit entschieden. Doch was das letztlich für die Bevölkerung bedeutet, wussten nur wenige. Viele mussten nach der Wahl erst einmal bei Google nachschauen, was die Europäische Union eigentlich ist. Das klingt nicht nur absurd, das ist es auch.

Was hingegen keiner hat kommen sehen: Den Endsieg der Rentnerrepublik. Eine Generation der Desillusionierten und ewigen Skeptiker rief die Gerontokratie aus und ließ die Jugend mit einem Scherbenhaufen zurück. In Zahlen ausgedrückt: 56 Prozent der Wähler zwischen 50 und 64 Jahren sowie 63 Prozent der Wähler über 65 Jahre stimmten für den Brexit. Bei den jungen Wählern unter 25 Jahren lag der Anteil der Brexit-Befürworter nur bei 20 Prozent. Der Generationenkonflikt ist eindeutig. Es drängt schon fast schon das »Methusalem-Komplott« (Frank Schirrmacher) auf. Doch wie immer im Leben ist es nur auf den ersten Blick so einfach. Denn sobald man die Zahlen in Relation zur Wahlbeteiligung setzt, zeichnet sich ein anderes Bild. Bei den älteren Bürgern lag die Wahlbeteiligung im Schnitt bei bemerkenswerten 80 Prozent. Zum Vergleich: Nur 36 Prozent der U25-Wahlberechtigten gingen zur Urne. Das ist ein Problem, das sich durch alle Demokratien zieht. Auch in Deutschland sinkt die Wahlbeteiligung kontinuierlich. Bei manchen Landtagswahlen kämpfen Wähler und Nichtwähler um die Mehrheit in der Bevölkerung. Noch gewinnen meistens die Wähler, doch die Nichtwähler sind ihnen knapp auf den Fersen. Bei der letzten Landtagswahl in Bremen gingen nur knapp über 50 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne. Wie lange das wohl noch gut geht?

Woher kommen eigentlich solche Zahlen? Liegt es daran, dass der Politik die Utopien fehlen? Ist die Zeit der ideellen Politik vorbei? Vielleicht ist das zu kurz gedacht. Schließlich hat Frau Merkel die Alternativlosigkeit nicht erfunden. Selbst Helmut Schmidt sagte einst: »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.« Es ist eine deutsche Tradition, Demokratie als wechselnde Aristokratie zu verstehen. Doch liegt nicht auch ein Teil der Schuld bei uns? Uns wird immer wieder erzählt, dass bestimmte Maßnahmen nicht realisierbar sind. Wir halten im Gegenzug nicht an unserer Meinung fest. Wir argumentieren nicht dagegen, wir fordern nicht einmal den Diskurs. Die Wahrheit ist: Wir haben keine eigene Meinung mehr. Wir nicken nur ab.

Deswegen sollten wir uns eine Sache wieder trauen: Träumen. Machen wir uns um die Umsetzung keine Gedanken und geben wir uns den Ideen hin. Lassen wir den Homo ludens in uns frei und spielen mit den Gedanken anderer Menschen – und schauen, was dabei herauskommt. Ganz gleich wie wir es tun, wir sollten wieder den Mut fassen, neue mentale Pfade zu erkunden. Frei von Meinung und politischer Gesinnung. Vielleicht finden wir ja etwas von Wert._ träumen

foto daniel schreck

Egal wo das Problem liegt, am Ende bleibt nichts als Hoffnungslosigkeit. Denn Hoffnung ist, was in dieser Gesellschaft fehlt. Mit dem Verlust der Utopie ist uns auch die Hoffnung abhandengekommen. Resignation und Protestwahl sind auf diesen Verlust zurückzuführen.


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bewegen

foto jo plehn

ressort


36 wie ich chikan lieben lernte

anonyme autorin

41 glaubensgemeinschaft in sibirien

paula lou riebschläger

44 die utopie der chancengleichheit

robert rienass

45 klimawandel

patrick volknant


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grabschen in tokio wie ich chikan lieben lernte

Ich weiß nicht genau, wie ich diesen seltsamen Fetisch entwickelt habe. Vielleicht war es schon immer in mir, nur versteckt. Mir ist bewusst, dass das nicht normal ist und Frauen so etwas normalerweise als unangenehm empfinden. Trotzdem habe ich eine ganz neue Welt für mich entdeckt. Das Problem ist, dass ich das selbst nicht unbedingt als etwas Positives sehe. Vor allem, weil ich seit über zweieinhalb Jahren in einer glücklichen Beziehung bin. Deswegen wäre es auch das Schlimmste für mich, wenn das Ganze bis zu meinem Freund gelangt. Das wäre es dann nämlich gewesen. text anonyme autorin

der Arbeit nicht nach Hause. Mit Herzklopfen und einem schlechten Gewissen machte ich mich auf den Weg in Richtung Bahnhof. Ich wollte angefasst werden. Doch ich habe einen falschen Wagon erwischt. Auf der besagten Linie lief absolut nichts.

Vor einigen Wochen, bevor ich innerhalb Tokios umgezogen bin, fuhr ich stets mit der Bahn zur Arbeit. Die Züge in Tokio sind komplett überfüllt. Morgens und abends ist es am schlimmsten. Viele der Züge, die durch Tokio fahren, haben zur Rush-Hour spezielle Abteile für Frauen, damit diese nicht Opfer von sexueller Belästigung werden. Damals bin ich des Öfteren in diesen Abteilen gefahren, aber auch nicht immer, weil diese Wagons genauso überfüllt sind wie andere. Außerdem dachte ich, dass mir als Ausländerin in den gemischten Abteilen schon nichts passieren wird. Doch das Grabschen in Tokios Zügen ist tatsächlich ein Problem – und keine Seltenheit.

im minirock zur arbeit In der nächsten Zeit fuhr ich häufig im Minirock zur Arbeit. Morgens am Bahnsteig habe ich nach Schlangen gesucht, in denen vorwiegend Männer anstanden. Doch nie geschah etwas. Ein einziges Mal war eine männliche Hand verdächtig nah an meinem Hintern. Das kann aber auch nur Einbildung gewesen sein. Ein anderes Mal nahm ich eine seltsame Position im Zug ein, sodass die Hand von einem Typen mittleren Alters genau auf Höhe meines Schritts war. Die Bewegung seines kleinen Fingers war definitiv kein Zufall mehr. Das war meine erste Begegnung mit chikan. Zu dem Zeitpunkt hatte ich leider schon Blut geleckt. Herzklopfen und schlechtes Gewissen waren fortan meine ständigen Begleiter. Trotzdem habe ich mir stets eingeredet, dass es keine Untreue ist, wenn man im Zug völlig passiv begrabscht wird. Nur wurde das Ganze leider immer aktiver …

hentai

fotos tim kirchner

bewegen

Ich kann mich nicht genau daran erinnern, wie ich dazu kam, im Internet zu diesem Phänomen zu recherchieren. Das Grabschen in vollen Zügen hat in Japan einen eigenen Begriff: chikan. Jedenfalls interessierte mich das Thema. Ich wollte herausfinden, wie so etwas abläuft und warum Männer das tun. Schnell stieß ich auf diverse Pornos und erotische Mangas, in denen es um chikan geht. Ich stieß auch auf ein Forum, in dem eine junge Frau äußerte, begrabscht werden zu wollen. Zuerst las ich den Thread, der seit zwei Jahren aktiv ist, mit einer gewissen Skepsis. Irgendwann bemerkte ich, dass das Thema mich mehr interessiert, als es eigentlich sollte. Die junge Frau fragte im Forum, zu welcher Uhrzeit und mit welchen Klamotten sie in den Zug steigen sollte. Ich war fasziniert von ihr und wollte mehr wissen. Von nun an las ich täglich ein paar Abschnitte des Threads, der wirklich lang ist. Eines Tages fragte ich schließlich selbst, ob und wie man als Ausländer mit chikan konfrontiert werden kann. Ein anonymer User nannte mir eine bestimmte Linie. Am Tag darauf fuhr ich nach

Richtig los geht die Geschichte erst, als ich ein neues Forum gefunden habe. Dort tummeln sich Männer, die nach Gelegenheiten suchen, um junge Mädchen zu begrabschen. Unter normalen Umständen ist das nicht die Art von Typen, mit denen man etwas zu tun haben möchte. Anfangs schrieb ich dort, ohne großartig nachzudenken. Ich entschied mich dazu, das Pseudonym meronpan zu verwenden, weil ich es niedlich fand. Auf deutsch heißt das sowas wie »Melonenbrötchen«. ►


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38 desto stärker pochte mein Herz. Ich habe eindeutig angekündigt, wo und zu welcher Uhrzeit ich einsteige. Es musste irgendwas passieren. Nicht so wie beim letzten Mal. Ich war nervös, als ich am Bahnhof ankam. Ein wenig Zeit blieb noch bis zur Abfahrt. Während ich gewartet habe, blickte ich erneut ins Forum. Plötzlich erleuchtete neben mir ein Smartphone. Die Google-Bildersuche zeigte Ergebnisse für »meronpan«. Melonenbrötchen. Der Herr mittleren Alters blickte vorsichtig zu mir. Adrenalin schoss durch meinen Körper. Ich war unglaublich aufgeregt, denn jetzt gab es kein Zurück. Er lotste mich hinter einen Getränkeautomaten am Bahnsteig. »Willst Du das wirklich?«, fragte er mich. »Ja«, sagte ich. Plötzlich fasste er mir an den Hintern. Der Zug kam, wir stellten uns an. Ob die anderen Leute aus dem Forum auch kommen, fragte ich mich leise. Der Kerl, der mir kurz vorher an den Hintern fasste, stieg ein, drehte sich um und blickte zur Tür. Auch ich drehte mich um. Plötzlich ging alles ganz schnell. Bevor die Tür zu war, spürte ich bereits mehrere fremde Hände an meinem Körper. Ob das alles Menschen aus dem Forum waren, kann ich nicht sagen. Es kann gut sein, dass einige regelmäßig in das vorderste Abteil steigen und auf Beute warten. Jedenfalls fühlte ich mich wie ein Stück Fleisch, das man hungrigen Raubtieren vorwirft.

finger an mir, unter mir, in mir Erst spürte ich Hände über meinem Rock, dann unter meinem Rock, dann an meinem Höschen, sehr schnell auch in meinem Höschen. Gewisse Finger wanderten noch weiter. Ich spürte, wie sie in mich eindringen. Schräg links hinter mir schlug ein Mann mehrmals verzweifelt gegen die Wand des Zuges, aus Frust, nicht an mich heranzukommen. Rechts hinter mir sah ich schüchterne Blicke und zaghafte Versuche, mich auch einmal zu betatschen. Noch weiter rechts von mir sah ich gierige, gaffende Blicke. Als der Zug am nächsten Bahnhof hielt, bewegte sich niemand. Alle verteidigten stur ihre Position. Die Ecke, in der ich stand, mitsamt den chikan-hungrigen Raubtieren, war wie versteinert. Als die Bahn weiterfuhr, ging es direkt wieder los. Ich wurde immer stärker gegen die Wand vor mir gedrückt, von allen Seiten kamen Hände und noch mehr Hände.

»fasst mich an!« Ich fing an, eigene Posts zu verfassen. Ich rief Männer dazu auf, sich mit mir zu treffen und mich anzufassen. Ich nannte ihnen Datum, Uhrzeit und Ort. Ich erwähnte auch, dass ich eine Ausländerin bin, die in Tokio lebt. Das schlug riesige Wellen, denn Japaner sind Ausländern gegenüber sehr ehrfürchtig. Es bildeten sich zwei Gruppen. Die erste Gruppe bestand aus Leuten, die unbedingt eine Ausländerin treffen und anfassen wollten. Die zweite Gruppe hat behauptet, dass ich ein Fake sei. Jemand vermutete, dass ich ein älterer Typ sei, der sich einen Spaß erlaubt. Okay, ich gebe zu, dass die Story unwahrscheinlich ist. Warum sollte ein junges weißes Mädchen, das einen Freund hat, in einem völlig überfüllten Zug in Tokio von unangenehmen Zeitgenossen begrabscht werden? Ich sehe ein, dass das kurios ist. Damals hatte ich nach der Arbeit immer viel zu tun und dachte, dass ich so schnell nicht in die berühmt-berüchtigte Linie steigen werde – schon gar nicht mehrmals. Doch eines Tages war ein wichtiger Termin früher vorbei als gedacht. Aus Zufall hatte ich an diesem Tag die »idealen« Klamotten an. Das haben Grabscher am liebsten: Kurzer Rock, keine Strumpfhose.

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Spontan fuhr ich ans andere Ende von Tokio, um in die besagte Linie zu steigen. Diesmal nicht in ein beliebiges Abteil, sondern in das Vorderste, auf Japanisch: sentô. Mit anderen Schriftzeichen bedeutet sentô zugleich »Schlacht« – und genau die beginnt, sobald die Beute in den Zug steigt. Im Forum gab ich Bescheid, dass ich in dreißig Minuten einsteige. Einige User bedauerten sehr, dass sie es zeitlich nicht mehr schaffen würden. Je näher ich dem Bahnhof kam,

Ich stand im überfüllten Zug, mit geschlossenen Augen und einem leichten Lächeln auf den Lippen, umringt von einer Traube von Kerlen, die sich wie wilde Tiere um meine Hüfte rissen. Es war anders, als ich es mir vorgestellt habe, viel wahnsinniger, viel gieriger. Aber es war ein wirklich einmaliges Erlebnis – mehr im positiven als im negativen Sinne. Gefühlsmäßig erlebte ich eine heftige Achterbahnfahrt. Einerseits erlebte ich das, wovon ich lange träumte, andererseits musste ich ständig an meinen Freund denken. Meine Annahme, dass es keine Untreue sei, wenn man im überfüllten Zug von Fremden begrabscht wird, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gültig. Ich habe mich selbst angekündigt und wusste, was passieren wird. Obwohl ich mir das Ausmaß nicht vorstellen konnte.

er holte seinen penis raus Irgendwann kam ein Bahnhof, an dem sehr viele Leute ausstiegen. Der Zug leerte sich. Die Formation aus gierigen Grabschern hatte sich aufgelöst. Der Herr vom Anfang stand immer noch hinter mir, jetzt mit einem gewissen Abstand. Vor mich stellte sich ein anderer Typ, der unauffällig mit seinem Ellbogen versuchte, an meine Brüste zu kommen. Da ich unerfahren war und nicht wusste, ob das wirklich das Ende war, schrieb ich auf japanisch eine Memo in mein Handy und zeigte sie dem Herrn hinter mir. »Nächste raus?«, stand auf dem Display. Am nächsten Bahnhof verließen wir den Zug. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Auf dem Bahnsteig sprach ich ihn an. Zuerst dachte ich, dass das höchstens in einem kleinen Smalltalk enden würde. Doch auf der Rolltreppe Richtung Ausgang nahm er auf einmal meine Hand und führte sie zu seinem Schritt. Der Bahnsteig selbst war so gut wie leer. Wir gingen bis ans Ende, wo wieder ein Getränkeautomat stand, hinter dem wir uns versteckten, bis der nächste Zug kam. Theoretisch hätten wir jederzeit


39 entdeckt werden können. Dann griff er in seine Hose und holte seinen Penis heraus. Wieder so ein Moment, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Ich stand am fast leeren Bahnsteig hinter einem Getränkeautomaten mit einem fremden älteren Typen, der meine Hand nahm und sie um seinen halbharten Penis legte. Da ich selbst zu viel Schiss hatte, entdeckt zu werden, gingen wir auf meinen Wunsch hin zurück und warteten auf den Zug, mit dem ich nach Hause fuhr. Im Zug selbst hatten wir ein nettes Gespräch. Ich erfuhr, dass er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Er ist 46 Jahre alt und hat eine angenehme Stimme. Am Bahnhof lud er mich zum Essen ein. Ich lehnte höflich ab. Wir verabschiedeten uns mit der Sicherheit, uns zum ersten und zum letzten Mal gesehen zu haben. Er bedankte sich bei mir – und die Wege trennten sich. Natürlich überprüfte ich das Forum am selben Abend. Als ich die Seite aufrief, war die Diskussion über mich bereits entbrannt. Die User freuten sich, bejubelten mich. Einige, die im Zug dabei waren, äußerten sich überrascht darüber, dass ich erschienen bin und mich anfassen ließ. Um ehrlich zu sein, ich bin selbst ziemlich überrascht.

existiere ich wirklich? Kurz nach meinem spontanen Ausflug in die Welt des Abartigen kam es im Forum zum ersten Zwischenfall. Irgendein Scherzkeks schrieb unter meinem Pseudonym. Nun gingen die Diskussionen los: Existiert meronpan wirklich? Ist sie in Wirklichkeit ein Mann, der alle reinlegen will? Ist die Geschichte ein Fake? Es wurmte mich, dass irgendein komischer Typ absichtlich unter meinem Pseudonym seltsame Kommentare veröffentlichte und dass es Leute gab, die meine Existenz anzweifeln. In einem Anflug von falschem Stolz und Wut kam es also, wie es kommen musste: »Diejenigen, die mir nicht glauben, können sich ja selbst überzeugen. Ich steige heute nochmal ein«, schrieb ich. Seit dem letzten Erlebnis sind gerade einmal zwei Tage vergangen. Vor zwei Tagen wurde ich von wildfremden Männern im Zug begrabscht. Eigentlich war es nicht geplant, dass ich das so schnell nochmal mache. Ich trug auch keine geeignete Kleidung, sondern einen knöchellangen Rock und ein Hemd. Zu dieser Zeit hatte ich viel zu tun und wollte ganz normal nach Hause fahren. Stattdessen stieg ich erneut in die berühmte Linie. Ich wollte alle davon überzeugen, dass meronpan existiert. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Mal passieren würde. Doch ich ahnte bereits, dass meine Ankündigung nicht still und leise untergeht. Als ich an den Bahnhof gelangte, nahm ich alles unnatürlich intensiv wahr. Es kam mir vor, als verginge die Zeit langsamer als üblich. Als würde ich mich in eine andere Welt begeben. Der Zug kam, und wieder schlug mein Herz wie wild. Doch dieses Mal war er viel leerer als vor zwei Tagen. Ohne Erwartungen stieg ich ein und dachte, dass der Zug vielleicht am nächsten Bahnhof voller wird. Doch nach anfänglichem Zögern und Starren fing ein Kerl links hinter mir an, meinen langen Rock hochzuwickeln, um mir ins Höschen zu fassen. Wieder suchten zahlreiche Hände nach meinem Körper. Mehrere Finger drangen in mich ein. Ein junger Kerl schaute besorgt in meine Richtung. »Brauchen Sie Hilfe?«, rief er. »Ich lächelte ihn nur an und entgegnete: »Alles okay, danke!« Was er sich wohl gedacht hat…

Ein Kerl stellte sich direkt neben mich, als der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr. »Vielen Dank«, sagte er. Dann stieg er aus. Als ich ein paar Stationen später den Zug verließ, drückte ein anderer Kerl einen Zettel mit seinen Kontaktdaten in die Hand. So kam ein wenig Menschlichkeit in die anonyme Triebbefriedigung. Im Forum war ich inzwischen das Thema Nummer 1. meronpan hatte nun allmählich eine eigene Fanbasis. Dazwischen mischten sich Fake-Einträge. Ich entschloss mich dazu, das Forum zu verlassen. Doch das sollte noch längst nicht das Ende meiner eigenen chikan-Erfahrung sein._

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Der Zug hielt an der nächsten Station. Die Menschentraube um mich herum löste sich wieder auf. Sofort blickte ich auf mein Smartphone. Konnte ich die Community von meiner Existenz überzeugen? Gegenüber von mir erkannte ich zwei Kerle, die eben noch beteiligt waren. Auch sie neigten ihre Köpfe nach unten zum Display. Die Situation war witzig und seltsam zugleich. »Ich dachte, meronpan wäre nur ein Fake, aber sie gibt es wirklich«, schrieb jemand enthusiastisch. Ich musste grinsen.


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drei monate bei glaubensgemein

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einer nschaft in sibirien Jo Plehn ist 26 Jahre alt und absolviert sein Masterstudium der Philosophie an der FU Berlin. Im Jahr 2014 entschloss er sich, drei Monate bei der »Kirche des letzten Testaments« in »Ökopolis Tiberkul« zu verbringen. Die Anhänger der Kirche haben in der sibirischen Taiga zahlreiche Dörfer gebaut, in denen etwa 5.000 Gläubige möglichst autark wohnen. Sie glauben an Außerirdische und an die Zerstörung der Erde. Jo glaubt nicht daran, ist aber dennoch von der Nächstenliebe als höchstes Gebot und der ökologischen Lebensweise beeindruckt. text paula lou riebschläger

Im Rahmen meines Bachelorstudiums habe ich nach einem Praktikum gesucht, das mich vor neue Herausforderungen stellt. Mir ging es darum, etwas anderes zu erleben, etwas, das sich stark von meinem gewohnten Alltag unterscheidet. Ich habe mich schon immer für alternative Lebensformen interessiert. Vielleicht auch deshalb, weil ich noch nicht genau weiß, wo auf der Welt der richtige Ort für mich sein kann. Nach langer Recherche bin ich auf die Kirche des letzten Testaments gestoßen. Ihr Ziel, an dem sie Tag für Tag arbeiten, ist es, liebevoll mit sich und ihrer Umwelt umzugehen. In modernen Gesellschaften wird das meiner Meinung nach häufig vernachlässigt. Wie das Leben dort praktisch abläuft, wollte ich selbst erleben. Da die Verständigung in russischer Sprache abläuft, habe ich zur Vorbereitung erst einmal einen Russisch-Kurs belegt.

fotos jo plehn

Auf welche Glaubensgrundsätze stützt sich diese Gemeinschaft? Die Mitglieder glauben an Wissarion, einen Mann, der im Jahr 1991 seine Erleuchtung hatte und sich seither selbst als den Nachfolger von Jesus Christus bezeichnet. Wissarion hat daraufhin in Sibirien mit einer Handvoll Jüngern eine Siedlung errichtet, die sich seitdem

auf immer mehr Dörfer ausweitet: Ökopolis Tiberkul. Die Mitglieder der Kirche des letzten Testaments nennen Wissarion »den Lehrer«. Die wichtigsten Prinzipien sind die christliche Nächstenliebe und das Leben im Einklang mit der Natur. Aus diesem Grund streben sie nach einer veganen Ernährungsweise, auch wenn tierische Erzeugnisse, mit der Ausnahme von Fleisch, prinzipiell nicht verboten sind. Seine Lehren hat Wissarion in Glaubensbüchern niedergeschrieben. Wissarion ist der Meinung, dass die Menschheit in den letzten 2.000 Jahren zwar theoretisch verstanden hat, was Liebe ist, dass sie aber unfähig ist, diese Liebe praktisch zu leben. Das lehrt sie jetzt Wissarion. Er geht davon aus, dass der Egoismus der Menschen die Welt zu Grunde richten wird, was unweigerlich zum Untergang der Welt führt. Wissarion hat deshalb einen Platz nach Vorbild der Arche Noah geschaffen, der seine Gefolgschaft vor dem Weltuntergang bewahrt. Wie stehst du zu Wissarion und seinen Lehren? Ich selbst glaube nicht an ihn. Auch zum christlichen Glauben fühle ich mich nicht zugehörig. Mich faszinieren die praktische Umsetzung, die Liebe und der Respekt voreinander viel mehr als die Metaphysik dahinter. In Sibirien habe ich diesbezüglich von Anfang an mit offenen Karten gespielt und wurde dennoch von den meisten Bewohnern warmherzig empfangen. ►

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Wie kamst du darauf, in der sibirischen Taiga, fernab der modernen Zivilisation, in einer spirituellen Glaubensgemeinschaft zu leben?


42 Wie kann man sich die spirituellen Riten vorstellen? Es gibt neben den ganz praktischen Verpflichtungen, die ein geregeltes Leben ermöglichen, natürlich auch religiöse Rituale. Jeder Morgen beginnt mit einer Zeremonie, zu der sich alle Dorfbewohner in einem dafür vorgesehenen Haus zusammenfinden. In der Mitte des Raumes stehen Bilder von Wissarion. Darum herum bilden die Bewohner Kreise. In den inneren Kreisen sitzen die Männer, weiter außen die Frauen. Nach Gebeten und Gesängen werden die jeweils anfallenden Aufgaben und die Tagesplanung besprochen. Danach brechen alle auf, um ihrem Tagewerk nachzugehen. Alle drei Stunden läutet die Kirchenglocke und unterbricht alle Arbeitsabläufe. Man fasst sich an den Händen, singt und verbindet sich mit dem Lehrer. Ich selbst habe diese Momente der Unterbrechungen genutzt, um mir bewusst zu machen, in welcher Geisteshaltung ich mich gerade befinde. Bin ich fröhlich, traurig, ängstlich, wütend? Und wie wirkt sich das auf meine Arbeit aus? Wie sah dein Leben bei den Wissarioniten aus?

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Zuerst einmal wartete jede Menge Arbeit auf mich: physisch, psychisch und spirituell. Nach einer siebentägigen Reise stand ich inmitten der sibirischen Taiga. Während meines Aufenthalts lebte ich mit unterschiedlichen Familien unter einem Dach zusammen und wurde komplett in deren Alltag integriert. Das Leben bei den

Wissarioniten ist aufs Höchste strukturiert. Sie glauben, dass jedem Menschen qua Geburt eine feste Rolle in der Gesellschaft zugedacht ist. Für Männer bedeutet das harte körperliche Arbeit. Frauen übernehmen das Umsorgen der Familie und die Verantwortung für den Haushalt. Neben diesen Pflichten wird der Kunst ein hoher Stellenwert zugeschrieben. Beide Geschlechter verbringen viel Zeit damit, ihr kreatives Potential zu entfalten. Die Gemeinschaft war auch an meiner Kunst interessiert. So habe ich einmal in »Obitel Rassveta«, dem Wohnort von Wissarion, ein Konzert gespielt. Es war interessant zu sehen, wie begeistert die Menschen auf meine Musik reagieren. Wie organisieren sich die Menschen in den Dörfern? Jede Dorfgemeinschaft organisiert sich selbst. Je weiter ein Dorf von dem heiligen Berg, Wissarions Wohnstätte, entfernt liegt, desto weniger streng ist man in die religiösen Strukturen eingebunden. Der Transport von Gütern und Personen zwischen den Dörfern erfolgt mit Hilfe einfacher Lastwagen. Jede Wohnsiedlung verfügt über eigene Rätestrukturen, bestehend aus einem Wirtschaftsrat und einem Ethikrat. Hier werden alltägliche Probleme besprochen. Häufig kommen die Bewohner ursprünglich aus »normalen« Lebenswelten und haben Berufe und Fähigkeiten erlernt, die sie in die Gemeinschaft einbringen. Deshalb gibt es in jedem Dorf eine Arztpraxis, die teilweise aber nur rudimentär ausgestattet ist. Außerdem gibt es Schulen, in denen die Schüler


43 einen anerkannten Abschluss machen können. Interessant ist, dass sämtliche Kriege, Adolf Hitler oder Stalin, im Unterricht keine Erwähnung finden, da die Wissarioniten der Meinung sind, dass diese historischen Realitäten die Entwicklung ihrer Kinder negativ beeinflussen. Viele der jungen Erwachsenen gehen nach der Schule zum Studieren in nahegelegene Städte oder ins Ausland. Die meisten von ihnen kehren aber danach zu Wissarion zurück.

ten Geschlechterrollen kann ich nicht so viel anfangen. Tatsächlich war es für mich aber am schwersten, jeden Tag an mir selbst zu arbeiten. Diese Arbeit bestand für mich darin, zu erkennen, wie ich fühle und denke und inwiefern sich dadurch mein Ich konstituiert. Zum einen galt es, dieses Ich als mein Ich anzunehmen und nicht zu leugnen. Zum anderen galt es, Negatives zu überwinden und bewusst aus einer positiven Geisteshaltung heraus zu handeln.

Zu welchen Gelegenheiten bekommen die Gläubigen ihren Lehrer denn mal persönlich zu Gesicht?

Hast du dich dort frei gefühlt?

Was passiert eigentlich mit dem Privatbesitz, wenn man ein Wissarionit werden möchte? Ein Teil des Eigenkapitals fließt in die Gemeinschaft. Wie hoch der Anteil ist, den man abgibt, hängt mit der Nähe zum Lehrer zusammen. Wer im engeren Zirkel sein Haus errichtet, glaubt besonders stark an Wissarion und spendet den Großteil seines Geldes. Von dem Vermögen in den Gemeinschaftskassen werden dann für jedes Dorf notwendige Güter aus dem Umland besorgt. Das Geld, das jeder behält, wird dazu benutzt, sich ein eigenes Haus zu errichten. Wer im früheren Leben einen besseren Job hatte, kann sich also auch ein komfortableres Zuhause errichten. Sigi und Petra zum Beispiel, ein deutsches Paar, bei dem ich anfangs lebte, hatte nur ein einfaches Häuschen, in dem man im Winter einen dicken Mantel tragen musste. Das Haus von Oleg und Anais, mit denen ich später zusammenlebte, war hingegen professionell isoliert und gedämmt, sodass ich im T-Shirt auf dem Boden sitzen und mit den Kindern spielen konnte. Worin bestanden für dich in dieser Zeit die größten Herausforderungen? Wahrscheinlich denkt man jetzt zuerst an die klimatischen Bedingungen. Bei -40° C im Winter und Schneemassen, die vom Himmel fegen, ein Dach zu decken, ist schon ziemlich hart. Einmal hatte ich eine Blasenentzündung und sehr hohes Fieber. Ein Antibiotikum habe ich abgelehnt, weil ich mir nicht sicher war, was sich hinter dem russischen Medikament verbarg, das mir der Dorfarzt verabreichen wollte. Stattdessen bekam ich eine Organmassage, die mir sehr geholfen hat. Natürlich waren für mich aber auch Teile der Ideologie Wissarions gewöhnungsbedürftig: Mit Weltuntergang und tradier-

Wie ging es dir, als dir klar wurde, dass deine Rückkehr kurz bevorsteht? Zuerst war ich sehr froh. Ich habe mich auf das Zurückkommen gefreut. Gegen Ende meines Aufenthalts in Sibirien hat es mir gefehlt, mich mit Nichtgläubigen auszutauschen. Und wie waren deine Gefühle zurück in Deutschland? Was fehlt dir hier? Mit der Zeit hat es sich eingeschlichen, dass ich das Leben in Sibirien ab und an vermisse. Vor allem in Situationen, die mir schon vor meiner Reise aufgefallen waren: der pöbelnde Busfahrer, die unfreundlichen Jugendlichen, um nur ein paar Klischees zu nennen. Der sibirische Schutzmantel an positiver Energie, Lebensbejahung und innerer Freiheit begann in Deutschland Tag für Tag zu bröckeln. Ich bin mir sicher, dieser Ort in der Taiga ist keiner für mich – jedenfalls nicht lebenslang. Zu sehr genieße ich unsere westliche Kultur mit all ihren Möglichkeiten. Ich will nicht in der sibirischen Pampa wohnen. Aber doch vermisse ich mein Ich von dort. Ich vermisse die Stärke, mit der ich Ich war. Das macht mich nicht wehmütig, manchmal aber vielleicht ein wenig traurig. Generell gibt es mir aber die Aufgabe auf, diese Stärke in mir an dem Ort wiederzuentdecken, an dem ich tatsächlich leben will. Wo will ich tatsächlich leben? Was genau macht diese Stärke aus und warum hat Berlin oder eine andere Stadt die Macht, sie mir zu nehmen?_

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Jeden Sonntag prozessieren die Bewohner auf einen Berg, neben dem die einzelnen Dörfer liegen. Diese sonntägliche Prozession dauert etwa vier Stunden und wird bei jedem Wetter vollzogen. Auf dem Rückweg halten die Dorfbewohner an einem dafür vorgesehenen Ort inne und warten sehnsüchtig auf Wissarion. Er erscheint nicht regelmäßig. Manchmal kommt er drei Sonntage hintereinander nicht und manchmal zeigt er sich fünf Sonntage in Folge. Wissarion spürt angeblich, wann es für seine Gläubigen nötig ist, dass er persönlich erscheint und zu ihnen spricht. Dann schwebt er aus dem nahe gelegenen Wald hinab. Weil er bodenlange Gewänder trägt, sieht es wirklich so aus, als würde er schweben (lacht). Die Anwesenden können nach einigen Gebeten praktische Fragen des Lebens an ihren Lehrer stellen, der genaue Handlungsanleitungen und Lösungen für jedes Problem liefert.

Der Begriff Freiheit ist für mich unheimlich facettenreich und nicht monokausal zu beschreiben. Äußerlich betrachtet war ich nicht frei, denn ich war in einen anstrengenden Arbeitsalltag eingebunden. Wenn man aber von einer innerlichen Freiheit spricht, bin ich diesem Ideal in Sibirien näher gekommen. Innere Freiheit ist für mich das Loslösen von Zwängen und Beengungen, die ihre Triebfeder im eigenen Ich finden. Wenn ich innerlich frei bin, dann hafte ich nicht an meinen eigenen Blockaden. Der Gemeinschaft ging es dabei hauptsächlich darum, sich im Sinne von Wissarions Lehren zu entwickeln. Für mich war das Ziel, mich in Richtung meiner eigenen Überzeugungen und Überlegungen zu bewegen. Es ist die eine Sache, nach Freiheit zu streben. Es ist aber noch eine andere Sache, Freiheit auszuhalten, wenn man sie einmal erfahren hat. Innere Freiheit ist eigentlich wie guter Wein, Tabak oder Bitterschokolade. Das alles ist verdammt lecker, aber es braucht Zeit, sich daran zu gewöhnen.


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klimawandel text patrick volknant

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Sie taucht auf als Totschlagargument, als serienmäßig antrainierter Reflex des selbsternannten Realpolitikers auf idealistische Forderungen: Die politische Utopie. Einst ein Synonym für eine Vision vom im Moment noch (sic!) nicht Machbaren, unlängst zum Schimpfwort verkommen. An den Kopf geworfen wird sie diesen Spinnern, die in ihrer kindlichen Naivität nach gesellschaftlicher Umstrukturierung streben. Denn wir alle sollten die Zukunft kennen. Man bleibt, wo man ist; nur eben mit einem neueren iPhone in der Hand. Immer wieder wurde die Utopie an den Talkshowtischen des Landes zurückgewiesen, immer zögerlicher hob sie die Hand und erstickte schließlich am Credo der Alternativlosigkeit. Das Ergebnis ist hemmungslose Demokratiebegeisterung, wie man im September bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern bewundern konnte: Ein beeindruckender Anstieg der Wahlbeteiligung von 51,5 auf 61,6 Prozent. »Den Lokführer kann man austauschen, die Weichen sind schon gestellt«, raunt ein desillusionierter Mann vor der Wahl bei Frontal21, während er Discountereinkäufe im Kofferraum verstaut. – Stimmt doch gar nicht! Nach der Wahl wird im Deutschlandfunk über die ernstzunehmenden Befindlichkeiten des »Volkes« diskutiert. Man hört einen CDUler auf die linke Fantastin in der Runde eindreschen und doch ist irgendetwas anders als sonst: Der kratzige Basston des Ex-Journalisten und AfD-Politikers Armin-Paul Hampel stimmt mit ein in die Utopistenschelte, verkündet aber zugleich die Zukunft einer Alternative. Er kann beides. Endlich! Die Menschen mit Visionen sind wieder da und sie sind so laut an den Tischen wie lange nicht mehr. Nur dieses Mal erklingen halt keine Uto-, sondern Dystopien. Völkischer Kulturkampf, gesellschaftlich legitimierter Rassismus, Vernichtung sozialer Errungenschaften. Realpolitisch ist das auf jeden Fall machbar._


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die utopie der chancengleichheit Politiker meinen häufig, die Welt erklären zu können. Bürger denken oft, sie zu verstehen. Das Ergebnis ist meist ernüchternd. Da hilft es, einfache Fragen zu stellen. Nicht: Wie viel Gerechtigkeit herrscht in unserer Gesellschaft? Sondern: Was bedeutet Chancengleichheit? Und was sind die Voraussetzungen dafür? text robert rienass

Dabei treffe ich auf eine Publikation des statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2013, die Aufschluss über die Gehaltsdifferenzen zwischen Männern und Frauen gibt.

Ich reagiere ernüchtert. Chancengleichheit ist also das Ergebnis einer perfekten Gesellschaft. Sie ist eine Art Integrationsutopie mit Grundgesetzcharakter. In ihr sind nicht nur die Artikel der deutschen Verfassung vereint, sie umfasst auch die perfekte Migration. Schöne Vorstellung. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Alle Menschen sind per Gesetz gleichberechtigt. So steht es in der deutschen Verfassung. Die Realität sieht jedoch oft anders aus. Allein die Gleichstellung von Mann und Frau auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist nach wie vor utopisch. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung verdienen Frauen in Deutschland 23 Prozent weniger als ihre männlichen Konkurrenten. Ich frage mich, woran das liegt und suche im Internet nach Antworten.

foto daniel schreck

Google-Suche: »Chancengleichheit«. Der erste Eintrag ist ein Wikipedia-Artikel. Hier müsste ich eine allgemeingültige Definition finden. »Die Chancengleichheit ist die Gleichheit der beruflichen, rechtlichen und sozialen Möglichkeiten für alle, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Herkunft«, heißt es.

Die großen Lohnunterschiede führen die Statistiker auf unterschiedliche Branchen- und Berufswahl zurück. So sank der Frauenanteil in nahezu allen Berufen zwischen 1992 und 2012. Lediglich die Zahl der weiblichen Hilfskräfte und Akademiker stieg. Zudem bekleiden Frauen seltener Führungspositionen, arbeiten öfter in Teilzeit und sind aufgrund des Mutterschutzes kürzer in ihren Berufen beschäftigt. Statistisch gesehen sind sie jedoch besser gebildet als Männer. Mädchen werden in Deutschland im Durchschnitt früher eingeschult, wiederholen seltener eine Klasse und besuchen häufiger ein Gymnasium als Jungen. Allein die geschlechterspezifischen Rollenbilder dämpfen die Chancengleichheit zwischen Mann und Frau. Eine, die diese gesellschaftliche Mauer sprengt, ist Dunja Hayali. In diesem Jahr mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet, beginnt die deutsche Journalistin ihre Karriere beim Radio der Deutschen Welle. Heute ist Hayali ZDF-Moderatorin. Was viele nicht wissen: Sie ist nicht nur ein Kind iranischer Einwanderer, sondern auch homosexuell. Für viele Arbeitgeber nach wie vor Tabu-Thema und inoffizieller Kündigungsgrund. ►

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Vermeintlich einfache Fragen, auf die es dennoch kaum einfache Antworten gibt. Ich versuche trotzdem, ihnen nachzugehen und treffe dabei auf interessante Statistiken und Geschichten, die mich einiges über das Bildungs- und Politiksystem unseres Landes lehren.


46 Hayali setzt sich dennoch durch, auch weil sie aus einer gut integrierten Akademiker-Familie stammt. Die Eltern ermöglichen ihr eine gute Schulbildung und ein Studium an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Hayalis Ehrgeiz und ihr Talent machen sie erst zur Leistungssportlerin und später zu einer der besten deutschen Journalistinnen. Doch wie steht es um die anderen Deutschen mit Migrationshintergrund? Welche Chancen haben Bürger mit sozialer Schwäche? Laut eines Focus-Artikels aus dem Jahr 2011 fängt nur rund die Hälfte der Abiturienten aus Elternhäusern ohne akademischen Hintergrund ein Studium an. Der aktuelle »Chancenspiegel« der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass bereits die Schulbildung sehr stark von der sozialen Herkunft beeinflusst ist. Das Bundesamt für politische Bildung hebt hervor, dass rund 83 von 100 Akademikerkindern eines Geburtsjahrgangs bis an die Hochschulen gelangen, während aus anderen Schichten nur 23 Prozent der Kinder studieren. Bürger mit Migrationshintergrund sind gleich doppelt bestraft. Nur selten ist ihre Bildungsbenachteiligung auf fehlende Kompetenz zurückzuführen. Oft ist eine Mischung aus sozialer Schwäche und Diskriminierung der Grund. Flüchtling Saidou machte diese Erfahrung selbst. 2012 betritt der damals 19-Jährige erstmals deutschen Boden. Er kommt aus dem Niger, lebte in Libyen und floh vor dem Bürgerkrieg. Hier in Deutschland möchte er ein neues Leben beginnen. Sein Abitur nachholen und arbeiten. Doch daraus ist bis heute nichts geworden. Er absolviert mehrere Praktika und bezieht monatliche Sozialhilfe. Arbeiten darf er nicht. Auch nachdem ihm der Staat eine Aufenthaltserlaubnis erteilte, durfte er keine Abendschule besuchen und keinen festen Job annehmen. Seine Ausbildung zum Schneider wird hier in Deutschland nicht anerkannt, trotz mehrerer Zertifikate. Und das, obwohl akuter Fachkräftemangel herrscht. Ich surfe weiter im Internet und beschäftige mich nun intensiv mit

der deutschen Bildungselite – den Studenten. Ich möchte wissen, ob sie wirklich den Schlüssel zum uneingeschränkten gesellschaftlichen Erfolg haben. Bei meiner Recherche treffe ich auf Zahlen und Fakten, die einen deutlichen Unterschied zwischen den einzelnen Studenten markieren. Insgesamt gibt es in Deutschland im Jahr 2016 rund 2,8 Millionen Studierende. Knapp 1,7 Millionen besuchen eine staatliche Universität, rund 900.000 die Fachhochschule. Formal sind beide Absolventen gleichgestellt. Bis vor wenigen Jahren lehnten Unternehmen wie McKinsey und die Boston Consulting Group FH-Studenten dennoch kategorisch ab. Mittlerweile werden auch sie zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Laut Thomas Fritz, bis Ende 2014 Director of Recruiting bei McKinsey, erfüllen Universitätsabsolventen jedoch eher die Anforderungen von Stellenausschreibungen als FH-Absolventen. Diskriminierung oder tatsächlich bildungstechnischer Unterschied?Laut Bildungsexperten ist der Unterschied zwischen Uni- und FH-Studenten längst nicht mehr so groß wie einst. Ein Fachhochschulstudium ist meist praxisorientierter und kürzer. Universitätsstudenten haben hingegen häufig ein breiteres Spektrum an Fachwissen. Pauschale qualitative Unterschiede gibt es nicht. Eine aktuelle Studie der Online-Jobbörse Stepstone zeigt, dass Arbeitnehmer mit einem Universitätsabschluss im Schnitt trotzdem rund vier Prozent mehr verdienen als ein Absolvent einer Fachhochschule. Grund dafür: gesellschaftliche Rollenbilder. So schließt sich der Kreis und ich erkenne, dass Chancengleichheit nicht nur gleiche Bildung, soziale Gerechtigkeit und Toleranz voraussetzt. Sie fußt auch auf ökonomischer Gleichheit und der Minderung des Konkurrenzkampfes. Eine Gesellschaft, in der wirklich jeder die gleiche Chance bekommt, scheint kaum möglich. Denn weder Sozialismus noch Kapitalismus führen zu einer wahrhaft gerechten Gesellschaft. Und so ist klar, dass die Chancengleichheit wohl ewig ein Traum bleiben wird._

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