obacht_ #2

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arbeiten berufsrisiko krieg

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leben wie gef채hrlich ist die pille?

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studieren jugend in der ddr

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feuilleton hitler, satan und sadismus

studierendenmedium

#2

sicherheit


fritz.de


editorial

liebe leserinnen und leser! Das Bedürfnis nach Sicherheit ist der Soundtrack der heutigen Zeit. Junge Erwachsene flanieren für WG-Einkäufe über Bio-Wochenmärkte, stricken Wollmützen, singen deutsche Chansons und spülen die Kehlen mit Möhrensaft. Revolution ist ein Unwort des alten Jahrhunderts und das Golgota zweier Weltkriege längst vergessen. Höchstens Brüssel und Paris und tausende Menschen in Massenlagern vor Europas Toren treiben manch Bürger Sorgenfalten auf die Stirn. Da röchelt‘s und keucht‘s wieder in der Republik: Ein HU-Professor befeuert den Kampfbegriff der »asymmetrischen Kriegsführung«, Ex-Pastor Gauck imaginiert den Kontinent in einer »neuen Art von Krieg« und Europas Rechtspopulisten fordern die »Endlösung der Flüchtlingsfrage«. Zum Glück schützen uns BKA und BND, die mit Orwell um die Wette eifern. Doch es kriselt nicht nur auf dem politischen Schlachtfeld, auch der Print-Journalismus hat sich seit dem Release von obacht_ nicht erholt. Mit Ausgabe #2 kämpfen wir gegen den Abwärtstrend, indem wir unsere Auflage auf sagenhafte 1000 (!) Exemplare erhöhen. Ach ja, liebe taz – das Ganze packen wir auch ohne Bundeswehr-Werbung. Viel Freude bei der Lektüre wünscht

Thorsten Gutmann, Chefredakteur


inhalt studieren

arbeiten 6

warum muss ich an meinem geburtstag sterben?

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bitte kein kulturnarzissmus

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aufwachsen unter rotlichtbestrahlung

robert rienass & leyla dermirhan

robert rienass & tabea otto

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dahin, wo es wehtut, wo es stinkt

kondompflicht macht keinen sinn! roxanne franz & tina kamyab

leben 13

angstpartei für deutschland

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probleme sind mein motor

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liesa alker & leyla dermirhan

thorsten gutmann & tim kirchner

feuilleton 28

hitler, satan und sadismus

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eventkalender

thorsten gutmann & tom reed

thorsten gutmann, ciara mac gowan & tom reed

ciara mac gowan & tim kirchner

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impressum

laura kirsten & trad burmawi

drei gründe, warum du selber kochen solltest ciara mac gowan & lisa hildebrandt

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wie gefährlich ist die pille?

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sicher ist, dass nichts sicher ist

alina boie & bastian ötken

keshia luna biedermann & xenia katharina kapp

obacht_ ist ein unabhängiges Studierendenmagazin der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin.


was bedeutet für dich sicherheit ?

Silvi, 21, Journalismus »Der Rückhalt von meinen Freunden und meiner Familie.«

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Robert, 19, Journalismus » Der Gedanke an Gott und der Glauben daran, dass es im Leben immer weiter geht.«

Elansa, 19, Grafikdesign »Die Unterstützung meiner Familie, weil ich dann weiß, dass ich das Richtige tue.«

Stanislav, 24, Grafikdesign »Die Umgebung, in der ich wohne. Daneben ist ein Seniorenheim.«

Anni, 20, Wirt.-psychologie »Mein Haus, das ich abschließen kann und eine friedliche Umgebung.«

Rosalie, 20, Grafikdesign »Die Personen, die mir nahe stehen und mein Umfeld, das ich gewohnt bin.«

Nicole, 22, Wirt.-psychologie »Familiäre und freundschaftliche Unterstützung.«

Lisa, 21, Journalismus »Genug Geld auf dem Konto.«

Trad, 24, Grafikdesign »Selbstakzeptanz. Die Gewissheit zu haben, nicht dem Drang nach Perfektionismus unterliegen zu müssen.«

Boyun, 26, Eventmanagement »Meine Vermieterin, die mich vor allem in meiner Anfangszeit in Deutschland mit dem Lernen der deutschen Sprache gut unterstützt hat.«

Marcel, 19, Grafikdesign »Wenn ich eine Wohnung habe, meine Umgebung gesichert ist und ich finanziell gut überleben kann.« text alina boie & laura kirsten layout daniel schreck


arbeiten

interview

20 Jahre lang stand Emil Pallay im Dienst des Spezialeinsatzkommandos (SEK) Bayern. Als späterer Einheitsführer trug er die Verant­ wortung für rund 40 Mann und war an etwa 1000 Einsätzen beteiligt. Heute lebt der ehemalige SEK-Führer und ausgebildete Präzisionsschütze gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau in einem idyllischen Ort nahe München. Lesungen, Sport und Reisen halten den heutigen Rentner fit. Im Interview mit obacht_ spricht Pallay über den Alltag eines SEK-Beamten, klärt Mythen auf und erzählt, wie es ist, andere Menschen zu töten.

warum muss ich an meinem geburtstag sterben? illustration tabea otto

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warum muss ich an meinem geburtstag sterben?

Herr Pallay, wie sind Sie zum SEK gekommen? Das war Zufall. Schon als Kind wollte ich Polizist werden. Nach der Schule habe ich eine Ausbildung im gehobenen Dienst begonnen und fortan bei der Bereitschaftspolizei gearbeitet. Nebenbei habe ich beim SV Funkstreife in München Fußball gespielt. Das ist ein Verein für Polizisten. Der Vorsitzende des Vereins und ich haben uns damals sehr gut verstanden. 1977 fragte er mich, ob ich beim SEK anfangen wolle. Das SEK war damals gerade erst gegründet und noch längst nicht so populär wie heute. Ich war sehr überrascht und gleichzeitig begeistert. Ich ging zum Vorstellungsgespräch und wurde kurz darauf beim Spezialeinsatzkommando genommen. Was hat Sie an diesem Job fasziniert? Die Arbeit als SEK-Beamter ist unglaublich vielfältig. Nicht nur die Einsätze, sondern gerade die Aus- und Fortbildungen sind das Interessante an diesem Job. Hier habe ich eine Menge neuer Strategien zur Verbrechensbekämpfung erlernt. In Filmen und auf Fotos sieht man Spezialeinheiten stets mit Sturmhaube, Schutzkleidung und Maschinengewehr in Häuser eindringen, um die Täter festzunehmen oder gar zu eliminieren. Was ist dran am Mythos der furchtlosen Superhelden? Im Krimi ist das anders als in der Realität. Als SEK-Beamter verrichtet man seine Arbeit zu 80 oder 90 Prozent in Zivil. Es geht darum, sich dem Verbrecher langsam anzunähern, ohne dass er etwas davon mitbekommt. Man spioniert ihn quasi erst einmal aus. Da wäre es unklug, sofort seine Wohnung zu stürmen. Erst wenn beispielsweise bei einer Geiselnahme eine akute Lebensgefahr für die Geisel besteht, wird ein Notzugriff freigegeben. Die SEK-Beamten stürmen dann in voller Montur das Gebäude, in dem sich der Täter befindet. Bei einigen Einsätzen werden die Beamten sogar mit speziellen Schutzschildern ausgestattet, um vor Gewehrschüssen sicher zu sein. Denn die Kugeln einer Flinte kann selbst eine Schutzweste nicht abhalten. Was macht ein SEK-Beamter, wenn er nicht im Einsatz ist? Er besucht Fortbildungen. Dort lernen die Beamten zum Beispiel, wie sie sich beim Vorgehen von Raum zu Raum zu verhalten haben. Außerdem muss man regelmäßig zum Schießtraining und zum Sport. Ich hatte auch Rechtskunde, um zu wissen, wann man seine Waffe gebrauchen darf und wann nicht. In welchen Situationen muss und darf man denn von Schusswaffen Gebrauch machen? Nur bei Notwehr. Der Polizeiführer des SEK beurteilt während des Einsatzes die Situation vor Ort und erst wenn es keine Alternative mehr gibt, erteilt er die Erlaubnis für den finalen Rettungsschuss. Dann erst dürfen die SEK-Beamten ihre Waffe benutzen. Wie sicher ist ein SEK-Beamter im Einsatz? Ein erhöhtes Risiko besteht immer. Das Spezialeinsatzkommando hat jedoch gegenüber den Tätern einen entscheidenden Vorteil: Die Beamten wissen, was auf sie zukommt. Sie haben vorab eine ausführliche Berichterstattung über die Situation

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arbeiten

am Tatort bekommen und können sich somit optimal auf ihren Einsatz vorbereiten. Sie agieren, die Verbrecher hingegen müssen reagieren. In meiner Zeit beim SEK gab es nicht einen einzigen Toten auf Seiten meiner Mannschaft. Trotzdem gibt es immer wieder Fälle, mit deren Ausgang auch das SEK nicht rechnet. Gleich zu Beginn ihrer Karriere mussten Sie um ihr Leben fürchten, als ein psychisch Kranker versuchte, Sie mit einem Beil zu erschlagen. Wie haben Sie auf diese Situation reagiert? Das war ein sehr unglücklicher Fall. Der Täter hatte einen Gerichtsvollzieher mit einer Axt bedroht. Anschließend schloss er sich mit der Axt in seinem Haus ein. Wir sind in das Gebäude eingedrungen, in dem sich auch seine Mutter noch befand. Der Täter litt unter einer psychischen Störung und hatte bereits zuvor versucht, sich das Leben zu nehmen. Als ich mit meinem SEK-Team in das Haus eindrang, stand er plötzlich vor mir und holte mit seiner Langaxt zum Schlag aus. Mein erster Gedanke war: »Warum muss ich an meinem Geburtstag sterben?« In Sekundenbruchteilen musste ich reagieren. Ich schoss ihm in den Oberschenkel. Die Kugel in seinem Bein machte ihm je­doch nichts aus, denn er war fast zwei Meter groß und wog etwa 150 Kilogramm. Er rannte weiter auf mich zu. Danach feuerte ich noch drei weitere Schüsse auf ihn, ehe er zu Boden fiel. An solch einem Fall hat man wohl noch lange zu knabbern. Können Sie ruhig schlafen oder geistern Ihnen Schreckmomente wie diese noch heute durch den Kopf? Heute kann ich beruhigt schlafen. Direkt nach dem Einsatz habe ich mir natürlich Vorwürfe gemacht, da mein Team und ich eigentlich mit dem Ziel in das Haus gingen, den Täter vor sich selbst zu bewahren. Das hat mich schon schwer beschäftigt, aber ich habe meine Gedanken daran schnell abstellen können. Es ist wichtig, solche Einsätze ins Positive zu drehen, um nicht selbst psychisch krank zu werden. Meine Kollegen haben mir gesagt, es sei unumgänglich gewesen, den Täter zu eliminieren, um mich selbst zu retten und gegebenenfalls andere unschuldige Leben zu retten. Auch außerhalb des Arbeitsumfeldes hatte ich mit meiner bereits verstorbenen Ehefrau eine wichtige Bezugsperson, um solche Erlebnisse aufzuarbeiten. Sie war über all die Jahre mein Anker. Wussten ihre Freunde von ihrem Job als SEK-Beamter oder hielten Sie ihre berufliche Identität geheim? Sowohl meine Familie, als auch meine Freunde wussten von meinem Beruf. Die Einsätze konnte ich schließlich nicht verheimlichen. Meinen beiden Kindern habe ich jedoch keine Details zu den einzelnen Fällen verraten. Meine Frau und ich haben sie aus dieser Sache herausgehalten. Sie haben sich auch nie dafür interessiert. Den Job des SEK-Beamten braucht man per se dennoch nicht zu verheimlichen. Allerdings sollte man auch keine Reklame damit betreiben. In der Öffentlichkeit war ich zum Beispiel anonymisiert. Man konnte mich also nicht über das Kennzeichen oder das Meldeamt identifizieren.

Herr Pallay, ich bedanke mich für dieses Gespräch. __ text robert rienass layout tabea otto


dahin, wo es wehtut, wo es stinkt. Wer sich im Beruf falsch positioniert, verliert schnell den Boden unter den Füßen. Diese schmerzhafte Erfahrung machte der Kriegsreporter Martin Lejeune. Ein fragwürdiger Blog-Artikel über Hinrichtungen in Gaza zerstörte seinen Ruf bei vielen Medienhäusern. Heute lebt er von Hartz IV und versucht seine Arbeit per Crowdfunding zu finanzieren.

Auf der Visitenkarte von Martin Lejeune steht »Journalist«. Doch als ich ihn im Februar 2016 am Potsdamer Platz treffe, schlüpft er in eine andere Rolle – in die des Aktivisten. Hinter Lejeune wehen Palästinaflaggen, eine Kufiya bedeckt seinen Hals. Der Protest richtet sich gegen den Staatsbesuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Redner Fuad Afane skandiert Parolen gegen die »zionistische Besatzungsmacht«. Afane verkehrt laut Jungle World im zwielichtigen Pegada-Milieu, den »Patriotischen Europäern gegen die Amerikanisierung des Abendlands«. Nach seiner Rede übernimmt Lejeune das Megafon. hinrichtung von 18 verrätern ist »sehr sozial« Martin Lejeune wirkt mit seiner zotteligen Scorpions-Mähne und schwarzen Hornbrille wie ein liebenswürdiger Bücherwurm. Doch taz-Autor Pascal Beucker findet andere Worte für ihn: »Es gibt Kriegsberichterstatter. Und schreibende Kombattanten.« Anlass für solch scharfes Urteil ist ein tumblr-Post, in dem Lejeune die Exekution von 18 »Kollaborateuren« durch die Hamas als »ganz legal« und »sehr sozial« bezeichnete. Während des Gaza-Kriegs 2014 lebte Lejeune bei einer befreundeten Familie im Gaza-Streifen. Aus dem Krisengebiet berichtete er unter anderem für taz, Neues Deutschland und die Frankfurter Rundschau, führte Interviews mit BBC und Cicero. Doch nach dem Text über die Hinrichtungen folgte eine Welle der Entrüstung. Kollegen distanzierten sich von Lejeune und attestierten ihm ein Distanz-Nähe-Problem. Eine Hamburger Studentengruppe beschimpfte ihn als »Hamas-Pressesprecher«. text thorsten gutmann layout tim kirchner

die grenze zwischen journalismus und aktivismus In einem Telefonat erzählt mir Lejeune, dass er heute »große Probleme« habe, Abnehmer für seine Arbeit zu finden. Als Begründung werde seitens der Medien angeführt, dass man für seine Berichte »keine Verwendung« finde oder die »Redaktionslinie zum Nahostkonflikt« neu ausrichte. Er spricht mit einer weichen Stimme und nimmt sich lange Denkpausen. Silben betont Lejeune ungewöhnlich stark, zwischendurch nippt er lautstark an einem Getränk. »Von einem Tag auf den anderen haben sie alle Text-Angebote abgelehnt«, sagt er. Bis heute distanziert sich der Reporter nur halbherzig von seinen Aussagen. Er erklärt mir, dass er zwar »gegen die Todesstrafe« sei, doch den »Umgang mit Verrätern« und die Exekution als »innerpalästinensische Angelegenheit« bewerte. Der Fall Lejeune ist ein Lehrstück über »embedded journalism« und die Integrität von Reportern in Krisengebieten. Wie viel Aktivismus verträgt der Journalismus? Wo verläuft die Grenze? Und hieß es nicht, man dürfe sich auch mit einer guten Sache nicht gemein machen? Der Fall veranschaulicht aber auch tiefe Grabenkämpfe, die der Nahostkonflikt in Deutschland auslöst. In den Kommentaren unter den kritischen Berichten über Lejeune werfen sich Nutzer wüste Beschimpfungen um die Ohren – wahlweise »Faschist«, »Antisemit« oder »Zionist«. »natürlich habe ich angst.« Martin Lejeune ist Einzelkämpfer, dessen Einsatz für die »Befreiung Palästinas« weit in das Privatleben hineinragt. Er

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dahin, wo es wehtut, wo es stinkt

wurde 1980 in Hannover geboren, wuchs in Nürnberg und Bielefeld auf. Heute lebt er in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Berlin. Er hat keine Familie, um die er sich kümmern müsste. Der Kontakt zu den Eltern ist abgebrochen. In einem Interview erklärt er, dass seine Eltern Christen seien, die sich auf der Seite Israels positionieren und kein Verständnis für sein Engagement in Palästina hätten. Lejeunes Faszination für die arabische Welt begann in der Schulzeit, als er Kontakt zu arabischen Flüchtlingen pflegte. Ab 2004 studierte er Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Er berichtete nach eigenen Angaben vor Ort aus allen arabischen Ländern – bis auf Dschibuti. Er sei schon »vor dem Beginn der Proteste in den arabischen Ländern« als Reporter unterwegs gewesen, zum Beispiel »in Bahrain während der Besetzung durch Saudi-Arabien«. Seine inhaltlichen Schwerpunkte jedoch seien Syrien und der Gaza-Streifen. Seine Reisen unternahm Lejeune stets ohne Schutzhelm und schusssichere Weste. »Ich wusste nicht, wie ich das transportieren soll. Ich habe kein Auto und Führerschein. Ich arbeite nicht im Team, das im Jeep unterwegs ist«, erklärt er. »Ich hatte auch nicht das Geld, um mir das zu kaufen.« Auf einen Vorbereitungskurs, wie ihn die Bundeswehr für Journalisten anbietet, verzichtete er. »Natürlich habe ich Angst«, räumt er ein. »Aber das Schreiben darüber hilft mir, diese Angst zu bewältigen.« im größten freiluftgefängnis der welt Vor allem aus Gaza schildert der Reporter sehr bildliche Eindrücke. Seinen Erzählungen zufolge teilte er sich den Fußboden seiner Gastfamilie je nach Kriegsphase mit bis zu 60 Binnenflüchtlingen. Außerdem sei Gaza im Juli und August 2014 von der Nachschubversorgung abgeschnitten gewesen. Um für Strom zu sorgen, hätte die Familie einen »defekten Diesel-Generator« besorgt und selbst repariert. »Es gab keine Lebensmittel in den Geschäften, die Ehefrau meines Gastgebers hat eigenes Brot im Hinterhof gebacken«, beschreibt Lejeune. Auch die Wasserleitungen hätten nicht funktioniert. Als prägenden Moment erlebte Lejeune einen Angriff am Ende des Ramadan. Eine israelische Rakete detonierte auf einem Kinderspielplatz des Flüchtlingslagers »Beach Camp« und zerfetzte zehn Kinderkörper. Lejeune fuhr zum Schauplatz, um die Leichen zu fotografieren. Bei dem Raketenangriff auf eine UN-Schule in der Küstenstadt Beit Hanun begleitete er die jugendlichen Opfer ins Krankenhaus und dokumentierte das Szenario. »Das waren schreckliche Bilder mit viel Blut«, so Lejeune. Für deutsche Redaktionen seien die Fotos »zu schockierend und zu brutal« gewesen. lejeune wendet sich von traditionellen medien ab 2015 begleitete Lejeune eine »Solidaritätsflotte von pro-palästinensischen Aktivisten« (dpa). Ziel der Aktion war das Durchbrechen der israelischen Seeblockade, um Hilfsgüter und Medizin nach Gaza zu befördern. Doch Lejeune hatte sich bei alten Auftraggebern unbeliebt gemacht. Inzwischen gab es für seine Berichte neue Interessenten – nämlich den russischen Propagandasender RT Deutsch und den für Verschwörungstheorien berüchtigten Querfront-Kanal KenFM. Die Mission endete nach einer Intervention der israelischen Armee und Verhaftung der Aktivisten.

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Im Dezember 2015 flog Lejeune mit einem Freund und Übersetzer nach Tel Aviv, um in der israelischen Negev-Wüste die Lebenswirklichkeit arabischer Beduinen zu porträtieren. Doch am Flughafen erwartete ihn eine böse Überraschung. Nach einem mehrstündigen Verhör wurde Lejeune zurückgeschickt – es bestünde der Verdacht auf »illegale Einwanderung«. Für mindestens zehn Jahre wird der Reporter keinen Fuß auf israelisches Territorium setzen dürfen. Lejeunes neuer Plan: Eine Reise in den Jemen. Das Land werde »von einer Koalition aus arabischen Ländern bombardiert« und »viel weniger in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert«. Seine Arbeit als Journalist sieht er nicht gefährdet. Er erhofft sich eine Finanzierung per Crowdfunding. In den neuen Medien und im Internet sieht er eine Alternative: »Durch manche Facebook-Posts erreicht man mehr Leser, als die Zeitungen Exemplare drucken.« Ob er Aktivist oder Journalist sei, fragte ihn die Schweizer Medienwoche. »Journalist«, antwortete Lejeune. Sein berufliches Selbstverständnis: »Journalismus, wie ich ihn verstehe, ist dahin gehen, wo es wehtut, wo es stinkt. Um berichten zu können, was vor Ort abgeht, aus der Mitte der Menschen.« Doch kann ein Mensch neutral bleiben, wenn er das Leid eines Krieges hautnah miterlebt? Vielleicht verwendet Lejeune in den protokollartigen Berichten über Hinrichtungen der Hamas bloß ein Stilmittel, um eine Situation authentischer zu beschreiben – doch sein politischer Aktivismus schürt Zweifel an dieser Frage. __

arbeiten


ressort

bericht

M T H C I L F P M O D N » KO

Ab 2017 soll für SexarbeiterInnen alles besser werden: Strenge Bordellregeln, Kondompflicht für Freier und Gesundheitsberatungen. Darauf hat sich die Große Koalition im neuen Prostitutionsgesetz geeinigt. Der Entwurf sieht vor, dass Sexarbeit deutlich stärker als zuvor reguliert wird. Doch wie sinnvoll ist das Gesetz? Was kann es zum Schutz vor Gewalt und Ausbeutung beitragen? Im Gespräch mit obacht_ erklärt Tanja Sommer, Vorstand des Berufsverbands für sexuelle und erotische Dienstleistungen, warum das geplante Gesetz bei Vertretern der Sex-Branche auf Empörung stößt – und wieso es im Widerspruch zur Arbeitsrealität von SexarbeiterInnen steht.

In welchen Bereichen der Sexarbeit waren Sie tätig?

Angefangen habe ich mit Massagen in Swingerclubs. Dann habe ich Escort ausprobiert und in Privatwohnungen gearbeitet. Auch in Laufhäusern habe ich Geld verdient. Ich war immer neugierig und wollte alles ausprobieren. Wieso sind Sie Sexarbeiterin geworden? Ich habe Geld gebraucht. Nach meiner Scheidung bin ich von meinem Heimatort weggezogen und hatte niemanden, der mich finanziell unterstützt hat. Mein Mann hat keinen Unterhalt bezahlt. Eine Freundin musste für mich bürgen, damit ich überhaupt eine Wohnung bekomme. Für mich war Prostitution die Möglichkeit, mich finanziell zu sanieren. Wie kontrollieren die Behörden, dass SexarbeiterInnen nicht ausgebeutet werden? Meiner Meinung nach können uns die Behörden durch Kontrolle nicht schützen. Das Ziel ist Prostitution, vor allem Armutsprostitution, einzudämmen. Mit den Verordnungen wird versucht, die Arbeitsplätze zu verknappen. Aber deswegen verschwinden die Mädels ja nicht. Wie ist derzeit die Situation von SexarbeiterInnen in Deutschland, die ihren Beruf ohne Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis ausführen? Sehr schlecht. Vor allem für diejenigen, die sich illegal in Deutschland aufhalten. Es ist richtig, dass viele Frauen den Job nicht gerne machen. Aber sie haben keine Alternative. Denn ganz ehrlich – man verdient in meinem Job nicht schlecht. Und die Migrantinnen wohnen praktisch kostenlos, weil ihre

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« ! N N I S N E N I E K T H C MA

kondompflicht macht keinen sinn arbeiten

Arbeits­wohnungen gleichzeitig der Ort sind, wo sie übernachten. Sie verdienen zwischen 1500 und 2000 Euro im Monat. Nein zur Kondompflicht – wie begründen Sie das? Kondompflicht macht keinen Sinn, weil nur Aufklärung hilft. Wie will man das kontrollieren? Es würde sich nur durch menschenverachtende Praktiken prüfen lassen. Die Polizei müsste während des Geschlechtsverkehrs das Zimmer stürmen und kontrollieren, ob was drüber ist oder nicht. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem Berufsleben mit der Polizei gemacht? Ich habe hilfsbereite Polizisten kennengelernt, die ihren Job sehr gut machen. Aber ich habe auch Traumatisches erlebt. Bei einer Razzia in einer Wohnung stürmten fünf bewaffnete Männer den Raum und brüllten mich an. Sie haben versucht, mich mit auf die Wache zu nehmen, zu fotografieren und meine Fingerabdrücke zu nehmen. Doch es ist nichts Ordnungswidriges passiert. Die Polizei darf in solchen Fällen keine Erkennungsmaßnahmen durchführen. Viele Kolleginnen wissen das nicht. Der Straßenstrich wird immer mehr an den Stadtrand verdrängt. Welche Folgen hat das für die SexarbeiterInnen? Es stellt eine Gefährdung für die Gesundheit und Sicherheit der SexarbeiterInnen dar. Die ausgewiesenen Gebiete sind oft schlecht zu erreichen. Es gibt keine Beleuchtung und keine Infrastruktur. Auch keine Toiletten oder Abfalleimer. Und nichts, wo man sich bei Regen unterstellen kann. Manchmal gibt es dort nicht einmal Handyempfang. Das ist verdammt gefährlich. Die SexarbeiterInnen sind dadurch praktisch schutzlos.

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Was könnte den SexarbeiterInnen dort Schutz bieten? Bodyguards. Oder eben Zuhälter, wenn man so will. Wenn die Gesellschaft den Schutz versagt, muss man selber für seinen Schutz sorgen. Und für den muss man logischerweise bezahlen. Der Paragraf 181a des Prostitutionsgesetzes verbietet Zuhälterei. Wie sieht es in der Realität aus? Ist die Zuhälterei weit verbreitet? Die Zuhälterei ist schon weit verbreitet. Der Begriff des Zuhälters wird aber zu oft als Diffamierung verwendet. Manche Berufe benötigen eine Infrastruktur. Ein Künstleragent, der von seinem Schützling 10 bis 15 Prozent für die Vermarktung nimmt, wird auch nicht als Zuhälter bezeichnet. Die Bundesländer fordern eine Anmeldepflicht für Prostitutionsstätten. Ihr Berufsverband kritisiert das. Warum? Von den kleinen Betrieben werden 90 Prozent wegfallen, weil die meisten keine Konzessionen bekommen werden. Die Auf­ lagen sind kaum zu erfüllen. Welche Auflagen? Zum Beispiel ist es unmöglich, in einer 2-Zimmer-Wohnung getrennte Toiletten einzubauen. Die nächste Hürde wäre, eine Bordellgenehmigung zu erhalten. Privatwohnungen als Arbeitsbereich leben davon, anonym und ohne rote Herzchen im Fenster im Wohngebiet zu existieren. Doch dort ist es unmöglich, eine Genehmigung zur gewerblichen Nutzung zu erhalten. Somit werden wahrscheinlich 90 Prozent der Arbeitsplätze wegfallen. Frau Sommer, vielen Dank für das Gespräch. __



angstpartei für deutschland

leben

Angstpartei für Deutschland

Die Alternative für Deutschland ist ein Chamäleon. Sie ändert ihr Gesicht nach Verlangen. Seit Gründung der Partei 2013 schüren Mitglieder und Befürworter Ängste. Ihre Funktionäre erkennen Ängste, bevor sie entstehen und machen sie salonfähig, um auf Wählerfang zu gehen. Als wirtschaftsliberale Professorenpartei startete die AfD mit dem Ziel, aus der Eurozone auszutreten. Die Angst vor der Volksinsolvenz festigte die Partei im deutschen Bewusstsein. Der Aufstieg der AfD gewann an Tempo, denn Angst steckt an. Drei Jahre später sind es neue Themen, die die Partei beschäftigt. Die Anhänger der AfD, die immer wieder als »besorgte Bürger« bezeichnet werden, befürchten den Untergang des Abendlandes. Journalisten, »linksgrünversiffte Gutmenschen«, Andersdenkende, Andersliebende und vor allem Asylsuchende müssen als Sündenböcke für die sozialen Missstände Deutschlands herhalten und werden zum Feindbild erklärt. Die AfD hat Angst vor der Überfremdung Deutschlands, vor Flüchtlingen und Journalisten. Doch ich habe Angst vor der AfD. Die Befürchtungen der Partei sind unbegründet. Wenn Deutschland einen Untergang erleidet, dann nicht weil Kriegsflüchtlinge in unserem Land Asyl suchen, nicht wegen der gender equality, und auch nicht weil jeder das Recht hat, zu lieben, wen er möchte. Sondern weil Flüchtlingshäuser brennen, die Pressefreiheit mit Füßen getreten wird und durch Reinheitsutopien Menschen systematisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Es wäre der soziale Untergang, bekäme diese Partei noch mehr Macht. Die Über-

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fremdungsängste sind hochgefährlich und könnten uns die Demokratie kosten. Denn AfD, Pegida und Co. haben keinen Respekt vor unserem Rechtsstaat und unserer Verfassung. Gewiss fahren etablierte Parteien seit Jahren eine gemeinsame politische Linie, gewiss wächst die Kluft zwischen arm und reich, und die Wirtschaftskraft unseres Landes steht schon lange über der Idee des Sozialstaates. Aus Protest die AfD zu wählen, ist jedoch der falsche Weg. Denn statt konstruktive Lösungen zu bieten, prangert die Partei die Missstände unseres Landes nur an und betreibt Hetze gegen Altparteien, Ausländer und Flüchtlinge. Wer wie ein trotziges Kind mit den Füßen stampft und »Lügenpresse« schreit, bietet statt einer neuen Perspektive nur eine extreme Vereinfachung der Probleme. konkret-Chefredakteur Hermann L. Gremliza beschreibt es passend: »Nazi bedeutet hier wie im folgenden, wo auch und vor allem Lebende gemeint sind, naturgemäß nicht Mitglieder der NSDAP, der SS, der SA, sondern Volkgenossinnen und Vollgenossen, denen Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe, Sprache, politischer oder sexueller Orientierung solche Angst machen, dass sie sich zu einem Verhalten animiert und in ihrer Eigenschaft als Deutsche auch legitimiert fühlen, wie es den Altvordern, dem netten Opa und der lieben Omama, in den Jahren 1933 ff. eigen war. Wer damals in Sorge um Arbeitsplatz und Häusle »Juda verrecke« rief, ruft heute zum Verbrennen und Totschießen von Flüchtlingen mit Mann und Maus, Weib und Kind.« Meine Angst gilt der AfD. __

text ciara mac gowan layout tim kirchner


leben

portrait

»probleme sind mein motor.« Corina Welke-Kirsten ist seit 1992 Geschäftsführerin des Instituts für Gesundheit und Soziales in Großröhrsdorf bei Dresden. Im Gespräch mit obacht_ spricht die diplomierte Medizin-Pädagogin, Dreifachmutter und Weltreisende über ihren beruflichen und persönlichen Weg, geprägt von Zweifeln, Kampfgeist und einschneidenden Erlebnissen. illustration trad burmawi

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probleme sind mein motor

»man hat es mir nicht zugetraut …« Die Tür öffnet sich. Ein kalter Luftzug zieht durch den Raum. Sonnenlicht scheint durch das Buntglasfenster und hinterlässt ein prächtiges Farbenspiel an der gegenüberliegenden Wand. Corina Welke-Kirsten schlägt ihre Hände über einer Kaffeetasse zusammen. Die dunklen gelockten Haare umspielen ihr braun gebranntes Gesicht. Mit geradem Rücken sitzt sie auf einer Holzbank. Ihre grünen Augen werfen einen konzentrierten Blick in meine Richtung. »Ich war Krankenschwester und habe im Pflegebereich gearbeitet«, beginnt sie zu erzählen. »Meine Klinik stand eines Tages vor einer großen Umstrukturierung. Die Geschäftsführung verfolgte im Zuge dessen den Plan der Rationalisierung. So verlor ich meinen Job. Neben der Pflege hatte ich jedoch zuvor an ärztlichen Weiterbildungen teilgenommen und mir so zusätzliches Wissen angeeignet. Nach meiner Entlassung entschloss ich mich, mit einem Kollegen eine eigene Schule für medizinische Fachberufe zu gründen. An Risiken hat es damals nicht gemangelt«, führt sie fort. An der Schule wollen Corina und ihr Kollege Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Altenpfleger und Masseure ausbilden. Die beiden gehen in Wartefristen, suchen Träger und Kliniken, die mit ihnen arbeiten wollen, stellen Lehrer ein und mieten Räume. Dann erkrankt Corinas Kollege und scheidet aus. Nachdenklich schaut die Medizin-Pädagogin, als sie die Gründungsgeschichte ihrer Schule umreißt. Sie wirkt ruhig und gesetzt. Eine Frau, der die Worte leicht über die Lippen gehen. »Mein Kollege war ein gestandener Pädagoge. Als er ausschied, sagten alle, dass ich es als Frau nicht schaffen würde, das Unternehmen allein zu führen. Aber ich habe die Firma zum Erfolg geführt entgegen aller Prognosen«, berichtet die Unternehmerin stolz. Corina macht weiter. Sie ist 30 Jahre alt und Mutter von drei Kindern, als sie sich selbstständig macht. Weil die Mietkosten der Schulräume stetig wachsen, nimmt sie einen Kredit in Höhe von 2,2 Millionen Euro auf und baut ein eigenes Schulgebäude. Sie verfolgt konsequent eine Linie, stellte fähiges Personal ein und verbündet sich mit Behörden und Kliniken. »Man hat es mir nicht zugetraut, und das war meine Herausforderung. Ich denke, meine innere Stimme und mein Instinkt sagen in bestimmten Situationen, das kannst du jetzt. Und dann erreiche ich auch das, wonach ich strebe.« Nach dem großen Erfolg der ersten Jahre fragen die Bewohner aus ihrem Umkreis plötzlich bei jeder Neuerung in der Gegend, ob sie daran mitgewirkt hätte. »Später hat man mir alles zugetraut«, schmunzelt die heute 54-Jährige. Sie schenkt sich einen weiteren Becher Kaffee

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ein. »Probleme sind mein Motor. Wenn es zu strukturell wird, befriedigt mich die Arbeit nicht mehr.« »… untergehen werde ich niemals« Corina wächst gemeinsam mit Mutter, Vater und ihren fünf Geschwistern in einem Haus auf. Schon als Kind lernt sie, was harte Arbeit und Organisation bedeuten. Jeder Tag in der Familie ist durchgeplant: Arbeit auf dem Feld, putzen, backen, Schularbeiten, spielen, waschen, Sandmann schauen, schlafen gehen. »So bin ich groß geworden. Mit viel Arbeit und Organisation. Vielleicht hat diese Erziehung dazu beigetragen, dass ich die Struktur nicht mag, sondern eher das Individuelle«, erzählt sie. Corina entwickelt sich zu einer mutigen und risikobereiten Person, die lernt, Herausforderungen anzunehmen und geschickt mit ihnen umzugehen. Zur Zeit der Kreditaufnahme für ihr Unternehmen entscheidet die Politik darüber, wie oft der Staat die Zuschüsse für die Ausbildung der Schüler bezahlt. Um ihre Firma aufzubauen, hat Corina ihren gesamten Besitz verpfändet. Für sie wäre es finanziell unmöglich, die Löhne ein halbes Jahr vorzustrecken. Sie weiß, dass sie Konkurs gehen wird, wenn die Politik zu ihrer Ungunst entscheidet. »Ich habe eine Woche lang nicht geschlafen und mir alles immer und immer wieder durch den Kopf gehen lassen. Doch dann habe ich einen neuen Gedanken gefasst. Was soll mir schon passieren? Im schlimmsten Fall ist meine Firma insolvent. Dann pfänden sie eben alles, was ich habe. Na und? Meine drei Kinder sind gesund. Ich bin gesund. Das ist alles, was zählt. Und ich bin eine gut ausgebildete Krankenschwester und Diplom-Medizinpädagogin. Ich kann überall hingehen und mein Glück neu versuchen.« Diese Erkenntnis gibt ihr fortan Sicherheit. »Egal was kommt, untergehen werde ich niemals«, denkt sich die Unternehmerin. Schließlich entscheidet sich die Politik dazu, die Zuschüsse vierteljährlich zu zahlen. Corina und ihre Firma sind gerettet. »von der arktis zur antarktis« Auch privat ist Corina ein risikobereiter Mensch. Motorradfahren, Klettern und Tauchen zählen zu ihren Hobbys. Vor einer Woche fuhr sie in der Nähe von West Palm Beach auf ’s Meer hinaus. Interaktives Tauchen mit Haien. Tigerhaie, Walhaie und Hammerhaie. »Interaktiv heißt, ich saß mittendrin. In 15 Metern Tiefe zwischen 20 bis 30 Haien neben der Futterkiste. Sie haben mich geschubst und ich habe sie berührt, kleine und große Haie. Das war sehr spannend«, erzählt die Dreifachmutter. »In solchen Situationen lernt man sich von einer

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neuen Seite kennen. Und ich versuche mich von so vielen Seiten wie möglich kennenzulernen.« Corina reist regelmäßig, überwiegend allein. Natur und Ferne reizen die zierliche Frau. »Ich bin nicht erfüllt von einer Gartenanlage, von Kochen und Fernsehschauen. Das ist für mich ein Grusel«, witzelt die Unternehmerin. Sie ist eher ein abenteuerlustiger Mensch. Arktis, Antarktis, Papua-Neuguinea, die Galapagosinseln, Indonesien, Thailand, Ägypten, Norwegen und Russland hat Corina bereits besucht. In Sibirien ist sie unter einer 70 Zentimeter dicken Eisschicht hindurchgetaucht. Eine ihrer aufregendsten Erlebnisse, wie sie berichtet. »Das ist eine Erfahrung, die man nicht vergisst«, erzählt sie voller Lebensfreude. andere wege Corina erhebt sich und schaut aus dem Fenster. Hügel und Täler spiegeln sich im Wasser des anliegenden Steinbruchs. Ein ernster Blick huscht durch ihre Augenlider mit dem tätowierten Lidstrich. Ihre Miene ist entschlossen, ihre Haltung offen. Dann beginnt sie über das dunkle Kapitel ihres Lebens zu erzählen. »Viele Jahre lief alles nach Plan. Sowohl privat, als auch beruflich war ich im Glücksbad der Gefühle. Dann kam wie aus dem Nichts meine Krankheit«, erzählt sie. Ende 2013 ertastet Corina einen Knoten an ihrem Körper. »Krebs«, so lautet die Diagnose. Sie begibt sich in ärztliche Behandlung. Es folgen mehrere Operationen und eine Chemotherapie. Diese bricht sie jedoch plötzlich ab. »Während der Chemo habe ich gemerkt, dass zu viel Gift in meinen Körper gepumpt wird. Ich habe gespürt, dass diese Therapie mich umbringen würde.« Corina vertraut fortan nur noch auf Naturheilkunde: »Ich habe lange gebraucht, um diesen Schritt zu gehen. Ich war mir nicht sicher, ob die Naturheilkunde helfen würde. Diese Ungewissheit hat mir Angst bereitet.« Heute gilt die Unternehmerin und Dreifachmutter als geheilt. Und sie ist frei von negativen Gedanken. »Wenn man immer wieder an den Krebs denkt, beschwört man seine Rückkehr herauf. Das ist eine selbstbestimmte Prophezeiung«, erklärt Corina. Sie öffnet die Tür und tritt hinaus auf die Terrasse. Ihre Schritte sind leichtfüßig und zügig. »Ich bin jetzt 54, kann ich bis 64 größere Sachen unternehmen? Kann ich es bis 74? Ich weiß es nicht, keiner weiß es«, sagt sie. Ihre Worte hauchen weißen Nebel in die kalte Luft. Draußen herrschen Minusgrade. Schneeflocken glitzern in der Sonne. »Ich denke, Sicherheit kann man sich nur selbst geben, indem man sich den Herausforderungen des Lebens stellt. Und Wege findet, sie zu meistern und auf seinen Instinkt vertraut.« __

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drei gründe, warum du selber kochen solltest

drei gründe, weshalb du selber kochen solltest

vertrauen Das Vertrauen in die Lebensmittelindustrie schwindet von Tag zu Tag. Spätestens seit dem Pferdefleischskandal sehen wir ein, dass wir uns nur noch auf selbstgemachtes Essen verlassen können. Selbst bei Bio-Siegeln solltest du aufpassen, denn nicht allen ist zu trauen. Versuche weitestgehend, auf industriell verarbeitete Lebensmittel zu verzichten und koche dein Essen selber.

gesundheit Azorubin, Erythrit und Sorbit klingen nach Speisen, die hippe Prenzlauer-Berg-Muttis ihren Kindern zum Kosten geben. In Wahrheit sind es Zusatzstoffe, die sich unter anderem in deinem Essen befinden. Mal zur besseren Optik, mal zur

irish soda bread mit pesto, brie und pflaumen-apfel-chili-chutney

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längeren Haltbarkeit oder zur Geschmacksverstärkung. Viele Zusatzstoffe sind für uns unbedenklich, bei einigen sollte man jedoch achtsam sein. Auf der sicheren Seite bist du erst, wenn du die Zutaten deiner Mahlzeit selbst bestimmst und auf Zusatzstoffe verzichtest.

geschmack Ob Omas Rinderroulade oder das selbstgemachte Pesto: Es bereitet nicht nur Freude, selbst zu kochen, sondern ist meist auch günstiger. Wie gern haben wir den Duft von selbst gebackenem Brot oder den Geschmack von frischem Obst und tollen Gewürzen im Mund? Das folgende Rezept ist eine leckere Kleinigkeit für zwischendurch und ist auch für Kochmuffel machbar.

3 personen

2 stunden

irish soda bread Heize deinen Ofen auf 200 Grad vor. Gebe beide Mehlsorten, Natron und Salz in eine große Schüssel und verrühre die Zutaten. Bilde eine Mulde in der Mitte der Mischung und gieße langsam die Buttermilch hinein. Knete nun die Zutaten, bis sie einen feuchten Teig ergeben. Lege den Teig auf eine mit Mehl bestäubte Arbeitsplatte und forme ihn zu einem runden Brot. Gib den Teig auf ein Backblech und schneide ein Kreuz in die Oberfläche des Teigs. Schiebe das Brot anschließend für ungefähr 30 Minuten in den Ofen.

pflaumen-apfel-chili-chutney Schneide Zwiebel, Chilischoten, Ingwer, Äpfel und Pflaumen in kleine Stücke. Dünste die Zwiebel, die Chilischoten und den Ingwer an und bestreue das Gemüse mit Salz. Gebe nun die Äpfel, die Pflaumen und den Zucker hinzu. Lasse die Zutaten anschließend fünf Minuten lang köcheln. Übergieße die Zutaten mit 120 ml Weißweinessig und rühre sie kräftig um. Koche die Mischung bei niedriger Hitze ungefähr eine Stunde lang, bis sie eine feste Konsistenz erreicht.

pesto verde Dünste die Pinienkerne in einer Pfanne an und lasse sie anschließend abkühlen. Hacke den Knoblauch klein. Gib nun alle Zutaten in eine Schüssel und püriere sie mit einem Pürierstab zu einer Paste. Toaste und bestreiche eine Scheibe des Irish Soda Bread mit deinem selbstgemachten Pesto. Lege zwei Scheiben Brie auf das Brot und gebe es für ungefähr fünf Minuten in den Ofen, bis der Käse geschmolzen ist. Streiche etwas von deinem Pflaumen-Apfel-Chili-Chutney auf den Käse.

170 g Mehl 170 g Weizenmehl ½ Teelöffel Natron ½ Teelöffel Salz 290 ml Buttermilch

5 Pflaumen 5 Äpfel 2 Chilis 25 g Ingwer 1∕2 Zwiebel 125 g brauner Zucker 60 ml Weißweinessig

2 Bund Basilikum 3 Esslöffel Pinienkerne 4 Knoblauchzehen 1 Teelöffel Meersalz 90 g Parmesan 160 ml natives Olivenöl 50 g Frischkäse Pfeffer

Lass es dir schmecken. _ 17

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wie gefährlich ist die pille?

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wie gefährlich ist die pille? Was wissen wir eigentlich über die Risiken unseres beliebtesten Verhütungsmittels? Und ist die jahrelange Einnahme der Anti-Baby-Pille vielleicht bedenklicher, als wir annehmen? Drei Meinungen.

Prof. Dr. Gerd Glaeske ist deutscher Pharmakologe. Er studierte Pharmazie in Aachen und Hamburg. 2015 erschien der »Pillen-Report« unter seinem Namen. Aktuell ist er Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen. Felicitas Rohrer wurde mit Mitte 20 die Pille »Yasminelle« von Bayer verschrieben. Ein halbes Jahr nach der ersten Einnahme erlitt sie eine beidseitige Lungenembolie. Die Symptome – Atemnot und ständige Erschöpfung – wurden vom Arzt fälschlicherweise als Rippenfellentzündung diagnostiziert. Im Juli 2009 kam es zu einem Zusammenbruch, im Krankenhaus dann zu Herz- und Atemstillstand. Durch eine Notoperation konnte sie gerettet werden. Heute leidet Rohrer an einer posttraumatischen Belastungsstörung und muss Medikamente einnehmen, die die Blutgerinnung hemmen und unter denen sie nicht schwanger werden darf. Im November letzten Jahres zog die heute 31-Jährige deshalb gegen den Bayer-Konzern vor Gericht. Dr. Maria-M. Weinand arbeitet seit 29 Jahren im Medizinischen Versorgungszentrum im niedersächsischen Uelzen. Sie ist Ärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe.

Prof. Dr. Gerd Glaeske

Frau Dr. Maria-M. Weinand

sind nebenwirkungen für uns normal geworden? Im Alter von 19 Jahren nehmen drei von vier Frauen die Pille, wie Auswertungen von Daten der Techniker Krankenkasse zeigen. Im weiblichen Freundeskreis wird deshalb nicht selten über das Verhütungsmittel gesprochen. Ein Großteil aller Frauen hat, zumindest in den ersten Monaten der Einnahme, Nebenwirkungen verschiedenster Art. Stimmungsschwankungen, Gewichtszunahme, Schwindel. Die Häufigkeit der Erscheinungen lässt den Eindruck erwecken, dass das irgendwie »dazugehört« und dass den Frauen im Gegenzug eine zuverlässige Verhütung geboten wird. In ihrer Anwendung ist die Pille zudem recht angenehm, vorausgesetzt man hält sich daran, sie täglich zur gleichen Zeit einzunehmen. Anders als beim Diaphragma und Kondom gibt es keine störende Unterbrechung vor dem Sex. Und die Frau trägt, anders als bei der Spirale, keinen dauerhaften Fremdkörper in sich. Lässt man die Pillenpause bewusst aus, kann die Anwenderin außerdem eine Menstruation verschieben – angenehm zum Beispiel beim Strandurlaub. Selten kommt jedoch zur Sprache, dass die Anti-Baby-Pille ein Medikament ist, das in drei von vier Wochen des Monats eingenommen wird – und das von gesunden Frauen, oft jahrelang. Das erste Rezept wird nicht selten in der frühen Pubertät ausgestellt. In diesem Fall nicht zur Verhütung. »Positive Nebeneffekte« sollen auch junge Kunden anwerben. Bessere Haut, größere Brüste und weniger Akne. Einige Arzneimittelhersteller verkaufen die Pille regelrecht als Lifestyle-Produkt.

Felicitas Rohrer

wer trägt verantwortung für die sicherheit der frau? Bei der Wahl des Verhütungsmittels vertrauen Frauen auf den Rat ihres Gynäkologen. Was untersucht ein Frauenarzt vor Verschreibung der Pille? »Bei der Wahl der Verhütungsmethode wird zunächst der Wunsch der Frau berücksichtigt. Dazu kommt natürlich der medizinische Aspekt, besonders wenn es sich um Risikopatienten handelt«, so die Frauenärztin Maria-M. Weinand. Eine Risikopatientin war Felicitas Rohrer nicht. Sie war damals Mitte 20, schlank, sportlich, gesund, rauchte nicht, trank nur sehr wenig. Thrombose-Erkrankungen in der Familie waren nicht bekannt.

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text alina boie layout bastian ötken


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interview

»Meine Frauenärztin begründete die Verschreibung damit, dass diese Pille der vierten Generation relativ neu und niedrig dosiert sei, also perfekt für mich als Erstanwenderin. Außerdem würde ich damit Gewicht verlieren, obwohl ich überhaupt nicht übergewichtig war. Und sie würde das Hautund Haarbild verbessern«, erzählt Rohrer. Rohrers Gynäkologin überreichte ihr die erste Pillenpackung zusammen mit einer kleinen Tasche und einem Schminkspiegel. »Die kleinen Präsente sind unbedeutend und von geringem Wert. Da fährt keine Frau drauf ab«, kommentiert die Frauenärztin Weinand. Der Pharmakologe Gerd Glaeske weist darauf hin, dass es »nicht verboten sei«, die Pille mit »übertriebenen Hinweisen auf Beauty, Wellness und Lifestyle« zu bewerben. »Es darf allerdings nicht der Name der jeweiligen Pille genannt werden. Schminkspiegel und Täschchen in Arztpraxen mitzugeben ist hingegen erlaubt. So etwas kann nur von den Ärztinnen und Ärzten selbst unterbunden werden.« höheres risiko bei neuen pillen Die Pille »Yasminelle« aus dem Hause Bayer ist eine sogenannte Pille der vierten Generation und enthält das Hormon Drospirenon. »Die empfehlenswerten Pillen enthalten niedrig dosierte und bewährte Hormone«, meint der Pharmakologe Glaeske. »Neuere Gestagene wie Drospirenon sind mit einem erhöhten Risiko für Thrombosen und Embolien verbunden. Bei 10.000 Frauen, die die Pille ein Jahr lang zu sich nehmen, gibt es statt sechs bis sieben etwa zwölf bis vierzehn Thrombosefälle.« Rauchen erhöhe das Risiko für Blutgerinsel noch einmal um das zwei- bis dreifache. »Im Beipackzettel stand davon nichts, obwohl diese Erkenntnis damals schon vorlag«, sagt Rohrer. Nicht alle Pillen sind für Erstanwenderinnen geeignet. »Ich verordne hauptsächlich Pillen der zweiten Generation, weil sie laut Datenlage am wenigsten Nebenwirkungen aufweisen und die Frauen damit zufrieden sind«, erklärt Frauenärztin Weinand. Trotz eines gesunden Lebensstils erlitt Felicitas Rohrer acht Monate nach Beginn der Pilleneinnahme eine beidseitige Lungenembolie. »Vor der ersten Anwendung habe ich mir den Beipackzettel durchgelesen. Hätte dort etwas von dem erhöhten Thrombose-Risiko gestanden, hätte ich die Pille nicht genommen«, sagt sie. Deshalb verklagte Rohrer den Bayer-Konzern. Seit November vergangenen Jahres läuft der Prozess. In den USA zahlte Bayer bereits hohe Summen an Geschädigte. In Deutschland ist Rohrers Fall hingegen der erste seiner Art. nebenwirkungen transparent machen Ist die Marktdominanz der Pillen mit höherem Thrombose-Risiko ein Beispiel dafür, dass wir in Deutschland Risiken nicht ausreichend kommunizieren? »Die Risikokommunikation wird nach wie vor von den Herstellern dominiert. Wir brauchen dringend eine verstärkte Gegenöffentlichkeit, mit der diese Dominanz gebrochen wird«, so Glaeske. »Wir bemühen uns schon länger als 20 Jahre darum, aber leider kommt davon zu wenig in der Öffentlichkeit an, weil vor allem den Ärztinnen und Ärzten ein hohes Vertrauen entgegengebracht wird. Dieses Vertrauen ist auch oftmals berechtigt, im Fall der Pille aus meiner Sicht aber nur bedingt, da auf dem Markt dreiviertel aller Verordnungen auf die neuen Pillen entfallen. Eine allgemein verständliche Risikokommunikation, die neutral und unabhängig ist, existiert in Deutschland nur bedingt«, ergänzt der Pharmakologe. »Ich bin sicher, dass Ärztinnen und Ärzte wissenschaftliche Fakten zur Kenntnis nehmen«, sagt Weinand dazu. Rohrer rät Frauen, die über eine Verhütung mit der Pille nachdenken, sich über Risiken ausreichend zu informieren. »Neu bedeutet nicht automatisch besser«, betont sie. __ illustration annalena weiberg


sicher ist, dass nichts sicher ist

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sicher ist, dass nichts sicher ist Amogharatna, was auf Sanskrit soviel wie »erfolgreiches Juwel« oder »nicht aufzuhaltendes Juwel« bedeutet, ist seit 1997 Ordensmitglied der buddhistischen TriratnaGemeinschaft. Seit 2000 wohnt der gebürtige Engländer in Berlin und lehrt Meditation und Buddhismus am Buddhistischen Tor in Kreuzberg. Der Glaube ist für den 59-Jährigen der Mittelpunkt seines Lebens. Mithilfe der Lehre des Buddha versucht er, den Menschen die Augen zu öffnen und ihnen den Sinn ihres Daseins zu erklären. Im Interview mit obacht_ spricht Amogharatna über seinen Weg zum Buddhismus, die Facetten des irdischen Lebens und die Ungewissheit der Zukunft.

Wie sind Sie zum Buddhismus gekommen? Im Alter von etwa 34 Jahren habe ich angefangen, mir viele Gedanken über das irdische Dasein zu machen. Ich befand mich auf der Suche nach einem tieferen Sinn des Lebens. Ich wollte wissen, wozu ich auf Erden bin und was ich bewirken kann. Fast jeder Mensch stellt sich irgendwann einmal die Frage: »Wieso lebe ich?«. Ich habe auf verschiedene Art und Weise versucht, den Sinn des Lebens zu ergründen. Ich habe in Beziehungen, in der Arbeit, im Alkohol und Drogen nach der Erfüllung des irdischen Daseins gesucht. Doch all diese Dinge führten mich zu keiner Antwort. Erst als ich mich mit Religion beschäftigte und auf den Buddhismus stieß, konnte ich einen tieferen Sinn in meinem Leben erkennen. Wieso haben Sie sich für die Triratna-Gemeinschaft entschieden? Als ich noch im englischen Norwich lebte, war die Triratna-Gemeinschaft die einzige buddhistische Gemeinschaft in meiner Region. Ich habe die Gemeinde an einem Tag der offenen Tür im Jahr 1986 besucht. Damals fand ich sie uninteressant. Je mehr ich mich jedoch mit der Religion und dem Glauben beschäftigte, desto spannender fand ich die Triratna-Gemeinschaft. Fünf Jahre später bin ich in die Gemeinde eingetreten, weil ich gemerkt habe, dass ich reif für den Buddhismus war. Das Wort »Triratna« steht für »Drei Juwelen«. Im Buddhismus gibt es einen Satz, der diese »Drei Juwelen« beschreibt. Er heißt: »Mit Körper, Rede und Geist nehmen sie Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha«. Können Sie mir die Bedeutung dieses Satzes erklären? Das Ziel aller Buddhisten ist es, so zu sein wie Buddha selbst. Er symbolisiert das höchste Potential im Menschen, nach dem alle Buddhisten streben. Der Dharma ist der Weg, der dorthin führt. Und der Sangha ist die spirituelle Gemeinschaft.

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text keshia luna biedermann layout xenia katharina kapp


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interview

Was ist charakteristisch für die Triratna-Gemeinschaft? Inwiefern unterscheiden sich Ihre Ansichten und Visionen von den Ansichten der Mitglieder anderer buddhistischer Gemeinden? Wir versuchen, uns bewusst an die westlichen Bedingungen anzupassen. Alle Buddhisten haben ihre Wurzeln in Buddha, unserem Lehrer. Dahingehend sind wir traditionell. Wir erkennen jedoch im Vergleich zu anderen Gemeinschaften alle Formen des Buddhismus an und versuchen, auf den gemeinsamen Ursprung aller Buddhisten zurückzukehren. Darüber hinaus nehmen wir aber auch westliche Traditionen an, die für uns hilfreich sein können. Selbstverständlich mit einem kritischen Blick. Triratna ist also eine Gemeinde, die westliche Einflüsse zulässt. Sehen Sie darin die Zukunft des Buddhismus? Das ist eine interessante Frage (lächelt verschmitzt). Sicherlich nicht die gesamte Zukunft, aber hoffentlich ein Teil davon. Keine neue religiöse Bewegung ist sicher. Wir wissen nicht, wohin unser Weg führt. Ich glaube, dass Triratna etwas zum Buddhismus in der modernen Welt beizutragen hat. Wir haben mittlerweile genau so viele indische wie europäische Gemeinschaftsmitglieder und kümmern uns bewusst um die Zusammenführung. Wir passen uns eben an. Triratna bleibt trotzdem ein Experiment, wie alle neuen Religionen. Aber wir haben eine gute Chance, uns zu etablieren, denke ich. Der Buddhismus ist unglaublich vielfältig und wir geben dieser Vielfalt eine neue Anlaufstelle.

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das karma-gesetz ist ein naturgesetz auf spiritueller ebene.

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Sie haben Ihre Zuflucht im Glauben an Buddha gefunden. Gibt Ihnen diese Zuflucht Sicherheit? Das würde ich nicht sagen, weil es letztendlich keine Sicherheit im Leben gibt. Das gehört zur Kernlehre von Buddha. Alles ist vergänglich. Sicher ist nur, dass man sterben muss. Aber wann und wie man stirbt, ist genau so unsicher, wie die Vorahnung auf das, was uns hier auf Erden erwartet. Zufluchtnehmen ist etwas Aktives, kein Zustand, so wie Sicherheit. Ich würde sogar sagen, dass Sicherheit ein Traum ist. Vor einiger

text keshia luna biedermann layout xenia katharina kapp

Zeit wollte mir meine Bank keine Kreditkarte geben, da ich ihrer Meinung nach keine finanzielle Absicherung nachweisen konnte. Nach einiger Zeit bewilligten sie meinen Antrag doch, jedoch mit der Bedingung, eine Rentenversicherung abzuschließen. Ich erklärte den Bankmitarbeitern, dass meine Versicherung mein Karma sei und dass ich mein Leben nicht mit einer Rentenversicherung absichern könne. Das haben sie jedoch nicht verstanden.

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religion bietet den menschen eine art »innere sicherheit«

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Jeder Mensch braucht eine gewisse Sicherheit im Leben. Religion bietet den Menschen eine Art »innere Sicherheit«. Wie steht man im Buddhismus dazu? Im Buddhismus gilt das Karma-Gesetz. Dieses Gesetz besagt, dass man nur dann ein glückliches und sicheres Leben führt, wenn man mit einem positiven und reinen Geist sowie positiver Motivation handelt. In diesem Sinne könnte man sagen, dass der Buddhismus eine Orientierungshilfe auf der Suche nach Sicherheit ist. Im Leben besteht alles aus Bedingungen, die wir beeinflussen können, und dies ist der Bereich von Sicherheit, den wir haben. Wir können uns also darauf fokussieren, unser Tun und Handeln selbst zu lenken und dafür verantwortlich zu sein. Gleichzeitig müssen wir aber auch erkennen, dass es Dinge im Leben gibt, die wir nicht beeinflussen können. Krankheiten oder Todesfälle von geliebten Personen gehören dazu. Aber auch hier geht es wieder darum, wie wir damit umgehen. Wichtig ist, Verantwortung für sich selbst zu tragen und nicht die Opferrolle einzunehmen. Diese Lehre ist der wichtigste Grund, wieso ich mich zum Buddhismus hingezogen fühle. Amogharatna, vielen Dank für das Gespräch. __

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bitte kein kulturnarzissmus

bitte kein kultur narziss mus

Rückblick: Die Polit-Talkrunde »Ausnahmezustand Neuzeit« geht in ihre zweite Runde. Im Januar 2016 möchte der Dozent und Moderator des Formats Jens Hirt von seinen Gästen wissen, welche Gesellschaft wir Deutschen haben wollen.Vor dem Hintergrund der nicht abreißenden Flüchtlingskrise und der immer stärker werdenden Migration in Deutschland steht nicht nur die Regierung unter Zugzwang, sondern gerade die Gesellschaft vor einem großen Wandel und der Frage, worüber wir Deutsche uns künftig definieren. Die EU-Staaten schließen ihre Grenzen, das Schengen-Abkommen steht vor dem Aus, die europäische Wertegemeinschaft zerfällt – Hirt möchte wissen: Steht unsere Gemeinschaft vor einer neuen Chance oder einer großen Gefahr? Die Studierenden sind sich sicher: Wir stehen vor einer Herausforderung, die Perspektiven birgt. Ein Beispiel bietet die Vermittlung von Flüchtlingen an Privathaushalte. »Solche Modelle fördern einerseits die Integration der Asylanten und mindern gleichzeitig unsere Vorurteile«, meint ein Gast. Schnell entwickelt sich innerhalb der kleinen Runde ein intensiver Diskurs, der nicht nur den

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Umgang mit den Flüchtlingen und die Vorfälle von Köln beinhaltet, sondern auch neue Ausblicke in die Zukunft liefert. So betont ein Student, dass jeder anerkannte Asylant einen Arbeitsplatz bekommen müsse, um einerseits die Kriminalität zu senken und gleichzeitig den Mangel an Fachkräften in Deutschland zu beseitigen. Doch wo bleiben wir als Wertegemeinschaft? Bei dieser Frage spalten sich die Gemüter. »Wenn wir unseren Wohlstand und unsere Wettbewerbsfähigkeit behalten wollen, darf Deutschland kein Sozialpool für Wirtschaftsflüchtlinge sein«, sinniert ein Gast. Ein anderer hingegen mahnt, endlich den deutschen Kulturnarzissmus abzuschaffen. Die klugen Ideen und wertvollen Forderungen steigern die Notwendigkeit der Talk-Runde. Der politische Austausch geht weiter. »Ausnahmezustand Neuzeit« wird auch im kommenden Semester regelmäßig stattfinden. Ideen für das nächste Gespräch gerne an redaktion@obacht-magazin.de __

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aufwachsen unter rotlichtbestrahlung Heute unterrichtet Jasper A. Friedrich Unternehmenskommunikation an der privaten Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin. Doch früher war er Teil der ostdeutschen Punkszene und gründete eine Underground-Musikzeitung. Im Gespräch mit obacht_ erinnert er sich an das Leben als Jugendlicher in der DDR – und an seine Erfahrungen mit der Stasi.

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aufgewachsen unter rotlichtbestrahlung

Meistens sieht man Friedrich mit einem Lächeln auf den Lippen in den Gängen der Hochschule. Oder mit einer selbstgedrehten Zigarette zwischen den Fingern vor dem Backsteingebäude in Berlin-Wedding. Er trägt eine Brille und fast immer Jackett und Hemd. Seine Leipziger Herkunft offenbart er mit einem starken Akzent. Die meisten Studenten können sich wohl kaum vorstellen, dass er einmal in der Punkszene der DDR mitgemischt hat. kindheit hinter der mauer Vier Jahre nach Mauerbau wurde Jasper André Friedrich in Leipzig geboren. Seine Mutter spielte eine wichtige Rolle bei seinem Werdegang. Sie weigerte sich, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) beizutreten. »Meine Mutter war prägend, sie war Deutschlehrerin. Von ihr habe ich gelernt, dass es unklug ist, sich zeitig auf Organisationen einzulassen.« Friedrichs Familie hatte zuvor traumatische Erfahrungen in der NS-Zeit gemacht. Im Dritten Reich musste seine Mutter dem Bund der Deutschen Mädchen beitreten. Sein Onkel war »wegen Verunglimpfung von Adolf Hitler« für drei Jahre im KZ Dachau inhaftiert. Mit 13 Jahren tritt Friedrich einer evangelischen Jugendgruppe bei, um der Mitgliedschaft bei der Freien Sozialistischen Jugend (FDJ) zu entgehen. »Ich und ein anderer Junge waren die Einzigen in der Klassenstufe, die nicht in die FDJ gegangen sind.« In der »Jungen Gemeinde« spielte Friedrich Gitarre und trat auf Kirchenfeiern auf. Von sich selber sagt er, nicht gläubig zu sein. »Ich war nie religiös und bin es immer noch nicht.« Trotzdem sollte er den christlichen Glauben später vortäuschen, um der Einberufung zu den Grenztruppen zu entgehen. Aufgrund seines christlichen Glaubens könne er nicht auf Menschen schießen, so Friedrich. Deshalb diente er nicht an der Mauergrenze, sondern bei den Bausoldaten. Dort musste er beim Aufbau der Autobahnen helfen. osten und westen »Die DDR hat mir als Kind schon nicht viel bedeutet, ich war eher westlich orientiert. Das ging so weit, dass wir aus Müllcontainern vor den Intershops die Westverpackungen rausgesucht und im Zimmer aufgestellt haben.« Schon während seiner Kindheit fiel ihm die Trennung zwischen Ost- und Westdeutschland auf, schon alleine, weil er keine Westverwandten hatte. »Der Westen wurde immer mit tollen Konsumgütern verbunden. Schokolade, Kaffee, Spielzeug. Für mich aber bedeutete das: Mein Cousin mit Westverwandten hatte 30 Matchboxautos, ich hatte eins.« Friedrich verspürte schon als Kind ein Unbehagen. »Das Eingeschlossensein, das war immer ein Thema. Man war sich dessen bewusst, die Mauer war immer präsent.« Er war künstlerisch veranlagt, las gern und interessierte sich für Musik. Um angesagte Bücher oder Musik zu besorgen, fuhr er nach Ungarn. »Das war eigentlich das Schlimmste an der Mauer, dass wir nicht die Musik kaufen konnten, die wir wollten.« Auf dem Schwarzmarkt musste man laut Friedrich für einige Schallplatten bis zu 100 DDR-Mark hinlegen. »Manchmal sind wir nur wegen der Platten nach Ungarn gefahren.« Auf die Frage, ob er jemals über die Flucht in den Westen nachgedacht habe, antwortet er: »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, in den Westen zu gehen. Aber ich hatte einerseits die

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Hoffnung, dass sich etwas ändert. Auch waren mir meine sozialen Kontakte in der Heimat mehr wert als die Verlockungen des Westens.« sozialismus als schulfach An der Polytechnischen Oberschule war im Klassenbuch hinter Friedrichs Namen ein »I« vermerkt. Das »I« stand für »Intelligenz«, da er aus einer Akademikerfamilie stammte. Die restlichen Schüler waren aufgeteilt in »A« für Arbeiter und »B« für Bauern. Diese Klassifizierung war eine übliche Praxis in der DDR. »Es wurden nur zwei bis drei Schüler der Klasse zum Abitur zugelassen. Dabei hatten die, welche sich für das Militär verpflichteten oder aus einem Arbeiter- und Bauernhaushalt stammten, einen Vorteil.« Friedrich wurde trotz sehr guter Noten nicht zum Abitur zugelassen, auch weil er bloß eine drei in Staatsbürgerkunde hatte. In diesem Fach wurden die Schüler in die politische Ökonomie des Sozialismus, Marxistische Philosophie und den wissenschaftlichen Sozialismus eingeführt. Ohne Abitur begann Friedrich nach der Schule eine Tischlerlehre. Damals war er sich der Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit noch nicht bewusst »Dass es die Stasi gab, hat man als Jugendlicher nicht mitbekommen. Was man bemerkt hat, war die permanente Indoktrination. Rotlichtbestrahlung haben wir sie genannt. Dafür gab es in der Schule völlig absurde Fächer wie Zivilverteidigung oder Staatsbürgerkunde. «Den ersten Kontakt mit der Stasi hatte Friedrich bei seiner Jugendweihe: »Ein Bruder von einem Schulkameraden hat uns stolz seinen Stasi-Ausweis gezeigt, um Eindruck zu schinden.«

mit langen haaren, fleischer­ hemd, ausgewaschenen jeans, »jesuslatschen« und parka zählte sich friedrich zu den »bluesern« einführung in die punkszene Zu seiner Lehre erschien Friedrich anfangs oft barfuß. Mit langen Haaren, Fleischerhemd, ausgewaschenen Jeans, »Jesuslatschen« und Parka zählte sich Jasper Friedrich zu den »Bluesern«. Die Blueser-Bewegung verstand sich als Gegenpol zum jugendlichen Mainstream in der DDR. Wie die Mehrzahl der Anhänger vertrat auch Friedrich einen offenen Antimilitarismus. Dafür nähte man sich zum Beispiel selbstgemachte Aufnäher mit dem Spruch »Schwerter zu Pflugscharen« auf die Jacke. Während der Tischlerlehre lernte Friedrich seine Freunde Thomas Stephan und Jürgen Gutjahr kennen. Gutjahr nannte sich »Chaos«, war in der legendären Leipziger Punkband

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Wutanfall Sänger und führte Friedrich und Stephan in die Punkszene ein. »Da war eine ganz spezielle Attitüde dahinter, er war gegen alles.« Anstatt zur Arbeit zu gehen, traf sich Friedrich mit Freunden in Kneipen und führte Debatten über Punkmusik und Heavy Metal. Dank »Chaos« entdeckte Friedrich Punkplatten aus dem Westen, zum Beispiel »Monarchie und Alltag« der Band Fehlfarben. Friedrich schnitt sich die Haare ab. Dann gründete er mit Thomas Stephan als Schlagzeuger und einem weiteren Freund die Band TASS (später: Die Zucht und Die Art). Friedrich übernahm Gitarre, Gesang und schrieb Texte. »Wir haben uns selber einen Bass gebaut aus Holz, die Anleitung hatten wir aus einem Katalog. Der klang dann auch dementsprechend. Für das Schlagzeug hatten wir ein Kehrblech als Becken und einen Papierkorb als Basedrum. Das war schon sehr skurril, aber Not macht erfinderisch.« Auch alles andere war improvisiert, erzählt Friedrich. »Wir haben in besetzten Wohnungen mit einem Radioverstärker geprobt.« Die Musik beschreibt er als »düstere Post-Punk-Gruft-Mugge«.

anstatt zur arbeit zu gehen, traf sich friedrich mit freunden in knei­ pen und führte debatten über punkmusik und heavy metal musik mit antisozialistischem charakter »Zu DDR-Zeiten brauchte man eine Einstufung, um als Band spielen zu dürfen. Wir wurden am Anfang nicht zugelassen.« Größere Auftritte wurden der Band vorerst verwehrt. Das hinderte sie aber nicht daran, trotzdem aufzutreten. »Bei kleinen Eröffnungen oder auf Partys in besetzten Häusern haben wir uns ein Publikum erspielt. Da kam manchmal die Polizei mit Ellos (ostdeutscher Begriff für die Robur LO–LKWs, mit denen verhaftete Demonstranten abgeholt wurden – Anm. d. Red.) und hat alle eingesammelt.« Um auf den großen Bühnen spielen zu können, ließen sie sich dann doch prüfen. »Da gab es eine Kommission, irgendwelche uralten, furchtbaren Kulturfunktionäre. Die saßen in einem großen Saal und man musste vorher die Texte abgeben. Dann haben die sich die Musik angehört und geguckt, wie man sich auf der Bühne präsentiert. Die haben uns tatsächlich empfohlen, aus dem Club der Jungen Poeten von der FDJ jemanden zu suchen, der bessere Texte schreibt.« inoffizielle mitarbeiter in der szene Die Punkszene der DDR wurde von Anfang an von der Stasi überwacht. IM‘s, sogenannte »Inoffizielle Mitarbeiter« der Stasi, mischten sich unter die Szene. »Ich fand das im Nachhinein sehr eklatant, da zwei Kernprotagonisten der Szene von Anfang an bei der Stasi waren. Die haben durch ihre Aussagen viele Leute in den Knast gebracht.« In der Punkszene war man

text liesa alker layout leyla demirhan

sich immer bewusst, dass es Spitzel gab. Doch wer genau für die Stasi arbeitete, war nicht bekannt. »Wir hatten nur Vermutungen, waren uns aber nie ganz sicher.« Auch Friedrich erhielt Angebote von der Stasi, die er stets ablehnte. »Ich glaube aber, dass ich nie eine wichtige Person für die Stasi war. Unsere Band hat sich immer in das Artifizielle geflüchtet. Wir protestierten auf eine subtile und künstlerische Art. Wenn ich eine typische Musiker-Attitüde hatte, dann habe ich das auf der Bühne ausgelebt.« überwachungsstaat Nach seiner Lehre ging Friedrich zuerst als Tischler zum Theater, danach zu den Bausoldaten. »Weil ich studieren wollte, musste ich in die Armee.« Die 18 Monate bei der Armee von 1983 bis 1985 beschreibt Friedrich als sehr schlimm. »Danach hatte ich mit dem System völlig abgeschlossen.« Nach dem Grundwehrdienst begann Friedrich ein Studium im Bauwesen. Doch »wegen der andauernden Rotlichtbestrahlung« brach er es nach anderthalb Jahren ab. Darüber hinaus wurde Friedrich von anderen Kommilitonen bespitzelt und über seine Band ausgefragt. Nach dem Studienabbruch verdiente er Geld mit Musik, modelte gelegentlich, machte eigenen Schmuck und bedruckte T-Shirts. die »messitsch« Im Jahr 1987 gründet Friedrich mit Freunden das Untergrund-Punkzine »Messitsch« (sächsisch für »Message«). Dort schrieb er Artikel unter dem Pseudonym »Hodscha«. »Das war ein Ventil für uns, um zu posen.« Doch die Herausgabe des Magazins brachte einige Probleme mit sich. »Als Privatperson war es in der DDR verboten, zu drucken. Es gab auch für richtige Verlage ein Papierkontingent. Alle mit einem Kopiergerät standen sofort bei der Stasi unter Verdacht.« Also wurde die Zeitung handschriftlich geschrieben, gemalt oder mit der Schreibmaschine getippt. Rundherum wurde der Text mit Bildern beklebt, die Seiten abfotografiert und auf Dokumentenfotopapier belichtet. »Wir hatten eine Auflage von 50 bis 120 Zeitungen. Teilweise saßen wir eine ganze Woche da und haben nur Zeitungen abgelichtet.« Später wurde Friedrichs Kollege Hohmann von der Stasi verhaftet. Er selbst hatte aber keine Probleme. Warum, das weiß er bis heute nicht. »Ich bin immer relativ gut weggekommen.« »man hatte immer die wahl« Nach dem Mauerfall holte Friedrich sein Abitur nach und studierte. Die Wende war für ihn die Möglichkeit, endlich das zu tun, was er schon immer wollte. 1993 beantragte er seine Stasi-Akte, doch viele Dokumentationen über seine Person werden ihm verwehrt. In der Retrospektive findet er an der DDR nicht viel Positives. »Viele meiner näheren Bekannten und Freunde haben unsäglich gelitten, da bin ich noch glimpflich davongekommen.« In einem Punkt widerspricht er aber gegen die gängige Meinung: »Es war nicht so, wie es immer dargestellt wird. Man musste weder zu den Grenztruppen der Armee und auf Leute schießen, noch musste man zur Stasi. Es gab keinen Zwang – es brauchte nur Rückgrat. Das habe ich am eigenen Leib erfahren«. __

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hitler, satan und sadismus

hitler satan und sadismus

feuilleton

Über meine Begegnung mit dem »National Socialist Black Metal« — und wie ich mich aus den Klauen der Neonazis befreit habe.

illustration paula hummer

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from first to last waltz moore

Trotzdem würde ich behaupten, dass die Emo-Kultur harmlos war. Nicht so wie das, was mir kurze Zeit später in die Hände gefallen ist. Schon früh habe ich ein Interesse für Heavy Metal entwickelt. Besonders fasziniert haben mich Albencover mit Waldlandschaften, Pentagrammen und aschgrauen Frauen, die nachts auf Friedhöfen lungern. Doch ähnlich wie bei allen Erscheinungen der Popkultur wimmelt es unter Metal-Künstlern vor mediokren Dilettanten. Nicht so im Black Metal. Das Genre entstand in den 1980er-Jahren in Schweden und Norwegen – und klingt so, als würde es direkt der Hölle entspringen. Black Metal kombi-

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niert inhumanes Gekrächze, Drumcomputer, monotone Gitarrenriffs und Lyrics, die auf den drei Säulen Misanthropie, Satanismus und Nihilismus fußen. Der perfekte Entwurf einer Gegenkultur. Auch wenn es so klingt, aber ich war kein Creep, der im Kämmerlein blutrünstige Phantasien von Amokläufen hegte. Ich steckte voller Tatendrang, machte Sport und tummelte mich im Nachtleben. Doch wie viele Jugendliche kam ich nicht klar auf die Gesellschaft. Politische Systeme, Religionen und Erziehung kamen mir vor ein Konglomerat aus verschworenen Lügen, die uns versklaven sollten. Deshalb lockten mich Konzepte, die sich radikal gegen die Zivilisation richten. Anstatt positive Lösungen zu suchen, entwickelte ich ein Faible für Zerstörung. Plötzlich gaben mir Nietzsche, Schopenhauer und Black Metal mehr Sicherheit als wehleidige Emo-Kids, die über Eifersucht und Liebe schwadronieren. Ich suchte den Kick – und so geschah es, dass ich im jugendlichen Leichtsinn der Scharlatanerie aufgesessen bin. In der Rock Hard las ich einen Bericht über NSBM (»National Socialist Black Metal«). Seit den 1990er-Jahren wurde die norwegische Black-Metal-Szene von Typen unterwandert, die das okkulte Sujet der Lyrics mit völkisch-heidnischen Elemente würzten. Schnell entstand auch international eine Subkultur, die sich offen zum Rechtsextremismus bekannte. Die Amadeu Antonio Stiftung beschreibt den NSBM-Trend in einer Broschüre: »Die NS-Zeit wird okkult-esoterisch verklärt. Nordische Mythologie und Blut-und-Boden-Ideologie spielen eine wichtige Rolle und werden zu einem Konstrukt der ‚arischen Vorherrschaft‘ zusammengefügt. Die Attribute dieser Philosophie sind Stärke und Härte, der oder das Schwache gilt als minderwertig. […] Die anti-kirchliche, anti-christliche Haltung bestimmter Metal-Subkulturen wird übernommen.« Ich war geflasht. Blasphemie, Menschenhass, Satan – und jetzt auch noch Hitler. Mehr anti geht nicht. Natürlich habe ich Ekel empfunden. Aber mit 15 war ich zu unreif, um zu beurteilen, was wirklich hinter NSBM steckt. Die Ideologie habe ich nie geteilt. Und trotzdem habe ich damit kokettiert, um mich von der Welt abzugrenzen. NSBM ist ein Nischenthema, das für Außenstehende kaum zu durchschauen ist. Deshalb lohnt sich ein Blick auf die Schlüsselfiguren der Szene. Einer der berühmtesten Protagonisten ist Varg Vikernes, das einzige Mitglied der Band Burzum. 1992 war er verantwortlich für Brandstiftungen bei mittelalterlichen Stabkirchen. Sie zählten zu den ältesten Bauwerken in Norwegen. Vikernes verursachte einen Schaden von mehr als 40 Millionen Euro, ein Feuerwehrmann starb bei den Löscharbeiten. Ein Jahr später ermordete er Euronymous, einen befreundeten Gitarristen der Band Mayhem. Vikernes tötete ihn mit 23 Messersti-

chen – angeblich aus Notwehr. Als die Polizei daraufhin seine Wohnung durchsuchte, wurden 150 Kilogramm Dynamit und 3000 Schuss Munition entdeckt. Vikernes wanderte für 21 Jahre in den Knast. Im Gefängnis verfasste er Bücher über Wikinger und schloss sich einer US-amerikanischen Neonazi-Organisation an, die von einem KKK-Führer gegründet wurde. Zwar distanzierte sich Vikernes von dem Vorwurf, ein Nazi zu sein – trotzdem veröffentlichte er rassistische Pamphlete und wurde zur rechtsextremen Ikone. Eine weitere Figur des NSBM ist Hendrik Möbus, Sänger der deutschen NSBM-Band »Absurd«. Bis heute pflegt er Kontakte zu NPD-Funktionären und internationalen Neonazi-Gruppen. In der Boulevardpresse erlangte Möbus Berühmtheit durch den »Satansmord von Sondershausen«. Drei damalige Mitglieder von Absurd lockten den 15-jährigen Sando Beyer in eine Waldhütte. Dort fesselten sie ihn an einen Schaukelstuhl, erdrosselten ihn mit einem Stromkabel und vergruben den Leichnam. 1998 wurde Möbus nach acht Jahren Haft auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Diese Entscheidung stellte sich als Fehler heraus. Einen Monat später hob Möbus auf einem Konzert den Arm zum Hitlergruß und verhöhnte den getöteten Beyer in einem Interview als »Volksschädling«. Als die Bewährung ausgesetzt werden sollte, floh er in die USA und lebte bei dem Gründer der rechtsextremen »National Alliance«. Kurz darauf scheiterte Möbus bei dem Versuch, politisches Asyl zu beantragen und wurde an die deutschen Behörden ausgeliefert. Ein Großteil der Szene wuchert abseits der Öffentlichkeit in Internetforen und auf Musikportalen wie last.fm. Im Underground stolperte ich dauernd über Bands wie Gaszimmer, Kristallnacht, Gestapo 666, Hakenkreuzzug, Holocaustus oder Aryan Werewolf. Das Internet ist der beste Ort, um diese Form von Menschenverachtung zu propagieren. Ab jetzt verzichte ich darauf, weiteren Akteuren eine Plattform zu bieten. Trotzdem ist es wichtig, darüber aufzuklären. Unter anderen Umständen hätte mein Leben eine ungeahnte Wendung nehmen können. Ein wachsames Elternhaus und Freunde mit liberalem Mindset waren wie ein Schutzwall für mich. Zum Glück habe ich rechtzeitig angefangen, mich kritisch mit NSBM auseinanderzusetzen. Doch Menschen in einer anderen Situation hätten sich womöglich radikalisiert, mit Nazis vernetzt und Straftaten begangen. Die Protagonisten des NSBM idealisieren Militarismus und Herdenmentalität. Ihre Ideenwelt ist das Gegenteil von dem Zustand, nach dem ich mich gesehnt habe. Dieser Text ist ein Versuch, Außenstehende für das Thema zu sensibilisieren. Ich möchte niemandem verbieten, sich mit Musik und Kunst auseinanderzusetzen. Doch NSBM ist für mich keine Kunst, sondern Instrumentalisierung des Kunstbegriffs. __

text thorsten gutmann layout tom reed

V

i can’t eat anything without shoving my hands down my throat. and I refuse to meet the world without smearing on makeup with my hair blinding my eyes

or einigen Wochen stolperte ich zufällig über meinen MySpace-Account. Ich staunte nicht schlecht über das, was ich dort gefunden habe. Auf einem schwarzweißen Profilfoto posiere ich mit düsterer Mine im T-Shirt einer Screamo-Band in meinem Kinderzimmer. Die Finger der linken Hand umschlingen die Saiten einer E-Gitarre, die ich seit Jahren nicht mehr angerührt habe. Das Profil erinnerte mich an eine Zeit, die ich nicht als einfachste Phase meines Lebens bezeichnen würde. Ich erinnerte mich an den Sound von ICQ-Nachrichten, an stundenlange Chats mit depressiven J-Pop-Fangirls, an verlorene Seelen auf 4chan und an WoW auf privaten Servern. Ähnlich wie bei vielen Altersgenossen war meine Pubertät der Startschuss für eine Verweigerungshaltung gegenüber Elternhaus und gesellschaftlichen Normen. Es war auch die Zeit um 2005, in der eine Jugendbewegung aus den USA nach Europa schwappte – die »Emo«-Kultur. In meinem Schulspind klebte ein Foto von knutschenden Heterojungs und die Kopfbewegung, bei der man sich die Haare seitlich aus dem Gesicht wirft, wurde allmählich zu einem auffälligen Tick. In meiner Erinnerung ist die Emo-Kultur ein Auffangbecken für Wohlstandskids, die gerne im Selbstmitleid baden. Ein Mädchen in der Parallelklasse versteckte ihre mit einem Bleistift zugefügten Schnittwunden unter schwarzen Armstulpen und einem Freund missglückte der Versuch, sich einen Kajalstrich zu ziehen. Es gab aber auch Bands, die mit ihren Texten labile Teenager aus der Bahn geworfen haben:


feuilleton

eventkalender

torstraßenfestival Die Torstraße in Mitte verwandelt sich zum Party-Gebiet und bietet eine Bühne für zahlreiche Künstler fernab des Mainstreams.

04 jun

was Straßenfest wann 4./5. Juni 2016 wo Diverse Orte rund um die Torstraße

informieren oder abservieren?

event kalender juni & juli

13 jun

textile art berlin

Wie Pressesprecher und Journalisten miteinander agieren. Ein Workshop für PR-Interessierte.

Eine Messe für zeitgenössische Textilkunst mit Workshops und Modeschauen. Das Motto der Messe 2016 lautet: »Paths of Life / Lebenswege, Reisewege, Übergänge«.

was Workshop wann 13. Juni 2016 wo Friedrich-Ebert-Stiftung

was Messe wann 9./10. Juli 2016 wo Carl-von-Ossietzky-Schule in Kreuzberg

pj harvey Konzerte der würdigen Nachfolge von Patti Smith sind eine Rarität. Wenn es mal dazu kommt, dann fegt PJ Harvey mit ihrem dreckigen Alt-Rock alles weg wie eine Naturgewalt.

20 kammermusik jun

was Konzert wann 20. Juni 2016 wo Zitadelle Spandau

cherry willow Ziel der musikalischen Reise ist die Insel Tunide (denkt an einen gültigen Reisepass!). Außerdem präsentiert der Indie-Geheimtipp seine Debüt-EP.

Das interaktive Computerspiel bestraft Fehler mit echten Schmerzen. Volker Morawe und Tilman Reiff bereichern Kunst um eine physisch erfahrbare Dimension. was Interaktive Ausstellung wann Bis 26. Juni 2016 wo Museum für Kommunikation Berlin recherche thorsten gutmann & ciara mac gowan layout tom reed

jul

14 jul

was Konzert wann 14. Juli 2016 wo Piano Salon Christophori

25 pixies jun

Kurze Info für alle, die »Where is my mind?« nur aus irgendwelchen TV-Einspielern kennen: Die Pixies haben die 80er vor Synthpop und Hair Metal gerettet.

18 jul

was Konzert wann 18. Juli 2016 wo Zitadelle Spandau

was Konzert wann 25. Juni 2016 wo Sowieso Neukölln

no pain no game

Grieg Violin Sonate Nr. 3 / Op. 45 Ysaÿe Sonate für Violine solo Nr. 5 / Op. 27 Tschaikowski Meditation Saint-Saëns Introduction / Rondo Capriccioso Op. 28

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26 neil young jun

Ein Faible für LSD und werbende Nähe zu Charles Manson. Never trust a hippie. Trotzdem ist Neil Young mit 70 immer noch einer der größten Musiker unserer Zeit.

21 jul

was Konzert wann 21. Juli 2016 wo Waldbühne

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impressum Das Studierendenmagazin der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin. Es ist interdisziplinär und selbstorganisiert. Berichterstattung über Medien, Campus und Zeitgeschehen. Erstmals seit 2016.

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chefredakteur Thorsten Gutmann (V.i.S.d.P.)

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Die nächste Ausgabe von obacht_ erscheint am 30. Juni 2016. Die Artikel und Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wider. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keine Haftung übernommen. Nachdruck und Vervielfältigung nur nach vorheriger Genehmigung.


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