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Ich liebe das Sonnenlicht und Klarheit in der Musik

Am Opernhaus Zürich wird mit «Lessons in Love and Violence» erstmals eine Oper von George Benjamin aufgeführt. Der 63-jährige Engländer gehört zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart und wird in diesem Jahr mit dem Ernst-von-Siemens-Preis ausgezeichnet, der als Nobelpreis der Musik gilt. Thomas Meyer stellt den Künstler vor, dessen Markenzeichen eine messerscharfe Genauigkeit im Ausdruck ist

Sechzehn Jahre alt war er, ein Teenager, allerdings hochbegabt, manchen galt er als musikalisches Wunderkind. «Mein Unterricht ist nicht mehr gut genug für dich», teilte ihm damals sein Lehrer mit – und deshalb flog er 1976 mit ihm nach Paris zum berühmten Kollegen Olivier Messiaen. Von da an reiste der junge Mann ein-, zweimal pro Monat von London über den Ärmelkanal. Bei Messiaen besuchte er die Kompositionsklasse am Conservatoire, bei dessen Frau Yvonne Loriod studierte er Klavier. Zwei Jahre später beendete er seine Pariser Studienzeit mit einer virtuosen Klaviersonate, die er natürlich selber uraufführte: George Benjamin.

Bei Messiaen haben zahlreiche der bedeutenden Komponistinnen und Komponisten studiert: Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, Betsy Jolas, Pierre Henry und Iannis Xenakis. Auch für Benjamin wurde er prägend: «Der Unterricht fand bei Messiaen zuhause statt. Die Zeit verging jeweils wie im Flug. Es war nichts Mystisches an ihm, sondern einfach eine unendliche Neugier und Liebe für die Musik. Er hat mein Hören verändert», erzählte Benjamin im Gespräch. Gemeinsam war den beiden die Liebe zur Farbe der Harmonien. Er selber war der Harmonik schon zugetan, bevor er zu Messiaen kam, aber das sei amateurhaft gewesen. «Messiaen erweiterte die Möglichkeiten und vermittelte mir zudem ein Wertgefüge: Jede Note muss genau ausgehört sein und muss sich verantworten lassen.» Man erkennt in der Klaviersonate durchaus, was er bei Messiaen gelernt hat, aber es klingt dennoch nicht nach Messiaen. Jeder Ton ist eigenständig durchhört. Messiaen bezeichnete ihn später als seinen Lieblingsschüler. Das wäre ein Ausweis, mit dem man stracks in eine Bilderbuchkarriere starten könnte. Und tatsächlich feierte Benjamin mit der Doppelbegabung als Komponist und Interpret, die bald durch das Dirigieren ergänzt wurde, früh Erfolge. Aber er war und ist auch ein Skeptiker, er misstraut den vorschnellen Lösungen. Zunächst studierte er in Cambridge bei Alexander Goehr weiter, der ihm die deutsche Tradition näherbrachte. Und langsam erst entstand ein Stück nach dem anderen, manchmal nur eines pro Jahr. Die Werkliste George Benjamins ist nicht lang, aber jedes Stück leuchtet darin wie ein geschliffener Solitär.

Zwei Regeln nämlich seien ihm wichtig, sagt er, und er gebe sie heute auch seinen Studenten weiter: Erstens, sich nicht zu wiederholen und zweitens: «clarity» –äusserste Klarheit. Diese Klarheit sei nicht kopflastig oder abgehoben, er wolle einfach, dass in seiner Musik, auch wenn sie zuweilen sehr dunkel klinge, die Strukturen hörbar blieben. «Diese Klarheit ist meine Obsession. Ich hasse graue, unartikulierte Texturen, und ich liebe das Sonnenlicht und die Klarheit in der Welt, ja es gibt sogar eine grausame Klarheit.» Seine Musik klingt komplex und doch völlig transparent –und durch Lichtmetaphern lässt sich so manches darin beschreiben. Manche Klänge wirken wie Sonnenstrahlen auf einem Klangmeer. Seine frühe Ensemblekomposition At First Light von 1982 ist denn auch von einem lichtdurchfluteten Gemälde William Tur ners inspiriert. Ein anderes Beispiel für diesen klaren Stil ist sein Klavierkonzert, das er schlicht als Duet for piano and orchestra bezeichnet. Schlicht ist auch die klangliche Disposition, bei der er sich nicht an der romantischen Tradition orientiert, sondern an Mozart. Die Orchesterbegleitung ist sparsam, der Klaviersatz geradezu linear. Wie ein Mozart-Konzert spricht die Musik ganz selbstverständlich zu uns. Benjamin staffelt den Klang im Raum. Alexander Goehr, der musikalische Sachverhalte einfach und präzis ausdrücken konnte, habe es auf fast naive Weise formuliert: «Mit der Musik sei es wie mit dem Zugfahren: Vorne bewegen sich die Dinge schneller als weiter weg und noch weiter weg, und dahinter scheint die unbewegliche Sonne.» Man kann die Entwicklungen, die zuweilen auf vielschichtige Weise vor sich gehen, genau verfolgen. So entsteht eine imaginative Musik, die nichts Intellektuelles an sich hat. «Selbst wenn ich komplex denke und wie im Ensemblestück Palimpsests acht, neun Schichten übereinanderlege, will ich keine Bouillabaisse. Die Klarheit verleiht der Musik Energie; die Harmonien und Polyphonien werden so deutlich. Das sei mein Job als Komponist.»

Diese Akribie aber bedeutet, dass er Musik nicht am Fliessband produzieren kann, sondern jedes Mal um neue Lösungen ringt. «Neu» nicht im Sinn eines Fortschritts.

Vielmehr ist jedes Stück für ihn ein «Neuanfang» – und das sei manchmal ziemlich hart. Nach At First Light geriet er in eine Krise, wie sie vielleicht für einen jungen und früh schon erfolgreichen Komponisten typisch ist. Eine wichtige Erfahrung, denn am Ende dieser ersten Schaffensperiode suchte er nach einer Neuorientierung, studierte nochmals am Pariser IRCAM, dem Forschungsinstitut für elektronische Musik, beschäftigte sich mit Computermusik, dirigierte viel, komponierte wenig, bis er anfangs der neunziger Jahre auf seinen weiteren Weg fand.

In diesen Jahren erwarb sich Benjamin eine eiserne Arbeitsdisziplin. Häufig ist er als Interpret unterwegs, vor allem als Dirigent und weiss deshalb um die Verführungskraft dieses Jobs. «Komponieren Sie!» war der lapidare Ratschlag, den ihm Pierre Boulez einst gab. Der Franzose wusste, wovon er sprach. Es ist so einfach, sich als Dirigent zu zerstreuen (was Boulez gerne tat). Benjamin griff den Rat auf. Mittlerweile hat er gelernt, sein Temperament zu lenken. So bereitet sich Benjamin oft lange auf eine Komposition vor, macht Tausende von Skizzen und schottet sich dann für längere Zeit fast völlig ab. Ohne diese Disziplin würde er wohl immer noch wie früher tagelang brütend und auf Inspiration wartend vor dem leeren Blatt Papier sitzen. Für grosse Werke zieht er sich monate-, ja jahrelang zurück, sagt alle Dirigate und weiteren Auftritte ab. Er lässt sich Zeit, ist ungemein selbstkritisch: es falle ihm nicht leicht zu komponieren. Mit Plan geht er vor, wahrt sich aber seine Freiheit. Gerade das ist eine seiner grossen Qualitäten: die Verbindung von Temperament und Konsequenz. Er geht sehr rational vor, im Vertrauen, dass sich das Irrationale von selber einstellt; denn seine Musik soll spontan bleiben. Sein Œuvre ist relativ schmal, an seiner Musik ist kein Gramm Fett. Wo andere Komponisten mit Klängen wuchern, reduziert Benjamin sie und schleift sie zu unerbittlicher Schärfe. Was nicht bedeutet, dass sich die Klänge nicht entfalten dürften. Mit zwei Bratschen etwa kann er ein ganzes Orchester imaginieren und eine Art «Superviola» schaffen. Die Palette an Farben ist ungemein reich. Wildes Drauflosbramarbasieren aber ist nicht seine Sache, der billige theatrale Effekt erst recht nicht.

Von da her erwartete man von ihm damals um die Jahrtausendwende nicht gerade, dass er einmal Opern schreiben würde, in denen ja alles etwas effektvoller und vielleicht auch gröber gestrickt wird als in reiner Instrumentalmusik. Eine Fehleinschätzung. George Benjamin war von klein auf begeistert vom Musiktheater. Wenn er als Kind die griechischen Sagen las, habe er sie sich in Opernszenen vorgestellt. In der Schule sammelte er erste Erfahrungen, indem er Musik zu Schauspielen schrieb und sie dirigierte. Die Texte stammten mal von Shakespeare, mal von Klassenkameraden. «Das Theater liegt mir im Blut, und in gewisser Weise kehre ich mit der Opernkomposition zu meinen Wurzeln zurück», sagte er. Diese Rückkehr war nicht so leicht, denn Benjamin strebte einen eigenen Zugang zu diesem Genre an, eine Unabhängigkeit von vergangenen ebenso wie gegenwärtigen Modellen.

«Ich traf zwar etliche Regisseure, Schriftsteller, Filmemacher und Dichter, aber es kam nie über ein paar Sitzungen hinaus.» Über zwanzig Jahre suchte Benjamin nach einem geeigneten Text, bis er dem englischen Dramatiker Martin Crimp begegnete. Mit ihm zusammen konnte er der Gattung nochmals auf den Grund gehen. Das erste Stück Into the Little Hill, uraufgeführt im Dezember 2006 in Paris, markiert einen wichtigen Schritt. Es verfolgt ein neuartiges Konzept und kehrt gleichzeitig zu den Anfängen des Musiktheaters zurück, zur «Rappresentazione» der Florentiner Camerata um 1600 beziehungsweise zur Favola in Musica Claudio Monteverdis. Denn in dieser lyrischen Erzählung wird zuallererst eine Geschichte behandelt, die berühmte Sage des Rattenfängers von Hameln. «Der Pied Piper», der die Stadt zunächst von den Ratten befreit, nimmt, nachdem man ihm den Lohn verweigert, die Kinder mit. Das Stück erzählt von der Verführungskraft der Musik und formt die Sage auf berührende und eindringliche Weise um. Das geschieht mit einer Gradlinigkeit, die alle theoretischen Spekulationen über ein nicht-narratives, postdramatisches Theater beiseiteschiebt. Wir wissen zwar kaum, ob wir uns im Mittelalter oder in der Jetztzeit bewegen, aber die Handlung ist völlig klar. Nur zwei Sängerinnen, Sopran und Alt, treten auf und erzählen die Geschichte, sie singen alle Rollen, die männlichen und die weiblichen und gemeinsam auch die Menschenmenge, sie spielen sie aber nur andeutungsweise. So entsteht keine eigentliche Aktionsoper, sondern eher ein oratorisches oder episches Theater. Das war ein Neubeginn.

Im folgenden hat Benjamin diese Methode zusammen mit Martin Crimp weiterund schliesslich vom epischen Theater weggeführt. Schon mit seiner nächsten Oper nämlich, die er wieder mit Martin Crimp entwarf, folgte er seiner Grundregel, sich nicht zu wiederholen. Hier handelt es sich um eine altprovenzalische Liebesgeschichte: Der Troubadour Guillem de Cabestany verliebt sich in die Frau seines Auftragsgebers und wird von diesem ermordet. Der Ehemann gibt seiner Frau das Herz ihres Geliebten zu essen; sie kostet es und findet, sie habe noch nie so etwas Gutes gegessen. Kurz darauf wird sie sich aus dem Fenster stürzen, während drei Engel sie mitleidlos betrachten. So grausam und kalt endet die Oper Written on Skin. Tatsächlich ist diese Musik auf die Haut geschrieben, ja in die Haut geritzt, in einer knapp und hart for mulierten Tonsprache, die immer wieder die alltägliche Gewalt aufblitzen lässt. Zentral dabei: Nicht nur jeder dramatische Moment ist genau gesetzt, sondern jede Note passt auf das Wort.

Eine Erneuerung folgte auch in der bislang jüngsten dritten Oper, die nun in Zürich gezeigt wird: Lessons in Love and Violence. Vergleichbar ist die historische Verortung im Mittelalter sowie die schneidende Nüchternheit der Darstellung. Es geht um den englischen König Edward II, der von 1284 bis 1327 lebte, sich in seinen Günstling Gaveston verliebte und ihm fast uneingeschränkte Macht gewährte. Gaveston wurde hingerichtet. Edward blieb im Amt, wurde erst später nach politischen Misserfolgen abgesetzt und im Kerker auf bestialische Weise ermordet, wie die Legenden spekulieren. Crimp und Benjamin rücken nicht die Homosexualität ins Zentrum, sondern die Frage nach Liebe, Macht und Grausamkeit. Liebe und Gewalt gehörten von je her zu den zentralen Motiven im Musiktheater. Hier wirken sie von Beginn weg ineinander, auf ungewöhnliche, intime, ja auch unangenehme Weise. Wo endet bedingungslose Liebe, wo beginnt Gewalt? Diese Lessons in Love and Violence sind von grosser Eindringlichkeit. Das liegt zum einen an der Stringenz der Handlung, die auf ungemein flexible und direkte Weise erzählt wird; zum anderen an der präzisen Zeichnung der Personen. Hinzu kommt die Musik Benjamins, die wiederum äusserst sparsam und klar gesetzt ist. In dieser Konzisheit trumpft das Orchester in den Zwischenspielen mit grosser Klangschönheit auf. Die Musik erzählt mit Wendigkeit und folgt den Emotionen. Sie ist spannungsgeladen wie ein Krimi. Und sie ist singbar. Er legt Wert darauf, dass sich die Sänger ohne Forcieren und vor allem ohne das ihm verhasste Vibrato gegen den Orchesterapparat durchsetzen können und dass dabei die Details hervortreten. «Für mich ist die melodische Erfindung essenziell», sagte Benjamin. Der Melodie wohne ein geradezu ethischer Impuls inne. «Die Stimme ist die Wurzel der Musik. In einer einzelnen Linie ist, auch wenn sie nicht gross ausholt, eine unendliche Vielfalt enthalten. Die Stimme steckt voller Geheimnisse.» Dabei vermeidet er die «Zickzackmelodien» so vieler zeitgenössischer Opern – wie er überhaupt den stilistischen Klischees der Neuen Musik aus dem Weg geht. Dieser Stil sei vorbei. «Mir geht es um die Integration von Stimme und Orchester, ohne etwas zu verdoppeln.» Er habe sich, wie so viele Komponisten, mit den Möglichkeiten der Stimme anfangs zu wenig ausgekannt: Mit der Formung der Vokale, dem Finden der Töne, den Akzenten und dem Atem, ja der ganzen sängerischen Psychologie. Demnächst steht in Aix-en-Provence eine neue Oper an: Picture a Day Like This. Es erzählt von einem schrecklichen Ereignis an einem ganz normalen Tag: Ein Säugling stirbt, und die Mutter macht sich auf die Suche nach einem Wunder, das ihm das Leben zurückgeben könnte. Dafür muss sie ein wirklich glückliches menschliches Wesen finden. Jede noch so vielversprechende Begegnung endet in einer Enttäuschung – bis sie auf die geheimnisvolle Zabelle trifft. Auch da geht es wieder um eine tiefe existenzielle Erfahrung, um Letztes.

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