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Ringen um Lust und Macht

Die Oper «Lessons in Love and Violence» ist ein Königsdrama von shakespearehafter Wucht. Sie erzählt die Geschichte eines Königs, der sich in der Liebe zu einem Mann verliert und auf grausame Weise zu Fall kommt. Ein Gespräch mit dem Regisseur Evgeny Titov und dem Dirigenten Ilan Volkov über die zerstörerischen Energien obsessiver Liebe

Auf der Probe: Der König (Lauri Vasar, links) sehnt sich nach schönen Dingen, sein Günstling Gaveston (Björn Bürger) giert nach Herrschaft

In welchen Kosmos führt uns die Oper Lessons in Love and Violence?

Evgeny Titov: Der Stoff ist ein Königsdrama, dessen literarische Vorlage auf den englischen Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe zurückgeht. Marlowe hat ein Schauspiel über Edward II. geschrieben, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts über England herrschte. Ihm wurde die Liebe zu seinem Günstling Piers Gaveston zum Verhängnis. Edward II. vernachlässigte seine Regierungsgeschäfte, wurde abgesetzt und grausam ermordet. George Benjamin und sein Textautor Martin Crimp haben nun aus diesem Stoff eine Oper gemacht, die sich auf die vier Hauptfiguren konzentriert und deren innere Dramen offenlegt.

Wer sind die Hauptfiguren?

Titov: Das sind natürlich der König, der in der Oper nur als «King» vorkommt, also namenlos bleibt, und sein Geliebter Gaveston, mit dem er sich in eine Welt der Musik und der schönen Künste zurückgezogen hat, während das Volk hungert. Gegenspieler ist Mortimer, ein ehrgeiziger Politiker, der mit allen Mitteln an die Macht will, alles Schöngeistige verachtet und Gaveston und den König grausam zu Fall bringt. Und es gibt die Königin Isabel, die mit Edward II. zwei Kinder hat, die ebenfalls in der Oper auftauchen. Sie ist ihrem Gatten emotional zugetan trotz dessen Affäre, will den Nebenbuhler aber weghaben und schlägt sich auf die Seite Mortimers. Die vier Figuren sind geprägt von obsessiver Liebe, Machtgier, Triebhaftigkeit und Gewaltbereitschaft und treffen in ständig veränderten Konfliktkonstellationen aufeinander. Sie verbeissen sich regelrecht ineinander wie Tiere.

Der Stoff ist blutig. Gaveston wird ermordet, der König zu Tode gefoltert, am Ende ereilt auch Mortimer ein grausames Schicksal. Gleichzeitig hat der Komponist George Benjamin eine ungemein feinsinnige Art, Musik zu schreiben. Wie passt das zusammen?

Ilan Volkov: Christopher Marlowes Dramenvorlage ist ein Theaterspektakel, bei dem man sich gut vorstellen kann, welche grosse Wirkung es auf einer Bühne der Shakespeare-Zeit entfacht hat. Benjamin und Crimp aber haben alles äusserlich Spektakuläre der Vorlage eliminiert. Sie interessieren sich für die inneren Abgründe der Hauptfiguren, die wechselnden Energien von Anziehung und Abstossung, Liebe, Hass und Vernichtungswille. Die Oper besteht aus sieben Szenen, die wie fragmentarische Ausschnitte eines Ganzen erscheinen, das man als Zuschauer nicht wirklich überblickt. Es geht in der Oper nicht darum, dass eine spannende Handlung von Anfang bis Ende erzählt wird. Man hat den Eindruck, das Drama hat bereits begonnen, bevor sich der Vorhang hebt, und man wird vom ersten Moment an unmittelbar hineingeworfen in das Geschehen. Die Gewalttaten selbst stehen entweder unmittelbar bevor oder sind gerade geschehen. Es gibt Vorahnungen und Ängste über schreckliche Dinge, die sich ereignen werden oder bohrendes Nachsinnen über Furchtbares, das passiert ist. Aber die Musik stellt die Grausamkeit des Stoffes nicht aus. George Benjamin lässt kein Blut im Orchestergraben spritzen. Das interessiert ihn nicht, obwohl es durchaus zwei, drei kolossale Orchesterausbrüche gibt, in denen die Türen des Orchesterklangs weit aufgerissen und alle Register gezogen werden.

Ist Lessons in Love and Violence eine Oper über die Zerstörung einer schwulen Liebe?

Titov: Es gibt keine schwule Liebe. Es gibt nur Liebe. Die Liebe ist eine so starke, offene, existenzielle Energie, dass es uninteressant ist, ob sie schwul, heterosexuell oder sonstwie ist.

Ich habe die Frage gestellt, weil es für die Entstehungszeit des Marlowe-Dramas im 16. Jahrhundert sehr aussergewöhnlich ist, dass eine Liebe zwischen zwei Männern thematisiert wird.

Titov: Ich finde, in George Benjamins Oper steht das nicht im Vordergrund. Es geht um die Macht und die Gefährlichkeit von Liebe generell. Wie weit kann sie gehen? Welche zerstörerischen Ausmasse kann sie annehmen? Die Oper blickt in die dunklen Abgründe entfesselter Liebe.

Wie tut sie das musikalisch?

Volkov: Benjamins Art zu schreiben entwickelt einen eminenten Sog, weil in der Musik alles sehr dicht miteinander verwoben ist. Aus einem motivischen Nukleus von zwei, drei Noten erwachsen ganze Szenen. Charakteristische Rhythmen sind, wenn sie sich einmal in Gang gesetzt haben, nicht mehr zu stoppen. Immerzu spinnt die Musik auf obsessive Weise Ideen fort und wendet sie um und um. Die Har monik ist superraffiniert, variantenreich und farbig, und die Singstimmen sind organisch in sie eingebunden. Alles ist präzise auf den Punkt geschrieben, und alles hängt mit allem zusammen. Zwischen den Szenen erklingen Orchesterzwischenspiele, in denen das Geschehene musikalisch nachhallt und kommentiert wird. Die Partitur ist in ihrer Konsequenz wie sinfonische Musik gebaut. Sie erinnert mich in dieser Hinsicht an Alban Bergs Wozzeck, in dem ja auch jede Szene und jeder Akt in eine sinfonische Form gekleidet ist.

Ich erkenne in der Fähigkeit, Unaussprechliches in Töne zu fassen, auch eine gewisse Nähe zu Claude Debussys Pelléas et Mélisande.

Volkov: Das nehme ich auch so wahr. Obwohl Benjamins Personalstil unverwechselbar ist, glaubt man immer wieder Referenzen zu hören, beispielsweise auch zu englischer Musik des 17. Jahrhunderts. Wie er Gesangsensembles schichtet und dabei alle Singenden in ihrer jeweils eigenen Gefühlswelt eingesponnen sind, hat wiederum etwas von Giuseppe Verdi. Er hat das eben alles sehr genau studiert und reflektiert.

Aus George Benjamins Musik spricht also ein Bekenntnis zur Tradition. Das ist für Gegenwartskomponisten lange Zeit nicht selbstverständlich gewesen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es in der zeitgenössischen Musik verpönt, sich auf die Tradition zu berufen. Da musste das Neue auch durch neues kompositorisches Material bezeugt werden.

Volkov: Benjamin macht nichts Neues im Hinblick auf Kompositionstechniken und das kompositorische Material wie etwa Helmut Lachenmann, der Geräusche in sein Komponieren integriert hat. In dieser Hinsicht schreibt er traditionell, wenn man das so bezeichnen will. Aber er findet trotzdem zu einem musikalischen Ton, wie man ihn noch nie gehört hat. Er entwickelt Modernität von innen heraus und schafft dadurch Neues. Seine Harmonik etwa arbeitet mit zwölf Tönen, verwendet also keine Mikrotonalität oder Ähnliches, und ist trotzdem abenteuerlich und voll von neuen überraschenden Verbindungen. Gerade die Harmonik trägt stark zur dramatischen Qualität in den Opern bei.

Titov: Ich finde toll an der Musik, wie sie die emotionalen Ausnahmezustände der Figuren offenlegt. Sie ist eben nicht nur feinsinnig. Sie ist auch krass, verrückt, sinnlich, voll von «love and violence». Denn die Ausnahmezustände der Figuren sind wirklich extrem. Der König etwa ist völlig vereinnahmt von seiner Liebe zu Gaveston, muss aber regieren und Entscheidungen zum Wohl seines Volkes treffen, was er nicht tut. Gleichzeitig ist diese Liebe nur ein Teil seiner inneren Disposition. Mir kommt er so übersensibel, empfindsam und verletzlich vor, dass er zu einem normalen Königsleben gar nicht fähig wäre. Er hat keine Schutzhaut gegenüber der Welt. Er gibt sich der Poesie, der Musik und der Kunst hin, lebt in der völligen Überfeinerung aller Sinne und geniesst das Schöne bis zur Übersättigung. Das alles schwingt mit in dieser Figur. Hier wird nicht die Geschichte eines Herrschers erzählt, der sich in einen Mann verliebt hat und Probleme mit seiner eifersüchtigen, vernachlässigten Ehefrau kriegt. Die Figur ist viel, viel grösser.

Lessons in Love and Violence

Oper von

George Benjamin

Musikalische Leitung

Ilan Volkov

Inszenierung

Evgeny Titov

Bühnenbild

Rufus Didwiszus

Kostüme

Falk Bauer

Lichtgestaltung

Martin Gebhardt

Video

Tieni Burkhalter

Dramaturgie

Claus Spahn

König, Edward II

Lauri Vasar

Isabel

Jeanine De Bique

Gaveston/Fremdling

Björn Bürger

Mortimer

Mark Milhofer

Junge, späterer König

Edward III

Sunnyboy Dladla

Mädchen

Ivan Vlatković

Zeuge 1 / Sängerin 1 / Frau 1

Isabelle Haile

Zeuge 2 / Sängerin 2 / Frau 2

Josy Santos

Zeuge 3 / Irrer

Andrew Moore

Philharmonia Zürich

Statistenverein am Opernhaus Zürich

Premiere 21 Mai 2023

Weitere Vorstellungen 25, 27 Mai;

2, 4, 8, 11 Juni 2023

Unterstützt von Mit freundlicher Unterstützung der René und Susanne

Braginsky Stiftung

Diese Sehnsucht des Königs nach einem Immermehr an sinnlichen Erfahrungen ist wie eine Wunde, die sich nie schliesst.

Was für ein Typ ist auf der anderen Seite Mortimer, der Gegenspieler des Königs, der nach der Macht greift?

Titov: Er ist der rationale Politiker, der Ordnung schaffen will, weil er sieht, dass die Welt im Chaos versinkt. In seinem allerersten Satz im Stück sagt er, dass nicht die Liebe zu einem Mann das Problem sei, sondern die Liebe an sich, sie sei das Gift. Sie stiftet das Unheil durch unkontrollierbare Gefühle. In meiner Vorstellung ist Mortimer einer, der das Dekadente radikal ausmerzen und letztlich eine neue Menschheit schaffen will. Das macht ihn so gefährlich und gewalttätig.

Die Oper spielt mit einem polemischen Gegensatz zwischen der luxuriösen Welt der Schönen Künste auf der einen Seite, in der sich die Königsfamilie bewegt, und der harten Wirklichkeit des Lebens auf der anderen Seite, in der das Volk unter der Tyrannei der Herrschenden leidet, und als deren Anwalt der Rationalist Mortimer erscheint. Sympathisieren Benjamin und Crimp mit einer der beiden Seiten?

Titov: Natürlich nicht. Das Stück urteilt nicht. Beide Konzepte scheitern. Beide sind zerstörerisch, pervertiert und führen in den Untergang.

Volkov: Die gegensätzlichen Welten, die du benennst, sind zwar musikalisch durchaus angelegt, aber die Partitur ist viel zu raffiniert für Eindeutigkeiten. In ihr durchdringen und konterkarieren sich die Ebenen und Gefühlssphären ständig. Es gibt ja beispielsweise auch die Situation des Theaters auf dem Theater im Stück wie in Shakespeares Hamlet, im Königshaus werden sogenannte «Entertainments», also Abendunterhaltungen, zur Aufführung gebracht. Das sind unheilvolle Allegorien.

Aber der Titel der Oper lautet Lessons in Love and Violence. Welche Lektionen erteilt denn die Oper?

Titov: So einfach ist das nicht mit «Lektionen». Diese Oper will niemanden belehren. Das Theater ist kein Ort, der uns Antworten auf Fragen gibt. Wir erfahren nicht, wie wir uns zu verhalten haben. Was lehrt uns das Drama von Medea, die ihre eigenen Kinder umgebracht hat? Die eigenen Kinder umbringen!? Gibt es etwas Grausameres? Und trotzdem kann es sein, dass wir auf der Seite dieser antiken Heldin stehen. Im Theater machen wir Erfahrungen. Theater lässt uns in die Abgründe des Menschen schauen. Es führt uns an die dunklen Orte der Triebe, des Irrationalen und des Unbewussten. Das spüre ich auch stark in dieser Oper. Sie hat eine antikische Wucht. Mir ist bei der Vorbereitung auch aufgefallen, dass sich die sieben Szenen der Oper auch auf die sieben biblischen Todsünden der Menschen beziehen lassen, auf Wollust, Neid, Völlerei, Hochmut usw. Ich weiss nicht, ob das von Crimp und Benjamin intendiert ist, aber mir steht dieser Zusammenhang ganz klar vor Augen.

Die Szenen der Oper haben in ihrer Grundkonstellation ein ums andere Mal demonstrativen Charakter. Mortimer wird vom König in der ersten Szene alles genommen, sein Rang, sein Besitz, sogar sein Name, er wird zum toten Mann erklärt. Später ist es umgekehrt: Mortimer zwingt den König dazu, ihm die Krone zu geben. In der fünften Szene wiederum wollen Mortimer und Isabel den Königssohn dazu nötigen, Macht auszuüben. Er soll einen Wahnsinnigen töten, der behauptet, er sei der König. Die Figuren sind es, die brutale Lektionen lernen müssen.

Titov: Ja, aber das Stück ist nicht ordentlich nach Lektionen aufgebaut. OpferTäter-Beziehungen kehren sich andauernd um. Gerade hat einer auf Knien gefleht, im nächsten Moment fletscht er die Zähne. Zärtlichkeit und Zuneigung schlagen

Probenszene oben: Die Zeugin 2 (Josy Santos) und das aufgebrachte Volk treiben den König (Lauri Vasar, links) in die Enge

Probenszene unten: Der kalt rationale Politiker Mortimer (Mark Milhofer) bekämpft das Gift der Liebe unvermittelt um in Gewalt und Sadismus. Auch in den erotischen Beziehungen geht es ständig um das Demütigen und Gedemütigtwerden und Schmerzlust. Das ist theatralisch natürlich ein Geschenk für die Regie.

Volkov: Auch die Musik lebt davon: Welche der verschiedenen Schichten, die in der Partitur angelegt sind, dominiert? Was ist oben, was unten? Da greift ständig eins ins andere. Und die musikalischen Motivebenen bleiben im Verlauf der Szenen immer präsent. Nichts verschwindet aus dem Stück. Auch auf der Ebene der Figuren: Der zwischen der dritten und vierten Szene getötete Gaveston beispielsweise kehrt in der sechsten Szene als Todesfigur des «Strangers», des Fremden, wieder zurück.

Titov: Ich weiss nicht, ob es viele Stoffe gibt, die so dicht und dynamisch sind im plötzlichen Wechsel extremer Emotionen. Zuschlagen. Lieben. Zuschlagen. Ohne Erklärungen. Wenn es eine Lektion gibt, die wir aus dieser Oper lernen, dann ist es die, dass die Liebe die grausamste aller Energien ist, dass sie noch gewalttätiger als die Gewalt selbst ist.

In welchem Bühnenraum spielt man dieses Stück?

Titov: Die Materie, die behandelt wird, ist tief und existenziell. Ich möchte, dass sich das auch im Raum spiegelt. Er sollte die Offenheit haben, Unerklärliches und Nichtfassbares zu beherbergen. Und er muss die richtige Temperatur haben.

Was ist die richtige Temperatur?

Titov: Glühend heiss und frostig kalt.

Es gibt bisher nur eine szenische Realisierung von Lessons in Love and Violence, das war die Uraufführung vor fünf Jahren in London durch die Regisseurin Katie Mitchell. Bei ihr spielte das Stück in einem modern eingerichteten, realistischen Bühnenbild mit Wohnzimmer, Schlafzimmer und edlen Vitrinen.

Titov: Katie Mitchell und ihre Bühnenbildnerin Vicki Mortimer haben bei der Uraufführung einen möglichen Weg aufgezeigt. Wir aber wollten hier in Zürich bei der zweiten szenischen Realisierung in eine andere Richtung gehen. Wir haben nach einer Bühne gesucht, die das Surreale der Situationen zum Ausdruck bringt, dem Wahnsinn, der dem Stück innewohnt, Raum gibt und Platz lässt für Einsamkeitsabgründe der Figuren.

Hat der Bühnenbildner Rufus Didwiszus den Raum gebaut, den du dir vorgestellt hast?

Titov: Ja.

Das Gespräch führte Claus Spahn

Foto vorige Seite: Königin Isabel (Jeanine De Bique) lädt zu einer Theateraufführung oben links: Regisseur Evgeny Titov bei der Probenarbeit oben rechts: Stanislav Hnat und Flavio Papaleo von der Statisterie spielen eine stumme Allegorie unten:

Der König (Lauri Vasar, rechts) demütigt Mortimer (Mark Milhofer)

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