Kultur
Samstag, 6. Oktober 2012 | Nordwestschweiz
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«Wer sich beim Orchester anbiedert, verliert»
Pop
Klassik Fabio Luisi ist der neue Chefdirigent des Opernhausorchesters Zürich. Er hat grosse Pläne
Wunderbar brüchiger Protest
VON CHRISTIAN BERZINS
Fabio Luisi
Fabio Luisi, Sie traten als von Intendant Andreas Homoki ernannter Chefdirigent im September das erste Mal vor Ihr neues Orchester. Waren Sie verdammt dazu, dass die Chemie stimmen musste? Fabio Luisi: Der erste Kontakt zwischen Dirigent und Orchester ist immer schwierig, egal ob als Chefdirigent oder als Gast. Ich bin nicht mit einem Plan vor das Zürcher Orchester getreten, dachte nicht, nun muss ich mich von meiner Schokoladenseite zeigen, damit sie mich mögen. Ich weiss, was ich kann – auch was ich nicht kann.
Fabio Luisi wurde 1959 in Genua geboren. Er machte erst eine Klavier-Ausbildung, ehe er Dirigieren studierte. Luisi war Künstlerischer Direktor der Grazer Symphoniker, Chefdirigent des MDR Sinfonieorchesters, des Orchestre de la Suisse Romande, der Sächsischen Staatskapelle Dresden und Wiener Symphonikern. Seit Herbst 2012 ist er Generalmusikdirektor am Opernhaus Zürich und Principal Conductor an der Metropolitan Opera in New York. Luisi ist mit einer deutschen Fotografin verheiratet und hat drei Kinder.
Was können Sie? Ich kann gut arbeiten und weiss, dass ich die Musiker nicht durch meine Persönlichkeit und meine Manieren, sondern durch meine harte Arbeit überzeugen kann. Ich arbeitete mit dem Opernhausorchester so, wie mit einem anderen auch. Das sollte gehen, denn mit den Musikern hatte ich in der Vergangenheit nie Probleme. Und ich glaube, es hat funktioniert, denn weil die Einstellung der Orchestermusiker meiner ähnlich ist. Es war eine harmonische und effiziente Arbeit.
Konzert: Philharmonia Zürich, Zehetmair/Luisi; Morgen So 7.10., 11.15 Uhr, Tonhalle Zürich. Werke von F. Martin und Schumann. CD: Bellini, I Capuleti e i Montecchi; Garanca, Netrebko, DGG 2009; Strauss, Vier letzte Lieder, Alpensinfonie; Anja Harteros, Sächsische Staatskapelle Dresden, 2006; Sony 2007; Mahler, 1. Sinfonie, Wiener Symphoniker 2012.
weil man nicht vorbelastet ist, man begegnet ihnen mit einer frischen Seele, man kennt keine Traditionen. Es stärkt das Selbstbewusstsein, wenn wir nicht immer unsichtbar im Graben sind und der Bühne dienen. Das ist eine grosse Aufgabe, eine kontinuierliche Arbeit. Die Früchte werden wir vielleicht erst in drei, vier Jahren ernten. Wir müssen erst ein Repertoire aufbauen.
Musikalisch hat es gegeigt. Kann das reichen für eine Beziehung Chefdirigent-Orchester? Warum nicht?
Sie arbeiten hier einige Jahre, da braucht es doch mehr! Ja, Vertrauen. Das bauen wir über die Monate, vielleicht über die Jahre auf. Musikalisch und menschlich – ich muss wissen, wen ich vor mir habe. Ich kann diese Partnerschaft nicht pushen. Jeder Mensch will gemocht werden, nicht nur ein Dirigent. Wer sich aber anbiedert, verliert. Das liegt mir fern – und dem Orchester auch. Auf was für ein Orchester sind Sie getroffen? Ein sehr kooperatives, geduldiges und offenes für neue Ideen. Ich arbeite sehr im Detail, lasse oft wiederholen, bis es mir passt, gebe nicht nach, wenn es nicht so ist, wie ich es mir vorstelle. Ich habe das Gefühl, dass diese Arbeit willkommen ist, was für die Zürcher spricht. Viele Orchester haben die Attitüde «Wir wissen es sowieso besser». Ich habe keinerlei Bemängelung mitzuteilen. Aber wir haben dennoch viel Arbeit vor uns, da es Grundsätze gibt, die mir wichtig sind.
Welche? Klang, Präzision, Artikulation, Zuhören. Der Boden ist fruchtbar, ich sehe schon die ersten Sprösslinge. Das macht Spass.
Hat das Orchester einen spezifischen Klang? Daran kann man noch arbeiten.
Das Orchester hatte eine Zeit lang gar keinen Chefdirigenten, dann einen, der erst zum Schluss seiner dreijährigen Amtszeit öfters am Haus dirigierte. Liegt es daran, dass der Klang nicht so ausgeprägt ist? Möglicherweise.
Merkt man die Absenz des Chefdirigenten noch an anderen Dingen? Daran denke ich nicht. Wichtig ist, dass das Orchester mir gegenüber offen ist: Ist es bereit, das, was ich vorschlage, zu akzeptieren und zu seinem eigenen Denken zu machen? Es ist kein Orchester ohne Persönlichkeit, auch wenn man diesen Vorwurf gelegentlich hört.
Dem Opernhausorchester standen in den letzten zwanzig Jahren weltberühmte, auch alte Dirigenten vor. Jetzt kommen viele neue, viele Junge: Ticciati, Currentzis, Lange, Meister – dann die 50- bis 60-Jähri-
Haben Sie mal drüben in der Tonhalle gefragt, wie der Name dort ankommt? Das Tonhalle Orchester ist ein hervorragendes Orchester, es hat seine Märkte, hat seine Auftrittsmöglichkeiten, wir wollen niemandem das Geschäft wegnehmen. Ich denke nur an mein Orchester. Es wird dort sehr skeptisch aufgenommen, auch mit Angst. Warum denn das?
Fabio Luisi im Foyer des Zürcher Opernhauses. gen – und immer noch Nello Santi. Gibt es da eine Linie? Nein, in einem so grossen Haus kann es keine Linie geben. Aber wir versuchen, Dirigenten nach verschiedenen Kriterien zu verpflichten: Erstens nach ihrer Affinität zum Haus. Zweitens nach den handwerklichen Fähigkeiten. Für mich muss auch der junge Dirigent dem Haus etwas bringen und nicht nur vom Haus profitieren. Wir sind kein Theater für Anfänger. Und ja, Sie haben richtig beobachtet, es gibt viele Junge: Aber die haben alle ziemlich viel Erfahrung. Ich wehre mich dagegen, sogenannte ShootingStars für Zürich zu engagieren, die mit der Oper keine Erfahrung haben. Das dürfen wir diesem Haus nicht antun. Wir beobachten sie, aber sie sollen ihre Opernerfahrung anderswo sammeln. Den Erfahrungsreichtum sollen sie später an uns weitergeben. Der Dirigent ist immer auch ein Lehrer. Und auf Nello Santi wollen wir nicht verzichten, er ist ein grosser Meister.
JOHANNA BOSSART
Dieses Opernhausorchester heisst neuerdings Philharmonia Zürich. Ist das eigentlich englisch? Wir haben nach einem Namen gesucht, den man nicht zu übersetzen braucht. Philharmonia verstehen alle Segmente, Sprachen und Märkte. Heisst «Markt», dass man Tourneen macht und CDs einspielt? Tournee ja und CD vielleicht dann auch. Mein Ziel ist es, das Orchester auch ausserhalb von Zürich, ausserhalb der Schweiz, als sinfonisches Ensemble zu profilieren. Und dafür müssen wir Partner haben. Diese Partner müssen das Philarmonia nach den Gesetzen des Marktes vermitteln – verkaufen. Bevor wir mit dem Vorschlag der Namensänderung zum Orchester kamen, haben wir mit vielen Partnern gesprochen. Alle sagten: Im Prinzip sehr gerne, aber mit dem Namen «Orchester der Oper Zürich» kommen wir bei sinfonischen Projekten nicht weiter. Die Märkte reagieren positiv auf den neuen Namen.
«Mein Ziel ist es, das Orchester auch ausserhalb der Schweiz als sinfonisches Ensemble zu profilieren.»
Ist es nicht gefährlich, wenn plötzlich zehn neue Dirigenten am Opernhaus dirigieren? Warum? Orchester lechzen normalerweise nach neuen Gesichtern, das ist stimulierend. Wir haben eine sehr gute Mischung, überfordern das Orchester nicht mit neuen Namen. Wir beobachten die Reaktionen, ob die Chemie mit den Musikern stimmt. Bisweilen finden auch weltberühmte Dirigenten den Zugang zu einem Orchester nicht.
Was braucht es zusätzlich? Das Repertoire ist wichtig. Es soll ein eigenes sein, das das Orchester auf Abruf hat. Es gibt Opernorchestermusiker, die in ihrem Leben noch nie eine Brahms-Sinfonie gespielt haben. Das ist auch eine persönliche Bereicherung für jeden. Auch für Brahms. Das glaube ich auch! Ein Opernorchester geht solche Werke anders an,
Weil es nun zwei grosse Zürcher Sinfonieorchester gibt, die auf Tournee wollen. Was kann ich machen? Fühlen Sie sich in Zürich schon zu Hause? Ich wohne hier immer in der gleichen Wohnung, wenn ich meine Dirigier-Perioden am Opernhaus habe. Mein Wohnsitz bleibt aber New York, da mein Kind dort in die Schule geht. Haben Sie keine Sehnsucht, kein Heimweh nach Italien? Ich fühle mich in Italien wohl, meine Mutter lebt noch dort, ich bin ihr gerne nah, wir haben auch eine kleine Bleibe. Und ab und zu arbeite ich auch dort. Aber ich empfinde keine grosse Sehnsucht nach Italien. Der Name Fabio Luisi blieb. Fühlen Sie sich als italienischer Dirigent? Das bin ich nun mal. Sind Sie denn eher ein deutscher Dirigent? Ich frage mich das nie. Ich studierte Klavier in Italien und Frankreich, ging dann nach Österreich, um das Dirigieren zu lernen – und kam nicht mehr nach Italien zurück. Ich wurde gross mit dem mitteleuropäischen Repertoire. Das prägte mein Dirigentendasein. Die Arbeit mit den Spätromantikern – Mahler, Bruckner, Strauss oder Schmidt und später Brahms – sind meine musikalischen Wurzeln. Aber meine Karriere hat mit der italienischen Oper angefangen. Als Allererstes wird ein italienischer Dirigent gefragt: «Wollen Sie ‹Tosca› oder ‹Barbiere› dirigieren?» Ich habe das Glück, auch diese Opern dirigieren zu dürfen.
Van Morrisons Stimme ist immer noch markant, doch sie ist brüchig geworden, klingt gequält und lässt die Expressivität früherer Tage vermissen. Trotzdem kann es der 67-jährige Ire nicht lassen und nennt sein 34. Werk trotzig «Born To Sing». Morrison glänzt hier nicht als Blues-, sondern als Protestsänger. Das ist die eigentliche Sensation des Albums: Jahrzehntelang hat er sich politischen und sozialkritischen Kommentaren enthalten. Auf seine alten Tage wird Morrison doch zum Protestsänger und wettert gegen die kapitalistischen Auswüchse und die Finanzkrise. Nach einer Reihe von eher zweifelhaften Hängern ist «Born To Sing» auch musikalisch gelungen. Ein wunderbares Album. Relaxt, jazzig und bläserlastig. STEFAN KÜNZLI Van Morrison Born To Sing: No Plan B, Blue Note/EMI.
Zwischen Soul und Blues
Ist das noch Blues oder bereits Soul, was Beth Hart da auf ihrem neuen Album «Bang Bang Boom Boom» stimmlich an den Tag legt? Es ist wohl viel von beidem. Mit Energie und Eleganz singt sich die Amerikanerin durch teilweise ruhige, nur mit Piano unterlegte Nummern. Oder schreit Töne an den richtig rockigen Stellen. Herausragend sind Lieder wie «»Caught Out In The Rain» und «Swing My thing Back Around». Kürzlich hat Beth Hart ein Album mit dem Blues-Virtuosen Joe Bonamassa aufgenommen. Es scheint, als hätte die 40-jährige Musikerin dabei viel dazugelernt. Denn «Bang Bang Boom Boom» ist bislang ihre beste, aufrichtigste und sensibelste Arbeit. PASCAL MÜNGER Beth Hart Bang Bang Boom Boom. Musikvertrieb
Neuropsychologie
Wie bespricht man ein Album, dessen Leadstimme auf Anhieb nervt? Ist der Besprecher am falschen Ort? Zu weit vorn im Saal, falscher Abend, falsche Schuhe, falsches Land ...? Warum halten sich die Herzallerliebsten von Cecilia Winter in Stimmlagen auf, die ans Hysterische grenzen, oder wie Wiki vorschlägt: dissoziative Störungen? Warum merkt man plötzlich auf, wenn die Sängerin mal ein paar kurze Solo-Einwürfe bringt – von denen man sehr gern sehr viel mehr gehört hätte? Gegen Ende sind es ruhigere Lieder – «Shadow Song» und «Battle Cry» (mit Scott Matthew) – die den überforderten Besprecher ALBERT KUHN versöhnen. My Heart Belongs to Cecilia Winter Midnight Midnight. Chop Records
Heu obenabe
Ist doch ein Teufelswerkzeug, so eine Handorgel. Sie wurde im Jahr der Intensivierung erfunden: 1804, wie die Zigarette und die Eisenbahn. Lauter spielen, schneller rauchen, schneller fahren. Was Mama Rosin heute draus machen, ist ein rasendes Inferno aus Folk, Drums und Stromgitarre. Die Quetschn, wie der Apparat in Österreich heisst, hat eine subkutane Wirkung bis in die Gegenwart. In den Dreissiger Jahren wollte Hitler die Orgel verbieten. Aber im Zweiten Weltkrieg war die Quetschn wieder gut genug – für Trost im ALBERT KUHN Schützengraben. Mama Rosin Bye Bye Bayou. Irascible