MAG 79
Nadja Loschky inszeniert «Alice im Wunderland»
Der neue Arteon Shooting Brake Mehr als beeindruckend
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Editorial
Mit Musikern im Graben Verehrtes Publikum, wenn man an einer Opern-Produktion mitarbeitet und in den Proben wochenlang die immergleichen Musikstücke hört, lebt man mit Ohrwürmern. Man kriegt die Melodien einfach nicht mehr aus dem Kopf, nimmt sie mit in den Supermarkt, mit nach Hause und nicht selten sogar mit ins Bett. Bei der Arbeit an unserer Operette Die Csárdásfürstin war das ein ernstes Problem. Ich habe Emmerich Kálmáns Schlager melodien verflucht, mich mit aller Kraft gegen sie gewehrt, und trotzdem fing, natür lich stets zur Unzeit, eine innere Stimme fröhlich an zu trällern: «Ohne Weiber geht die Chose nicht.» Das war sehr unangenehm. Aber jetzt bin ich davon erlöst, denn ich habe kein Operettenschmalz mehr im Ohr, sondern Arien von Giovanni Battista Pergolesi! Wir proben unsere neue Barock-Produktion, die am 1. November Premiere hat, und ich kann von der Musik nicht genug bekommen. Was ist dieser Pergolesi, der nur 26 Jahre alt wurde und sein gesamtes Opern- Œuvre in fünf Jahren schrieb, für ein fantastischer Komponist! Seine Bravournummern sprühen vor Temperament und virtuosem Raffinement, die lyrischen Arien sind von herzerweichender Schönheit. Alles ist persönlich im Ausdruck und tief empfunden, nichts routiniert heruntergeschrieben. Die Musik seines Haupt- und Meisterwerks L’Olimpiade schlägt fast durchweg Töne an, die zum Besten gehören, was die italieni sche Barockoper zu bieten hat. Umso erstaunlicher, dass die Werke des Neapolitaners, einmal abgesehen von seinem berühmten Stabat mater und seiner Buffa La serva padrona, nur vergleichsweise selten aufgeführt werden. Pergolesi zu hören ist eine Offenbarung – allemal wenn er von so erfahrenen Interpreten dargeboten wird wie in unserer Produktion: Mit Anna Bonitatibus und Vivica Genaux stehen gleich zwei Grandes Dames des Barockgesangs auf der Bühne, und unser Orchestra La Scintilla wird geleitet von Ottavio Dantone, der den neapolitanischen Opernstil so gut kennt wie kaum ein anderer Dirigent. Der in Berlin lebende Regisseur David Marton wiederum, der zum ersten Mal am Opernhaus Zürich insze niert, wagt – coronabedingt – ein ganz aussergewöhnliches Konzept für die szenische Realisierung: Er kombiniert Pergolesis Arien mit Dokumentarfilmaufnahmen und installationsartigen Bühnensituationen. Ausserdem werden Sie es bestimmt sehr zu schätzen wissen, dass bei L’Olimpiade das Orchester live und ohne Übertragungstechnik zu hören sein wird, denn die Barock-Besetzung ist klein genug, dass die Scintilla-MusikerInnen im Graben den gebotenen Abstand einhalten können. Das Gleiche gilt für unsere zweite Neuproduktion, die im November Premiere hat: Auch bei unserer Familienoper Alice im Wunderland sitzt das Orchester im Graben. Nachdem der italienische Komponist Pierangelo Valtinoni vor vier Jahren mit Der Zauberer von Oz einen grossen Erfolg am Opernhaus feiern konnte, haben wir ihn gleich gebeten, eine neue Familienoper für uns zu schreiben, die nun zur Uraufführung kommt. Alice im Wunderland wird inszeniert von der deutschen Regisseurin Nadja Loschky, die damit ihre dritte Inszenierung am Opernhaus Zürich präsentiert und ein Faible für das Fantastische und den grotesken Humor hat, die den berühmten Stoff von Lewis Carroll so attraktiv machen. MAG 79 / Nov 2020 Das Titelbild zeigt die Regisseurin Nadja Loschky. Ein Interview mit ihr finden Sie auf Seite 32 (Foto Florian Kalotay)
Claus Spahn
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KÜHE AUF DEM DACH EIN FILM VON ALDO GUGOLZ
« ANCHE STANOTTE LE MUCCHE DANZERANNO SUL TETTO »
AB 26.11. IM KINO
Inhalt
12 Arien treffen auf Filmbilder – der Regisseur David Marton und sein aussergewöhnliches Pergolesi-Projekt 20 Der Dirigent Ottavio Dantone über das Komponisten-Genie Giovanni Battista Pergolesi 30 Ein universaler Stoff – die Regisseurin Nadja Loschky über Lewis Carrolls «Alice im Wunderland» 35 Wie schreibt man erfolgreiche Opern für Kinder? Der «Alice»Komponist Pierangelo Valtinoni gibt Auskunft
Der besondere Blick – 4, Opernhaus aktuell – 6, Drei Fragen an Andreas Homoki – 9, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 11, Volker Hagedorn trifft … – 26, Auf der Couch … – 28, Die geniale Stelle – 40, Der Fragebogen – 44
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Der besondere Blick von Monika Rittershaus
17.09.2020.15:53 + GENERALPROBE BORIS + LETZTE SZE
ENE +
Opernhaus aktuell
Wiederaufnahme
Anna Karenina Mit Anna Karenina hat Lew Tolstoi einen Roman von Weltgeltung geschrieben. Er erzählt die Geschichte einer an den herrschenden Moralvorstellungen scheiternden Liebesbeziehung und entwirft gleichzeitig ein vielschichtiges Panorama der russischen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert. Christian Spuck hat die anspruchsvolle Romanvorlage für das Ballett adaptiert und damit nicht nur das Publikum in Zürich, sondern auch in Oslo, Moskau und München begeistert. Das Schicksal von Anna, die zwischen moralischer Ehepflicht und tief empfundener Liebe verzweifelt, stellt Spuck in den Mittelpunkt, widmet sich aber auch den Lebensentwürfen der weiteren Hauptfiguren. Zu Sinfonik und Kammermusik von Sergej Rachmaninow und Witold Lutosławski übersetzt er das Schicksal von Tolstois Romanhelden in eindringliche choreogra fische Bilder. In neuer Besetzung kehrt das Ballett jetzt mit Paul Connelly am Pult der Philharmonia Zürich in den Spielplan zurück. Wiederaufnahme 15 Nov 2020 Weitere Vorstellungen 20, 27, 29 Nov; 4, 11, 12 Dez 2020
1. Brunch- / Lunchkonzert
Recueil de Romances
Nach Russland führt uns das erste Kam merkonzert dieser Spielzeit. Alexander Borodin, von dem das f-Moll-Quintett für zwei Violinen, Viola und zwei Violon celli (1859/60) erklingt, gehörte dem Komponistenkreis des «Mächtigen Häuf leins» an – eine Verbindung von Kom ponisten, die gegen den zeitgenössischen russischen Akademismus kämpften und eine von der westlichen Tradition freie, eigenständige russische Musik anstreb ten. Wie seine Kollegen dieses Zirkels war Borodin musikalischer Autodidakt, hauptberuflich war er Arzt und Professor für organische Chemie in St. Petersburg. Konventioneller verlief die Karriere des 30 Jahre jüngeren Alexander Glasunow, der schon früh Professor am St. Peters burger Konser vatorium wurde und dort unter anderem Lehrer von Dmitri Schostakowitsch war. In seinem Streich-
quintett A-Dur op. 39 (1892) gelang ihm die Synthese des kernig-r ussischen Stils des «Mächtigen Häufleins» mit dem eleganten Klassizismus Tschaikow skis, dessen zwei Jahre früher ent standenes Sextett Souvenir de Florence unüberhörbaren Einfluss auf Glasunows Streichquintett hatte. Mit: Nadezhda Korshakova, Birgit Thorgerd Müller, Maria Clément, Lev Sivkov und Luzius Gartmann. Brunchkonzert: 1 Nov, 11.15 Uhr, Spiegelsaal Lunchkonzert: 2 Nov, 12 Uhr, Spiegelsaal
2. Lunch- / Apérokonzert
Martinů und Dvořák Konzertmeister Xiaoming Wang, Bratschist Sebastian Eyb, Solo-Cellist Lev Sivkov und die Pianistin Yulia Levin widmen sich am 23. November der tschechischen Kammermusik. Im Sommer 1873, in nur 18 Tagen, schrieb Antonín Dvořák sein erstes Klavierquartett D-Dur op. 23. Mit seiner schillernden Harmonik und weit aus ufernden, gesanglichen Linien steht das Werk stilistisch zwischen Wagner-Ein fluss und Dvořáks slawischer Periode. Ein weiteres Klavierquartett schrieb
Bohuslav Martinů. 17 Jahre lebte er in Paris, bis er beim Einmarsch der Nationalsozialisten unter schwierigsten Umständen in die USA fliehen musste. Dort brauchte er ein Jahr, bis er sich wieder im Stande sah, zu komponieren. Zu einem der ersten Werke dieser Zeit zählt das 1942 vollendete Klavier quartett H 287. Vor allem das Adagio ist bemerkenswert: Der Komponist habe wohl kaum je Ergreifenderes geschrie ben, meinte Harry Halbreich, der Ver fasser des Martinů-Verzeichnisses. Lunchkonzert: 23 Nov, 12 Uhr, Spiegelsaal Apérokonzert: 23 Nov, 18 Uhr, Spiegelsaal
Einführungsmatinee
Simon Boccanegra Mit der klanglich faszinierenden, oft in düstere Farben gehüllten Partitur des Simon Boccanegra erarbeitet Fabio Luisi letztmals in seiner Funktion als General musikdirektor des Opernhauses Zürich eine Oper von Giuseppe Verdi. Andreas Homoki inszeniert die Handlung um das Schicksal des ersten Dogen von Genua. Sein Debüt in dieser Titelpartie gibt der gefeierte Bariton Christian Gerhaher. In der Einführungsmatinee gibt das Team Einblicke in seine Arbeit an diesem Stück. Sonntag, 22 Nov 2020, 11.15 Uhr Bernhard Theater
Ballett Zürich
Ballettgespräch Eine Woche später als ursprünglich ge plant, findet am 15. November auf der Studiobühne des Opernhauses das erste Ballettgespräch dieser Saison statt. Unter anderem sprechen Michael Küster und Christian Spuck über Ballett in Pandemie-Zeiten und über die Wiederaufnahme von Anna Karenina. Sonntag, 15 Nov 2020, 11.15 Uhr Studiobühne
Illustration: Anita Allemann, Foto: Archiv Opernhaus
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Opernhaus aktuell
Maestro mit Understatement Nach Stationen in Bonn, Frankfurt und Salzburg kam Ralf Weikert ans Opernhaus Zürich, das er neun Jahre als Musikdirektor prägte. Nun feiert er seinen 80. Geburtstag
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m 10. November 2020 feiert Ralf Weikert seinen 80. Geburtstag, zu dem wir ihm schon jetzt von Herzen gra tulieren und ihm für sein langjähriges Wirken an unserem Haus danken! Nach einigen Gastengagements in Zürich vor allem mit Belcanto-Opern engagierte ihn der damalige Intendant Claus Helmut Drese 1983 als Nachfolger von Ferdinand Leitner. Er wäre «sogar zu Fuss nach Zü rich gegangen, um den Vertrag anzuneh men», so Weikert, der zuvor Chefdirigent des Mozarteum Orchesters Salzburg ge wesen war. Neun Jahre lang, bis 1992 war Ralf Weikert Musikdirektor am Opern haus Zürich. Zu den Höhepunkten dieser
Zeit zählen die Uraufführung von Rudolf Kelterborns Der Kirschgarten (1984/85), vor allem aber auch der neue Zürcher Ring (1986-1990), der erste nach fast dreissig Jahren im damals neu umgebauten Haus mit dem grossen Orchestergraben. Ralf Weikert, der wie Claudio Abbado oder Mariss Jansons bei der österreichischen Dirigentenlegende Hans Swarowsky stu dierte, pflegte einen unaufgeregten, schnörkellosen Dirigierstil. Seinen Inter pretationen ging ein genaues Quellenstu dium voraus. Dazu gehörte auch das rich tige Instrumentarium: So sorgte er beim Zürcher Ring-Zyklus dafür, einen voll ständigen Satz von Wagner-Tuben anzu
schaffen und die Hornisten mit diesen Instrumenten vertraut zu machen – eine Neuerung, die bis heute am Opernhaus Zürich Bestand hat! Nach der Ära Drese gestaltete Ralf Weikert die Intendanz von Christoph Groszer mit. In diese Zeit fiel auch die Trennung von Tonhalle- und Theaterorchester: 1985 bekam das Opern haus sein «eigenes» Orchester, und Ralf Weikert war massgeblich am Qualitäts sprung des Orchesters beteiligt sowie an dessen breiter Repertoire-Kompetenz. «Nun galt es, das ‹Rumpforchester› ent sprechend den entwickelten Strukturplä nen auf eine Stärke von 94 Musikern zu bringen. Da zu jener Zeit auch noch eine Welle von Pensionierungen anstand, bot sich uns die Chance, ein völlig neues Or chester aufzubauen. In unzähligen Probe spielen konnten wir innerhalb ziemlich kurzer Zeit ein stark verjüngtes Orchester zusammenstellen», erinnerte sich Weikert 1991 in der NZZ. Zu den Komponisten, die Weikert am häufigsten dirigierte, ge hörten Richard Strauss, Verdi und Wag ner, aber auch bei Bizets Carmen in der Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle stand er oft am Pult. Unvergessen bleibt die Festproduktion von Wagners Lohengrin in der Regie von Robert Wilson an lässlich des 100-Jahr-Jubiläums des Opernhauses im September 1991 mit Lucia Popp, Gösta Winbergh und Matti Salminen. Sie alle sowie Musikerinnen und Musiker profitierten in unzähligen Abenden von Weikerts künstlerischer Kompetenz, seiner Feinfühligkeit und immer auch bescheidenen Art.
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KUNSTHAUS ZÜRICH IM HERZEN WILD DIE ROMANTIK IN DER SCHWEIZ 13.11.20–14.2.21
KUNSTHAUS.CH Arnold Böcklin, Wettertannen, 1849, Kunstmuseum Basel, Vermächtnis Clara Böcklin, 1923
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Drei Fragen an Andreas Homoki
Wir überprüfen jede Oper
Foto: Daniel Auf der Mauer
Herr Homoki, bei Premieren kann man auf die Corona-Bedingungen künstlerisch reagieren. Wie aber ist das bei Wiederaufnahmen, wo es bereits eine bestehende Regie gibt? Einen Bühnenraum mit einer inte ressanten Bühnenhandlung zu füllen bedingt ja, dass Menschen in unter schiedlichsten Gruppierungen zusam menstehen, sich bewegen, aneinander vorbeigehen, sich vielleicht umarmen, miteinander kämpfen, sich anfassen, sich küssen. Wenn man die Hygienevor schriften auf der Bühne einhalten will und muss, bedarf es da natürlich gewis ser Änderungen. Wir haben diese Pro blematik sehr früh besprochen und bereits in der letzten Spielzeit Varianten durchgearbeitet, wie wir jede einzelne Wiederaufnahme verändern müssen. Da gibt es keine generellen Rezepte, man muss jedes Stück einzeln unter die Lupe nehmen. Wie weit kann man Ihrer Meinung nach mit Kompromissen gehen, und wann ist für Sie der Punkt erreicht, an dem Sie sagen, hier wird die Kunst beschädigt? Zerstört wird die Kunst nicht, aber be einträchtigt schon. Ein Bühnenbild, das für eine grosse Chor-Oper konzipiert wurde, will auch entsprechend gefüllt werden. Wenn dann 80 Choristen plötzlich fehlen, spürt man das schon. Wir suchen dann gemeinsam mit den Spiel leitern, die unsere Wiederaufnahmen betreuen, nach Lösungen und nehmen Rücksprache mit den Regisseuren, die teilweise sogar erneut anreisen. Bei Maria Stuarda hat das beispielsweise dazu geführt, dass nur eine kleine Gruppe von nicht singenden Choristen auf der Bühne stand, um die im Stück benötigte Öffentlichkeit darzustellen, während die anderen Kollegen am Kreuzplatz sangen. Aus rein musikali scher Sicht wäre es natürlich wünschens wert, wenn alle dort hätten singen könnten, aber zur ersatzweisen Einstu
dierung von Statisten hat die Probenzeit leider nicht ausgereicht. Die Chormit glieder kannten ja die Regie bereits, nur da und dort mussten die Abstände etwas angepasst werden. Bei L’elisir d’amore arbeiteten wir auf der Bühne nur mit Statisten und ganz ohne singenden Chor. Aber auch da war der Regisseur eingebunden und ist – wie bei Maria Stuarda – extra angereist. Bei der für Januar geplanten Wiederaufnahme von Sweeney Todd stehe ich als Regisseur selbst vor solchen Problemen. Der Chor steht dort eigentlich immer sehr dicht zusammen – ein Bild für die überfüllte, lebendige Stadt London. Diese Men schenmauer habe ich auch dazu benutzt, um dahinter szenische Umbauten zu ermöglichen. Wie ich das lösen werde, weiss ich noch nicht genau, ich habe aber bis Januar noch etwas Zeit. Der Arbeitsaufwand ist jedenfalls für alle am Haus erhöht. Andere Theater haben ihr Programm komplett über den Hau fen geworfen und erarbeiten neue, kleinere oder viel weniger Stücke. Die Kompromisse, die überall gemacht werden müssen und sogar bis zu kom pletten Theaterschliessungen führen, sind enorm. Da sind wir sehr froh, dass wir neben den Premieren auch sämtliche Wiederaufnahmen wie geplant spielen können. Wir bieten nach wie vor hochkarätige Besetzungen an. Was bedeuten Ein reise-Quarantäneregeln für unseren internationalen Betrieb? Bekommen wir die KünstlerInnen hierher? Wir beobachten das natürlich ständig. Das Problem ist, dass unsere Planung sehr langfristig ist und die Einreise regelungen sich ständig ändern. Zuwei len ändern sie sich ja auch zum Posi tiven, das freut einen dann, aber manch mal auch zum Negativen. Unser Betriebsbüro kontaktiert dann die betroffe nen Künstler und bespricht mit ihnen, ob sie früher anreisen können.
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ANNA TA BONI S TIBU Zwischenspiel
Foto: mauritius images / JT Vintage
Die aktuelle Podcast-Folge ist online ab 26. Oktober.
Anna Bonitatibus gehört zur hochkarätigen Besetzung in Pergolesis «L’Olimpiade». Die italienische Mezzosopranistin gilt als eine der gefragtesten Barock- Interpretinnen. Für sie ist das jedoch keine Schublade, denn bei Mozart und im Belcanto-Fach ist die Sängerin ebenso zu Hause. Im Gespräch mit Michael Küster erzählt Anna Bonitatibus von ihrer Faszination für die babylonische Königin Semiramide, ihrem Engagement für die junge Sängergeneration und vom künstlerischen Überleben in Pandemie-Zeiten.
Unterstützt von
Wie machen Sie das, Herr Bogatu? 11
Die Leitung ist tot! Was tun?
Illustration: Anita Allemann
Wie inzwischen ja bekannt ist, sitzen unser Chor und unser Orchester im 500 Meter vom Opernhaus entfernten Orchesterproberaum und werden während unserer Vor stellungen via Glasfaserleitung in den Zuschauerraum zugespielt. Über diese Leitung gehen nicht nur die Tonsignale der 80 Mikrofone, sondern auch die Signale unserer Videoanlage sowie die Kommunikationssignale zur Verständigung zwischen den beiden Gebäuden. Man kann sagen, dass diese Verbindung wirklich wichtig ist – und deren Ausfall ein Albtraum. Als unser Tontechniker Mike am Sonntag, dem 11. Oktober, im Opernhaus beim Hochfahren der Anlage feststellt, dass er keine Verbindung zum Proberaum hat, ist das ein Grund zur Sorge. Er vermutet den Fehler im Proberaum und fährt dorthin. Alle Anschlüsse sind okay, die Geräte laufen. Zurück im Opernhaus checkt Mike auch hier nochmal alles, es bleibt dabei: Die Bildschirme sind dunkel, der Ton ist aus. Der Fehler muss also in der Leitung liegen. Ein Anruf beim EWZ ergibt erstmal nichts. Nach weiteren Anrufen wird klar, dass in der Nacht zuvor Wartungsarbeiten durchgeführt wurden. Man verspricht, einen Servicetechniker zu der Stelle zu schicken, an der gearbeitet wurde. Mike informiert die Direktion. Es ist 11.30 Uhr. Um 13 Uhr beginnt die Vorstellung von Maria Stuarda. Von nun an passiert viel parallel. Eine Absage der Vorstellung wird erwogen und verworfen: Vielleicht kriegt das EWZ das ja noch hin. Das Künstlerische Betriebsbüro bestellt mit Anna Hauner eine Pianistin, die Maria Stuarda auf dem Flügel im Graben spielen könnte. Das wäre die Lösung, falls die Leitung tot bleibt. 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn haben wir weiterhin keine Verbindung. Die Entscheidung wird getroffen: Umbau des Grabens auf Vorstellung mit Flügel. Bühnentechnik, Tontechnik und Beleuchtung räumen die Lautsprecher aus dem Graben und bringen einen Konzertflügel herein. Dazu das Dirigentenpult. Parallel wird das Bühnenbild aufgebaut, im wohlgeordneten Chaos stimmt der Klavierstimmer den Flügel. Was ist mit dem Chor? Kann der hinter der Bühne singen? Kein Platz. Im Graben? Ja. Maximal 20 Personen mit Abstand. Die restlichen Choristen und das Orchester sollen warten; vielleicht kann das Stück ja nach der Pause wieder mit Übertragung gespielt werden. 12.45 Uhr, unser Dirigent Enrique Mazzola trifft ein. Noch schönes Licht machen für den Dirigenten, den Flügel und die Pianistin. Wo sind die Noten des Dirigenten? Noch am Kreuzplatz? Ah, werden schon geholt. Perfekt. Dirigentenkamera im Graben aufbauen und Mikros zur Verstärkung des Flügels. Blick auf die Uhr: 13 Uhr. Der Saal wird dunkel. Andreas Homoki tritt vor das Publikum und teilt mit, was Sie jetzt wissen. Das Publikum begrüsst Anna Hauner, Enrique Mazzola und den Chor mit grossem Applaus. Die Vorstellung beginnt. Um 13.37 Uhr findet der Techniker des EWZ den Fehler: Unsere Verbindung war in einem Plan nicht eingezeichnet und wurde nach der Wartung nicht mehr aufgeschaltet. Er stellt sie wieder her. 14.14 Uhr: Pausenvor hang. Zwei Minuten lang tosender Applaus und Blumen für Anna Hauner. Jetzt wird wieder alles zurückgebaut. Lautsprecher rein, verkabeln, durchtesten. Um 14.52 Uhr Beginn der zweiten Hälfte – diesmal mit Übertragung aus dem Proberaum. Als wäre alles nur ein Traum gewesen. Falls Sie eine winzige Chance haben möchten, so etwas live zu erleben, dürfen Sie übrigens nicht in Alice im Wunderland oder in L’Olimpiade gehen, denn dort sitzt das Orchester endlich mal wieder in echt im Graben. Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich
L’Olimpiade 13
Den Blick auf die Oper verändern «L’Olimpiade» von Giovanni Battista Pergolesi ist ein legendäres Meisterwerk der italienischen Barockoper. Viele Arien daraus erlangten Berühmtheit weit über den Tod des Komponisten hinaus. Wir spielen «L’Olimpiade» am Opernhaus Zürich mit internationalen Stars des Barockgesangs und unserem live im Orchestergraben anwesenden Orchestra La Scintilla. Der Regisseur David Marton verbindet Pergolesis Musik in seiner Inszenierung mit dem Medium des Films. Im Gespräch gibt er Auskunft über ein aussergewöhnliches Experiment
«Musik verändert die Wahrnehmung von Bildern, und umgekehrt hört man Musik anders durch die Anwesenheit von Bildern.»
David, wie bist du auf die Idee gekommen, zu Pergolesis Oper L’Olimpiade einen Dokumentarfilm zu drehen? Corona hatte unser ursprüngliches Inszenierungskonzept über den Haufen geworfen. Es war im Frühjahr mitten im Lockdown, als wir entscheiden mussten, wie es mit unserem Pergolesi- Projekt weitergeht. Ich war in Budapest, und wie alle in meiner Wohnung mehr oder weniger eingesperrt. Die Zeit stand still. Meine künstlerischen Projekte stürzten wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und es kam mir plötzlich absurd vor, da noch irgendetwas retten zu wollen. Ich mochte den Gedanken gar nicht, alte Konzepte in reduzierter Form mit szenischen Corona-Ein schränkungen irgendwie halbgut umzusetzen. Meine Strategie war eher: Lass alle ursprünglichen Pläne fahren und schaue, was passiert. Vielleicht entstehen ja aus dieser Null-Situation neue Ideen, denen man zu einem anderen Zeitpunkt gar nicht folgen würde. Und da bist du auf die Möglichkeit des Films gekommen? Den Impuls, szenische Aktion durch Film zu ersetzen, haben gerade im Schauspielbereich in der momentanen Situation ja viele. Aber mir ging es sehr konkret um das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen von Bildern und Musik. Dieses Thema treibt mich schon seit Beginn meiner Theaterlaufbahn um. Dass man im Theater über die Verwendung von Musik nicht nur im Sinne von Narration nachdenkt. Dass man Bildfolgen und Szenen ähnlich rhythmi sieren kann wie Musik. Dass Musik in der Oper nicht immer eine Geschichte transportieren muss, sondern Bilder und Musik auf einer anderen Ebene zu sammenkommen und sich gegenseitig bespiegeln.
Die Fotos auf den Seiten 12 bis 19 entstammen dem Dokumentarfilm, den Sonja Aufderklamm und David Marton für die «L’Olimpiade»-Produktion gedreht haben.
Was meinst du mit «Wechselwirkungen» zwischen Bildern und Musik? Musik verändert die Wahrnehmung von Bildern, und umgekehrt hört man Musik anders durch die Anwesenheit von Bildern. Ich habe im Lockdown Bildmaterial im Internet gesucht und es
mit Arien von Pergolesi zusammengeschnitten. Der Effekt bei diesen Ex perimenten hat mich fasziniert: Pergolesis Arien sind unglaublich lebendig, kraftvoll, emotional, und sie laden die Bilder mit ihrer emotionalen Kraft auf, am stärksten, wenn die Bilder einen Kontrast zur Musik bilden und mit Langsamkeit und Detailbeobachtung operieren. Du hast mit Nahaufnahmen von Gesichtern experimentiert, wie es einst Ingmar Bergman in seinem berühmten Film Persona getan hat. Mit Ingmar Bergman möchte ich meine Arbeit nicht vergleichen. Persona ist einer der bedeutendsten Filme der Filmgeschichte und Bergman generell berühmt dafür, wie nahe man Menschen mit der Kamera kommen kann. Aber es stimmt, ich habe auch Bergman-Sze nen mit Pergolesi-Arien zusammen geschnitten und fand es sehr spannend, wie die Musik kleinste Regungen der Mimik oder das Licht in den Augen plötzlich anders erscheinen lässt und Tiefenschichten des Gesichtsausdrucks offenlegt. Diese Tiefenschichten sind in Bildern von Menschen ja vorhanden. Man muss sie nur herausholen. Man muss sie erblicken. Im Film für das Zürcher Opernprojekt wendest du dich alten Menschen zu. Wie kam es dazu? Die Situation alter Menschen ist uns ja durch die Corona-Pandemie sehr deutlich vor Augen geführt worden – wie verletzlich sie sind, wie sie durch die Schutzmassnahmen eingesperrt und von ihren Angehörigen zwangsweise getrennt waren, obwohl das Leben vieler ja auch schon ohne Corona von grosser Einsamkeit geprägt ist. Ältere Menschen bilden andererseits auch einen wesent lichen Teil des Opern-Publikums, die wegen Corona nun nicht mehr ins Theater gehen können oder wollen. Ich dachte: Wie wäre es, wenn wir zu ihnen gehen, ihnen Musik vorspielen, ihnen zuhören? So entstand die Idee, einen Dokumentarfilm über alte Menschen zu drehen. An dieser Stelle kommt eine Person ins Spiel, die bei diesem Projekt
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eine sehr wichtige Rolle einnimmt – die österreichische Filmemacherin und Kamerafrau Sonja Aufderklamm. Sonja und ich haben diesen Film gemeinsam realisiert. Ich hatte fieberhaft – es musste ja alles sehr schnell gehen – nach einer passenden Kamerafrau gesucht. Ich wollte mit jemandem zusammen arbeiten, der gleichzeitig einen Blick für die Komposition von Filmbildern und ein sensibles Auge für Menschen hat. Dann habe ich zum Glück Sonja ge funden, sie war genau die Richtige für das Projekt. Im Sommer sind wir, als die Situation an den Grenzen es zuliess, nach Zürich gereist, haben alte Menschen getroffen, mit ihnen geredet und drei Wochen lang gedreht. Ein Glücksfall war auch, dass uns – in Zeiten von Corona! – die Türen für dieses Projekt geöffnet wurden, von einem Altersheim in Rümlang in der Nähe des Zürcher Flughafens, aber auch von anderen alten Menschen, die uns in ihre Wohnungen und in ihr Leben hereingelassen haben. Was habt ihr bei dieser Dokumentarfilm-Recherche zum Thema gemacht? Wir haben den Menschen Pergolesi vorgespielt und dann ganz offen geschaut, wohin uns die Musik bei den Gesprächen und den Filmaufnahmen führt. Ich hatte zwar Ideen im Kopf, was ich fragen wollte, aber die Gesprächs themen ergaben sich fast von alleine. Haben sie mit dem Inhalt der Oper zu tun? Das L’Olimpiade-Libretto von Metastasio handelt ja, raffiniert verschachtelt, von Menschen, die auf der Suche nach einer selbstbestimmten Existenz sind, die gegen die strengen Gesetze ihrer Väter aufbegehren, die vom Schicksal an fremde Orte versprengt wurden und auf der Suche nach ihrer Familie und ihrer eigenen Identität sind. Das Libretto und seine Handlung haben wir nicht thematisiert, alleine die Musik war unser Ausgangspunkt. Aber interessant war, dass wir in den Gesprächen doch bei ähnlichen Motiven gelandet sind – strenge Väter, Schicksalsschläge, familiäre Zwänge. Das sind Themen, die einem offenbar
am Herzen liegen, wenn man ein langes Leben im Rücken hat. Ich fand die Parallelen zu Motiven des Operninhalts mitunter verblüffend, gerade weil wir sie nicht bewusst angesteuert hatten. Die Handlung der Oper wird also weder durch die Musik noch durch Film, Bühne und Szene erzählt? Nein. Wir haben alle Rezitative, in denen in einer Barockoper ja die Handlung transportiert wird, gestrichen. Der Abend besteht musikalisch aus einer Abfolge von Arien und kurzen Gesprächssequenzen anstelle der Rezitative. Sind Arien nicht immer an ein Handlungsmoment, an eine Situation oder ein szenisches Gegenüber gebunden? Ich glaube nicht, dass das Erzählen von Geschichten immer die Hauptaufgabe von Oper ist, insbesondere nicht im Barockzeitalter. Emotionen, die in der Musik zum Ausdruck kommen, können von der Handlung, an die sie geknüpft sind, auch eher zugedeckt werden. Narration kann die Perspektive auf die Musik verengen. Das gilt natürlich nicht generell, vor allem nicht für den gesamten Bogen der Operngeschichte. Aber für mich ist das ein wichtiger Ansatz, dem ich nachgehe. Ich finde, es wird in der Wahrnehmung von Musik zu viel Aufmerksamkeit auf ihre Be gründbarkeit durch Kontext gelegt und weniger, dass ihr immer auch etwas zutiefst Intuitives und Unerklärbares innewohnt. Das kommt womöglich ohne Handlung viel besser zum Vorschein. Bei unseren Gesprächen sagte eine Dame nach dem Hören einer Arie: Der Komponist wisse auch nicht, warum er das komponiert habe, er habe es aber auf jeden Fall geschrieben, damit wir es in uns aufnehmen können. Das fand ich in seiner Schlichtheit einen schönen Satz, weil er das Unerklärliche an Musik in Worte fasst. Wenn es der Inhalt der Oper nicht ist, worin besteht dann die Verbindung zwischen der Musik und den Filmauf nahmen alter Menschen? Im emotionalen Bezug dieser beiden scheinbar weit voneinander entfernten
«Ich glaube nicht, dass das Erzählen von Geschichten die Hauptaufgabe von Oper ist.»
L’Olimpiade Arien von Giovanni Battista Pergolesi mit einem Dokumentarfilm von David Marton und Sonja Aufderklamm Musikalische Leitung Ottavio Dantone Regie /Schnitt David Marton Kamera /Schnitt Sonja Aufderklamm Bühnenbild Christian Friedländer Kostüme Tabea Braun Lichtgestaltung Henning Streck Dramaturgie Claus Spahn Clistene Carlo Allemano Aristea Joélle Harvey Argene Lauren Snouffer Licida Anna Bonitatibus Megacle Vivica Genaux Aminta Thomas Erlank Alcandro Delphine Galou Orchestra La Scintilla Premiere 1 Nov 2020 Weitere Vorstellungen 6, 11, 13, 15, 19, 21, 29 Nov; 2 Dez 2020
Kunstformen. Ich kann ein Beispiel geben: Wenn ein Mensch mit 90 Jahren sich vom Stuhl erhebt, ist das ein un geheurer Kraftaufwand. Und in der Verbindung mit der Musik wird der als solcher erfahrbar. Was wir normalerweise bloss als Moment der Unsicherheit und Fragilität wahrnehmen, wirkt durch die Musik wie eine Heldentat. Das ist in meiner Wahrnehmung viel stärker, als würde ich auf der Bühne eine Heldentat mit Sängern spielen lassen. Wenn man über alte Menschen spricht, redet man gerne über ihre Gebrechlichkeit und die Mühen, die ihnen der Lebens alltag bereitet. Oder umgekehrt: Wir staunen, wie fit sie noch sind, wenn sie etwa im hohen Alter noch Fahrrad fahren. Aber die Wahrheit ist für mich etwas Anderes: Wir sind immer die gleichen Menschen, nur in unterschiedlichen Körpern, erst in jungen, später in alten. Mich hat interessiert, mit Hilfe von Pergolesis unglaublich vitaler Musik zu zeigen, dass die Menschen eigentlich gar nicht alt sind, dass sie lediglich gealterte junge Menschen sind. Ob uns das mit unserer Produktion gelingt, weiss ich noch nicht, aber das ist das Ziel. Und was geben umgekehrt die Doku mentarfilmaufnahmen der Musik? Die Bilder verändern unsere Wahrneh mung der Musik. Wir hören die Arien anders. Ein Kameraschwenk verändert die Aufmerksamkeitsführung, ein ruhig und lang stehendes Bild schafft ein anderes Zeitempfinden für die Musik. Wie und wodurch sich die menschliche Wahrnehmung verändert, ist grund sätzlich ein Thema, das mich sehr beschäftigt. Wie man durch das Leben gehend plötzlich angeregt durch einen scheinbar unbedeutenden Augenblick einen anderen Blick kriegt. Ich denke, das kennt jeder von uns, dass man durch einen einzigen Anblick auf einmal beispielsweise eine ganze Stadt anders sieht. Das sind erhellende Momente. Eine andere Wahrnehmung zu schaffen, das wünsche ich mir auch für die Kunstform Oper, die so sehr traditionsverhaftet ist. Es soll am besten alles so sein, wie es gewesen ist. Dabei ist doch gerade die
Operngeschichte voll von Künstlern, die sich radikal abgesetzt haben vom Alt hergebrachten, um neue Perspektiven zu schaffen. Trotz des höfischen Prunks und dem repräsentativen Gebaren war die Oper immer eine erstaunlich un ruhige Kunstgattung. Sie hat sich in ihrer Geschichte nie lange zu einer dauer haften Form verfestigt, war ständig in einem Stadium des Umbruchs. Es ging den Komponisten immer darum: Wie weit kann ich gehen, wie kann ich die Form erneuern? Wir Regisseure versuchen diese Dynamik auf einer Interpretationsebene fortzuführen und die Werke immer wieder neu zu er zählen, was natürlich viel schwieriger ist, weil wir nicht wirklich Neues schaffen, sondern das Gegebene immer neu zu er zählen versuchen. Wie muss man sich die theatralische Situation grundsätzlich vorstellen, wenn Pergolesis Arien mit den Doku mentarfilmaufnahmen zusammenkom men? Nimmt der Abend dann eher den Charakter einer Kinovorführ ung an? Das würde ich so nicht sagen, aber das Opernhaus wird in dieser Produktion schon zu einem anderen Theaterraum. Man muss es als Zuschauer annehmen, in die Oper zu gehen und diese in unserem Ansatz aus einer völlig verän derten Perspektive zu erfahren. Man könnte den Abend auch als eine Art Oratorium begreifen. Das Zürcher Orchestra La Scintilla wird live im Orchestergraben spielen. Es gibt grossartige Solistinnen und Solisten, die die Arien singen. Es gibt ein Bühnenbild, das unser ursprüngliches Bühnenkonzept in einem wegen Corona nicht zu Ende gebauten Zustand zeigt. Ich mag das Unfertige daran. Mir fehlt nichts, obwohl vieles fehlt. Oper erscheint darin wie eine ferne Erinnerung, wie ein Traum, wie eine Hoffnung, aber gerade nicht als Realität. Das Gespräch führte Claus Spahn
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Eine kompositorische Reife, die kaum zu glauben ist Giovanni Battista Pergolesi ist eine singuläre Gestalt der Musikgeschichte. Er starb als 26-Jähriger und hat mit seinen Opern dennoch die musikalische Welt verändert. Der Dirigent Ottavio Dantone über einen Frühvollendeten Probenfotos Danielle Liniger
Ottavio, du kennst den Komponisten Giovanni Battista Pergolesi so gut wie kaum ein anderer Dirigent. Was fasziniert dich an ihm? Dass er als Komponist so wahnsinnig jung war und in diesen jungen Jahren eine kompositorische Reife an den Tag legt, die kaum zu glauben ist. Pergolesi wurde 1710 geboren. Er beendete seine musikalische Ausbildung 1731 und starb fünf Jahre später im Alter von 26 Jahren an Tuberkulose. Er hatte also nur fünf Jahre, in denen er sein gesamtes Opernschaffen entfaltete. Wie ist so etwas überhaupt möglich? Ganz einfach: Pergolesi war ein Genie. Die Oper L’Olimpiade, mit der wir uns hier in Zürich gerade befassen, hat er ein Jahr vor seinem Tod geschrieben. Mehr als 50 andere Komponisten haben diesen Stoff von Pietro Metastasio vertont, es war eines der am häufigsten vertonten Libretti der damaligen Zeit. Aber Pergolesis Version wurde sofort als meisterhaft anerkannt. Schon bald nach seinem Tod gab es zwanzig Abschriften von L’Olimpiade. Für das 18. Jahrhundert war das ein Ausweis absoluter Berühmtheit. Verglichen mit heute, würde das einem Verkauf von zigtausenden CDs entsprechen. Noch berühmter war sein Stabat Mater. Pergolesi- Abschriften kursierten überall. Auch Johann Sebastian Bach etwa besass eine Abschrift des Stabat Mater. Die Komponistenfigur Pergolesi war ein Mythos, der natürlich auch durch seinen frühen Tod genährt wurde. Vom Wunderkind Mozart wissen wir, dass dessen ausserordentliche Befähigung durch die strenge Schule des Vater, ausgedehnte Reisen usw. gefördert wurde. Wie war das bei Pergolesi? Er wurde in Jesi in den Marken geboren und entstammt eher bescheidenen familiä ren Verhältnissen. Schon als Kind war er ein begabter Sänger im örtlichen Domchor. Sein Vater, ein Landvermesser, hat ihn früh zu einer musikalischen Ausbildung nach Neapel geschickt. Dort hatte er sehr gute Lehrer, sein wichtigster war Francesco Durante. Dadurch war Pergolesi von Anfang an zu Hause im neapolitanischen Stil, der ja damals der führende in der musikalischen Welt war. Jeder Komponist, der etwas auf sich hielt, kam nach Neapel, um den dortigen Kompositionsstil zu studieren. Was weiss man sonst noch über sein Leben? Nicht sehr viel. Er hatte eine sehr schwache gesundheitliche Konstitution von früher Kindheit an und eine Gelenkversteifung im Bein, wegen der er hinkte. Es gibt ein Bildnis aus dem Jahr vor seinem Tod, auf dem die Gebrechlichkeit des 25-Jährigen zu erkennen ist. Ottavio Dantone auf der Probebühne
Du hast Pergolesis Geburtsort Jesi erwähnt. Das ist ein Ort, zu dem auch du eine enge persönliche Verbindung hast.
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Genau. Jesi ist ein kleines Städtchen, das jedes Jahr ein Festival zu Ehren von Pergolesi ausrichtet. Dort habe ich mit meinem Ensemble, der Accademia Bizantina, alle grossen Bühnenwerke von Pergolesi aufgeführt und sie auch auf Tourneen in anderen Städten präsentiert. Wobei man sagen muss, dass solche Aufführungen eher die Ausnahme sind: Pergolesi wird, gemessen an seinem Rang als Barock komponist, bis heute viel zu selten gespielt, weder in Italien noch anderswo. Worin besteht das Geniale in seinem Komponieren? Er hat mit Anfang zwanzig einen absolut unverwechselbaren Stil. Daran erkennt man, dass er ein ganz grosser Komponist war. Faszinierend an seinem Stil ist die unglaubliche Effizienz, mit der er Emotionen in seiner Musik zu fokussieren versteht. Es hat eine geradezu strategische Qualität, wie er Gefühle durch Musik erzeugt. Was unterscheidet ihn von den anderen Komponisten seiner Zeit? Was ist neu und revolutionär an seiner Art, zu schreiben? Es wäre falsch, in ihm einen Umstürzler zu sehen. Pergolesi hat den neapolitanischen Opernstil nicht revolutioniert, sondern weiterentwickelt und die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten der Zeit maximal ausgeschöpft. Er verkörpert eine neue Generation im Vergleich zu etablierten Älteren wie Alessandro Scarlatti oder Francesco Durante. Sein Schreiben ist geprägt von einer untrüglichen Intuition und, wie gesagt: Man erkennt Pergolesi sofort. Vielleicht wäre er ein Revolutionär der Musikgeschichte wie Beethoven geworden, wenn er länger gelebt hätte. Wir wissen es nicht. Ist sein Stil, für Gesang zu schreiben, nicht auch lyrischer, natürlicher und beweglicher als der seiner älteren Zeitgenossen? Das stimmt. Er schreibt nicht virtuos um der Virtuosität willen, die Gesangskunst gerät bei ihm nicht zum Selbstzweck. Es gibt zwar auch bei Pergolesi hochvirtuose Arien wie beispielsweise die grosse Arie von Megacle «Torbido in volto e nero» in L’Olimpiade. Das ist etwas vom Schwierigsten, das die Opernliteratur des 18. Jahrhunderts überhaupt zu bieten hat. Aber alles steht im Dienst des Gefühlsausdrucks. Man fragt sich, wie ein Jüngling von einundzwanzig Jahren, der ausser kirchlichem Internatsleben und musikalischem Unterricht noch nicht viel erlebt hat, so tiefgründig über Liebe, Rache, Verzweiflung und Vergebung schreiben konnte. Aus eigener Lebenserfahrung hat er da ja wohl kaum geschöpft. Wir wissen wenig darüber, was Pergolesi in seinem eigenen Leben emotional bewegt hat. Aber ich bin überzeugt davon, dass er die Erfahrung persönlichen Leides sehr wohl kannte. Das muss so gewesen sein. Die Frage, die du stellst, folgt unserem Denken von heute: Dass ein Künstler etwas erlebt haben muss, um es in Kunst zum Ausdruck bringen zu können. Im 18. Jahrhundert war das nicht so. Emotionen in Töne zu kleiden, war eine Kunst, die man unabhängig von persönlichen Er fahrungen praktizierte. Die Komponisten schrieben mit Distanz zu ihrer eigenen Biografie über die Leidenschaften ihrer Opernfiguren. Trotzdem oder gerade deshalb kommt mir Pergolesis Art zu komponieren wie eine Vorwegnahme eines frühromantischen Empfindens vor, das tatsächlich eigene Gefühle und eigenes Leid in der Kunst verarbeitet. Die emotionale Reife und Tiefe bei Pergolesi hat für mich etwas quasi Romantisches, obwohl die Romantik ja in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch sehr weit weg war. In den Lexika werden vor allem Pergolesis Verdienste für die Entwicklung der Opera buffa herausgestellt. Waren die tatsächlich so gross? Absolut. Pergolesi hat, wie üblich, Intermezzi für seine grossen Seria-Opern kompo niert. Diese Intermezzi in einer Länge von vierzig bis fünfzig Minuten hatten die Aufgabe, die langen, ernsten Opernabende in Form einer komische Einlage auf-
Es wird mit Maske geprobt: Joélle Harvey (oben links), Vivica Genaux und Lauren Snouffer (oben rechts) und David Marton (unten)
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zulockern und waren eigentlich Nebensächlichkeiten. Aber Pergolesi hat sie so gut geschrieben, dass ihnen plötzlich eine ganz neue Bedeutung zukam. Für die Oper Adriano in Siria beispielsweise, aus der auch einige Arien in L’Olimpiade über nommen sind, schrieb Pergolesi das Intermezzo Livietta e Tracollo, und das war so originell, dass es in den Vorstellungen zum eigentlichen Höhepunkt des Abends avancierte. Pergolesi hat dem Interesse an der Opera buffa einen enormen Schub ver liehen und – natürlich vor allem mit seinem bekanntesten Stück La serva padrona – sehr viel dazu beigetragen, dass sie sich als eigenständige Form im Opernrepertoire etablieren konnte. Er schreibt wunderschöne Musik in den Buffas. Musik und die dramatischen Situationen sind ganz eng aufeinander bezogen. Alles wirkt frisch und spontan und ist wirklich komisch. Pergolesis Nachruhm war enorm. Welchen Einfluss hatte er auf die folgenden Generationen? Zunächst einmal hatte Pergolesi ein Rieseneinfluss auf die neapolitanische Schule selbst, aber durch deren Bedeutung auch weit darüber hinaus. Grosse Komponisten haben sich ja zu allen Zeiten von Meisterwerken anderer inspirieren lassen, aber Pergolesi wurde von den nachfolgenden Generationen besonders stark wahrgenom men. Seine Opern galten als Meilensteine der Gattung und wurden intensiv studiert. Die Komponisten haben ihn gar nicht unbedingt kopiert, aber sie haben sich von ihm inspirieren lassen. Es ist mitunter mehr ein unterschwelliger Einfluss, der da stark wirkte. Wenn ich etwa Opern von Giovanni Paisiello oder Niccolò Jommelli höre, klingt in meinen Ohren immer Pergolesi durch. Ich kann das oft gar nicht so genau benennen, aber es ist völlig evident. Und manche seiner Arien, vor allem aus L’Olimpiade, wurden zu regelrechten Hits, wenn man etwa an «Mentre dormi» denkt oder «Se cerca, se dice». «Se Cerca» war so berühmt, dass es von anderen Komponisten parodiert wurde, und das Publikum verstand sofort den Bezug, weil die Arie so bekannt war. Die Arien «Mentre dormi» und «Se cerca, se dice» werden wir in unserer Zürcher Pergolesi-Produktion hören, gesungen von Anna Bonitatibus und Vivica Genaux. Aber die ganze Oper hören wir nicht. Der Abend besteht musikalisch lediglich aus einer Abfolge der L’Olimpiade-Arien, alle Rezitative sind gestrichen. Was sagt der Dirigent und Pergolesi-Experte dazu? Es herrschte eine grosse Freiheit in der Aufführungspraxis zu Pergolesis Zeit. Die Werkgestalt war offen und überhaupt nicht so festgelegt, wie wir das heute gerne glauben. Ich habe beispielsweise L’incoronazione di Dario von Antonio Vivaldi gemacht. Das Manuskript ist im dritten Akt voll von wüsten und dramaturgisch sinn losen Strichen, die irgendwelchen, aus heutiger Sicht völlig unergründlichen Umständen geschuldet sind. Die Opernpraxis hing damals von vielen stückfernen Faktoren ab, vom Geld, von den Wünschen der Auftraggeber, von den Vorlieben der Sängerstars, von den technischen Möglichkeiten usw. Dementsprechend war der Umgang mit den Partituren. Die Komponisten haben sich auf die jeweiligen Gege benheiten eingestellt. Es geht in der Barockoper nicht darum, alles genau so zu realisieren, wie es geschrieben steht. Deshalb sehe ich in unserem Versuch, Pergolesis Arien mit dem Medium des Films in Verbindung zu bringen, auch nichts phi lologisch Verwerfliches. Es ist eine künstlerische Antwort auf die Corona-Pandemie und die Unmöglichkeit, Oper in gewohnter Form zu spielen. Die Komponisten im 18. Jahrhundert hätten auch so reagiert. Darf man einen Barockopern-Abend auf die Bühne bringen, ohne eine Geschichte zu erzählen? Sind Arien nicht immer Teil einer Handlung? Ich finde: Nein. Arien führen sehr wohl ein Eigenleben jenseits der Handlung. Für die Operngänger der Barockzeit waren die Rezitative nicht so mit den Arien verbunden, wie wir das heute empfinden. Die Opernabende waren sehr lang, und wie
Carlo Allemano (oben), Anna Bonitatibus und Joélle Harvey (unten)
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wir wissen, hat sich das Publikum während der Rezitative auch mit anderen Dingen beschäftigt und vor allem den Arien, den Sängern, den musikalischen Höhepunkten die Aufmerksamkeit geschenkt. Man darf nicht vergessen, dass die Leute damals immer wieder in die gleiche Oper gingen. Die Handlung war ihnen deshalb ge läufig. Ausserdem kannte man die Textbücher der populären Stoffe. Es gibt ja heute Liebhaber von Barockopern, die unbedingt alles hören wollen, alle Arien, die kompletten Rezitative, ohne Striche. Ich halte davon gar nichts. Das entspricht auch nicht der historischen Situation. Die Arien haben ja einen Text, der sich in unserem Pergolesi-Projekt nicht, wie im szenischen Spiel, an ein Gegenüber richtet. David Martons Konzept zielt auf eine vor allem emotionale Verbindung zwischen Gesang und Bild. Ist das ein Problem? Barockarien haben einen musikalisch-emotionalen Wert jenseits des Textes. Die Ver bindung von Text und Musik ist nicht so eng, wie wir das aus dem 19. Jahrhundert kennen. Es gibt viele Beispiele dafür, wie im 18. Jahrhundert Arien in eine andere Oper übernommen wurden und dort mit einem neuen Text in einem veränderten emotionalen Kontext dennoch funktionieren. Oder denken wir an die so genannten Kofferarien, die die berühmten Kastraten im Gepäck hatten und die eingebaut werden mussten, egal ob sie zum Stück passten oder nicht. In L’Olimpiade hat Pergolesi mit «L’infelice in questo stato» ausgerechnet einer kleinen Nebenfigur, Alcandro, eine seiner schönsten Arien spendiert, die ausschliesslich durch ihren musikalischen Moment wirkt. Wir versuchen hier in Zürich auf eine ernsthafte, aber sehr experimentelle Weise mit Pergolesis Musik umzugehen. Das ist für mich philologisch durchaus legitim. David sucht mit Pergolesi nach einer Theatersprache, die mit unserer Zeit zu tun hat, und dabei unterstütze ich ihn. Das tue ich übrigens in allen Produktionen, egal in welche überraschenden Gefilde sie mich führen. Ich bin da immer positiv. Vielleicht entdecken wir ja eine Form von Musiktheater, wie sie uns bisher noch nicht begegnet ist, und die Menschen werden auf eine völlig neue Weise berührt. Das Gespräch führte Claus Spahn
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Vivica Genaux Vivica Genaux stammt aus Alaska. Ihre Karriere führte sie im Belcanto- und Barock repertoire in die weltweit wichtigsten Opernhäuser und Konzertsäle. In jüngster Zeit war sie u.a. als Händels Rinaldo an der Ópera de Oviedo sowie konzertant als Trasimede in Broschis «Merope», in Händels «Rodrigo» und Hasses «Irene» am Theater an der Wien zu hören. Beim neu gegründeten Bayreuth Baroque Opera Festival sang sie unlängst ein Konzert mit Arien von Hasse. Am Opernhaus Zürich ist sie in Pergolesis «L’Olimpiade» zu erleben.
Ein Bahnhof in Osaka, Winter 1982. Charles T. Genaux, amerikanischer Biochemiker auf Forschungsreise, wartet mit seiner Familie auf den Zug nach Okinawa. Seine Tochter Vivica, dreizehn, kommt strahlend mit einem Büchlein an. In der Buchhand lung hat sie das Libretto von My Fair Lady entdeckt – auf englisch. «Ich weiss nicht, wie das möglich war!» Sie freut sich jetzt noch, einige Jahre später. «Ich war schon immer verliebt in die Rolle der Eliza. Ich liebte Audrey Hepburn, Julie Andrews, jede, die das sang, und war sowieso schon entschlossen, im Sommer die Eliza in einer Produktion meiner High School zu singen.» Der Fund war für sie so etwas wie ein Wink der Götter. «Ich lernte den ersten Akt auf dem Weg nach Okinawa und den zweiten auf dem Rückweg.» Vivica Genaux erzählt das weit entfernt von Japan und von Fairbanks, ihrer Ge burtsstadt in Alaska, wo sie tatsächlich die Rolle der Eliza bekam, als Allerjüngste auf der Schülerbühne. Aber nichts ist weit entfernt, wenn diese funkelnde Frau davon erzählt, mal ernst, mal in Gelächter ausbrechend oder in die Sprache ihrer Ehe-Hei mat Italien. Aus der Nähe von Venedig ist sie nach Zürich gereist, und hier sitzen wir in der Opernkantine. Gerade hat sie mit Ottavio Dantone die Partie des Megacle geprobt, Freund jenes Licida in Pergolesis Oper L’Olimpiade, der dieselbe Frau liebt, ein barocker Plot, «von dem ich das Gefühl habe, dass wir dem nicht weiter folgen werden. Es ist ein flexibles Projekt mit einem Video. Wegen der Corona-Situation wird mit allen Möglichkeiten gerechnet. Keiner von uns weiss, was das werden wird.» Sie freut sich, dass das kleine Orchester live im Graben dabei sein wird und nicht über Lautsprecher. Sie ist dankbar, überhaupt hier zu sein, «das ist eines der wenigen Häuser, wo wir jetzt arbeiten können!» Und sie mag ihre Arien, die für einen Kastra ten geschrieben wurden, «so eine Art Broschi-Sound, bam-bam-bam-bam», sagt sie beiläufig, als sei völlig klar, dass ich Riccardo Broschi kenne, den komponierenden Bruder des Kastraten Farinelli. Vivica Genaux denkt und spricht unglaublich schnell und klar, auf englisch – so, wie sie auf italienisch singt, wenn sie abhebt. Die Kunst der Koloratur beherrscht sie in Perfektion, dazu voller Esprit und Sinnlichkeit. In «nahezu unsingbaren Arien», staunte 2019 die F.A.Z., entfache Genaux «ein Feuer werk vokaler Hochseilakte». Das Virtuose ist dabei ein Ausdruck der Gefühle, die sie in ihren Rollen interessieren. «In einer Arie von Pergolesi, die offenbar der Hit der Show war, Se cerca, se dice, gibt es ein stop and go ganz unterschiedlicher Energien, Megacle ist hin und her gerissen. Wenn man es sich anguckt, sieht es sehr einfach aus, man könnte fürchten, es sei langweilig, aber es ist sehr direkt, sehr aufrichtig, eine Art Lascia ch’io pianga. In der Welt barocker Opern bewegt sie sich, als sei sie darin aufgewachsen, und gleich hinein ins Mezzofach. Das Gegenteil ist der Fall. Aufgewachsen ist Vivica in Fairbanks, einer Stadt voller Musicals und damals ohne Oper, am 64. nördlichen Breitengrad, von Gold gräbern gegründet, im Kalten Krieg eine US-Militärbasis. «Es gab da viele Vietnam-Ve teranen, die in der Gesellschaft nicht mehr zurecht kamen und einen Platz suchten, wo sie nicht konform sein mussten. Alaska ist eine sehr offene Gesellschaft. Auch mein Vater war nicht der Typ für social rules, er liess sich nichts vorschreiben, baute ein Blockhaus und unterrichtete seine Studenten so, wie er es wollte. Man lebte weit weg von den anderen, aber dazu kam ein starkes Bedürfnis nach Zusammensein. Sport? Bei vierzig Grad minus kann man nicht mal Ski fahren. Die Künste waren wirklich wichtig, eine Lebensnotwendigkeit. Du konntest alles machen, egal wie talentiert. Mitmachen war das Wichtigste. Nicht dieses Elitezeug, oohh, du darfst nicht… nein! Oh doch, ich darf, und du darfst auch. Come, come, come!» Sie lacht glücklich.
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In Fairbanks hörte sie Cab Calloway und Canadian Brass, Martha Graham kam mit ihrer Dance Company, Vivica Genaux sang im Chor – und sie wollte Eliza sein. Nach dem Winter 1982 in Japan, das frisch erworbene Libretto im Gepäck, begleitete sie den Vater weiter nach Texas, und dort bekam sie eine Gesangslehrerin. Keine Gerin gere als Dorothy Dow in Galveston unterrichtete die Dreizehnjährige, eine berühmte Hochdramatische, die einst die Opernwelt von Zürich aus erobert hatte und nun das Mädchen zur Sopranistin machte. Doch Virginia Zeani, bei der Vivica später in In diana studierte, wunderte sich, als sie hörte, wie die junge Sängerin sich in die tiefen Lagen von Fiordiligis Come scoglio warf. «But my darrling,» imitiert Vivica sie lachend, «if you want for to sing like this you must for to be mezzosoprano!» Vivica war besonders das romantische Sopranrepertoire so unangenehm wie das Geigenspiel, das sie gelernt hatte. «Ich konnte diese Rollen nicht ertragen, diese Mäd chen, die als einzige Lösung für den Konflikt in ihrem Leben hatten, wahnsinnig zu werden, zu sterben oder sich umzubringen. In Barockopern sind Frauen viel stärker. Irgendwas passierte im Zeitalter der Aufklärung, weswegen sie geschwächt werden sollten. Nur bei Rossini gibt es noch starke Frauen, Mezzos: Rosina, Isabella, Cene rentola. Also sang ich in den ersten drei Jahren meiner Karriere nur Rossini – und er wurde mein Rettungsboot.» Denn nach einem ihrer Auftritte, 1998, wurde sie zu einem Vorsingen an der Staatsoper unter den Linden eingeladen. René Jacobs brauchte einen Selimo für Hasses Oper Solimano und engagierte Vivica sofort. Es wurde ein Triumph. «Barockmusik war meine Welt! Viel mehr Freiheiten, wie ein grosser Sandkasten!» Freiheiten für die Verzierungen, die sie so liebt, und für das besondere Temperament, das mit dem Mezzofach verbunden ist. «So much more me! Mezzocharaktere sind die, die andere in Schwierigkeiten bringen, die Manipulatoren» sie lacht. «Selbst wenn sie sterben, haben sie vorher noch Schaden angerichtet», jetzt lacht sie unbändig: «I love troublemaking!» Und egal, wie gross der Schaden ist, wieviel Verzweiflung, ge brochene Herzen, Opfer es gibt, «Barockoper hat eine schöne, elegante Art, auf Schmerz und Leiden zu schauen. Es ist artistisch. Es ist auch wahrhaftig, aber du bist in einer cornice, einem Rahmen. Im richtigen Leben gibt es so viel Leiden ohne Hoffnung. Das Theater bringt mich eine Stufe höher, es gibt mir Hoffnung und Inspiration.» Damit meint Vivica Genaux kein Theater der Weltflucht. Hinter ihren vokalen Feuerwerken steckt enorm viel Reflektion – und auch Erfahrung aus dem ungeliebten Geigenspiel. «Wie auf der Violine musst du den Ton denken, ehe du ihn greifst. Das d kann auch gesungen als leere Saite klingen oder auf der G-Saite gegriffen werden. Man kann die Stimmbänder dünn oder dick werden lassen. Trotzdem, ein Sänger ist ein ganz anderes Tier als ein Instrumentalist. Mein Körper ist das Instrument, und meine Rollen ändern mich im Innern. Es macht mich wahnsinnig, wenn Leute sagen, man müsse das ‹natürlich› machen. Der Apparat im Hals war ursprünglich nicht mal zum Sprechen gemacht, nur zum Schlucken und Atmen und damit das Essen nicht in die Lunge fällt!» Seit neuestem steigt sie noch tiefer ein und studiert Psychologie, um jungen Sängern so helfen zu können, wie das mit Psychologie für Sportler längst getan wird, «fundiert, nicht als Wohlfühlaktion. Als in Norditalien der Lockdown begann, fragte ich mich, wie lange es dauern würde, und wollte meine Zeit nicht verschwenden. Also beschloss ich, online zu studieren. Und da ich mit Autorität nicht gut klarkomme, nahm ich Alaska. Ich wollte bei der Sorte Leute lernen, mit denen ich aufwuchs. Und so war’s. Really me.» Auch wenn Vivica nicht weiss, welche Zukunft es für Sänger gibt, sieht sie die Barockoper als Überlebensmodell. «Diese Stücke sind nicht in Stein gemeisselt. Man kann sie jeder Situation anpassen. Und Faustina Bordoni sang sowieso, was sie wollte…» Volker Hagedorn
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Geliebte und Mutter Wie kann eine glückliche Ehe funktionieren? Der russische Schriftsteller Lew Tolstoi stellt diese Frage in seinem Romanklassiker «Anna Karenina». Seine Titelheldin ist eine Frau, die an ihren Leidenschaften und dem Druck der Gesellschaft zugrunde geht. Von Wolfgang Schmidbauer
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lle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich. Mit diesem Satz beginnt Lew Tolstois Anna Karenina, seinem grossen Roman über scheiternde und gelingende Ehen. Das Bonmot befriedigt ein Bedürfnis nach klarer Ansage, enthält aber doch mehr Illusion als Erfahrung. Wenn die glücklichen Familien einander gleichen, dann kann das nur daran liegen, dass sie «normal» sind; die unglücklichen sind das eben nicht. Dafür sind die unglücklichen Familien interessanter, ihre Fassaden haben Risse, durch die der Wind pfeift und in denen Gespenster lauern. Dass Leidenschaft nicht triumphiert, sondern Menschen in einem Netz aus Sehnsucht, Lust und Pflichtgefühl fängt wie eine giftige Spinne, wird im Zug der bürgerlichen Umformung der ständischen Gesellschaft zum Thema grosser Frauen romane – Effi Briest, Madame Bovary und Anna Karenina. Fontane, Flaubert und Tolstoi opfern ihre Heldinnen ihrer normwidrigen Leidenschaft, führen uns aber vor Augen, dass nicht der Mann, sondern die Frau die bei weitem interessantere Figur ist. Tolstois Schilderung macht das bürgerliche Idyll zum Leitbild einer russischen Gesellschaft. Es ist noch nicht lange her, dass im Zarenreich ein feudales System re gierte, in dem legitime Erben im Vordergrund stehen und die glückliche Ehe absolute
Illustration: Anita Allemann
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Nebensache ist. Die moderne Familie beruht auf Bindungen: zwischen den Eheleuten und zu den Kindern. Während der Mann im 19. Jahrhundert drei Felder hat, auf denen er sich zur Geltung bringen kann, – Beruf, Liebe und Familie – sind den Frauen der höheren Stände nur zwei Möglichkeiten erlaubt: Liebe und Familie. Das ganze System hängt daran, ob die Frauen dieses Ungleichgewicht ertragen können, ob die Liebe zwischen den Eheleuten stark und erfüllend genug ist, um die Frau des Hauses dafür zu entschädigen, dass ihr Gegenüber so viel mehr Möglich keiten der Selbstverwirklichung hat als sie. Die unglückliche Frau eines Mannes, der behauptet, eine glückliche Familie zu besitzen, weil doch alles passt, Geld und Haus und Kinder, hat bis in die Gegenwart die Bühne nicht mehr verlassen. Ein Paar muss gut zueinander passen und einen gemeinsamen Humor entwickeln, um mit einem krassen Ungleichgewicht klar zu kommen, wenn es das bürgerliche Familienmodell des 19. Jahrhunderts mit Glück füllen möchte: Der Mann zieht hin aus und erobert; die Frau bleibt zuhause und lehrt die Kinder den Respekt vor Papa. Solche ohnehin angespannten Familiensysteme explodieren regelrecht, wenn die Hausfrau herausfinden muss, dass ihr Mann sich noch ein viertes Feld der narzisstischen Bestätigung erschlossen hat: ein Verhältnis zu einem attraktiven Geschöpf neben der Gattin, die in Küche und Kinderzimmer an erotischer Faszination eingebüsst hat. Mit diesem Motiv beginnt Tolstois Roman: Fürstin Dolly Oblonskaja wurde von ihrem Ehemann Stiwa betrogen. Er hat ein Verhältnis mit der Gouvernante angefangen. Die Fürstin will sich scheiden lassen, der Haushalt versinkt im Chaos, der Ehemann weiss nicht mehr aus noch ein, so hat er sich sein Leben nicht vorgestellt, es war doch nur eine klitzekleine Affäre. Als rettender Engel erscheint Stiwas Schwester Anna Karenina. Sie überzeugt Dolly, ihrer Liebe zu Stepan eine zweite Chance zu geben. Die Ehe ist gerettet. Mit ihrer eigenen Ehe ist Anna nicht so erfolgreich. Ihr Mann, ein hoher Beam ter, ist sehr beschäftigt und interessiert sich weit mehr für seinen Beruf als seine Frau. In dieser Situation begegnet Anna ihrem späteren Geliebten, Graf Alexei Kirillowitsch Wronski, auf einem Bahnsteig. Er ist Oberst a. D., Grossgrundbesitzer und ein auf seine Freiheit bedachter Junggeselle, in den sich Dolly Oblonskajas Schwester Kitty so heftig verliebt hat, dass sie ihre Verlobung löste. Wronski verliebt sich nun in Anna, folgt ihr auf Schritt und Tritt und gewinnt auch ihre Liebe. Da der Ehemann viel auf Reisen ist, wird erst einmal aus einer unglücklichen Ehe eine glückliche heimliche Liebschaft. Die Frau des 19. Jahrhunderts, auf die Welt der Liebe zu Mann und Kindern zurückgeworfen, kann die Liebe niemals leicht nehmen. Anna Karenina widersteht dem Werben Wronskis, sich scheiden zu lassen. Sie wird schwanger, gesteht ihre Lieb schaft dem Ehemann – und unterwirft sich anfänglich seiner Forderung, den Skandal zu meiden und auf Wronski zu verzichten, um Serjoscha nicht zu verlieren. Nach dem Schuldrecht der Scheidung, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Auflösung einer Ehe regelte, verliert der schuldige Teil das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder. Tolstoi schildert meisterhaft, wie dieses Schuldrecht als Schuld gefühl in Annas ursprünglich starke Persönlichkeit eindringt und sie von innen heraus zerstört. Sie findet immer weniger Halt an einer Liebe, die ihren Sohn leiden lässt und Wronski nicht mehr glücklich macht. Sie kann sich nicht so an ihre kleine Toch ter binden, wie sie es an den Sohn getan hat und zankt mit ihrem Geliebten. Es ist ein Ritual der Selbstbestrafung, der ohnmächtigen Wut gegen eine Gesellschaft, die Männer für Willensstärke und Energie belohnt, Frauen aber bestraft. Anna Karenina wirft sich vor einen Zug; auf einem Bahnsteig hat ihre schicksal hafte Liebe begonnen, und dort soll sie auch enden. Das ist ihre einzige Möglichkeit, der männlichen Welt, die sie in ihr Schuldgefühl gestürzt hat, diese Emotion zurück zuspielen. Wolfgang Schmidbauer ist Psychoanalytiker und Buchautor
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Auf dem Weg zu sich selbst Am 14. November hat unsere neue Familienoper «Alice im Wunderland» nach Lewis Carroll Premiere. Ein Gespräch mit der Regisseurin Nadja Loschky über die Faszination dieses Stoffes, der schon so viele Künstlerinnen und Künstler inspiriert hat Kostümfigurinen Irina Spreckelmeyer
Nadja, wann bist du der Figur Alice und ihrer Reise ins Wunderland zum ersten Mal begegnet? Als Kind habe ich den wunderbaren alten Zeichentrickfilm von Walt Disney gesehen. Besonders beeindruckt hat mich damals die lilafarbene Katze, an die kann ich mich immer noch sehr gut erinnern! Was gefällt dir heute an diesem Stoff? Ich finde toll, dass diese Geschichte sowohl für Kinder als auch für Erwachsene interessant ist. Kinder sehen sicher andere Aspekte darin als Erwachsene, aber die Geschichte funktioniert für beide gleichermassen – das ist wirklich ein universaler Stoff! Ausserdem erforsche ich in meinen Arbeiten grundsätzlich gerne doppelte Realitäten, Traumzustände und surreale Welten, und da kommt mir dieser Stoff natürlich sehr entgegen. Hast du dich während der Vorbereitung deiner Inszenie rung mit anderen Bearbeitungen des Stoffes beschäftigt und alle Filme angeschaut, die es so gibt? Nein, gar nicht. Den Film von Tim Burton habe ich zwar angefangen, dann aber nach einer halben Stunde wieder aufgehört, weil ich gemerkt habe, dass mich ganz andere Aspekte der Geschichte interessieren und mich der Film gar nicht inspiriert. Wir sind dann zusammen mit meinem Team sehr schnell auf eine eigene Bildwelt gekommen und hatten unsere eigenen Fantasien zu den Figuren. Was fasziniert dich an Alice? Zu Beginn ist Alice erst mal ganz das Kind ihrer Eltern: Sie ist sehr verwachsen mit
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den Regeln, die in ihrem Elternhaus gelten. Das spürt man in der Erzählung von Lewis Carroll auch an ihrem etwas gestelzten Tonfall. Am Anfang habe ich mich beim Lesen daran gestossen und mich gefragt, warum dieses Mädchen eigentlich ständig wie eine 50-jährige Gouvernante redet. Dann ist mir eingefallen, dass ich – laut den Erzählungen meiner Mutter – als kleines Mädchen auch eine sehr altkluge Phase hatte, in der ich Wörter benutzt habe, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte, aber noch gar nicht richtig anwenden konnte. So ähnlich ist das bei Alice auch, und das hat durchaus etwas sehr Liebenswertes. Im Laufe der Geschichte findet Alice immer mehr zu sich selbst und entwickelt ein starkes Selbstbewusstsein, sie lernt sich zu behaupten, wird immer frecher und durchbricht mehr und mehr die Konventionen. Sie entwickelt ihren eigenen Blick auf die Welt und geht zusehends experimenteller damit um. Das mag ich sehr. In was für einer Welt spielt Alice im Wunderland in deiner Inszenierung? Hat die Entstehungszeit der Erzählung – sie ist 1865 erstmals erschienen – bei der Entwicklung des Bühnenbildes und der Kostüme für dich eine Rolle gespielt? Die Welt des 19. Jahrhunderts fasziniert mich sehr. Das war eine Zeit, die von Dunkelheit und Strenge geprägt war und für Kinder, gerade diejenigen aus reicheren Haushalten, nicht wirklich Platz hatte. Ein Kind musste vor allem lernen, hatte sich zu benehmen und durfte auf keinen Fall stören. Alice’ Realität ist geprägt von Zucht, Ordnung und Repression. Es gibt dort ein sehr starkes Regelwerk, das ein Kind schier erdrücken kann. Das war interessant als Ausgangspunkt, weil man dazu eine tolle Gegenwelt entwerfen kann. Dieser ganze Stoff atmet eine andere Zeit, und diese Zeit haben wir im Kostüm und im Bühnenbild aufgenommen. Die Parallelen zu unserer heutigen Welt, in der die Eltern keine Zeit für ihre Kinder haben, weil sie permanent mit Smartphone oder Computer beschäftigt sind, ergeben sich dann von ganz allein. Und im Wunderland werden alle diese Regeln ausser Kraft gesetzt? Im ersten Moment könnte man denken, im Wunder land ist alles nur noch schön und angenehm und genau so, wie Kinder sich das erträumen würden. Bei genauerer Betrachtung ist das aber gar nicht so! Alice trifft nämlich auf sehr viele ziemlich unsympathische Figuren, die ihr erstmal Angst machen. Die Herzkönigin zum Beispiel möchte ja viele ihrer Untertanen sofort köpfen lassen. Das ist teilweise gruselig, aber auch faszinierend und vor allem herausfordernd. Alice erlebt im Wunderland die Fülle des Lebens in verzerrter Form; alles wächst ins Monströse, Groteske, Humorvolle. Sie fällt von einer Emotion in die andere, wächst aber daran. Es ist toll, zu beobachten, wie es irgendwann nicht mehr die Situationen sind, die Alice kon trollieren, sondern wie sie Oberwasser gewinnt und beginnt, die bedrohlichen Situationen mit Witz zu unterwandern. Darin zeigt sich ein Adoleszenzprozess, der nicht nur Kinder betrifft, sondern auch für Erwachsene, die dafür offen sind, immer weiterläuft. Was sind das für Figuren, denen Alice im Wunderland begegnet? Die Wunderland-Figuren sind allesamt Zerrspiegel von Figuren, die sie aus dem realen Leben kennt. Ihre Mutter zum Beispiel wird im Wunderland zur Herzkönigin, eine Dame, die diese ganze Welt okkupiert, die eine grosse
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Faszination hat, aber auch etwas Abschreckendes. Die Butler werden zu Zwiddel dei und Zwiddeldum, zwei in der Realität im übertragenen Sinn ziemlich auf geblasene Typen, die sich im Wunderland dann zu riesigen Kugeln aufblähen und kaum noch bewegen können. Die Gouvernante, die Alice in der realen Welt Unterricht gibt, wird zur verrückten Herzogin. Das weisse Kaninchen ist in der Realität Alice’ heissgeliebter Stoffhase, der ihr abhandenkommt, eine schreckliche Odyssee durch den Haushalt durchläuft, schliesslich in der Waschmaschine landet und als grosser, «realer» Hase wieder rauskommt. Er wird sie dann durch die Welt des Wunderlandes begleiten. In den Kostümen von Irina Spreckelmeyer wird man immer etwas entdecken können, was die Wunderland-Figur mit der Figur aus Alice’ Realität verbindet. Was machst du anders, wenn du für Kinder inszenierst? Worauf kommt es dir an? Ich habe ja schon einige Kinderopern inszeniert, hier in Zürich die Schatzinsel und vorher an der Komischen Oper Berlin Mikropolis. Mir hat das immer grossen Spass gemacht. Wenn man den Stoff Alice im Wunderland für Erwachsene erzählen würde, würde sicher das Psychoanalytische eine viel wichtigere Rolle spielen. Das würde aber vor allem das Stück selbst betreffen. In der Umsetzung der Szenen arbeite ich genauso, wie ich das bei einer Oper für Erwachsene machen würde. Inzwischen bin ich als Regisseurin sehr stark auf die grossen, tragischen Stoffe gebucht, und da macht es mir grosse Freude, ein Stück zu inszenieren, das auch das Abgründige beinhaltet, genauso aber auch die Momente, in denen Groteske, Leichtigkeit und Komik im Vordergrund stehen. Was macht für dich eine gute Kinderoper aus? Mir ist es ganz wichtig, die Kinder ernst zu nehmen und nicht zu unterfordern. Mein Sohn ist jetzt drei Jahre alt, und ich habe mich schon oft über Kinder bücher oder Kinderfilme geärgert, weil ich dachte: Kind zu sein heisst doch nicht, dass man stupide, flache und möglichst bunte Dinge toll findet! Kinder können sehr viel aufnehmen. Sie sehen dann vielleicht andere Aspekte als Erwachsene, aber ich finde, man muss mit einer grossen Ernsthaftigkeit an Stücke für Kinder herangehen. Ich kann mich gut erinnern, dass ich in meiner Kindheit und Jugend vor allem Bücher und Filme gemocht habe, die eine gewisse Vielschichtigkeit und Reichhaltigkeit mitgebracht haben und bei denen ich über mehrere Jahre jeweils unterschiedliche Aspekte wahrgenommen habe. Manche dieser Bücher und Filme mag ich bis heute. Am Schluss des Stückes kommt Alice wieder in der realen Welt an; was hat sich nach dieser Reise für sie verändert? Ich glaube, sie hat durch ihre Erfahrungen im Wunderland gelernt, dass dieses Wunderland überall sein kann – man muss nur die richtige Tür aufmachen. Wie sagt Erich Kästner? «Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.» Das Gespräch führte Beate Breidenbach
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Frei von Logik und Moral Der italienische Komponist Pierangelo Valtinoni hat mit «Alice im Wunderland» nach dem «Zauberer von Oz» zum zweiten Mal eine Familienoper für das Opernhaus Zürich geschrieben. Im Gespräch erzählt er, was aus seiner Sicht eine gute Familienoper ausmacht und warum es nicht einfach für ihn war, als Komponist seinen eigenen Weg zu gehen
Pierangelo, du hast bereits vier Kinderopern geschrieben; die erfolgreichste bisher war Pinocchio – er wurde in viele Sprachen übersetzt und hat die Kinderherzen von Berlin und Venedig über Moskau bis Hongkong erobert. Warum hast du dir nun Lewis Carrolls Alice im Wunderland ausgesucht? Vor Alice schrieb ich neben Pinocchio die Schneekönigin und den Zauberer von Oz, der ja hier in Zürich uraufgeführt wurde. In allen drei Stücken ist die Hauptfigur auf der Suche nach etwas oder jemandem: Pinocchio sucht seinen Vater, Gerda sucht Kai, und Dorothy sucht ihr Zuhause. In Alice im Wunderland ist das ein bisschen anders – Alice ist vor allem auf der Suche nach sich selbst. Das hat mich sofort fasziniert, neben der Tatsache, dass diese Geschichte so viel Nonsens enthält und so wunderbar Moral-frei daherkommt. Es war allerdings nicht so ganz einfach, diesen Stoff in Musik zu setzen. Warum? Die Geschichte besteht aus Episoden, die sich nicht aufeinander beziehen und genauso gut auch in einer anderen Reihenfolge erzählt werden könnten. Es gibt keine Logik. Das ist für die Musik – für meine Musik – ein Problem: Sie kann sich nicht ohne eine gewisse innere Logik weiterentwickeln. Ich musste also ein System erfinden, einen Trick, um der Musik zu einer Logik zu verhelfen, während der Text unlogisch blieb. Die Lösung war für mich dann die Form der Variation: Der Schluss des ersten Aktes und der Epilog entsprechen dem Prolog. Die Idee ist immer dieselbe, aber sie wird variiert, und dem Zuhörer ist das vielleicht gar nicht bewusst. Für mich ist es wichtig, dass in einer Oper, die 90 Minuten dauert, die Musik sich so entwickelt, dass die einzelnen Teile nicht einfach austauschbar sind. Sonst empfinde ich das nicht als organisch. Im Wunderland passieren ja in der Tat vor allem Dinge, die die Logik, die Alice bis dahin gewohnt war, auf den Kopf stellen... Ja, denken wir zum Beispiel an die Grinsekatze: Alice sagt etwas, und die Katze sagt
Alice im Wunderland Märchenoper von Pierangelo Valtinoni ab 7 Jahren Musikalische Leitung Michael Richter Inszenierung Nadja Loschky Konzeptionelle Mitarbeit Yvonne Gebauer Bühnenbild Etienne Pluss Kostüme Irina Spreckelmeyer Lichtgestaltung Franck Evin Choreinstudierung Ernst Raffelsberger Dramaturgie Beate Breidenbach Alice Sandra Hamaoui/ Lina Dambrauskaité Herzogin/Raupe Ruben Drole/ Gary Martin Märzhase /Zwiddeldei Andrei Skliarenko/ Savelii Andreev Schlafmaus / Zwiddeldum Valeriy Murga/ Andrew Moore Grinsekatze Kjell Brutscheidt Herzkönigin Irène Friedli/Roswitha Christina Müller Der verrückte Hutmacher Omer Kobiljak/ Nathan Haller Das weisse Kaninchen Daniel Hajdu Philharmonia Zürich Kinderchor und SoprAlti der Oper Zürich Premiere 14 Nov 2020 Weitere Vorstellungen 22 Nov; 5, 10, 26, 27 Dez 2020; 2, 10, 15, 22, 23 Jan; 7 Feb 2021 Unterstützt durch
etwas vollkommen anderes, was überhaupt keinen Bezug hat zu dem, was vorher gesagt wurde. Alice geht ja durchaus bewusst ins Wunderland – ohne zu wissen, was sie dort erwartet –, weil sie sich in ihrer Welt, der Welt der Erwachsenen, ganz schrecklich langweilt. Im Verlauf dieser Reise wird Alice immer selbstbewusster, und schliesslich traut sie sich sogar, der Herzkönigin zu widersprechen. Es ist also auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Alice im Wunderland ist ein Stoff, der schon sehr oft bearbeitet wurde; hattest du bei der Stoffwahl keine Angst, dass deine neue Oper mit all den schon existierenden Versionen verglichen wird? Doch, ein bisschen schon. Ich habe mich bemüht, jegliche Referenz an die Filme oder andere Bearbeitungen des Stoffes, die ich gesehen habe, zu vermeiden. Es gibt ja auch eine Oper nach diesem Stoff von Unsuk Chin, aber das ist eher eine Oper für Erwachsene und etwas ganz anderes. Zusammen mit meinem Librettisten Paolo Madron habe ich versucht, einen eigenen, originellen Umgang mit dem Stoff zu finden, und hoffe natürlich, dass das auch so wahrgenommen werden wird. Was kann eine Oper deiner Meinung nach besser als ein Film? In der Oper ist es immer die Musik, die die Situation bestimmt. Wenn ich den Text aus meinen Opern entfernen würde, würde das an der Musik nichts ändern. Und die Musik kann zwar die Geschichte vielleicht nicht so genau erzählen, ist immer ganz direkt emotional erfahrbar und zumindest für mich viel poetischer. Du hast mir von weiteren Aufträgen für Kinderopern erzählt, die dich in Zu kunft erwarten; was gefällt dir daran, für Kinder zu komponieren? Es ist für mich kein Unterschied, ob ich Musik für Kinder oder für Erwachsene schreibe. Meine musikalische Sprache ändert sich nicht. Für mich besteht die Her ausforderung einer Kinderoper vor allem darin, die Kinder nicht zu langweilen. Ich bemühe mich deshalb, mit unterschiedlichen Emotionen zu arbeiten. Eine lang same Arie, die eine Viertelstunde dauert, funktioniert in einer Kinderoper nicht. Wenn ich einen Auftrag für eine Oper für Erwachsene bekommen würde, dann würde ich das gerne machen. Aber im Moment habe ich mit Kinderopern sehr viel Erfolg; «Alice» wird nach Zürich auch am Hongkong Arts Festival zu sehen sein. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Fantasie sehr viel mehr ausleben kann, wenn ich für Kinder schreibe. Ich fühle mich dabei sehr frei. Dir ist ja die Kommunikation mit dem Publikum sehr wichtig, und Kinder reagieren oft viel direkter als Erwachsene. Als Komponist habe ich – wie die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen – ver schiedene Phasen durchlaufen. Als junger Mensch habe ich mich sehr an der Avant garde orientiert und im Stil Ligetis komponiert, was mir auch durchaus gelungen ist. Aber dann bin ich an einen Punkt gekommen, an dem ich nicht mehr verstanden habe, warum ich Musik schreiben soll, die mich persönlich nicht zufriedenstellt. Die zeitgenössische Musik erzählt – so ist jedenfalls mein Eindruck – ausschliesslich von dunklen, hässlichen Dingen, von Albträumen, vom Tod. Das hat mit der Art ihrer musikalischen Sprache zu tun. Mir hat das überhaupt nicht entsprochen. Also habe ich mich entschieden, anders zu komponieren. Das war riskant. Aber das war mir lieber, als weiter Musik zu schreiben, mit der ich mich nicht identifizieren konnte. Bist du für diese Entscheidung von deinen Kolleginnen und Kollegen kritisiert worden? Ja, durchaus. Meine Musik steht ja schliesslich überhaupt nicht im Einklang mit der Musik der Avantgarde. Und am Anfang war es auch nicht ganz einfach für mich. Inzwischen ist mir das egal. Für mich ist wichtig, dass man ehrlich zu sich selbst ist und seinen eigenen Weg geht.
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Du hast mal gesagt, du schreibst Musik, um verstanden zu werden... Es geht mir dabei aber nicht um den Applaus. Ich schreibe einfach so, wie es mir gefällt. Ich möchte mit meiner Musik kommunizieren, Emotionen bei den Menschen hervorrufen. Und das geht am besten, wenn die Musik, die ich schreibe, auch bei mir selbst Emotionen erzeugt. Für die Kommunikation mit dem Publikum eignet sich Theatermusik natürlich sehr gut. Man merkt deiner Musik an, dass du das Theater liebst, deine Musik ist sehr gestisch und immer für die Bühne gedacht. Man hat mir oft gesagt, dass man auch in meiner Instrumentalmusik das Theater spürt. Ja, ich liebe das Theater. Kommen wir noch einmal zurück auf Alice im Wunderland. Hier gibt es viele klar erkennbare Motive, die den einzelnen Figuren zugeordnet sind; die Katze zum Beispiel hat ein prägnantes Klarinettenmotiv. Hast du dich von Prokofjews Peter und der Wolf inspirieren lassen? Ja, das habe ich. Natürlich hätte ich auch ein anderes Instrument wählen können. Aber die Klarinette hat wunderbar für die Katze funktioniert! Und für die Katze wollte ich ein besonders einprägsames Instrument mit einem charakteris tischen Motiv verwenden, weil die Katze eine Figur ist, die nur spricht und nicht singt. Deshalb musste ihre Musik umso besser erkennbar sein. Sehr einprägsam ist auch das orientalische Motiv der Raupe... Darauf bin ich gekommen, weil es bei Lewis Caroll heisst, dass die Raupe Wasser pfeife raucht. Da war so ein Motiv natürlich naheliegend. Daneben scheint es in deiner Musik auch den Einfluss des Jazz und der Unter haltungsmusik zu geben. Als ich mich dazu entschied, mich von der Avantgarde abzuwenden, habe ich auch entschieden, dass ich mich von jeder Art Musik beeinflussen lassen möchte, die ich als Jugendlicher gehört habe, und das waren neben klassischer Musik eben auch Jazz und Pop. Für mich ist die sogenannte Unterhaltungsmusik nicht grundsätz lich weniger wert als eine Sinfonie von Beethoven. Deshalb finden sich auch in meiner Musik die unterschiedlichsten Einflüsse. Auch Tanzrhythmen spielen in deiner Musik eine wichtige Rolle. Da habe ich mich ein bisschen von Bach inspirieren lassen, was sicher auch mit meiner Vergangenheit als Organist zu tun hat. Bach schreibt zum Beispiel Me nuette, deren Rhythmus klar erkennbar ist, die aber viel komplexere Strukturen haben als ein Menuett, das als Tanzmusik gedacht ist. Bei mir gibt es Passagen, in denen man sofort den Walzerrhythmus erkennt, die aber in ihrer inneren Struktur über einen Walzer hinausweisen. Solche Tanzrhythmen – es gibt noch viele weitere in Alice im Wunderland – sind deshalb wichtig für mich, weil sie direkt in den Körper gehen. Siehst du eigentlich die Szenen vor dir, wenn du sie komponierst? Ja, ich sehe alles sehr konkret vor mir. Aber ich kann das, was ich beim Komponieren gesehen habe, dann auch wieder vergessen. Leichter wird das für mich, wenn mir das, was sich die Regisseurinnen und Regisseure ausgedacht haben, gefällt. Bisher haben mir bis auf eine Aufführung eigentlich alle In szenierungen meiner Kinderopern gefallen. Ich bin also guten Mutes, dass das auch bei unserer Alice wieder so sein wird, und ich freue mich sehr darauf. Das Gespräch führte Beate Breidenbach
Wiederaufnahme 39
Manon Die Wiederaufnahme dieser Produktion wartet mit einer neuen Besetzung in den anspruchsvollen Hauptpartien auf: Die junge französische Sopranistin Vannina Santoni stellt sich als verführerische Manon zum ersten Mal am Opernhaus Zürich vor. Manon mit Haut und Haar ausgeliefert ist Des Grieux, der von Benjamin Bernheim verkörpert wird. Der international er folgreiche Tenor ist dem Opernhaus seit vielen Jahren treu verbunden. Die musikalische Leitung ist Chefsache: Fabio Luisi führt durch Massenets in vielen Farben schillernde Partitur. Wiederaufnahme 22 Nov 2020 Weitere Vorstellungen 25, 28 Nov; 3, 5 Dez 2020
Foto: T & T Fotografie / Toni Suter
Official Timepiece Opernhaus Zürich
Die geniale Stelle 41
Schmetterlinge im Bauch Ein Takt in Georg Friedrich Händels «Alcina»
Dem Abendland droht Gefahr: In Nordafrika und der Levante breitet sich rasant eine neue Religion aus, und nun überschreiten die muslimischen Kämpfer gar die Pyrenäen und nehmen Kurs auf Paris. Zur Rettung des Christentums sammelt Karl der Grosse ein gewaltiges Heer, und zieht den Heiden entgegen. Dieser grandiose Stoff hat von jeher Künstler zu Werken der verschiedensten Gattungen inspiriert. Im Italien der Renaissance entstand daraus sogar ein ganzer Zyklus von Epen, deren berühmtestes zweifellos Ludovico Ariostos Rasender Roland ist. Die in anmutigen Versen erzählte Geschichte erstreckt sich vom hohen Norden bis ins innere Afrika, von der Atlantikküste bis nach China und sogar bis auf den Mond. Die überbordende Fantasie des Dichters versammelt eine bunte Truppe von christlichen und heidnischen Männern und Frauen (die Männer fast immer tapfer und edelmütig, die Frauen immer verführerisch schön aber oft gefährlich), und stürzt sie in spannende und komische Abenteuer. Das Buch wurde von den Zeitgenossen enthusiastisch aufgenommen, und diente bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein als Quelle für zahllose Kunstwerke. Auch Georg Friedrich Händel hat Ariostos Schmöker sehr gemocht, denn er hat immer wieder Episoden daraus komponiert. Gleich am Anfang seiner Oper Alcina findet sich ein Hinweis, was ihn daran so sehr begeistert haben könnte: Zwei christliche Ritter, gerade auf der Insel Alcinas angekommen, treffen auf Morgana, die Schwester der Zauberin. Die klärt sie nicht nur darüber auf, wo sie sich befinden, sondern auch darüber, dass sie sich gerade in einen der beiden verliebt hat. Und sogleich singt sie eine Arie über sein schönes Gesicht und das «ich weiss nicht was» in ihm, das ihrem Herzen so gefällt. Just an der Stelle, wo sie vom Glück ihres Herzens spricht, wird die melodische Linie durch ein rhythmisch und melodisch über raschendes Motiv unterbrochen: drei absteigenden Terzschritten im umgekehrten punktierten Rhythmus. Wer schon einmal verliebt war (und wer war das nicht?), erkennt den Gestus dieses ganz aus dem Rahmen fallenden Takts sofort: Es sind die «Schmetterlinge im Bauch», die unbeherrschbare Freude, die immer wieder zwar nicht das Herz, wohl aber das Zwerchfell hüpfen und die Stimme plötzlich Kapriolen schlagen lässt. Kaum ein anderer Komponist verstand es wie Händel, solche kleinen, allzumenschlichen Unfälle mit so zarter Ironie zu schildern. Überhaupt ist Händels Werk ein wahres Kompendium des musikalischen Humors, aus dem sich seine Nachfolger gern bedient haben. Dabei ist Händels Witz immer freundlich, warmherzig, nie sarkastisch oder verletzend, immer auf der Seite der Liebenden. Sicherlich hängt es damit zusammen, dass er Ariostos Epos so geschätzt hat: Denn es erzählt so gut wie gar nicht vom Krieg, wie man eigentlich erwarten sollte. Die kühnen Ritter sind nämlich ununterbrochen verliebt und diese Liebe ist ihnen allemal wichtiger als die Rettung des Abendlandes. Hier fand Händel, was ihm am wichtigsten war: das Glück der Liebe, das er mit zärtlichem Augenzwinkern in Musik zu setzen wusste, und die Trauer über ihre gewaltsame Zerstörung, für die er so tief ergreifende Töne fand. Die Quellen zu Händels Privatleben sind sehr spärlich, wir sind in diesem Bereich fast vollständig auf Spekulationen angewiesen. Aber über einen Punkt gibt uns seine Musik in jedem Takt klare Auskunft: Er hat gern gelebt; und er hat viel geliebt. Werner Hintze
Sieben auf einen Streich «Das tapfere Schneiderlein» erzählt von einem unge wöhnlichen Helden, der gegen Fliegen, Riesen und andere wilde Wesen kämpfen muss und am Ende zum König gekrönt wird. Die Regisseurin und Figurentheatermacherin Kai Anne Schuhmacher hat eine fantasiereiche Version dieses Märchens zur Musik von Wolfgang Mitterer kreiert. Für Kinder ab 6 Jahren. Weitere Vorstellungen 7, 8, 28, 29 Nov; 6 Dez 2020; 24, 30, 31 Jan 2021
Foto: T & T Fotografie / Toni Suter
Unterstützt von Clariant Foundation
17 2020
Here We Play Instrumente für ein lebenswertes Morgen
Musik, die uns bewegt, ist eine perfekte Kombination aus Harmonie, Tempo und Rhythmus. Wenn wir etwas in Bewegung setzen und innovative Lösungen schaffen wollen, kombinieren wir Engagement, Know-how und Forschung. Gerade jetzt ist dieses Zusammenspiel wichtiger denn je: Die Zukunft stellt uns vor grosse Herausforderungen und verlangt danach, dass die Spezialchemie ihre tragende Rolle für ein lebenswertes Morgen einnimmt – und sie herausragend spielt. Sustainability fuels innovation.
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44 Fragebogen
Sandra Hamaoui Aus welcher Welt kommen Sie gerade? Aus dem Wunderland! Worauf freuen Sie sich in der Neu produktion Alice im Wunderland? Man spürt gerade eine ganz besondere Energie auf den Proben – nicht zuletzt deswegen, weil wir nach dieser Zwangspause endlich wieder auf der Bühne stehen dürfen! Ich freue mich sehr auf diese Produktion, weil sie ganz auf theatrale Mittel setzt und auf jeden Einzelnen von uns, egal ob Sängerin, Schauspieler oder Statistin – es geht um die Menschen auf der Bühne und um die Beziehungen der Figuren zueinan der. Es ist ein Tribut an die Bühnen kunst, an das Live-Erlebnis Theater mit all seiner Magie. Welches Bildungserlebnis hat Sie be sonders geprägt? Ich musste erst lernen, meiner inneren Stimme und meinem Instinkt zu ver trauen. Viele der Entscheidungen, die ich in einem frühen Stadium meiner Karriere getroffen habe, waren vielleicht ein bisschen unkonventionell, aber sie haben es mir erlaubt, meinen eigenen Weg zu gehen. Ausserdem hatte ich grosses Glück mit meinen Mentoren – ich arbeite nun schon seit über 10 Jahren mit demselben Team. Ohne meinen Coach, Joan Dornemann, und meinen Gesangslehrer, Cesar Ulloa, wäre ich gar nichts.
Welchen überflüssigen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten? Getöpfertes und Keramik! Ich hatte nie vor, so viel davon zu besitzen; aber ich liebe einfach die Flohmärkte in Paris und komme jedes Mal mit mindestens drei neuen Vasen oder Schüsseln zu rück… Mit welchem Künstler würden Sie gerne essen gehen, und worüber würden Sie reden? Kann ich auch zwei auswählen…? Monet und Rothko! Verschiedene Per spektiven der bildenden Kunst inspi rieren mich ausserhalb der Opern-Welt sehr, und Malerei liebe ich besonders. Ich würde während des Essens wohl selbst gar nicht viel sagen, sondern gebannt dem grossen Wissen solch ein drucksvoller Dinner-Gäste lauschen. Nennen Sie drei Gründe, warum das Leben schön ist! Da gibt es sicher Millionen… gerade im Moment geniesse ich den Farbwechsel in der Natur; die Tatsache, dass es Musik gibt und wir sie live zum Klingen bringen können; und die vollkommene Schönheit der Liebe.
Welches Buch würden Sie niemals weggeben? Eine sehr alte Ausgabe von Charles Baudelaires Les Fleurs du mal. Dieses Buch ist schon an viele Orte mit mir gereist, und ich habe es schon viele, viele Male gelesen. Welche CD hören Sie immer wieder? Pink Floyd höre ich seit meiner Kind heit. Generell mag ich es, mich mit ganz unterschiedlichen Musik-Genres zu beschäftigen, wenn ich nicht im Theater bin; das finde ich sehr erfrischend.
Sandra Hamaoui, französisch-amerikanische Sopranistin, singt in «Alice im Wunderland» die Titelrolle. Zuvor war sie am Opernhaus Zürich als Gretel in «Hänsel und Gretel» und als Titelheldin der Familienoper «Coraline» zu erleben. Seit dieser Spielzeit gehört sie zum festen Ensemble und wird im Frühling 2021 auch als Sophie in «Werther» zu hören sein.
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