MAG 78: Dornröschen

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MAG 78

William Moore tanzt Carabosse


Der neue Audi e-tron Sportback  Zeit, ein eigenes Märchen zu erleben.

audi.ch


Editorial

Dornröschen erwacht Verehrtes Publikum,

MAG 78 / Okt 2020 Unser Titelbild zeigt William Moore, der die Carabosse in Christian Spucks «Dornröschen» tanzt. Hören Sie einen aktuellen Podcast mit William Moore. Den QR-Code finden Sie auf S. 11 (Foto Florian Kalotay)

haben Sie den schweren Stein gehört, der allen Mitarbeitenden und Verantwortlichen des Opernhauses vom Herzen gefallen ist, nachdem unser Saisonstart reibungslos gelungen ist? Wir sind sehr erleichtert darüber, dass unsere Premieren wie geplant statt­finden konnten und haben viel positive Resonanz für unser Spielmodell erfahren, mit dem wir auf die einschränkenden Corona-Massnahmen reagieren mussten. Sie haben es bestimmt mitbekommen oder inzwischen bereits selbst erlebt, dass unser Chor und unser Orchester live vom geräumigen, gut lüftbaren Probenraum am Kreuz­ platz ins Opernhaus übertragen werden, und viele Menschen mit spitzen Ohren haben uns bestätigt, dass die Klangqualität den hohen Ansprüchen genügt, die Sie und wir an einen Opernbesuch knüpfen. Dass der Start geglückt ist, heisst freilich nicht, dass das Haus unter den neuen Bedingungen zur Tagesordnung übergehen kann. Dafür sind die Arbeitserschwernisse durch Corona viel zu gravierend. Alle haben mit den Restriktionen zu kämpfen, von den Regisseurinnen und Regisseuren, die ihre Inszenierungen ändern müssen über die Bühnencrews, die unter Hygienebedingungen in hoher Frequenz die Kulissen auf- und abbauen, bis zum künstlerischen Betriebsbüro, das die Anreise der internationalen Künstlerinnen und Künstler unter sich ständig ändernden Risikowarnungen organisiert. Was alle motiviert, ist die Tatsache, dass wir in Zürich einen kompletten Spielplan mit grosser Oper und grossem Ballett anbieten können, und Sie, unser Publikum, in grosser Zahl zu unseren Vorstellungen begrüssen dürfen. In diesem Sinne blicken wir zuversichtlich – und umsichtig! – den kommenden Wochen und Monaten entgegen, denn wir haben noch einiges vor. Die nächste Premiere hält gleich einen weiteren Herzensmoment bereit: Das Ballett kehrt auf die Bühne zurück! Seit Anfang März ist die Compagnie nicht mehr öffentlich aufgetreten. Im Lock­ down stand zwischenzeitlich zu befürchten, dass die Tänzerinnen und Tänzer eine ganze Spielzeit aussetzen müssen, denn Ballett ist schlichtweg nicht möglich, wenn beim Tanzen die Abstandsregeln eingehalten werden müssen. Ein solcher Unterbruch hätte unabsehbare Folgen für die physische Verfassung und die künstlerische Qualität der Compagnie gehabt. Zum Glück ist es dazu nicht gekommen, weil die Tänzerinnen und Tänzer eine sogenannte Infektionsgruppe gebildet haben, die mit entsprechenden Schutzmassnahmen – ähnlich wie bei Mannschaftssportarten – eine Betätigung ohne Abstand gestattet. So hebt sich nun am 10. Oktober der Vorhang zu einem doppelten Wiedererwachen: Das Ballett Zürich erwacht aus seinem Dornröschen-Schlaf – und spielt auch gleich Piotr Tschaikowskis berühmtes Handlungsballett Dornröschen, choreografiert von Christian Spuck, der sich nach seinem Nussknacker vor drei Jahren an einen wei­ teren Ballettklassiker wagt. Seien Sie dabei, wenn der Prinz die schöne Prinzessin Aurora und eine ganze Ballett-Compagnie wachküsst. Claus Spahn

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WAGNER 22 – FESTTAGE DER OPER LEIPZIG

20. 06. –––– 14. 07. 2022

MUSIKSTADT LEIPZIG – HEIMATORT DES OPERNGENIES RICHARD WAGNER Leipzig und die Musik: Das ist jahrhundertelange Tradition. Für zahlreiche Komponisten, darunter Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Clara und Robert Schumann sowie Richard Wagner war die Stadt inspirierender Schaffensort.

Mit Gründung 1693 ist die Leipziger Oper das drittälteste bürgerliche Opernhaus Europas und blickt voller Stolz auf eine mittlerweile über 325-jährige Tradition. Knapp die Hälfte dieser drei Jahrhunderte ist mit dem Gewandhausorchester ein Ensemble von Weltruhm ständiger musikalischer Begleiter der Oper Leipzig.

WAGNER 22 – 3 WOCHEN UNENDLICHKEIT Die Oper Leipzig hat sich unter der Leitung von Intendant und Generalmusikdirektor Prof. Ulf Schirmer das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2022 das gesamte Repertoire der Opern

© PK Fotografie

OPER LEIPZIG – EIN TRADITIONSHAUS MITTEN IN EUROPA

Richard Wagners im Spielplan zu haben. So wird es in der Geburtsstadt Wagners vom 20. Juni bis 14. Juli 2022 im Rahmen eines einzigartigen Festivals möglich sein, alle Opern innerhalb von drei Wochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung zu erleben. Lediglich die vier Teile des »Ring« sind aus der Chronologie ausgenommen und folgen aufeinander. Geplant ist für dieses Festival eine hochkarätige Besetzung von Dirigenten und Sängern. Tickets sind unter www.wagner22.de erhältlich.

© Tom Schulze

Musikliebhaber müssen mit einer Reise nach Leipzig aber nicht bis 2022 warten. Das Mahler Festival unter der Regie des Gewandhausorchesters im Mai 2021 sowie das jährliche Bachfest bieten auch vorher schon perfekte Reiseanlässe. Das passende Reiseangebot inklusive Tickets, für zum Teil bereits ausverkaufte Konzerte, finden Sie unter www.leipzig.travel/ musikstadt.


Inhalt

14 «Dornröschen» kommt auf die Bühne des Opernhauses – Dorion Weickmann über die Hintergründe des BallettKlassikers 19 Wer ist gut, wer böse? Christian Spuck im Gespräch über seine neue Choreografie 30 Mauro Peter debütiert als Nemorino – ein Porträt von Volker Hagedorn.

Der besondere Blick – 4,  Opernhaus aktuell – 7,  Drei Fragen an Andreas Homoki – 9, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 13,  Auf der Couch … – 26,  Volker Hagedorn trifft… – 30,  Die geniale Stelle – 32,  Der Fragebogen – 36

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Der besondere Blick von Monika Rittershaus

16.09.2020.15:06 + S


EITENBUEHNE + CSARDASFUERSTIN + AUFTRITT ALIENS +

NSEtellU innen e b eg die

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Aufregend neu gedacht Der neue Tiguan

Jetzt Probe fahren


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Opernhaus aktuell

Liederabend 1. Philharmonisches Konzert

Markus Poschner dirigiert Sinfonien von Beethoven und Bruckner Im ersten Philharmonischen Konzert dieser Spielzeit gehört die Bühne einmal wieder ganz den Musikerinnen und Musikern unseres Orchesters. Nicht nur akustisch (wie zurzeit in unseren Opern- und Ballettvor­stellungen), sondern auch optisch und räumlich ist die Philharmonia Zürich an diesem Sonntagmorgen in grosser sinfonischer Besetzung präsent. Am Pult steht Markus Poschner, Chefdirigent des Brucknerorchesters Linz und ständiger Gast am Opernhaus Zürich, wo er in dieser Spielzeit auch Richard Strauss’ Capriccio dirigieren wird. Mit der sogenannten Nullten steht eine frühe Sinfonie in d-Moll von Anton Bruckner auf dem Programm. Der Komponist selbst annul­ lierte das Werk im Nachhinein als «ganz ungiltig (nur ein Versuch)». Dennoch trägt diese 1869 entstandene Sinfonie mit mächtigen Klang­ ballungen, Bläserchorälen und feierlich-erhabenem Ton schon un­ verkennbar Brucknersche Züge. Von Ludwig van Beethoven erklingt die von tänzerischen Rhythmen geprägte und vor Lebensfreude nur so sprühende, 1813 in Wien uraufgeführte Siebte Sinfonie A-Dur op. 92.

Illustrationen: Anita Allemann

Sonntag, 25 Okt 2020, 11.15 Uhr, Hauptbühne

Einführungsmatinee

Familien-Workshop

L’Olimpiade

L’elisir d’amore

Am 1. November hat am Opernhaus Giovanni Battista Pergolesis Olimpiade Premiere. Regisseur dieser Neupro­ duktion ist David Marton, der erstmals am Opernhaus inszeniert und bekannt ist dafür, theatrale Formen neu zu denken. Er hat mit seinem L’Olim­piadeProjekt auf die Coronakrise reagiert und wird auf ungewöhnliche Weise mit Pergolesis Musik um­gehen: Er ver­ schränkt Arien mit einem in Zürich ge­ drehten Dokumen­tarfilm. Einen ersten Einblick in diese sehr besondere Neuproduktion erhalten Sie in der Ein­­­füh­r ungsmatinee mit Chefdramaturg Claus Spahn, Regisseur David Marton, Dirigent Ottavio Dantone und weiteren Beteiligten der Produktion. Einführungsmatinee: Sonntag, 18 Okt, 10 Uhr, Bernhard Theater

Dieses Angebot für die ganze Familie ist die optimale Vorbereitung auf einen gemeinsamen Opernbesuch. In diesem Workshop erleben Kinder ab 7 Jahren und ihre Eltern live kurze Aus­ schnitte aus dem Werk und begegnen SängerInnen und MusikerInnen. Sie beschäftigen sich spielend mit der Geschichte und den Figuren dieser opera buffa, die auch sehr empfindsame Momente hat: Nemorino ist hoffnungs­ los in Adina verliebt, aber er ist zu schüchtern, um ihr seine Liebe zu ge­ stehen. Als er von der Legende von Tristan und Isolde und dem Liebestrank erfährt, wendet er sich in seiner Ver­ zweiflung an den Wunderdoktor Dulca­ mara. In der Hoffnung, seine ange­ betete Adina für sich zu gewinnen, gibt der Verliebte für diesen Liebestrank sein letztes Geld her… Samstag, 24 Okt 2020, 14.30 – 17.00 Uhr Sonntag, 25 Okt 2020, 14.30 – 17.00 Uhr Besammlung: Billettkasse

Anja Harteros

Nicht nur mit dramatischen Auftritten als Tosca oder Desdemona, sondern auch mit einfühlsam gestalteten Lieder­ abenden begeistert die Sopranistin Anja Harteros weltweit ihr Publikum. Von einer «verschwenderisch breiten Farb- und Ausdruckspalette» und von «grossem melodramatischem Kino» schwärmte die NZZ nach Anja Harte­ ros’ Liederabend am Opernhaus Zürich vor drei Jahren. Nun tritt die gefeierte und vielfach ausgezeichnete Sängerin hier erneut mit einem Liederabend auf. Gemeinsam mit dem Pianisten Wolfram Rieger interpretiert sie ausgewählte Lieder von Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Gustav Mahler und Richard Strauss. Samstag, 24 Okt 2020, 19.30 Uhr Hauptbühne

Opernhaus Jung

Ballettworkshops für Klein und Gross

Als Einstimmung auf den Besuch einer Vorstellung von Christian Spucks Neuproduktion «Dornröschen» bietet Opernhaus Jung «Ballette entdecken» für Kinder von 7 bis 12 Jahren sowie zwei Familien-Workshops an. Bitte beachten Sie die neuen Termine auf der Website.

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17 2020

Here We Play Instrumente für ein lebenswertes Morgen

Musik, die uns bewegt, ist eine perfekte Kombination aus Harmonie, Tempo und Rhythmus. Wenn wir etwas in Bewegung setzen und innovative Lösungen schaffen wollen, kombinieren wir Engagement, Know-how und Forschung. Gerade jetzt ist dieses Zusammenspiel wichtiger denn je: Die Zukunft stellt uns vor grosse Herausforderungen und verlangt danach, dass die Spezialchemie ihre tragende Rolle für ein lebenswertes Morgen einnimmt – und sie herausragend spielt. Sustainability fuels innovation.

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Drei Fragen an Andreas Homoki

Foto: Daniel Auf der Mauer

Das Ballett tanzt wieder! Herr Homoki, das Ballett beginnt wieder zu spielen: Am 10. Oktober hat Dornröschen Premiere. Als kräf­ti­ger Motivationsschub ist das Ballett Zürich gerade von der Fachzeitschrift Tanz zur «Compagnie des Jahres» gewählt worden, zum ersten Mal in seiner Geschichte. Und Christian Spucks Choreografie der zeitgenössischen Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann ist die «Auf­ führung des Jahres». Wurde das im Opernhaus gebührend gefeiert? Eine grosse Party können wir leider erst feiern, wenn es die Corona-Lage wieder zulässt. Aber wir haben uns natürlich riesig gefreut, gerade weil die ver­ gange­ne Spielzeit so schwierig war und das Ballett seit März nicht mehr auf­ treten konnte. Ich finde diese Auszeichnung hochverdient. Christian Spucks Ballett Zürich ist einfach eine der vielseitigsten und leistungsfähigsten Ballett-­Compagnien. Der Preis bestätigt, dass Christians Arbeit auf einem inter­ na­­tiona­len Parkett nachhaltig wahrgenommen und gewürdigt wird. Dass obendrein auch Das Mädchen mit den Schwefel­hölzern ausgezeichnet wurde, ist schön, weil diese Produktion in einer programmatischen Kontinuität steht. Es war ja nicht das erste Mal, dass Christian die Grenzen der eigenen Gattung hinter sich gelassen hat. Er hat zuvor schon mit grossem Erfolg Verdis Messa da Requiem und die Winterreise in der zeit­genössischen Instrumentation von Hans Zender auf die Bühne gebracht. Dass dieser künstlerische Mut honoriert wird, finde ich grossartig, denn mir ist es ein wichtiges Anliegen, dass die Kunstformen Oper und Ballett nicht vollkommen getrennt neben­ei­nander herlaufen, sondern auch inei­nan­der greifen und sich künstlerisch befruchten. Wie sehr macht die Corona-Krise dem Ballett zu schaffen? Unter dem Abstandsgebot ist Ballett

schlichtweg nicht möglich. Die Situation während des Lockdowns war schon sehr deprimierend: Die Tänzerinnen und Tänzer sassen zu Hause, durften nicht gemeinsam trainieren und wussten nicht, wie lange das noch geht. Hätte die Compagnie – was zwischenzeitlich durchaus zu befürchten war – eine ganze Saison pausieren müssen, wäre es vorbei gewesen mit der technischen Perfektion, von der das Ballett lebt, denn die bedarf regelmässiger Praxis. Die Compagnie hat sich dann darauf verstän­digt, eine Infektionsgruppe zu bilden – eine Möglichkeit, die das Schutzkonzept für die Bühnen vorsieht. Deshalb darf das Ballett nun ohne Abstand tanzen und kann auch ein grosses Handlungsballett wie Dornröschen realisieren. Die Tänzerinnen und Tänzer übernehmen da eine grosse Eigenverantwortung, die allerhöchsten Respekt verdient. Und wir hoffen natürlich, dass alles gutgeht, denn wenn ein Mitglied der Gruppe krank wird, müssen alle in Quarantäne, und der Produktion droht die Absage. Was erhoffen Sie sich von dem neuen Dornröschen? Dass Christian Spuck sich einmal mehr als grosser Geschichtenerzähler erweist und sich vom traditionellen choreo­ grafischen Interpretationsballast löst, der natürlich auch auf diesem Hand­ lungs­ballett lastet. Er hat das zuletzt vor drei Jahren sehr erfolgreich mit dem Nussknacker gemacht, wo er die Handlung erweitert und die Musik um­ge­ stellt hat. Choreografisch bedient er sich aus dem Vokabular des klassischen Balletts, kreiert aber trotzdem etwas Neues. Bei Dornröschen arbeitet er wieder mit dem gleichen Team zusammen, nämlich mit dem Bühnenbildner Rufus Didwiszus und der Kostümbildnerin Buki Shiff. Ich finde, das sind beste Voraussetzungen für einen spannenden Abend.

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Neu am Sechseläutenplatz 1

Restaurant Bar

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Wir wĂźnschen mente o M e l l o v s g n u stimm BEATUS Wellness- & Spa-Hotel, Seestrasse 300, 3658 Merligen-Thunersee, 033 748 04 34, welcome@beatus.ch, www.beatus.ch


Podcast 11

Foto: mauritius images / JT Vintage

Zwischenspiel Die aktuelle Podcast-Folge ist online. Zu Gast: William Moore

Seit 2012 ist William Moore Erster Solist des Balletts Zürich und begeistert das Publikum mit seiner Wandlungsfähigkeit und seinem Charisma. Im neuen «Dornröschen» tanzt er die Fee Carabosse. Von den Heraus­forderungen dieser Rolle erzählt er im Gespräch mit Michael Küster. Ausserdem spricht er über Licht- und Schatten­seiten des Tänzerberufs, offenbart sich als begeisterter Dart-Spieler und erklärt, wie ihm seine Theater­er­fahrungen beim Auf­legen als DJ zugute kommen.

Unterstützt von


Jetzt online statt live! Die WerkeinfĂźhrungen der Dramaturgie finden bis auf weiteres nicht mehr live im Spiegelsaal statt, sondern sind online und mobil auf jedem Smartphone abrufbar.


Wie machen Sie das, Herr Bogatu? 13

Das blutende Buch Am rechten Bühnenportal kauert Boris Godunow. Von der linken Seite bewegt sich ein grosses, stehendes, aufgeschlagenes Buch auf ihn zu. Unaufhaltsam kommt es näher. Blut fliesst an den Seiten des Buches herab. Boris greift sich das Buch, seine Hände sind voller Blut – seinem Schicksal kann er nicht entkommen. Wenn Sie gerne auch mal ein blutendes Buch auf sich zukommen lassen möchten: Nehmen Sie ein grosses Buch, schlagen Sie es mittig auf und schneiden Sie auf der rechten Hälfte die Seiten so aus, dass von jeder Seite nur noch ein ca. 1 cm breiter Rand stehen bleibt. Nun kleben Sie diese Seiten aufeinander: Sie haben ein Geheimfach geschaffen. Füllen Sie dann einen Infusionsbeutel mit Blut. Mittels Infusionsschlauch verbinden Sie den Beutel mit einer kleinen ferngesteuerten Pumpe. Alle Teile (Beutel, Pumpe, Leitungen, Elektronik) kleben Sie einfach auf den Boden des Geheimfachs. Von der Pumpe aus führen Sie einen Schlauch erstmal lose aus dem Fach heraus. Nun decken Sie das Fach mit einer passend zugeschnittenen Kunststoffplatte so ab, dass sich diese Platte ca. einen halben Zentimeter unter dem Rand befindet. Den losen Schlauch führen Sie in der oberen linken Ecke durch die Platte hindurch und kleben die Platte fest. Den Schlauch kleben Sie nun am oberen Rand der Platte fest, verkleben das Ende und schneiden den Überstand ab. Dann bohren Sie alle zwei Zentimeter Löcher in den Schlauch – und zwar so, dass das Blut aus dem Fach hinausspritzen würde. Die Schwammtücher leimen Sie auf der Kunststoffplatte fest; diese bilden die Auflage für das Bambuspapier. Als nächstes schneiden Sie das Bambuspapier genau auf das Mass der Buchseiten zu und bedrucken oder (wenn Sie entsprechend begabt sind) bemalen es mit einem Motiv Ihrer Wahl. Mit diesem Papier kleben Sie das Fach zu. Nun sieht niemand mehr das Innenleben des Buches. Machen Sie das gleiche mit der linken Hälfte des Buches. Dann stellen Sie es vor sich hin und klappen es so weit auf, dass es gut steht und Sie die gestalteten Seiten gut sehen können. Wenn Sie die Pumpe per Fernsteuerung starten, so wird das Blut durch die Löcher im Schlauch auf das Bambuspapier gespritzt. Dieses saugt sich sofort voll, das Blut fliesst herab und wird vom Schwammtuch aufgesaugt. Wenn Sie nun das Buch anfassen, so haben Sie aufgrund des vollgesaugten Schwammtuchs schnell viel Blut an den Händen... Um das Buch fahren zu lassen, motorisieren Sie einfach ein zweites Buch mit einem ferngesteuerten Modellfahrzeug und stellen das Blutbuch darauf. Das Blutbuch von Boris wurde von unserer Requisite entwickelt. Es funktioniert wie beschrieben – ist aber wesentlich komplizierter hergestellt. Die Beschreibung dieser raffinierten Herstellung passt jedoch leider nicht auf diese Seite...

Illustration: Anita Allemann

Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich


Foto: AF archive / Alamy Stock Foto

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Wie böse sind die bösen Feen?

Im Ballett-Märchen «Dornröschen» scheinen die Rollen klar: Prinzessin Aurora ist das gute Königskind, das am Ende von einem Prinzen erlöst wird, und die Fee Carabosse ist eine dämonische Unheilstifterin. War das schon immer so? Muss das so sein? Ein Blick in die Geschichte des Ballettklassikers zeigt: Das Widerspiel von Gut und Böse hat viele Facetten. Text Dorion Weickmann


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nde April 1829 debütierte Dornröschen auf der Ballettbühne. Ohne Erfolg. Mademoiselle Lise Noblet, eine der ersten Protagonistinnen des Pariser Opernballetts, tanzte die Partie der Prinzessin. Sie hielt sich auch im wahren Leben einen aristokratischen Geliebten, den Earl of Fife, der ihr ergeben war wie ein Schosshündchen. Jedenfalls kolportierte der Morning Herald  im Juli desselben Jahres: «Er trug ihren Schal, hielt ihren Fächer, eilte ihr mit einem Riechfläschchen hinter­ her… wenn er nicht gerade auf ihre Pirouetten starrte.» Andere waren von Noblets Darbietung weniger angetan, zumindest fiel die Dornröschen-Premiere bei der Kritik rundweg durch. «Lang, langsam und tödlich langweilig» lautete das Urteil über JeanPierre Aumers Choreografie, Louis Joseph Ferdinand Hérolds Komposition und Eugène Scribes Libretto. Und das, obwohl die drei Herren ausgesprochen erfahrene Mitarbeiter des Opern- und Ballettbetriebs waren. Eine einzige Tänzerin fand Gnade vor den gestrengen Augen der Rezensenten. Sie hiess Marie Taglioni, war relativ frisch im Geschäft, wurde vom eigenen Vater zu Höchstleistungen getrieben – und sollte wenig später in den Zenit des Tanzhimmels aufsteigen: der hellste Stern weit und breit. Im missratenen Dornröschen mimte Taglioni eine Najade und «lief mit der Leichtigkeit einer Sylphide und der vollkommensten Anmut über die Bühne». So jedenfalls hiess es nach der Uraufführung im Journal des débats, dessen Autor offenbar hellsehe­ rische Fähigkeiten besass. Denn keine drei Jahre später triumphierte Taglioni in der Titelrolle von La Sylphide, während Noblet als bräutliche Gegenspielerin Effie nun hinter ihr rangierte. So rasch kann es gehen… Wer also glaubt, dass Marius Petipas Dornröschen zu Pjotr Tschaikowskis Partitur als erste Adaption des Märchens in die Ballettannalen einging, der muss sich doppelt korrigieren. Denn vor Aumer hatte bereits Pierre Gardel ganze Passagen für La Belle au bois dormant choreografiert – als Dreingabe einer Oper, die 1825 ebenfalls in Paris das Licht der Welt erblickte. Ein Zufall ist es nicht, dass Charles Perraults 1697 veröffentlichte Erzählung aus­ gerechnet in den 1820er-Jahren den Weg ins Musiktheater fand. Seinerzeit erstrahlte die Romantik und mit ihr das Chiaroscuro der menschlichen Seelenlandschaft, während der betanzte Olymp des Ancien Régime endgültig im Staub der Kulissendepots versank. Ebenso wenig zufällig ist Dornröschens allmähliche Verschattung, die 1996 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. An der Hamburgischen Staatsoper kippte der Choreograf Mats Ek das Geschehen ins Tiefschwarze, verbunden mit der Ansage: «Ein Märchen ist wie ein hübsches kleines Häuschen, nur hängt da ein Schild an der Tür: ‹Vermintes Gelände!›» Inspiriert von der ehemaligen Drogenszene am Zürcher Platzspitz, setzte Ek sein Dornröschen als höheres Töchterlein aus guten (also: moralisch verkommenen) Verhältnissen in Szene, dessen Rebellion in Form exzessiven Drogenkonsums vonstattengeht. Für Nachschub sorgt die böse Fee Carabosse, und das Gift wird solange ins System gespritzt, bis der Verfall in Dauerschlaf mündet und einen prinzlichen SOS-Einsatz auslöst. Die Version des schwedischen Tanzexpressionisten hebt vordergründig auf den Selbstzerstörungstrieb der Titelheldin ab. Doch in Wahrheit kreist sie die weltanschaulichen und realen Verwerfungen ein, die das Dasein im postindustriellen Zeitalter mit sich bringt. Wer glaubt denn am Ende des katastrophischen 20. Jahrhunderts noch an Märchen, an gute Feen, an wohlmeinende Patinnen und ihr diabolisches Pendant? Stellt sich die Frage: Welche Position hat in dieser Dornröschen-Genealogie der Ballettmeister des Zaren inne, jener Marius Petipa, dessen 1890 in Sankt Petersburg aufgelegte Fassung so gut wie allen nachfolgenden Inszenierungen als Blaupause dient? Und welche Färbung wird Zürichs Ballettdirektor Christian Spuck den Figuren und ihrem Handeln verleihen, welche Grundierung darunterlegen? Der Franzose Marius Petipa steht für ein ungebrochen romantisches Verständnis der Fabel aus der Feder seines Landsmanns Perrault. Petipas Dornröschen malt die Welt schwarzweiss und folgt damit exakt der dramaturgischen Linie, die Victor Hugo 1827 in der Vorrede seines Cromwell skizziert hat – von den Zeitgenossen als Manifest der Romantik gefeiert: «Vom Tag an, wo das Christentum zum Menschen sagte: ‹Du bist doppelt, Du bestehst aus zwei Wesen, das eine sterblich, das andere unsterb-


lich, das eine fleischlich, das andere geistig … von diesem Tag an wurde das Drama erschaffen». Dieses Credo ist der Keim einer Kunst, die der Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski als «phantastisch, erfindungsreich, metaphysisch, imaginär, versuche­ risch, überschwänglich, abgründig» charakterisiert – Eigenschaften, die allen romanti­ schen Balletten innewohnen. Aber sie verstecken sich hinter verschiedenen Gesichtern. Das erste trägt insgeheim männliche Züge. Ob La Sylphide, Giselle, Ondine oder Schwanensee – stets sieht sich der Mann zwischen Wunsch, Wahn und Wirklichkeit gespalten, zwischen überirdischer Schönheit und irdischer Lust, Geliebter und Angetrauter in spe zerrissen. Die Agentinnen dieses Geschehens sind feenhafte Geschöpfe einerseits, Hexen und Abgesandte des Bösen andererseits – nicht selten en travesti getanzt. Zwar scheinen Ballerinen auf den ersten Blick sowohl Optik als auch Inhalt aller romantischen Schlüsselwerke zu dominieren. Doch im Wesentlichen geht es um die Reifeprüfung, die kulturelle Anpassung junger Männer. Demnach soll der aufgeklärte Zeitgenosse allen Versuchungen zum Trotz den rationalen Idealen einer aufstrebenden Bürgerelite gehorchen, im Zweifelsfall unter Verzicht auf die wahre Liebe. Das Libretto löst dieses Problem in der Regel auf natürliche Weise: durch Tod oder finales Verschwinden der weiblichen Lichtgestalt. Die zweite, gewissermassen spiegelverkehrte Variante prägt Dornröschen und Aschenputtel – ebenfalls von Perrault notiert, ebenfalls schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Tanzbühne übersetzt. Ein junges Mädchen steht hier zwischen Gut und Böse, zwischen schutzmächtiger Fee und Verderberin, und seine Familiengeschichte spielt dabei keine nebensächliche Rolle. Die Befreiung aus der Konfliktzone glückt dank eines Galans von adligem Geblüt, die Erlösungsbotschaft dient der Erzie­ hung des Weibes: Die Liebe, verstanden als Liebesdienst, ist die einzig wahre Mission seines Geschlechts, der Mann seine Bestimmung. So gebietet es die biedermeierliche Vernunft. Die Verinnerlichung der Lektion wird mit dem Gang zum Traualtar belohnt. Ein Hochzeits-Happy End, das morbiden Elfen und zerbrechlichen Geisterwesen à la Sylphide niemals zuteilwird. So steht auch das Märchen- und Feengenre des Balletts zunächst für existentielle Gegenentwürfe, zielt jedoch auf handfeste Realitäten und bleibt aufs Engste mit ihnen verzahnt. Charles Perrault, selbst Staatsbeamter und damit Bestandteil der Feudal­ bürokratie, hat noch die Stabilität der Adelsgesellschaft im Hinterkopf. Davon zeugt nicht zuletzt die Moral, die sein Dornröschen beschliesst: «Ein wenig auf einen Ehemann zu warten, der reich, schön anzusehen, von höflicher und feiner Art ist, ist ganz und gar üblich» – vollkommen korrekt, jedenfalls unter den Vorzeichen aristokratischer Heiratspolitik. Spätere Exegeten wie der Literaturwissenschaftler Jack Zipes deuten das Märchen als «symbolischen Diskurs über den Zivilisationsprozess» und die Verfestigung gängiger Stereotypen. Männer sollen stark, Frauen «schön, freundlich, anmutig, fleissig» und selbstbeherrscht sein. Dieses Profil rufen Perrault wie Petipa in Gestalt der liebenswürdigen Feen auf. Sie vertreten die Sonnenseite des Lebens und eine Ordnung, aus der Carabosse – warum auch immer – herausgefallen ist. Aber ist der gediegene Augenschein nicht eine Sinnestäuschung? Handelt es sich um halbwegs nachvollziehbare Ereignisse oder um ein Seelengespinst? Das 20. Jahrhundert neigt mehr und mehr der psychologischen Lesart zu und begreift, dass auch der ästhetische Schleier des Tanzes elementare Vorgänge kaschiert, die sich in den Tiefenschichten des Unterbewussten zutragen. Seit die Psychoanalyse Dornröschen und seine Schwestern auf die Couch legt, wird auch das Feencorps einer Exploration unterzogen, die auf seine Entzauberung hinausläuft. Was bedeutet: Im Gewand eines ballet d’action verhandelt Dornröschen einen inneren Reifeprozess und das Duell zwischen Gut und Böse, das in jedermanns Herz stattfindet. Ob man, wie Bruno Bettelheim, Sexualität und adoleszente Ablösung in den Mittelpunkt rückt oder den Aufbruch zu neuen Ufern – Dornröschen muss sich jedenfalls den rechten Weg zwischen dornigen Trieben und Blütenranken bahnen, die beide im Urgrund seiner Seele wurzeln. Uns treten sie als Kontrahentinnen, als Hexen und Fabelwesen entgegen. Aber sie bleiben doch: zwei Seiten ein- und derselben Medaille.

Das 20. Jahrhundert neigte zu psychologisierenden Lesarten des DornröschenMärchens


Dornröschen Ballett von Christian Spuck Musik von Pjotr I. Tschaikowski Choreografie und Inszenierung Christian Spuck Musikalische Leitung Robertas Šervenikas Bühnenbild Rufus Didwiszus Kostüme Buki Shiff Lichtgestaltung Martin Gebhardt Dramaturgie Michael Küster Ballett Zürich Junior Ballett Philharmonia Zürich Premiere 10 Okt 2020 Weitere Vorstellungen 14, 17, 18, 27, 29, 31 Okt; 7, 8 Nov; 18, 20, 26 Dez 2020 11, 24, 28 März 2021 Partner Ballett Zürich

ab und mit der Unterstützung der Freunde des Balletts Zürich Eine Koproduktion mit Den Norske Opera & Ballett / Nasjonalballetten, Oslo

Kunst bringt die Seite der menschlichen Natur zum Vorschein, «von der wir ohne die Hilfe dieses Spiegels gar nicht wüssten, dass wir sie haben: Jedes Werk enthüllt eine ungeahnte Dimension des Selbst.» Was der Philosoph Arthur C. Danto mit Blick auf die Literatur formuliert, wirft prompt die Frage auf: In welche verborgenen Kammern unseres Selbst wird Christian Spuck sein Dornröschen – und uns – entführen? Einen Wegweiser liefert vielleicht schon der Umstand, dass Charles Perrault die Gegenspielerinnen aus den surrealen Sphären namenlos liess. Weil sie Metaphern sind und schiere Polaritäten illustrieren: jung und alt, fürsorglich und zerstörerisch, schön und hässlich. Die Feendivision verkörpert innere Instanzen und Zustände, die im Extremfall gegensätzlich gedacht und doch miteinander verschwistert sind. Gleicht ihre Beschaffenheit nicht den widerstreitenden Stimmen, die unser Ego bewohnen und unaufhörlich miteinander Zwiesprache halten – mal lautstark tobend, mal leise flüsternd? Tagtäglich lauschen wir ihren Dramen, dem Für und Wider, den Auseinandersetzungen, die sie in uns und für uns zur Aufführung bringen. Auf dass wir zuletzt die richtige Entscheidung treffen und in der Lage sind, unser Ziel zu bestimmen und anzusteuern. Die vermaledeite Carabosse, die charmante Fliederfee – sind sie nicht auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet? Vielleicht in ein und demselben Ich gefangen? Und noch eins fällt auf, wenn Perraults La Belle au bois dormant neben die Balletttextur von 1890 gelegt wird: Das literarische Original ist mit sieben segensreichen Patinnen und einem böswilligen Exemplar bestückt, auf der Tanzbühne aber schnurrt das Personaltableau auf sieben Köpfe zusammen. Das entspricht der magischen Zahl, die sich von Teresa di Ávila und Jakob Böhme durch die Mystik der Neuzeit zieht, um die Stufen der Erleuchtung zu beschreiben, hin zu göttlicher Vollkommenheit. Weltliche Göttinnen, das waren die Tänzerinnen des 19. Jahrhunderts. Lise Noblet und Marie Taglioni genossen Kultstatus, wiewohl das erste Dornröschen anno 1829 davon unbeleckt blieb und sang- und klanglos unterging. Umso strahlender behauptet sich Marius Petipas royaler Luxuszauber. Doch statt die Puderzucker-Kanone nachzuladen, wird Christian Spuck wohl den Sandstrahler ansetzen und alle Patina abtragen. Nicht brachial, sondern mit der gebotenen Vorsicht. Bis Dornröschen uns so entgegentritt, wie es Arthur C. Danto vorschwebte: als blanker Spiegel der Selbsterkenntnis.


Dornröschen 19

Das Klassische neu denken Mit «Dornröschen» gelingt Marius Petipa und Pjotr Tschaikowski 1890 ein Welterfolg. Christian Spuck erarbeitet den Klassiker in einer Neufassung mit dem Ballett Zürich und hinterfragt dabei liebgewordene Klischees Fotos Admill Kuyler


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Christian, nach Schwanensee und dem Nussknacker präsentiert das Ballett Zürich nun auch das dritte der grossen Tschaikowski-Ballette. Was hat dich überzeugt, Dornröschen zu inszenieren? Ehrlich gesagt, habe ich mich bis jetzt vor diesem Wagnis gescheut. Es waren Mitarbeiter aus dem Opernhaus, die mich ermutigt haben, diese Produktion in Angriff zu nehmen. Der Erfolg von Nussknacker und Mausekönig, vor allem jedoch die hinreissende Musik Tschaikowskis haben mich dann schliesslich überzeugt. Hinzu kommt, dass der Dornröschen-Stoff aufgrund seiner zahlreichen unterschiedlichen Überlieferungen und Deutungsmöglichkeiten sehr spannend und zeitgemäss ist. Nach langen Monaten des Corona-Lockdowns scheint jetzt, im Herbst 2020, auch die Ballettwelt aus ihrem Dornröschen-Schlaf zu erwachen. Was be­ deutet Choreografieren in Zeiten einer Pandemie? Das Choreografieren funktioniert natürlich nicht anders als vor der Pandemie. Planung und Organisation unterscheiden sich allerdings gravierend, weil man immer davon ausgehen muss, dass so eine Neuproduktion und damit auch ein wichtiger Baustein im Spielplan des Opernhauses unter Pandemie-Bedingungen extrem gefährdet sind. Voraussetzung für das Gelingen ist, dass alle Beteiligten, vom Tänzer bis zu den Angehörigen des Bühnenpersonals, gesund sind und bleiben. Zum Glück haben die verantwortlichen Institutionen für das Ballett Zürich die gleichen Auf­lagen wie für professionelle Mannschaftssportarten festgelegt. Das heisst, dass wir weiterhin als Team zusammenarbeiten dürfen. Unsere Kontakte sind nach­ verfolgbar, und die gewissenhafte Einhaltung der Hygieneregeln ist den Tän­ zerinnen und Tänzern längst in Fleisch und Blut übergegangen. Niemand betritt das Studio, ohne vorher die Hände desinfiziert zu haben. Auch in ihrem Privat­­leben sind alle sehr bemüht, Abstand zu halten und ihre Sozialkontakte auf ein Mini­mum herunterzufahren, um diese Produktion nicht zu gefährden. Für junge Menschen im Alter zwischen Achtzehn und Anfang Dreissig ist das wahrscheinlich eine grosse Herausforderung… Natürlich. Aber für die Übertragung des Corona-Virus ist gerade diese Altersgruppe besonders relevant. Deshalb fehlt mir jedes Verständnis, wenn es in der Öffent­­­ lichkeit immer noch Menschen dieser Altersgruppe gibt, die meinen, von der Masken­­ pflicht ausgenommen zu sein und nicht auf Partys verzichten zu können. Dabei ist das Tragen einer Maske, mit der ich mein Gegenüber und andere Menschen schütze, ein notwendiger Ausdruck von Verantwortung. Bei uns greift bis jetzt zum Glück das für das Opernhaus Zürich entwickelte Schutzkonzept, und ich hoffe sehr, dass das so bleibt. Als Tänzer, aber auch als Choreograf kommt man an einem Meisterwerk wie Dornröschen wahrscheinlich nicht vorbei. Welche Dornröschen-Erfahrungen haben dich auf deinem bisherigen Weg beeinflusst? Während meiner Zeit als Tänzer im Stuttgarter Ballett habe ich in der Dornröschen-­ Inszenierung von Marcia Haydée in zahllosen Vorstellungen und auf vielen internationalen Gastspielen getanzt. Marcias Produktion basiert auf der Originalversion von Marius Petipa, ich kenne sie gut und schätze sie sehr. Stark beeindruckt und beeinflusst hat mich aber auch die Hamburger Version von Mats Ek, die zuletzt 2014 auch beim Ballett Zürich zu sehen war. Der schwedische Choreograf hat es geschafft, einen intelligenten, modernen und gesellschaftskritischen Zugang zu dem jahrhundertealten Stoff zu finden. Bis heute sind wir im Ballett geprägt von der Produktion, die Petipa und Tschaikowski 1890 in St. Petersburg herausgebracht haben und die nach wie vor als das Musterbeispiel eines klassischen Handlungsballetts gilt. Wie kann man sich dem Dornröschen-Stoff vor diesem Hintergrund heute nähern?

Die kleine Prinzessin in Gefahr: Ensembleszene mit Ballett Zürich und Junior Ballett


Das Geheimnis liegt wohl in der Art, wie Petipa die Reinheit des aus Frankreich kommenden klassischen Tanzes mit der Virtuosität italienischer Herkunft verbindet. Auf der Basis dieser Synthese entwickelte er seine eigene Tanzsprache, die uns bis heute fasziniert. Er weist der Primaballerina eine zentrale Rolle zu, der das gesamte Ballettpersonal in hierarchischer Staffelung untergeordnet ist. Sein hoher ästhetischer Anspruch und die genau kalkulierte Bühnenwirksamkeit seiner Choreo­ grafien lassen mich immer wieder staunen, er ist ein Ballettarchitekt ersten Ranges. Hinzu kommt, dass in Dornröschen wie in keinem anderen Ballett Musik und Choreografie auf minuziöse Weise miteinander verflochten sind. Tschaikowski hat mitunter taktgenau mit seiner Musik auf die Anweisungen und Vorgaben Petipas reagiert. Die Partitur erweist sich als sehr modern für ihre Zeit. Tschaikowski arbeitet mit einer Art Leitmotivtechnik, die Carabosse und der Fliederfee klar erkennbare Motive zuordnet, und die immer dann erscheinen, wenn die beiden in der Geschichte auftauchen. Beim Hören meint man vor dem inneren Auge genau zu sehen, was gerade passiert. Als Choreograf muss man sich entscheiden, ob man sich dieser grossen Vorlage stellt oder den Stoff völlig unabhängig von dieser Folie behandelt, einen gesellschaftskritischen Zugang versucht oder auch andere «Modernisierungsmassnahmen» für angebracht hält.


Welchen Lösungsansatz hast du für dich gefunden? Petipa hat die Dornröschen-Geschichte am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als Folie benutzt, um dem Publikum schönen Tanz zu präsentieren. Auch 130 Jahre nach ihrer Uraufführung ist das eine faszinierende Version. Ich versuche aber, einen anderen Zugang zu finden. Dornröschen ist zweifellos das Märchen mit den vielfältigsten Lesarten und Interpretationen. Es geht um das Erwachsenwerden, um Konflikte mit der Elterngeneration, um Überbehütet-Sein und das Erlangen von Mündigkeit, und es geht nicht zuletzt um die bedrohliche und die schöne Seite von Liebe und Sexualität. Neben all diesen Themen besteht mein Interesse aber auch darin, die Figuren, wenn immer möglich, aus ihren tradierten Rollenklischees zu lösen. Petipas Fassung ist dabei ein Vorbild, das ich gelegentlich zitiere, durch das Installieren revuehafter Elemente aber auch hinterfrage und konterkariere. Die durch das Märchen tradierte Einteilung in Gut und Böse greift sehr kurz und erschöpft sich auf der Bühne allzu rasch. Deshalb möchte ich mich von der Ein­ deutigkeit befreien, die bei Petipa und Tschaikowski angelegt ist. Ich finde es viel spannender zu hinterfragen, ob das vermeintlich Böse nicht auch eine gute Seite hat und ob die angeblich positive Figur auch wirklich nur positiv ist. Wie entgehst du der Gefahr, in eine Petipa-Falle zu tappen? Bei mir sind es wahrscheinlich eher die Fallen von Marcia Haydée und Mats Ek,


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weil ich diese beiden Produktionen so gut kenne. Da muss ich mir halt auf die Finger klopfen und mich zwingen, meine eigene Sprache finden. Tschaikowskis Musik ist oft sehr beschreibend für viele Situationen und Charaktere, und die choreografische Lösung scheint durch die Musik vorbestimmt zu sein. Da kann es helfen, das Ganze mit Ironie und vielleicht auch irritierenden Momenten zu hinterfragen. Neben der Titelheldin rückt die Fee Carabosse bei dir in den Mittelpunkt des Geschehens. Was bedeutet das für diese Rolle, die in der Aufführungstradition meist in der Pantomime verankert ist? Neben Aurora sind Carabosse und die Fliederfee die Hauptfiguren in Dornröschen. In vielen Dornröschen-Inszenierungen ist Carabosse bis heute eine Rolle für einen Charakterdarsteller, in der relativ wenig getanzt wird. Es hat allerdings auch immer wieder Versuche gegeben, das zu ändern. So hat Marcia Haydée die Rolle für den grossen Richard Cragun als grosse Tänzerpartie angelegt, und er ist mit seinem Rollenporträt wirklich legendär geworden. Sein diabolischer Aufritt, vor allem im Prolog, ist mir bis heute unvergesslich. Später hat Mats Ek die böse Fee dann in einen Drogendealer und Zuhälter umgedeutet und in seiner prägnanten Tanz­­sprache detailgenau ausgearbeitet. Auch für mich ist Pantomime keine Option, weil sie meist altmodisch wirkt und letztlich immer eine Notlösung bleibt. Reizvoller scheint mir, wenn Carabosse sich wie alle anderen Figuren choreografisch mitteilt und ihr Charakter auf Grundlage der Choreografie erkennbar wird. Ich fand es bei der Lektüre des Märchens schon immer eigenartig, dass die böse Fee einen Todesfluch ausspricht, nur weil sie nicht zur Feier einer Kindstaufe eingeladen wurde.

Michelle Willems (Aurora) und Lucas Valente (König)

Welche wirklichen Gründe könnte sie haben? Da ist vieles denkbar. Vielleicht ist sie grundsätzlich ausgeschlossen aus der Feenwelt, vielleicht gibt es eine Vorgeschichte. Im Endeffekt ist der genaue Grund gar nicht so wichtig. Es kommt mehr darauf an, die Figur aus ihrer Eindimensionali­tät herauszuholen und sie mit anderen Facetten auszustatten, zu denen auch ihre Verletzlichkeit und Liebesbedürftigkeit gehören. Um das zu erreichen, haben wir Tschaikowskis Musik teilweise neu angeordnet. Ähnlich wie im Nussknacker steht bei Tschaikowski und Petipa auch bei Dornröschen ein Divertissement am Schluss des Balletts, das für den Gang der Geschichte keine Rolle mehr spielt und einzig als Folie für eindrucksvollen Tanz vorgesehen war. Da finden sich viele wunderbare Musiknummern, die ich jetzt in den Prolog und die beiden Akte meines Balletts integrieren konnte, um den Figuren hoffentlich mehr Tiefe und Schärfe zu verleihen. Das hat sicher Auswirkungen auf Märchenfiguren wie Rotkäppchen, den Gestiefelten Kater oder den Blauen Vogel, die den dritten Akt bei Petipa revue­ gleich bevölkert haben? Bei diesen Märchenfiguren ging es vor allem darum, das Können der Tänzerinnen und Tänzer des Kaiserlichen Balletts zu zeigen, die Geschichte dieser Märchen­ helden war völlig nebensächlich. An dieser Stelle ist ja bereits alles erzählt, und das Ende des Stücks wird künstlich hinausgezögert. Natürlich möchte man viele der fantastischen Musiknummern nicht missen, deshalb haben wir sie zum Teil an an­ de­rer Stelle in unsere Version integriert. Den Balletten Marius Petipas war die Revuehaftigkeit als strukturgebendes Element eingeschrieben, wenn wir beispielsweise auch an die grosse Parade der unterschiedlichen Nationaltänze in Schwanensee denken. In unsere Aufführung sind revuehafte Elemente eingestreut, und es gibt durchaus auch märchenhafte Fabelwesen. Neben diesen revuehaften und konterkarierenden Momenten gibt es in deiner Choreografie aber auch immer wieder Momente, in denen Balletttradition durchzuschimmern scheint. Durch die Vision, in der die Fliederfee dem


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Prinzen das Bild von Aurora vor Augen führt, weht für mich in deiner Interpretation zum Beispiel so ein Hauch des weiss-romantischen Balletts. Welche Rolle spielt Tradition für dich als Choreograf? Ballett ist eine tief in der Tradition verankerte Kunstform. Selbst wenn ich mir neueste Arbeiten eines William Forsythe anschaue, wurzeln die immer in der Ballett­ tradition. Wir beziehen uns in unserer Dornröschen-Version auf Petipa. Nicht im Sinne einer Rekonstruktion oder eines Nachbuchstabierens, sondern aus einer neuen, ironisch gebrochenen Perspektive. Und dazu gehört eben auch ein grosser Auftritt der Damengruppe als Referenz an Petipa, der solche Szenen zur äussersten Perfektion geführt hat. Bei Petipa und seinem Librettisten Wsewoloschski ist die Fliederfee der positive Gegenpol zu Carabosse. In welchem Verhältnis stehen die beiden Feen in deiner Version? Die Fliederfee gibt es in Charles Perraults Märchen nicht, sie ist tatsächlich eine Erfindung für das Ballett, sozusagen Futter für die zu beschäftigenden Ballerinen. Ich misstraue ihrer schablonenhaften Aufteilung in Gut und Böse. Vielleicht ist die Fliederfee ja gar nicht so gut, wie es uns viele Dornröschen-Aufführungen glauben machen wollen, und möglicherweise gelingt es ja auch Carabosse, über sich selbst und ihre Rachegefühle hinauszuwachsen… Wir haben über die Feen gesprochen, aber wer ist Dornröschen für dich? Nach dem lange unerfüllten Kinderwunsch des Königspaares wächst Aurora als völlig überbehütetes Mädchen wie unter einer Glasglocke auf. Alle Gefahren werden von ihr ferngehalten. Nach dem Fluch, demzufolge sie sich an einer Spindel stechen und sterben wird, lässt der König sein Reich von sämtlichen Spindeln befreien. Das ist ein starkes Bild für dieses Überbehütet-Sein, welches Aurora nicht erlaubt, den Schritt in die Pubertät und Sexualität zu gehen. Der Spindelstich steht für all jene Erfahrungen und auch Verletzungen, die ein Mensch durchleben muss, um erwachsen zu werden. Der Schlaf, in welchen die Fliederfee den bösen Fluch abgemildert hat, wird beendet durch den Kuss der wahren Liebe, durch die in Mündigkeit erfolgende Auseinandersetzung mit einem Partner. In diesem Punkt ist Aurora gewissermassen eine Verwandte der Marie aus Nussknacker und Mausekönig. Wichtig erscheint mir allerdings noch ein weiterer Aspekt. Dornröschen führt uns vor Augen, dass dieses Mädchen die Folgen des Fehlverhaltens ihres Vaters auszubaden hat. Die Elterngeneration gibt ihre Konflikte an die Nachge­ borenen weiter. Zu deiner Choreografie für das Ballett Zürich kommt mit dem sehr kom­ plexen Bühnenbild von Rufus Didwiszus eine zweite Choreografie, nämlich die des Raumes. Rufus hat für unsere Inszenierung ein grosses, bewegliches Haus entworfen, in dessen von Türen und Gängen durchbrochenen Zimmerfluchten das Märchen zu Hause ist. Dieses Bühnenbild schafft die Gleichzeitigkeit von Ereignissen und eröffnet dabei ungeahnte Perspektiven auf das Geschehen. Normalerweise sind wir bei Ballettaufführungen an eine grosse Freifläche für den Tanz gewöhnt. Auch für mich war die Enge zunächst gewöhnungsbedürftig, doch inzwischen hat sich diese Herausforderung als aufregende Möglichkeit erwiesen, neue Blickwinkel für diese Produktion zu eröffnen. Dornröschen ist immer auch ein Ausstattungsballett gewesen. Wie bei Nussknacker und Mausekönig liegen die Kostüme bei Dornröschen erneut in den Händen der israelischen Kostümbildnerin Buki Shiff. Zu welcher Zeit lässt sie Dornröschen spielen? Auch Buki Shiff ist stark im Hinterfragen von Traditionen. In ihren wunderschönen

Das Königskind wird mit guten Wünschen überhäuft: Szene mit Wei Chen, Dominik Slavkovský, Iacopo Arregui, George Susman und Mark Geilings


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und hochästhetischen Kostümen für Dornröschen geht sie überaus fantasievoll und spielerisch mit den Zeiten um. Zwischen dem ersten und zweiten Akt liegen ja bekanntlich 100 Jahre. Für diesen Zeitsprung geht Buki in die entgegengesetzte Richtung: Prolog und Erster Akt finden um die Mitte des 20. Jahrhunderts statt, im zweiten Akt finden wir uns dann im frühen 19. Jahrhundert wieder. Neben den Zeiten spielt sie aber meisterhaft auch mit den Geschlechtern, so dass man sich oft fragt, wer denn nun eigentlich weiblich und wer männlich ist. Dieses Verwirrspiel gefällt mir sehr. Was wünschst du dir für dieses neue Dornröschen? Zuallererst natürlich, dass es nicht von Corona betroffen wird! Ich hoffe, dass unsere Aufführung nicht nur das Publikum unterhält, sondern auch inspirierend für die Tänzerinnen und Tänzer ist. Vielleicht gelingt es uns, etwas Neues über das Stück zu erzählen und Tschaikowskis unsterbliche Musik auf neue Art erfahrbar zu machen. Dass wir in diesen besonderen Zeiten solch eine Riesenproduktion stemmen dürfen, ist ein grosses Glück. Das Gespräch führte Michael Küster


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Die schlafende Schönheit Die im Tiefschlaf auf die Erlösung durch einen Prinzen wartende Schöne kennen wir alle. Doch dass das Märchen in der Version des fran­zösischen Schrift­ stellers Charles Perrault, die über 100 Jahre vor den Brüdern Grimm entstand, ursprünglich viel grausamer war, wissen die wenigsten

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as Märchen der Brüder Grimm ist eines der schönsten Beispiele dafür, wie dunkle Mythen und abgründige Wahrheiten für die kindliche Phantasiewelt in mundgerechte Happen geschnitten werden. Weil es nicht genug goldene Tellerlein gibt, wird eine mächtige Fee nicht eingeladen; sehr unwürdig, aber nicht untypisch für Hoheiten, ist sie stockbeleidigt und verhängt einen Fluch. Dieser kann von den versammelten guten Feen nur abgemildert, aber nicht aufgehoben werden. Der Stich der Spindel zur Zeit der Geschlechtsreife spielt mit sexueller Symbolik. Er öffnet aber nicht den Weg in das weibliche Leben, sondern führt in einen todesähnli­ chen Schlaf. Das Leben steht still, undurchdringliche Dornenranken wuchern um das vom Leben verlassene Gemäuer. In diesem stacheligen Gestrüpp modern die Skelette eroberungslustiger Männer. Sie haben zum falschen Zeitpunkt versucht, zur schlafenden Schönheit vorzudringen. Dann aber, zum genau richtigen Zeitpunkt, erscheint Mister Right, die bösen Dornen weichen nicht nur, sie tragen Blüten, ein Kuss setzt das Leben wieder in Gang, der Spuk ist verschwunden, wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch. Die von einem undurchdringlichen Wall umgebene Jungfrau hat eine weniger zierliche Ahne: Die Walküre Brünhild, die dem Gebot des Schlachtenlenkers Wotan


Illustration: Anita Allemann

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nicht gehorcht. Sie wird von diesem in einem Feuerring eingeschlossen. Nur der mu­ tigste Held, der keine Furcht kennt, kann durch die Waberlohe reiten und die Schöne aus ihrem Zauberschlaf erwecken. Diese zweite Geschichte ist oft erzählt worden und geht fast immer schlecht aus, denn der Held ist nicht treu, er tritt die Walküre einem Freund ab, sie rächt sich, am Ende sterben Verratene und Verräter. Vom frühen Nibelungenlied bis zu Richard Wagners Ring-Opern ist die Geschichte des heroischen Dornröschens noch nie gut ausgegangen. Warum? Dahinter steckt ein Dilemma, das uns das Märchen erspart: Auch die grösste Macht kann Liebe nicht erzwingen. Wotan ist eifersüchtig. Er will die Liebe der Wal­ küre ganz für sich haben. Der mächtige Vater, der seine Tochter nicht loslassen kann, ist das Gespenst hinter der Tragödie. Aber auch die Tochter spielt mit. In manchen Fassungen der Sage will sie sich keinem Mann hingeben, der schwächer ist als sie; nur dank der Tarnkappe kann sie dann Siegfried für seinen Freund (und späteren Verräter) Gunter erringen. Psycho­ analytiker vermuten eine unbewusste Vaterbindung, wenn ein modernes Dornröschen erst einmal keinen Mann ihre Stacheln durchdringen lässt, weil ihr keiner gut genug ist. Er reicht nicht an den idealisierten Vater einer vergessenen kindlichen Welt heran. Aber anders als im Märchen gibt es keinen Zauber, der ewige Jugend garantiert. Ein neurotisches Dornröschen war lange Zeit damit beschäftigt, Bewerber zurück­ zuweisen, getragen von der Hoffnung, dass der Richtige nicht ausbleiben wird. Er soll sie aus der unbewussten Bindung an das Ideal erlösen. So ist sie oft schon verblüht, wenn sie endlich Hilfe sucht, weil die Bewerber um ihre Gunst nicht mehr besser und schöner kommen, sondern sich als schlappe Gestalten erweisen, die beim ersten Zö­ gern abdrehen und das Weite suchen, noch ehe die Prinzessin sie dorthin schicken kann. Auch das ist, wie Heine schrieb, «eine alte Geschichte/doch ist sie immer neu/ und wem sie just passieret/dem bricht das Herz entzwei». Das Ballett Dornröschen nach der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowski folgt anfangs nicht dem Märchen der Brüder Grimm, sondern der viel älteren Fassung La belle au bois dormant von Charles Perrault. Allerdings blicken Tschaikowski und sein Librettist auf Perraults Text mit den Augen der Märchensammler des 19. Jahrhunderts, die gern sahen, wie sich im Volksmund, von Grossmutter zu Grossmutter den Kleinen erzählt, das Kunstmärchen zum Volksmärchen abschleift wie ein scharfkantiges Stück Quarz zum bunten Kieselstein. Bei Perrault hat das Märchen einen Schluss, den Dornröschen dem Leser erspart. Er verlagert das Thema der Rache an den Liebenden vom Vater auf die Mutter. Zwar hat die gute Fee dem Prinzen den Weg zu seinem Glück gezeigt, aber der Prinz muss um seine Liebe fürchten, denn seine Mutter ist eifersüchtig. Daher hält er die Ehe geheim. Erst als zwei Jahre später sein Vater stirbt und er selbst die Krone trägt, holt er seine Schöne und zwei inzwischen geborene Kinder heim. Als der Ehemann in den Krieg ziehen muss, befiehlt die alte Königin, Dornrös­ chen und die beiden Kinder zu schlachten und zu braten. Der weise Haushofmeister versteckt die Bedrohten und serviert an ihrer Stelle eine Hirschkuh, ein Lamm und ein Zicklein. Als der König heimkommt und von dem gescheiterten Mordplan erfährt, richtet sich die alte Königin selbst. Dem Ballett ist dieser Schluss zu grausam. Hier endet die Erzählung, wie in Grimms Märchen, mit einem grossen Fest; die Gäste tragen die Masken von Märchen­ figuren – Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Scheherazade, Aladin, Colombina und Harlekin, Frosch und Prinzessin, Schneewittchen und die Zwerge. Sie rahmen den Pas de deux des Brautpaares. Der in München lebende Dr. Wolfgang Schmidbauer praktiziert als Psychoanalytiker, schreibt Bücher und eine Kolumne im Magazin der «ZEIT». Sein zuletzt erschienenes Buch heisst «Kaltes Denken, warmes Denken – über den Gegensatz von Macht und Empathie».


L’elisir d’amore In dieser Wiederaufnahme singt der Schweizer Tenor Mauro Peter, der aus Luzern stammt, aber längst auch an den Opernhäusern in Wien, Berlin, Salzburg und Madrid auftritt, den Nemorino. Dieser will mit einem vermeintlichen Liebes­ trank – dem Titel gebenden «elisir d’amore» – Adina für sich gewinnen. Doch diese gibt zunächst Belcore den Vorzug. Erst als reichlich Tränen ge­ flossen sind, kann es zum Happy End kommen... Als Adina steht erstmals die junge armeni­ sche Sopranistin Mané Galoyan in Zürich auf der Bühne, Samuel Dale Johnson singt Belcore und Erwin Schrott den Liebestrank-Händler Dulcamara. Wiederaufnahme 18 Okt 2020 Weitere Vorstellungen 23, 25, 30 Okt, 8 Nov 2020


Fotos: Judith Schlosser

Wiederaufnahme


30 Volker Hagedorn trifft …

Mauro Peter Mauro Peter stammt aus Luzern und ist seit 2013 En­semble­ mitglied am Opernhaus Zürich. Hier wird er ab 18. Oktober in der Wie­der­­aufnahme von Donizettis «L’elisir d’amo­re» als Nemorino zu erleben sein. Aus­­ser­dem ist der junge Tenor, der auch ein gefragter Liedsänger ist, regel­mässiger Gast bei den Salzburger Fest­ spielen, beim Festival d’Aix-­en-­Provence, bei der Schuber ­tiade Schwar­zen­­berg, im KKL Luzern, in der Londoner Wig­more Hall und im Wiener Musikverein.

Wir treffen uns sozusagen im Auge des Orkans, wobei es ein wunderschöner Spät­ sommertag in München ist, sonnig und warm. Es ist aber nicht irgendein Tag, sondern der des «Ozapft is», das in diesem Jahr nicht auf der «Wiesn» stattfindet, wegen Corona, sondern in zahllosen Wirtshäusern der Stadt. Und das berühmteste in der Mitte hat sich Mauro Peter zum Treffpunkt erkoren, der lyrische Tenor, um über das Singen, die Oper und andere wichtige Dinge zu reden, zu denen für ihn halt auch das Hof­ bräuhaus zählt. Grosser Rummel in der schmalen Gasse davor, ein Gedränge aus Tou­risten und Trachtenträgern jeglichen Alters, zwischen denen ein herausragend stattlicher Mann erscheint und heiter um sich blickt: Mauro Peter, vor 33 Jahren in Luzern geboren. «Das hat mit meiner Münchner Zeit zu tun», meint er, als wir drin­ nen die Treppen hochgehen, die Gaststube unter uns lassend. Fünf Jahre lang hat er in der bayerischen Landeshauptstadt studiert, «seitdem trinke ich wahnsinnig gern Bier. Ich kann gern mal ausgelassen sein, auch wenn man sich immer ein bisschen zu­rücknehmen muss, weil’s nicht das Beste für die Stimme ist.» Er lacht so, wie ein Tenor lacht, der sehr gut bei Stimme ist. Weil er die aber nicht nur in Form halten, sondern stetig entwickeln will, hat er am Nachmittag Unterricht bei seinem Coach am Starnberger See, und da liegt das Hofbräuhaus praktisch an der Strecke. Wir werden in unserer Chambre séparée im zweiten Stock allerdings keinen Tropfen trinken, nicht mal Wasser. Es ist kein Kämmerchen, sondern ein Saal, gross genug für eine Probe mit ganzem Ensemble, von Mittagslicht durchflutet, durch dessen Fensterscheiben die Blasmusik von draussen dringt und wo man uns schlicht vergisst. Umso konzentrierter bleibt der Sänger gleich bei dem Thema, das ihn gerade am meisten beschäftigt – die Ent­ wicklung der Stimme. «Wie schaffe ich es, das Repertoire zu erweitern, den grossen Körper, den ich habe, besser zu nutzen, das Lungenvolumen? Es ist ja nicht grosse Lunge gleich grosser Atem. Es gibt ganz dünne Sänger mit enorm langem Atem. Die teilen sich ihre Kräfte ökonomisch ein. Und ich möchte das erweitern, ohne hinten raus etwas zu verlieren. Ich möchte immer noch ein Heidenröslein singen können.» Mauro Peter ist nämlich Liedsänger ebenso, wie er Opernsänger ist, und gerade vor einer Woche hat er in Linz mit dem Pianisten Helmut Deutsch seinen zweiten Auf­­tritt nach dem Lockdown gehabt, jenem legendären Begleiter, nun schon 74 Jahre alt, mit dem er auch Schumanns Dichterliebe aufnahm. «Es sind ganz, ganz leise Töne mit dabei, die würden leiden, wenn das nur noch mit Druck geht, weil die Stimme nicht richtig schliesst.» Und eben das könne passieren, wenn die Stellknorpel, an denen im Kehlkopf die Stimmlippen befestigt sind, auf kräftige Heldenhöhen trainiert wer­ den. «Das singen die strong men, die Gewichtheber. Man verlangt ja auch nicht von einem Kugelstosser, dass er Ballett tanzt, und ich komme stimmlich gesehen vom Ballett her… vielleicht werde ich mal zum strong man, vielleicht auch nicht. Wer weiss…» Fürs erste würde er, der jetzt in Zürich den Nemorino im Elisir d’amore singt, sich schon mal den David in Wagners Meistersingern zutrauen. Was aber den Stolzing angeht: «Ich sehe vielleicht so aus, aber meine Stimme ist weit davon entfernt, das zu stemmen.» Auch kleineren Schritten zur Vielfalt stehe freilich die «Schubladisierung» der Branche im Weg, die Festlegung auf ein Fach. «Es gibt Leute, die das aufbrechen, wie Daniel Behle, der singt Mozart, hat aber auch schon seinen ersten Lohengrin ge­ ­sungen und macht dann wieder eine sehr feine Liedplatte. Mit meinem Coach Dietrich Schneider kann ich jedenfalls etwas tun, um die Stimme zu erweitern. Dem ist es völlig wurscht, wieviel Erfolg ich irgendwo habe. Ihn interessiert nur, wie ich singe da in seinem Häuschen.»


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Der erste, dem Mauro Peters Stimme auffiel, war Marc-Olivier Oetterli, inzwischen renommierter Bassbariton, der als junger Leiter der Singknaben in Luzern durch die Grundschulen der Stadt zog, auf Talentsuche, und den Neunjährigen als Alt in den Chor holte. «Auch meine Eltern haben im Chor gesungen, und im Radio lief immer Klassik, das war Teil des Alltags, aber man mass dem keine grosse Bedeutung zu. Mein Bruder ist in Richtung Sport gegangen, er wurde die Nr. 66 im weltweiten Squash-­ Ranking! Wir konnten uns entwickeln, wie wir wollten. Bei mir kam mit siebzehn der Wunsch auf, professionell zu singen. Wir haben mit den Singknaben ein Musical ge­ macht, Rat’nRoll, und ich habe unerwartet die Hauptbösewichtsrolle gekriegt und wusste, ich will auf die Bühne. Aber nicht zum Musical, ich wollte zur Oper.» Er war da längst vom Alt zum Tenor geworden, «nahtlos», ohne Umwege. An der Münchner Hochschule für Musik und Theater gewöhnte ihm Fenna Kügel-Sei­ fried erst einmal das «Chorige» ab und arbeitete an der Höhe, an den Obertönen, an der Körperlichkeit. «Ich hatte in der Mittellage schon ein bisschen was und dachte, klar, das kann man jetzt nach oben verlagern. Aber ich kam da nicht raus, habe den Ferran­do gesungen…» Er parodiert sich krächzend: «Höaahh…», und in diesem Moment schaut eine Kellnerin in den Saal, zieht erschrocken den Kopf zurück und schliesst die Tür. Wir müssen weiter trocken bleiben. «Also, du musst die Stimme oben abschlanken», fährt Mauro Peter unbeeindruckt fort, «und dann gibt’s plötzlich eine Weiterentwicklung!» Die verlief bei ihm rasant. Er war noch an der Theaterakademie, nach der Hoch­ schule, als er der damaligen Zürcher Operndirektorin Sophie de Lint vorsang und um­gehend einen Vertrag in der Hand hatte. Und kaum hatte der 26jährige 2013 in Zürich als Jaquino im Fidelio debütiert, sah er sich in Wien einem der bedeutendsten Dirigenten der Zeit gegenüber. Vorsingen bei Nikolaus Harnoncourt im Musikverein, Mozart, ein hochnervöser Mauro Peter beginnt mit Belmontes erstem Rezitativ: «Kon­stanze, Konstanze, dich wieder zu sehen!» Blütenschön singt er mir gegenüber am Tisch die ersten Takte. Doch sofort habe Harnoncourt abgebrochen und ihn be­ schwo­ren: «Sie müssen das so… so völlig begeistert… Sie können nicht mehr weiter… Kon­stanze», mit abbrechender Endsilbe singt er jetzt wie Harnoncourt, fast röchelnd. «Er war da mit seinen riesengrossen, feurig leuchtenden Augen und hat mir das vor­ gemacht, und dann kamen wir vielleicht auf zehn Takte in vierzig Minuten.» Aus dem Vorsingen war gleich eine Probe geworden; im nächsten Jahr sang Mauro Peter den konzertanten Da-Ponte-Zyklus im Theater an der Wien unter der Leitung des Meisters, den Basilio, den Don Ottavio, den Ferrando. Bei so einem Start lässt der Ruf nach Salzburg nicht lange auf sich warten. Als Andres im Wozzeck debütierte der Tenor 2017 in derselben Produktion wie Asmik Grigorian als Marie. Doch im Jahr danach geriet die Salzburger Zauberflöte, deren Tamino er war, in den Schatten des Salome-Triumphs. Mit der Regie wurden von Kritikern auch die Solisten ausge­ zankt, das traf ihn hart. «Bei mancher Kritik ist auch Nostalgie mit dabei… Dann geht’s halt raus und hört euch alte CDs an! Es gibt jetzt die Sänger, die da sind, so schlecht sind die nicht.» So selbstbewusst, sagt er, denke er erst seit Corona. Zwei Monate lang sang er keinen Ton, «der Antrieb war komplett weg». Er dachte viel über sich nach und stiess auf «mein Bedürfnis, von aussen Anerkennung zu kriegen. Aber den Selbstwert darf man sich nicht von aussen definieren lassen. Kritik darf man nicht persönlich nehmen, auch wenn in meinem Singen meine ganze Persönlichkeit ist. Das zu begreifen ist ein grosser Durchbruch. Käme jetzt ein zweiter Lockdown, würde ich die Zeit nutzen. Es hat seinen Sinn, was ich mache, was das Theater macht, und ich will mich weiter­ entwickeln. Wenn wir in acht Jahren wieder hier sitzen oder woanders, wird mir meine Stimme von 2020 vielleicht wie mein kleiner Bruder vorkommen!» Er lacht, und die Blaskapelle unten auf der Gasse spielt immer weiter. Volker Hagedorn



Die geniale Stelle 33

Tanz und Kampf Vier Töne aus Ludwig van Beethovens 7. Sinfonie

In der unrühmlich dahingeschwundenen DDR gab es einen Musikwissenschaftler, der die fixe Idee verfolgte, nahezu jeder melodischen Linie Beethovens liessen sich die Worte der Ode an die Freude unterlegen. In zahllosen Publikationen hat er sich mit diesem – allzu offensichtlich ideologisch bestimmten – Bild eines Lebenswerks, das geradlinig auf das Finale der 9. Sinfonie und die darin ausgedrückten Ideen zusteuert, zum Gespött seiner Fachkollegen gemacht. Der Fall wäre nicht mehr der Erwähnung wert, würde nicht eine grosse Wahrheit in der Narrheit liegen: Denn tatsächlich hat kaum ein anderer Komponist Zustände grösster, alle Grenzen sprengender Freude komponiert. Und keineswegs nur im Finale seiner letzten Sinfonie. Man hat die auffällige Neigung zur Gestaltung solcher Ausbrüche mit Beethovens cholerischem Charakter erklärt, denn der Choleriker kennt nicht nur heftige Zornausbrüche, sondern auch Zustände geradezu ekstatischer Freude, wie sie Beethoven erstaunlich oft gestaltet hat. So auch im Finale seiner siebten Sinfonie, die Richard Wagner als «Apotheose des Tanzes» bezeichnete. Das Hauptthema des Satzes ist eine übermütig wirbelnde Tanzmelodie, die von slawischer Volksmusik inspiriert ist und dem ganzen Satz ihren unwiderstehlichen Schwung verleiht. Aber seltsam: In der zweiten Periode dieses Themas spielen die ersten Violinen eine nur vier Töne lange, chromatisch absteigende Linie, deren klagender Charakter in auffallendem Widerspruch zur Umgebung steht. Es ist nur eine kurze Eintrübung, die im allgemeinen Trubel fast untergeht. Aber ein Blick in die Stimmen der Holzbläser lässt aufmerken: Ihre Stimmen betonen nachdrücklich den Charakter der Klage, indem die Linie aus vier Tönen in zwei Gruppen zu je zwei absteigenden Sekundschritten zerlegt wird. Die absteigende Sekunde aber wird traditionell als Seufzer-Motiv, als Symbol der Trauer oder des Schmerzes verwendet. Wie Schiller wusste Beethoven um die Kraft der Freude, die Menschen zu verbinden, und entdeckte in den Momenten, wo sie das bewirkt, den Vorschein eines besseren Lebens, eines solidarischen Lebens in Freiheit: wo «alle Menschen Brüder» sind. Diesen Gedanken hat er immer wieder gestaltet (und insofern war der vorerwähnte Musikwissenschaftler auf der richtigen Fährte). Aber Beethoven war nicht der Maler gemütlicher Idyllen. Er wusste auch darum, dass dieses erträumte Glück gefähr­ det ist, erkämpft und verteidigt werden muss. Die kriegerischen Passagen dieses Satzes mit ihren heftig punktierten Rhythmen, die auf die Musik der französischen Revolution verweisen, stehen dafür ein. Das hat die junge Bettina von Arnim wohl verstanden, die an Goethe schrieb, beim Anhören dieser Musik habe sie sich vorgestellt, «den Völkern mit fliegender Fahne voranziehen zu müssen». Voranzuziehen, so würde Beethoven vielleicht fortgesetzt haben, in den Kampf für die Befreiung der Menschheit in Freude. In einer Freude freilich, die immer gefährdet ist, die immer verteidigt werden muss gegen die Feinde der Menschheit. So fallen der von Wagner apostrophier­te Tanz und Bettinas Kriegsmarsch in eins. Der ekstatische Charakter des Finales ist mithin nicht einfach psychologisch aus Beethovens cholerischem Charakter zu erklären. Dahinter – und hinter den Verdüsterungen, die immer wieder einbrechen und überwunden werden – steht vielmehr ein weitreichendes, die gesamte Menschheitsgeschichte umspannendes politisches Programm, dessen Essenz in gerade einmal vier Tönen übermittelt wird. Werner Hintze


Boris Godunow «Ein voller Erfolg» (Tages-An­ zeiger), «ein berührender Abend» (Deutschlandfunk), «Musikalisch und szenisch ist das ein Kraftakt sondergleichen. Aber er lohnt alle Mühen» (NZZ) – die Eröffnungspremie­re am Opernhaus Zürich be­ geisterte Presse und Publikum. Michael Volle als Boris konnte ebenso überzeugen («stimmlich ungeheuer wandelbar», FAZ) wie auch die Regie von Barrie Kosky. Die coronabedingte Live-­Übertragung von Chor und Orchester ins Haus sei ausserdem «Tonmischtechnik vom Feinsten» (FAZ). Weitere Vorstellungen 9, 16, 20 Okt 2020


Fotos: Monika Rittershaus


36 Fragebogen

Spencer Lang Aus welcher Welt kommen Sie gerade? Aus dem Land der Pandemie – wo ich immer noch bin! Tragt bitte eure Masken, alle! Worauf freuen Sie sich in den Neuproduktionen Boris Godunow und Die Csárdásfürstin? Ich liebe die grosse Freiheit, die ich beim Spielen und Experimentieren auf der Bühne bei Boris Godunow habe. Es war ein grosses Vergnügen, diese be­ sondere Art des Agierens auf der Bühne mit Barrie auszuprobieren. Und ehrlich gesagt liebe ich es, wie vulgär und schrecklich ich in der Csárdásfürstin sein darf… Das macht eine beschämend grosse Freude!

Mit welchem Künstler würden Sie gerne essen gehen, und worüber würden Sie reden? Mit meinem Verlobten. Er ist ein Schauspieler, deshalb zählt diese Antwort! Ich habe ihn seit März wegen der Pandemie nicht mehr gesehen (er lebt in Kanada) und vermisse ihn furchtbar. Ich bin sicher, dass wir den Abend zu­sammen verbringen würden, um unsere gemeinsame Zukunft zu planen. Nennen Sie drei Gründe, warum das Leben schön ist! – Das Vorübergehen der Jahreszeiten, – wenn man jemanden nach einer langen Zeit wieder umarmt... – Tiere!

Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt? Eine schwierige Frage. Ich glaube, die Tatsache, dass ich meine musikalische Ausbildung als Pianist begonnen habe, hatte den grössten Einfluss auf mein Leben und meine Karriere. Ich begann mit vier Jahren mit dem Klavier, und erst als ich an der Universität war, fing ich ernsthaft mit dem Gesang an. Meine pianistische Vorbildung hilft mir noch immer, wenn ich eine neue Rolle einstudiere. Welches Buch würden Sie niemals weggeben? Ich besitze eine Ausgabe von Game of Thrones mit Kommentaren einer lieben Freundin von mir. Sie teilte all ihre Lieblingsmomente und ihre Gedanken. Ich könnte mich nie davon trennen. Welche CD hören Sie immer wieder? Queen: A Night at the Opera. Das ist Kult. Welchen überflüssigen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten? Mein Nintendo Switch. (Ich bin im Herzen immer noch ein Kind, werde es immer bleiben.)

Spencer Lang ist momentan als Gottesnarr in «Boris Godunow» und als Boni in der «Csárdásfürstin» am Zürcher Opernhaus zu erleben. Er stammt aus Sandy/Oregon und studierte an der Juilliard School in New York sowie am Curtis Institute of Music in Philadelphia. Er war Mitglied des Inter­na­tio­ nalen Opernstudios in Zürich und gehört seit 2016/17 zum Ensemble des Opernhauses Zürich. Hier sang er u.a. Pedrillo («Die Ent­ führung aus dem Serail»), Arcas («Médée»), Graf Gustav («Das Land des Lächelns»), Jaquino («Fidelio»), Mister Bobo / Ander-­ Bobo («Coraline»), Tobias Ragg in der Musical-­Neu­produktion «Sweeney Todd» und in «Hippolyte et Aricie».


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