MAG 88
Riccardo Minasi dirigiert «Monteverdi»
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Editorial
Zürcher Tradition in neuen Formen Verehrtes Publikum,
MAG 88 / Jan 2022 Unser Titelbild zeigt Riccardo Minasi, den neuen künstlerischen Leiter des Orchestra La Scintilla (Foto Florian Kalotay)
das Programmheft vom Oktober 1979 liegt noch im Archiv der Dramaturgie, ein ziemlich vergilbtes Exemplar. Spröde ist es in der Form, aber spektakulär in dem Gegenstand, dem es gewidmet ist, nämlich dem letzten Baustein des legendären Monteverdi-Zyklus, den Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle am Opernhaus Zürich realisierten und der Musiktheatergeschichte schrieb, weil er den genialen italienischen Komponisten des Frühbarock für die Bühne wiederentdeckte und dem Opernhaus weltweiten Ruhm eintrug. Viele glauben, dass dieser Zyklus aus den drei erhaltenen Opern Monteverdis bestand – L’Orfeo, Il ritorno d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea. Aber das stimmt nicht, es gab noch eine vierte Produktion, wie unser altes Programmheft bezeugt, und die war dem Achten Madrigalbuch Monte verdis gewidmet. Dieses Buch ist eine ganz besondere Sammlung im Schaffen des Italieners, denn in ihm zieht er im Herbst seines Komponistenlebens noch einmal die Summe seiner Arbeit. Die Werke darin offenbaren den revolutionären Umschwung, an dem Monteverdi entscheidend mitgewirkt hat – dem Übergang von der Herrschaft der Vokalpolyphonie zum einstimmigen, begleiteten, expressiven Sologesang, der auch die Geburtsstunde der Oper ist. Im Vorwort erläutert der Komponist seine Erfindung eines erregten Gesangsstils, des «stile concitato», und dass die Emotionen, die er in seiner Musik zum Ausdruck bringen will, zuallererst aus einem «sprechenden» Gesang erwachsen sollen, in dem das Wort im Mittelpunkt steht. Aber es sind nicht nur die kühnen stilistischen Neuerungen, die das Achte Madrigalbuch zu einer Werksammlung mit Kultcharakter werden liessen, sondern die Stücke selbst haben in ihrer zu Herzen gehenden Schlichtheit, ihrer expressiven Dramatik und Empfindungstiefe seit Monteverdis Zürcher Wiederentdeckung grosse Popularität erlangt. Das noch einmal in Erinnerung zu rufen, ist sehr aktuell, denn am 15. Januar hat Christian Spucks neue Produktion Monteverdi Premiere, und diese basiert in wesentlichen Teilen auf Musik aus dem Achten Madrigalbuch. Ein Ballett sollte man diese neue Kreation nicht nennen, denn sie integriert neben dem Ballett Zürich auch ein Gesangsensemble und unser Orchestra La Scintilla. Es ist ein spartenübergreifendes Musiktheaterprojekt, eine Form also, wie sie Christian Spuck zuvor schon mit Verdis Messa da Requiem, Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern oder Franz Schuberts Winterreise sehr erfolgreich ausprobiert hat. Sein musikalischer Partner dabei ist Riccardo Minasi, der die Aufgabe des künstlerischen Leiters unseres Orchestra La Scintilla übernommen hat, eine Position, die es bisher noch nicht gegeben hat. Christian Spucks neues Musiktheaterwerk ist der dritte Baustein eines Monteverdi-Zyklus, den wir als dramaturgischen Bogen über die Amtszeit von Intendant Andreas Homoki legen, nach Il ritorno d’Ulisse in patria in der Spielzeit 2013/14 und L’incoronazione di Poppea in 2017/18. Es fehlt also noch ein neuer Orfeo, auch den – so viel darf ich verraten – wird es bis 2025 noch geben. Die Zürcher Monteverdi- Tradition bleibt in neuen Formen lebendig. Claus Spahn
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Podcast
a n a i Lil eanu t Niki Zwischenspiel Die neue Folge ist online.
Seit genau dreissig Jahren steht Liliana Nikiteanu auf der Bühne des Zürcher Opernhauses. Grund genug, mit der sympathi schen Mezzosopranistin über das Geheimnis ihrer langen Karriere zu sprechen, über be glückende Bühnenmomente und grosse Musikerpersönlichkeiten, aber auch über die Schatten seiten in ihrem Leben: Drill und Entbehrungen im kommunis tischen Rumänien haben sie bis heute geprägt. Gesprächs partnerin in der aktuellen Aus gabe ist Kathrin Brunner.
Unterstützt von
Inhalt
12 Über das Wesen der Melancholiker – ein Gespräch mit dem ungarischen Kunsttheoretiker László Földényi 19 Ballettdirektor Christian Spuck über sein neues Musiktheaterprojekt «Monteverdi» 26 Ein Interview über Alte Musik in modernen Zeiten mit Riccardo Minasi, dem neuen künstlerischen Leiter des Orchestra La Scintilla 39 Der Fragebogen mit Konstantin Shushakov, dem neuen Don Giovanni in unserer Wiederaufnahme Opernhaus aktuell – 7, Drei Fragen an Andreas Homoki – 9, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 11, Volker Hagedorn trifft … – 32, Die geniale Stelle – 36, Der Fragebogen – 39, Auf der Couch … – 40
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Der besondere Blick von Monika Rittershaus
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ascot-elite.ch
Opernhaus aktuell
5. Brunch- / Lunchkonzert 4. Philharmonisches Konzert
Der Schweizer Pianist Francesco Piemontesi spielt Mozarts letztes Klavierkonzert Der gebürtige Schweizer Francesco Piemontesi gehört zu den führenden Pianisten seiner Generation. Mit dem Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur von Mozart gab er zu Beginn dieser Saison sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Unter der Leitung von Manfred Honeck spielt er dasselbe Werk nun auch in unserem 4. Philharmonischen Konzert. Es ist Mozarts letztes Klavierkonzert und stammt aus dessen Todesjahr 1791. In ihrer schlichten Schönheit und emotionalen Ausgeglichenheit scheint diese Musik bereits einer anderen Sphäre anzugehören. Ganz anders die knapp 100 Jahre später entstandene 1. Sinfonie D-Dur von Gustav Mahler: starke emotionale und stilistische Kontraste sind geradezu stilprägend für dieses monumentale Erstlingswerk des bedeutenden Sinfonikers an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Sonntag, 6 Feb, 19.30 Uhr, Opernhaus Zürich
Russische Romantik Alexander Borodin, von dem das f-MollQuintett für zwei Violinen, Viola und zwei Violoncelli (1859/60) in diesem Kammerkonzert erklingt, gehörte dem Komponistenkreis des «Mächtigen Häufleins» an – eine Verbindung von Komponisten, die eine von der westli chen Tradition freie, eigenständige russische Musik anstrebten. Wie seine Kollegen dieses Zirkels war Borodin musikalischer Autodidakt, hauptberuf lich war er Arzt und Professor für organische Chemie in St. Petersburg. Konventioneller verlief die Karriere des 30 Jahre jüngeren Alexander Gla sunow, der schon früh Professor am St. Petersburger Konservatorium wurde. In seinem Streichquintett A-Dur op. 39 (1892) gelang ihm die Synthese des kernig-r ussischen Stils des «Mächtigen Häufleins» mit dem eleganten Klassizis mus Tschaikowskis.
Illustrationen: Anita Allemann
Brunchkonzert: Sonntag, 16 Jan, 11.15 Uhr Lunchkonzert: Montag, 17 Jan, 12 Uhr Spiegelsaal Wiederaufnahme
Liederabend
Cavalleria rusticana/ Pagliacci
Anja Harteros
Die beiden veristischen Kurzopern Cavalleria rusticana und Pagliacci ge hören wie siamesische Zwillinge zu sammen. Unter der drückenden Sonne Italiens spielen sich zwei Eifersuchts dramen ab: In Cavalleria in der Enge eines katholischen Dorfes, in Pagliacci in der kleinen Welt eines Zirkus. Beide Werke enden mit dem Tod der Pro tagonisten. Die Wiederaufnahme vereint ein prominentes Ensemble: Als San tuzza gastiert die Starmezzosopranistin Elīna Garanča am Opernhaus Zürich (30.1.: Oksana Volkova). In der Doppel rolle des Turiddu und Canio ist der weltweit gefeierte argentinische Tenor Marcelo Álvarez zu hören. Wiederaufnahme 18 Jan 2022 Weitere Vorstellungen 21, 23, 26, 30 Jan 2022
Sie ist eine der vielumjubelten Stimmen unserer Zeit: die Sopranistin Anja Harteros gastiert mit Partien von Wag ner, Strauss und Verdi an den grossen Opernhäusern der Welt. Ein wichtiges Rollendebüt hat sie im vergangenen Sommer als Isolde an der Bayerischen Staatsoper München gegeben. Mit Strauss’ Arabella ist sie im Mai endlich auch wieder am Opernhaus Zürich auf der Bühne zu erleben. Bereits im Feb ruar singt sie hier, begleitet von Wolfram Rieger, einen Liederabend. Das Pro gramm wird in Kürze auf unserer Web site bekannt gegeben. Mittwoch, 9 Feb 2022, 19 Uhr
Opernhaus Jung
imprO-Opera und Choreografie-Workshop
Das Format imprO-Opera geht im Februar in eine neue Runde: Zu Musik aus Opern von Rossini erfindet der Er zähler Christoph Betulius zusammen mit dem Publikum (ab 7 Jahren) spontane Geschichten. Ende Februar findet für 12- bis 18-jährige Tanzbegeisterte der Ferienworkshop «Was ist Choreografie?» statt. Der einwöchige Kurs wird von einem gemeinsamen Besuch der Vorstel lung Angels Atlas ergänzt. Anmeldun gen sind ab sofort möglich. imprO-Opera: 5, 6 Feb, jeweils 15.30 Uhr Ferienworkshop «Was ist Choreografie?»: 21-25 Feb, jeweils 10-14 Uhr Detaillierte Infos: www.opernhaus.ch/jung
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Drei Fragen an Andreas Homoki
Foto: Daniel auf der Mauer
Stabil trotz Corona Herr Homoki, gerade wurde der Ge schäftsbericht für die Saison 2020/21 veröffentlicht. Wie sieht die Bilanz aus? Die Corona-Pandemie hat uns natürlich massiv getroffen. 2020/21 war eine der schwierigsten Spielzeiten in der Geschichte des Opernhauses. Eigentlich hätten wir unserem Publikum 260’000 Plätze für all unsere Vorstellungen anbieten können, aber wegen der Be schränkungen durften wir real nur 29’000 Plätze verkaufen. Wer weiss, wie sehr das Opernhaus von den Einnahmen aus Ticketverkäufen abhängig ist, kann an dieser Zahl leicht ablesen, wie krisenhaft die Situation war. Das Haus ist – auch dank der Kooperation des Personals – in die Kurzarbeit gegangen, und nur dadurch konnten wir die Kosten- Einnahmesituation weitgehend in der Balance halten. Wir haben aber auch gelernt, auf die Krise zu reagieren, indem wir etwa rechtzeitig unser Übertragungssystem von Chor und Orchester aus dem coronasicheren Probesaal entwickelt und den Bühnenbetrieb den Schutzmassnahmen so angepasst haben, dass wir trotzdem weiter Oper und Ballett produzieren konnten. So haben wir fast alle geplanten Neuproduktionen erarbeitet und zur Premiere gebracht. Das war von grosser Bedeutung, denn sie sind unser künstlerisches Kapital. Ballette wie Dornröschen und Opern wie Lucia di Lammermoor brauchen wir für die Spielpläne der Zukunft. Die Kurz arbeit hat allerdings unsere personellen Möglichkeiten so eingeschränkt, dass wir uns darauf konzentrieren mussten, die Neuproduktionen zu realisieren. An einen regulären Vorstellungsbetrieb war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Dafür hatten wir eine enorme Reichweite mit unseren StreamingProjekten, all den Premieren, Balletten und Konzerten, die wir auf unserer Website und auch auf ARTE im Fern sehen zeigen konnten. Zwei Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer haben
die digitalen Übertragungen des Opern hauses angeschaut. Das, finde ich, ist eine imposante und sehr erfreuliche Zahl. Hat die Pandemie das Haus grund sätzlich verändert? Nein, das glaube ich nicht. Corona macht uns alle ein bisschen demütiger und lehrt uns, dass man nicht alles für selbstverständlich nehmen darf, was wir für selbstverständlich erachten. Aber wir haben in der Pandemie auch gezeigt, dass wir Krisensituationen meistern können. Es heisst ja immer, Opernhäuser seien aufgrund der langfristigen Planun gen schwerfällig und kaum manövrier fähig, aber das stimmt nicht. Im Frühjahr 2021, als Vorstellungen vor 50 Menschen wieder erlaubt waren, konnten wir sofort ein Extra-Programm mit kleinen Formaten auflegen, das wir bereits Anfang des Jahres vorbereitet hatten. So haben wir beispielsweise Igor Strawinskys Geschichte vom Soldaten als Produktion vor dem Eisernen Vorhang realisiert. Wir können eben nicht nur gross und langfristig, sondern auch ad hoc und flexibel, dank der motivierten Mitarbeitenden und der grossen künstlerischen Ressourcen in unserem Haus. Was gibt Ihnen das Gefühl, wirt schaftlich auch gut durch die laufende Spielzeit zu kommen? Wir nähern uns gerade wieder einer Corona-Situation, in der sogar ein neuer licher Lockdown nicht mehr grundsätz lich auszuschliessen ist. Das wäre ein Albtraum, von dem wir dachten, er läge hinter uns. Bisher allerdings sind wir durchaus zufrieden mit der Saison. Der Publikumszuspruch reicht zwar nicht an unsere Rekordauslastungen von vor Corona heran, liegt aber angesichts der schwierigen Situation durchaus im Rahmen. Natürlich sind wir im Moment mit unseren Einnahmen unter Budget. Aber wir haben Rückstellungen ge bildet, die das auffangen können, und das Haus wirtschaftlich stabil halten.
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SPENCER (2021) / arthouse.ch
HANDY AUS. HERZ AN. arthouse.ch
Wie machen Sie das, Herr Bogatu? 11
Achten Sie auf die Knöpfe! Wussten Sie, dass Knöpfe manchmal Geschichten erzählen können? Und dass die Königin Anna Bolena vielleicht noch am Leben wäre, wenn sie in unserer Inszenierung von Donizettis gleichnamiger Oper die Knöpfe beachtet hätte? Es geht um die Knöpfe an den Kostümen von Anna Bolena und ihrer Zofe Gio vanna di Seymour. Anna Bolenas Knöpfe sind rot und haben ein königliches Goldem blem in der Mitte. Hätte die Königin ihre Zofe etwas genauer betrachtet, wäre ihr aufgefallen, dass Giovanna eben die gleichen Knöpfe an ihrem Kostüm hat – aber in blau. Mit königlichem Goldemblem. Und woher kann eine Zofe solche königlichen Knöpfe nur bekommen haben? Einzig und allein von König Heinrich dem VIII., dem Gemahl von Anna Bolena. Und warum schenkt der König einer Kammerzofe könig liche Knöpfe? Ja, warum wohl… Hätte sich Anna diese Frage gestellt, wer weiss, wie die Oper ausgegangen wäre. Sie hat es nicht getan. Deshalb erfährt sie zu spät von der Untreue ihres Gatten und stirbt am Ende eines dramatischen Opernabends. Dass Knöpfe Geschichten erzählen können, liegt an unserer Gewandmeisterin Jennifer Ambos. Sie hat die Knöpfe passend zum Kostümstoff ausgesucht und ihnen diese wundervolle Geschichte gegeben. Sie werden jetzt genauso erstaunt sein wie ich: Wurden die Knöpfe nicht vom Kostümbildner Gideon Davey vorgegeben? Jennifer erklärt uns, dass es so gut wie nie vorkommt, dass das Design von Knöpfen vorgege ben wird und es so an ihr hängen bleibt, den passenden Knopf zum Kostüm zu finden. Und wo findet sie den? Jennifer führt mich in die tiefsten Eingeweide unseres Opern hauses, und in einem versteckten Raum entdecke ich eine neue Welt. In Regalen bis unter die Decke liegen nach Farben und Formen sortiert eine knappe halbe Million Knöpfe! Was für eine Schatzkammer. Gleiche Knöpfe sind jeweils in einem «Knöpfli röhrli» gelagert: Eine durchsichtige Plastikröhre mit einem Schraubdeckel. Jedes Knöpfliröhrli hat auf den Deckel einen der Knöpfe genäht, die sich drin befinden. In einem Regalfach liegen etwa 100 dieser Knöpfliröhrli neben- und übereinander – die Knöpfe auf den Deckeln sichtbar und perfekt sortiert auf den Betrachter ausgerichtet. Es sind geschätzte 2’000 verschiedene Modelle von Knöpfen in unserem Fundus zu finden, die immer wieder nachbestellt werden. Vielleicht ist es die riesige Auswahl an Knöpfen, die einen Kostümbildner oder eine Kostümbildnerin überfordert, vielleicht sind Knöpfe ihnen auch egal, weil sie so klein sind. Jennifer hingegen lässt die Knöpfe Geschichten erzählen und ich bin sicher, dass viele Opern anders enden würden, hätten unsere Charaktere den Knöpfen mehr Beachtung geschenkt.
Illustration: Anita Allemann
Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich
12 Monteverdi
Der weite Blick der Weltverlorenen Die Musik von Claudio Monteverdi, sagt man, sei melancholisch. Aber was ist eigentlich Melancholie? Für den ungarischen Kunsttheoretiker László Földényi ist sie mehr als eine schwermütige Stimmung. Für ihn ist sie eine Haltung zur Welt Probenfotos Admill Kuyler
Wolf Hoeyberghs
14 Monteverdi
Herr Földényi, wir wollen mit Ihnen über Melancholie reden. Sie haben zwei vielbeachtete Bücher darüber geschrieben, zuletzt das Lob der Melancholie. Ist die Melancholie Ihr grosses Lebensthema? Das scheint so zu sein, ja. Ich komme von dem Thema nur schwer los. Auch andere meiner Bücher, etwa über Caspar David Friedrich oder Heinrich von Kleist, hatten mit Melancholie zu tun. Diese beiden Künstler sind in meinen Augen auch grosse Melancholiker. In meinem ersten Buch aus den achtziger Jahren habe ich die Geschichte der Melancholie erforscht und war fasziniert davon, wie unterschied lich sie in den verschiedenen Epochen bewertet wurde. Für die Griechen waren viele herausragende Persönlichkeiten Melancholiker, von den Heroen bis zu Philo sophen wie Empedokeles oder Platon. Im Mittelalter galten die Geisteskranken und Gottesleugner als Melancholiker. In der Renaissance waren es hauptsächlich die grossen Künstler, im 17. und 18. Jahrhundert die Faulen, die vom Leben Gelang weilten und die Aussenseiter der bürgerlichen Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert verdrängt der Begriff der Depression die Melancholie, und im 20. Jahrhundert wird sie zum kitschigen Gemeinplatz: Melancholisch war ein schöner Spaziergang im Sonnenuntergang am Meer und ähnliches. Aber der depressive Mensch im Verständnis unserer Zeit ist nicht gleichzu setzen mit dem Melancholiker, über den Sie reflektieren. Wie lässt sich das Phänomen der Melancholie denn für uns heute fassen? Nach der Beendigung meines Buches über die Geschichte der Melancholie hat mich der Gedanke nicht mehr losgelassen. Wenn man trotz unterschiedlichster Deutun gen immer am Begriff «Melancholie» festgehalten hat, muss es über die Jahrhunderte hinweg einen gemeinsamen Nenner geben, und dem bin ich in meinem zweiten Buch nachgegangen. Ich wollte herausfinden, was die griechischen Philosophen, die Herätiker, die Gelangweilten und die Genies gemeinsam haben. Man kann die Melancholie nicht auf einen klaren Begriff reduzieren, aber ich habe festgestellt, dass sie schon immer mit einem Verlust des Weltvertrauens einherging. Melancholiker haben die schwarzen Schatten über der jeweiligen Zivilisation wahrgenommen, und sie waren überzeugt, dass es noch etwas hinter der Hülle der realen Welt geben muss. Das klingt nach einem religiösen Gedanken, aber die Melancholiker sind nicht religiös. Der Gläubige hat ein festes Vertrauen ins Jenseits, der Melancholiker nicht. Trotzdem kann der Melancholiker nicht akzeptieren, dass die reale Welt die endgültige Verfasstheit unseres Daseins ist, es muss noch etwas anderes geben. Der Dichter Charles Baudelaire hat in einem Aufsatz über die «irritierende Melan cholie» geschrieben, die der Musik und der Poesie entspringt. Sie brächte uns eine Welt, die jenseits des Grabes liegt, zum Vorschein. Das fand ich einen schönen Gedanken. Baudelaire sieht das Jenseits hier bei uns, nur wir bemerken es nicht. Im Bekannten das Unbekannte zu erkennen, sei Melancholie. Ich stimme Baudelaire zu. Melancholie hat mit Offenheit für Metaphysik zu tun. Das Melancholische bringen wir immer mit einer gewissen Gestimmtheit des Menschen in Verbindung. Wenn der Begriff aber so gross und so weit gedacht ist, in welche Stimmung gerät dann der melancholische Mensch? Mich stört es, wenn man Melancholie auf Schwermut, Traurigkeit, Niederge schlagenheit oder Weltschmerz reduziert. Man kann als Melancholiker auch heiter und glücklich sein. Novalis war oft heiter, aber ein grosser Melancholiker. Für den englischen Romantiker John Keats war die Melancholie «the very temple of delight». Melancholie ist mehr als ein Gefühl, sie ist eine Art von Weltsicht. Der Melancholiker will unsere Welt in Richtung des Unbekannten erweitern. Das Unbekannte kennt er nicht, aber es zieht ihn an. Ist die Melancholie ein erstrebenswerter Zustand für den Menschen? Ich würde sagen, man strebt nicht nach Melancholie, sondern man wird melancho
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lisch, ohne es zu merken. Wenn man sich in Musik vertieft, hört man am Ende etwas, das über die Musik hinaus geht. Der Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline sagte, in jeder Musik stecke ein einziges Lied, und das sei das Lied vom Tod. Der Gedanke, dass aus jeder Musik die ungeschriebene Weise vom Tod herauszu hören ist, gefällt mir. Diese Erfahrung kann man nicht nur bei Monteverdi oder Gustav Mahler machen, sondern selbst bei Haydn, der helle Musik komponiert hat. Welches Verständnis von Melancholie hatte man zu Lebzeiten von Monteverdi im 17. Jahrhundert? Ein typischer Melancholiker in der Spätrenaissance war der italienische Neuplatoniker Marsilio Ficino. Er hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu seiner eigenen Melancholie. Einerseits litt er daran und beklagte sich ständig: «Warum bin ich im Zeichen des Saturn geboren? Warum bin ich so unglücklich?» Anderswo schreibt er dann, dass gerade Saturn für die geistige Ausserordentlichkeit verantwortlich sei. Der Zwie spalt, einerseits verdammt und andererseits ein Auserwählter zu sein, war typisch für die Renaissance. Zu Monteverdis Zeiten war man stolz auf diesen Zwiespalt. Die Renaissance steht für das grosse Erwachen des Menschen in der Kunst, wie es ja auch bei Monteverdi zu erleben ist. Öffnet dieses aufblühende Ich- Bewusstsein auch der Melancholie die Pforten? Das kann man so sagen. Die Melancholie hat in dieser Zeit eine grosse Epoche. Das Ich im neuzeitlichen Sinne wird hier geboren, immer mehr Schichten des Indi viduums kommen zum Vorschein, voll mit Widersprüchen natürlich. Wenn man Vasaris Lebensgeschichten der grossen Maler liest, stellt man fest, wie viele von ihnen Melancholiker waren. Das macht sie unglücklich und befähigt sie gleichzeitig dazu, geniale Werke zu schaffen. Es gibt ein berühmtes Buch, das im 17. Jahrhundert entstanden ist, Die Anatomie der Melancholie von Robert Burton. Sie kennen es natürlich. Kann man aus der Existenz dieser grossen Abhandlung schliessen, dass die Epoche Monteverdis nicht nur eine melancholische war, sondern auch eine, in der besonders intensiv über das Wesen der Melancholie nachgedacht wurde? Das würde ich so nicht sagen. Die Melancholie ist von jeher ein Gegenstand der Reflexion, schon bei Aristoteles. Die Melancholie ist geradezu eine Condition humaine. Sie gehört zum Menschsein. In den Madrigalen und Lamenti von Monteverdi geht es ganz oft um Liebes schmerz. Die Einsamen und Verlassenen klagen ihr Leid. Ist denn Liebes kummer überhaupt ein Ausdruck von Melancholie, so wie Sie sie verstehen? Natürlich. Liebe ist immer eine Form von Selbstverlust. Man verliert sich, wenn man verliebt ist, egal ob die Liebesgefühle einseitig oder gegenseitig sind, und gerade in den Situationen, in denen man kopflos ist, ist man am nächsten bei sich selbst. Das ist eine sehr melancholische und vielversprechende Gefühlslage. Bei Monteverdi ist dem Schmerz der Liebeskranken immer auch eine Süsse beigemischt, ein Genuss. Ist der Teil der Melancholie? Unbedingt. Das Schwelgen gehört dazu. Mir fällt da sofort das berühmte Schluss- Duett «Pur ti miro, pur ti godo» aus Monteverdis Oper L’incoronazione di Poppea ein, das finde ich einfach wunderbar. Poppea und Nerone sind am Ende und überschreiten in dem Duett eine Grenze, nicht ins Jenseits, sondern in eine Sphäre, in der alles, was bisher geschah, nebensächlich wird. Das ist unendlich traurig und zugleich voller Glück. Auf diese Art eine Oper zu beenden, ist einmalig. In dem Madrigal Interrotte speranze, zu deutsch «Erstickte Hoffnungen», will das lyrische Ich die «wilde Liebesglut nur noch mit Seufzern nähren und
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den Kummer vor spähenden Augen verstecken». Ziehen sich Melancholiker immer in die Einsamkeit zurück, oder ist auch eine kollektive Melancholie denkbar? Das bezweifle ich. Ich glaube, die Melancholie ist ein sehr privater Zustand. Oft bemerkt man die Melancholie erst, nachdem der Zustand schon vorbei ist. Und oft merkt man überhaupt nicht, dass man gerade melancholisch ist. Lord Byron be schreibt in seinem Tagebuch, wie er an einer Festtafel seine Gäste unterhielt. Er war lustig, glänzte, alle lachten, und zu seiner Frau rief er: «Siehst du, Bell, und mich nennt man einen Melancholiker!» Sie erwiderte: «Ja! Du bist der melancholischste Mensch der Welt, und gerade, wenn du am fröhlichsten bist.» Der Choreograf unserer Monteverdi-Produktion, Christian Spuck, hat den Abend in Fragmentform angelegt als ein Puzzle mit vielen offenen Enden, und schon in den Proben ist zu spüren, dass sich durch diese Form in Verbin dung mit Monteverdis Musik Räume für eine ganz eigene weltverlorene Stimmung auftun. Gibt es Verbindungen zwischen dem Fragmentarischen und dem Melancholischen? Fragmente sind immer wichtige Herausforderungen. Besonders in der Romantik spielen sie eine grosse Rolle. Wenn das Fragment nicht als abgebrochener Teil eines einheitlichen Ganzen erscheint, sondern nur als Fragment existiert, ist es ein typi sches Symbol der Melancholie. Sie schreiben in Ihrem Buch, der Melancholiker nehme Welt in Stücken wahr, und zitieren John Dunne, der schreibt: «Alles in Scherben ohne Bezug, hier ist zu wenig und dort nie genug.» Wir leben eigentlich in Fragmenten. Der Weg von der Geburt bis zum Tod ist ein Fragment, nichts anderes. Natürlich streben alle Religionen danach, dieses Fragment des Lebens in ein grosses Ganzes einzubetten. Der Melancholiker zweifelt daran und geniesst das Leben als Fragment. In der Moderne ist das eine sehr unzeitgemässe Lebenseinstellung. Wir wollen die Welt immer zu einem sinnhaften, kompletten Ganzen zusammensetzen. Ja, das machen diejenigen, die alles erklären wollen, die Technokraten, die Gläubi gen. Der Melancholiker geht einen anderen Weg. Er kann die Unlösbarkeit von Dingen akzeptieren. Ist die Melancholie also auch ein Affront gegen die Moderne? Schon. Sie ist eine anachronistische Anlage. Sie ist jetzt kein aggressiver Akt gegen die moderne Welt, aber wenn man melancholisch wird – und das erlebt jeder Mensch –, erkennt man, wie ungenügend all das ist, was uns horizontal umgibt. Die Moderne möchte für alles Lösungen finden, aber das geht natürlich nicht. László Földényi zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellek tuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Sein Buch «Lob der Melancholie» erschien 2019 im Verlag Matthes & Seitz und wurde mit dem Leip ziger Buchpreis ausge zeichnet.
Wird die Melancholie in unserer Zeit als Depression pathologisiert? Die Depression ist eine Krankheit, die man behandeln muss mit Medikamenten und Therapie, sie ist eine Last. Aber Melancholie ist keine Last für den Menschen. Sie macht einen offen für Fragen, die wir sonst nur selten stellen. Diese vermeint liche Gewissheit, dass wir alles im Griff haben, wird von den Melancholikern in Frage gestellt, etwa in Situationen übergrosser Trauer, überfliessender Liebe, kathar tischen Kunstgenusses oder einem Zustand der Extase. Dann hat man das Gefühl, dass es wichtigere Horizonte gibt als die, die wir jeden Tag um uns herum sehen. Ich glaube, Melancholie ist eine sehr gesunde Einstellung zur Welt. Das Gespräch führten Michael Küster und Claus Spahn
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Mélissa Ligurgo
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Elena Vostrotina, Jesse Fraser
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So einfach und so viel Gefühl Christian Spuck ist fasziniert von den Madrigalen und Lamenti Claudio Monteverdis. Gemeinsam mit Sängerinnen und Sängern, dem Ballett Zürich, dem Orchestra La Scintilla und dem Dirigenten Riccardo Minasi entwickelt er einen Musiktheaterabend, der der zutiefst berührenden Emotionalität in der Musik des genialen Italieners nachspürt Probenfotos Admill Kuyler
Christian, Claudio Monteverdi gehört zu den Komponisten, die dir viel be deuten. Woher rührt diese persönliche Beziehung? Ich habe seine Musik zum allerersten Mal bei einer Tanz-Produktion von Anne Teresa De Keersmaeker gehört, als ich 17 Jahre alt war. Da hat sie mich allerdings noch eher gelangweilt. Einige Jahre später habe ich mir dann bei Zweitausendeins, dem damals wichtigsten Schallplattenladen für junge Leute, die Gesamtauf nahme der drei Monteverdi-Opern von John Eliot Gardiner gekauft und fand darin vor allem den grossen Anfangsmonolog von Penelope in Il ritorno d’Ulisse in patria wunderschön. Ich habe das auf meinem Walkman immer gehört und fand die Schlichtheit der Musik in Kombination mit der Direktheit, mit der die Emo tionen zum Ausdruck kommen, total berührend. Das war der Beginn meiner Liebe zu Monteverdi, die nach und nach gewachsen ist. Die extrem reduzierte Form mit nur einer Gesangsstimme plus Lauten- und Basso Continuo-Begleitung erzählt so viel. Kurz bevor ich nach Zürich kam, habe ich dann auch einen Ballettabend mit Musik von Monteverdi gemacht, der hiess Poppea, Poppea. Die Musik wurde darin aber nicht live gespielt. In unserer Zürcher Produktion, die wir im Moment proben, ist das anders: Hier kommen Sängerinnen und Sänger, unser Orchestra La Scintilla und die ganze Ballettcompagnie zusammen. Claudio Monteverdi hat seit dem legendären Pionier-Zyklus mit Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle am Opernhaus in Zürich eine grosse Renaissance auf den Opernbühnen erlebt. Seine Opern sind vielerorts fester Bestandteil des Repertoires geworden. Monteverdi hat aber auch Karriere im Privaten gemacht. Melancholische Menschen hören ihn wie Popsongs. Einige seiner populärsten Nummern sind regelrechte Hits bei Liebeskummer. Hörst du Monteverdi auch zu Hause nur für dich? Ja, klar. Für mich war Monteverdi unabhängig von seiner Bühnenpräsenz immer auch etwas Privates. Das spielt auch in unserer Produktion eine Rolle. Ich habe mir die Highlights aus seinem Schaffen herausgesucht, die ich emotional besonders stark finde und die als Nummern für sich stehen können. Die meisten Stücke sind aus dem Achten Madrigalbuch. Es ist, wie du sagst: Viele Sachen sprechen zu uns wie Songs von heute, obwohl sie vierhundert Jahre alt sind.
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Inwiefern eignet sich Monteverdis Musik für ein Ballett? Ballett finde ich nicht den richtigen Begriff für das, was wir machen. Es ist um fassender. Ich sehe es als ein Musiktheater, in dem Gesang, Tanz und instrumentale Teile zusammenkommen. Ich habe sieben Sängerinnen und Sänger in dieser Pro duktion, so viele wie noch nie, dazu das gesamte Ballett Zürich. Aber deine Frage zielt ja darauf ab, wie viel Nähe zum Tanz per se in Monteverdis Musik steckt. Tanz spielt in seinen Werken durchaus eine wichtige Rolle in Form von Ritornellen oder Zwischenspielen, in den Madrigalbüchern gibt es explizit als «Balli» ausge wiesene «Ballette». Aber ausgerechnet die finde ich nicht so spannend, sie sind in der Form eher schematisch und vorhersehbar. Dem Tanz kam zu Monteverdis Zeiten eben eine ganz andere Bedeutung zu als heute. Das war zeremonielle Unterhaltung am Hof und hatte nicht den subjektiven Ausdruckscharakter, der für Monteverdis Musik so prägend ist. Mich interessiert die Vokalmusik und die emotionale Kraft, die ihr innewohnt. Sie inspiriert mich zu Tanz. Du hast das Achte Madrigalbuch erwähnt. Was ist das Besondere an dieser Werksammlung? Es ist Monteverdis letztes Madrigalbuch, in dem er noch einmal eine Art Summe seines Schaffens zieht. Er hat es Canti guerrieri et amorosi genannt, Lieder von Krieg und Liebe, wobei mit «Krieg» ein Krieg der Liebenden gemeint ist. Im Achten Madrigalbuch finden sich berühmte Stücke wie das Lamento della ninfa, Hor che’l ciel e la terra oder das unglaubliche Combattimento di Tancredi e Clorinda. Sie sind in einer interessanten Zwischenform komponiert – noch nicht richtige Oper, aber auch nicht mehr konzertanter Vortrag. Die Szenen werden durch erzählte Dramatik zum Ausdruck gebracht, die Figuren selbst treten nur sparsam in Erschei nung. Monteverdi hat dafür einen sehr expressiven Gesangsstil erfunden, er selbst nennt ihn «stile concitato», erregten Stil. Das macht die Werke für eine Umsetzung in abstrakten Tanz extrem spannend. Wovon handeln die Stücke, die du für deinen Abend zusammengestellt hast? Von Verlassensein, von Vereinsamung und gebrochenen Herzen. Eigentlich wohnt nur den eingeschobenen Tänzen eine gewisse Fröhlichkeit inne, ansonsten sind die Stücke sehr auf der melancholischen Seite. Melancholie ist ein grosses Thema im Schaffen von Monteverdi. Er konnte wie kein anderer zuvor Liebesschmerz und Welttraurigkeit in Töne fassen. Er hat dadurch etwas für die damalige Zeit völlig Neues in die Musik gebracht – das tief empfindende Individuum, das seine innersten Gefühle nach aussen kehrt. Vor Monteverdi wurde Musik vor allem für die Kirche, zum Lob Gottes geschrieben, oder sie diente zur Unterhaltung an Fürstenhöfen. Damit gab sich Monteverdi aber nicht zufrieden. Er wollte mit seiner Musik nicht mehr nur gefallen, sondern die Zuhörer erschüttern und zu Tränen rühren – und es ist ihm gelungen. Seine Aufführungen müssen für die damalige Zeit eine un glaubliche emotionale Intensität gehabt haben. Es gibt Berichte, in denen beschrie ben wird, dass das Publikum beim Hören von Monteverdis Musik tatsächlich in Tränen ausgebrochen ist. Wie könnte man den Abend, den du kreierst, überschreiben? Es gibt ein berühmtes Buch aus dem 17. Jahrhundert, das zu Lebzeiten Monteverdis geschrieben wurde. Es heisst Die Anatomie der Melancholie von Robert Burton. Davon handelt auch unsere Arbeit: Unser neues Stück ist eine Art Untersuchung über das Wesen der Melancholie. Von welchen Gefühlszuständen ist sie geprägt? Wie äussert sie sich? Wie viele Facetten wohnen ihr inne? Ein anderer Aspekt ist theatra lischer Art: Mit Monteverdi beginnt die Geschichte der Oper. Seine Musik ist der faszinierende Anfang von Oper mit und durch Musik, und diese Anfangssituation werden wir zum Thema machen, im Bühnenraum und in den fragmentarischen Szenen und Episoden, die darin stattfinden. Es ist ein Moment von Theatralität, der
Emma Antrobus
vor dem eigentlichen Beginn von Theater mit konsistenten Figuren und einer aus führlichen Handlung liegt. Es geht mehr um die Emotionen, die die Szenen hervortreiben, und da kann ich mit Tanz und einer abstrakten Choreografie sehr gut ansetzen. Im Lamento della ninfa etwa klagt eine von ihrem Geliebten verlassene Nymphe. In Combattimento stehen sich Tancredi und Clorinda gegenüber, die aus feindlichen Lagern stammen, sich aber trotzdem lieben und einen Kampf auf Leben und Tod führen. Treten diese Figuren in deinem Musiktheater auf? Ja und Nein. Es treten Tänzerinnen und Tänzer auf, die diesen Figuren für Momente eine emotionale Beglaubigung geben, aber sie sind nicht diese Figuren. Sie treten nicht als Nymphen auf. Alle Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne sollen durch ihre Kunst, also Gesang und Tanz, das vermitteln, wovon die Musik in ihrem Inneren handelt. Wir streben eine Gleichzeitigkeit von angedeuteter Narration und Abstraktion an. Wir versuchen den ersten Momenten von Musiktheater nachzu spüren, und mich interessiert dabei auch die Fragilität, die in so einem Anfang immer liegt. Der Hauptakteur in Combattimento di Tancredi e Clorinda ist ein Erzähler, der den Kampf zwischen dem Kreuzritter Tancredi und der sarazenischen Heer führerin Clorinda schildert. Was heisst das für die Umsetzung auf der Bühne?
Es ist für einen Regisseur oder Choreografen immer eine grosse Herausforderung, wenn auf der Bühne erzählt wird, was geschieht. Dann macht es nämlich keinen Sinn mehr, es auch noch zu zeigen. Zeige ich es trotzdem, gibt es eine ungute Verdoppelung von Erzähltem und Gezeigtem. Das ist das Problem. Aber das Tolle an Monteverdis Musik ist ja, dass man bereits in den Beschreibungen des Erzählers den dramatischen Kampf hört, die wütenden Schwertschläge, das Blut, das aus den Wunden rinnt, das Entsetzen, das Seufzen. Alles ist musikalisch vor allem durch Sprache umgesetzt. Alles ist auch ohne Bühne da. Unsere Aufgabe ist es, diese Dramatik nicht durch eine zusätzliche szenische Bebilderung zu schwächen, sondern ihre emotionale Kraft zu verstärken, und das geht meiner Meinung nach nur mit Abstraktion in der Choreografie. Das Publikum soll gewissermassen mit dem Auge zuhören. Das wäre mein Wunsch. Du sagst, du willst die Anfangssituation von Theater zum Thema machen. Kannst du etwas konkreter beschreiben, was das heisst? Wir arbeiten alle am Theater, es ist unser Leben. Und es ist für uns selbstverständ lich, dass wir auf der Bühne etwas erzählen. Ich finde es spannend, diese Selbst verständlichkeit zu hinterfragen und mit Monteverdi zu reflektieren: Wann beginnt Theater? Aus welchen Energien speist es sich? Durch was wird es in Gang gesetzt? Mein Bühnenbildner Rufus Didwiszus hat für unseren Monteverdi-Abend einen Raum geschaffen, der Vieles ist: Man kann in ihm eine Landschaft sehen, den Innen
Monteverdi 23
raum eines geschlossenen Caféhauses, eine Wartehalle. Es liegen Requisiten herum. Der Ort verströmt eine melancholische Grundstimmung. In einer solchen Offen heit kann theatralische Kreativität entstehen. Besteht nicht die Gefahr, dass ein Abend mit Monteverdis Musik im Liebes schmerz absäuft? Ich hoffe nicht, dass das passiert. Ich habe in der Vorbereitung des Stücks nach einem musikalischen Kontrast zu Monteverdi gesucht. Ich wollte eine Leichtigkeit in die Produktion tragen und Humor, der den Schwermut der Lamenti bricht. Wir sind dann auf italienische Popsongs der sechziger und siebziger Jahre ge kommen, die wir zwischen die Monteverdi-Stücke geschnitten haben. Monteverdis Texte handeln ganz oft von Liebeskummer und Verlassensein und haben darin viel Ähnlichkeit zu Schlagertexten, die wir heute hören. In die Stille zwischen den Madrigalen erklingen bei uns Schlager vom Band. Die vierhundert Jahre alte Musik schlägt in die Gegenwart von heute um, und aus dieser Stimmung entwickelt sich die nächste Monteverdi-Szene. Ich habe es mir humorvoll vorgestellt, wenn nach Monteverdi plötzlich Adriano Celentano kommt. Aber in den Proben haben wir dann festgestellt, dass die Stimmungslage sich gar nicht so sehr ändert. Die Melancholie bleibt. Sie liegt über der Musik aus beiden Genres, obwohl die so unterschiedlich sind. Trotzdem ist der Kontrast wichtig, denn das Combattimento di Tancredi e Clorinda beispielsweise ist so aufwühlend, dass man sich unweigerlich fragt, wie ein Abend nach diesem Stück überhaupt noch weitergehen kann. Das geht nur über einen scharfen Kontrast, durch Humor. Schade, dass das nur auf der Theaterbühne möglich ist und nicht im wirklichen Leben. Da würde man ja manche katastrophische Entwicklung auch gerne mit einem Witz relativieren, aber das hilft leider nicht.
Louise Kemény und Ballett Zürich
Du sprichst wahrscheinlich die Corona-Situation an. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Art, wie in diesem Stück das Theater aus dem Nichts und dem Stillstand wieder Raum zu greifen versucht, auch mit der Erfahrung des Lockdowns zu tun haben könnte. Reagiert das Projekt auf die Zeit, in der an den Theatern Spielverbot herrschte und phasenweise nicht einmal geprobt werden konnte? Die Idee zu Monteverdi ist eigentlich schon älter. Die hat uns schon beschäftigt, als es Corona noch nicht gab. Ich hab mich gefragt, wie es künstlerisch mit dem Ballett Zürich weitergehen könnte, als wir so erfolgreich waren, etwa nach Nussknacker und Mausekönig. Sollen wir die Handlungsballette und die konventio nellen Formen weiter bedienen, oder sollen wir weitergehen und Grenzen aus loten? Bei Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern haben wir das getan, das Werk war noch nie als Ballett zu sehen, und fünfzig Tänzerinnen und Tänzer haben sich über einen sehr langen Zeitraum mit komplexer zeitgenössischer Musik auseinandergesetzt. In unserem Monteverdi-Projekt sehe ich auch einen Versuch, aus den konventionellen Bahnen des Balletts auszubrechen und künstleri sches Neuland zu betreten. Leicht fällt das nicht. Es tauchen in der Entstehung des Abends jeden Tag mehr Zweifel und Fragen in meinem Kopf auf. Ich glaube, es gibt keine Produktion, mit der ich mehr kämpfen musste. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass die Genialität von Monteverdis Musik in ihrer Einfachheit liegt. Da trifft alles ins Schwarze. Anders als eine Oper von Verdi, die ohne Szene gar nicht denkbar ist, brauchen die Sachen eigentlich kein Theater und erst recht kein Ballett. Aber sie lassen einen auch nicht los, weil sie so wundervoll sind. Ich hoffe, wir finden bis zur Premiere noch Antworten auf die vielen Fragen. Das Gespräch führte Claus Spahn
Links: Giulia Tonelli und Lucas Valente in «Il combattimento di Tancredi e Clorinda» Rechts: Luca D’Amato Unten: Gesangsensemble und Ballett Zürich
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Wir erforschen die Quellen, probieren aus und diskutieren alles Riccardo Minasi ist der musikalische Leiter des neuen Musik theaterprojekts «Monteverdi» von Christian Spuck und übernimmt die künstlerische Verantwortung beim Orchestra La Scintilla. Ein Gespräch über Forschergeist und Fakegefahr in der Alte-Musik-Szene, Verdi-Experimente und den Reiz der grossen Sinfonieorchester Foto Florian Kalotay
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Riccardo, du hast die künstlerische Leitung des Orchestra La Scintilla übernommen, ein Amt, das es bisher noch nicht gab? Was bedeutet es dir? Es erfüllt mich mit grosser Freude. Ich habe hier in Zürich schon so viele Projekte realisiert, dass zwischen den Musikerinnen und Musikern und mir echte Freund schaften entstanden sind. Es gibt ein grosses gegenseitiges Vertrauen, das die Basis unserer Zusammenarbeit bildet. Wie würdest du deine Aufgaben als künstlerischer Leiter von La Scintilla beschreiben? Da lastet zunächst einmal eine grosse Verantwortung auf meinen Schultern. Das En semble steht in der Tradition von Nikolaus Harnoncourt, der in Zürich legendäre Pionierarbeit geleistet hat. Bei ihm hat die Zürcher Leidenschaft für Alte Musik ihren Ursprung, und es gibt noch viele Gründungsmitglieder von La Scintilla, die sie bis in die Gegenwart tragen und auch für mich wichtige künstlerische Partner sind, wenn ich etwa an Ada Pesch oder Dieter Lange denke. Dieser Tradition und dem damit verbundenen künstlerischen Anspruch müssen wir gerecht werden. Es ist eine Riesenherausforderung für die Ensemblemitglieder, an einem Abend eine BelcantoOper von Donizetti auf modernen Instrumenten aufzuführen und am nächsten Abend Monteverdi auf historischen Instrumenten. Das ist Alltag am Opernhaus Zürich, erfordert aber viel stilistische und instrumentale Flexibilität. Kann ein Ensemble, das sich aus den Reihen eines Opernorchesters bildet, mit den spezialisierten Barockorchestern konkurrieren? Natürlich. Ich werde immer ganz skeptisch, wenn von sogenannten «Spezialisten» die Rede ist. Riccardo Minasi ist ein Spezialist für dieses und das Ensemble ein Spezialorchester für jenes – ich weiss gar nicht, was das sein soll. Das sind Schub laden, die überhaupt nichts aussagen. Ich sehe ein anderes Problem in der Szene für historisch informierte Aufführungspraxis. Als Geiger habe ich über Jahrzehnte hin weg in all diesen Ensembles mitgespielt und festgestellt, dass es bei vielen einen Mangel an Quellenforschung gibt. Pioniere wie Nikolaus Harnoncourt, Sigiswald Kuijken, Gustav Leonhardt oder Roger Norrington haben die Forschung voran getrieben. Aber dieser Elan droht zu erlahmen. Es gibt inzwischen viel Fake. Bei Scintilla nicht? Wir versuchen, den Zugang zu den Werken mit grösstmöglicher Seriosität zu er arbeiten. Wir suchen und experimentieren. So haben wir etwa vor Corona mit Hilfe eines Geigenbauers aus Cremona das Setup der Streicher geändert, um einen anderen Klang zu kreieren, und das hat bereits sehr positive Ergebnisse gebracht. Was heisst das genau? Wir haben daran gearbeitet, dass alle Streichinstrumente die gleichen Saiten, den gleichen Steg, den gleichen Neigungswinkel des Halses haben, so wie es historisch belegt ist. Heutzutage besitzt man ein Instrument und versucht, die passenden Saiten dafür zu finden, früher war es andersherum: Man hatte Saiten, für die man einen passenden Instrumentenkörper baute. Was wir versucht haben, folgt dem Prinzip, historisch rekonstruierte Saiten für unsere Instrumente möglich zu machen und die Art der Saiten im Ensemble zu vereinheitlichen. Man muss da viele Aspekte im Auge behalten. Ich selbst habe mich intensiv mit rekonstruierten historischen Darmsaiten beschäftigt, Quellen studiert, mit Experten geredet und sogar ange fangen, die Saiten selbst herzustellen. Wenn man, wie wir das getan haben, den Auf bau verändert, hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Spielweise. Man muss die Technik anpassen, um die Saiten sauber zum Klingen zu bringen. Wie hat das den Klang des Ensembles beeinflusst? Der Klang ist unverwechselbarer geworden, ein bisschen wärmer, klarer in der Arti
kulation und in der Attacke, auf eine Art auch etwas geräuschhafter, und es gibt grössere dynamische Möglichkeiten. Das ist natürlich jetzt eher verallgemeinernd ge sagt, das Publikum soll sich in jedem Konzert selbst ein Bild machen. Die Experi mentierfreudigkeit ist übrigens bei den Bläsern genauso gross, die sind auch immer auf der Suche nach neuen instrumentalen Entwicklungen. Diese generelle Leiden schaft im Ensemble, zu forschen, finde ich grossartig. Wir probieren aus, überlegen gemeinsam, diskutieren alles. Natürlich gebe ich als Leiter eine gewisse Richtung vor und fühle mich für das interpretatorische Ergebnis verantwortlich. Eure stilistischen Überlegungen scheinen auch über das angestammte Repertoire des 17. und 18. Jahrhunderts hinauszugehen, wie man eurer CD entnehmen kann, auf der ihr Verdi in historisch informierter Aufführungspraxis spielt. Ja, das ist eine der Ideen, die wir diskutieren. Wir wollen unser Repertoire erweitern. Warum sollten wir unsere Erfahrungen nicht auch aufs 19. Jahrhundert ausweiten? Wann wäre La Scintilla von der instrumentalen Ausstattung her so weit, eine Verdi-Oper in historisch informierter Aufführungspraxis zu präsentieren? Eigentlich jetzt schon, und das gilt nicht nur für Verdi, sondern auch für andere Komponisten von Bellini bis Wagner. So etwas auszuprobieren, wäre natürlich fantastisch, aber wir wollen auch niemandem etwas wegnehmen, denn im Moment wird das Verdi-Repertoire ja von der Philharmonia Zürich gespielt mit den ent sprechenden Dirigenten. Ausserdem müsste man dann auch über Stimmen und ihre Stilistik diskutieren. Wir sind es gewohnt, Verdi mit grossen Stimmen zu hören. Aber die Sängerinnen und Sänger, mit denen Verdi selbst gearbeitet hat, besassen eine andere Charakteristik, das wissen wir aus Quellen und frühen Tonaufnahmen. Zu Verdis Zeit schätzte man klar definierte Stimmregister zwischen sonorer Brust- und einer funkelnden Kopfstimme, sozusagen Marilyn Horne und Emma Kirkby in einer Person. Heute will man eine makellose Verblendung der Register. Das wiederum ist etwas, das man zum Beispiel zu Monteverdis Zeit angestrebt hat. Deshalb haben wir auch Christian Spucks aktuelle Monteverdi-Produktion mit wirklichen Opernstimmen besetzt. Die zarten Stimmen, die uns heute besonders original und historisch vorkommen, waren zu Monteverdis Zeiten nicht üblich. Sie sind eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Damals hatten die Sänger voluminöse Stimmen durch alle Register. Einen Countertenor gab es in Monteverdi-Auffüh rungen nicht, allenfalls in der Kirchenmusik. Aber es gab die Kastraten. Ja, klar. Aber das ist von der Stimme her etwas ganz anderes als ein Countertenor. Die Kastraten haben mit ihrer natürlichen Stimmlage gesungen und nicht im Falsett. Die Gesangstechnik, die die Countertenöre im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelt und immer weiter perfektioniert haben, hat natürlich phänomenale Stimmen hervorgebracht wie Franco Fagioli, Max Emanuel Cenčić oder Philippe Jaroussky. Ich habe mit vielen von ihnen gearbeitet. Sie sind grossartige Künstler, aber ihre Gesangstechnik ist eine Erfindung von heute und nicht historisch belegt. Sind letztlich nicht alle Rekonstruktionsversuche Erfindungen unserer Zeit? Rekonstruktionen sind immer utopisch. Eine historisch korrekte Rekonstruktion würde wahrscheinlich noch nicht einmal bei einer Aufführung funktionieren, die nur fünfzig Jahre zurückliegt und von der wir eine Aufnahme besitzen. Dem entsprechend hypothetisch ist es, eine Aufführung zu rekonstruieren, die drei hundert Jahre zurückliegt. Je länger ich mich mit diesen Themen befasse, desto mehr wird mir klar, dass man die Erkenntnisse immer in Beziehung zu unserer heutigen Rezeption setzen muss. Es geht immer auch darum, wie weit man gehen kann. Es kann passieren, dass man unter Berücksichtigung aller Quellen und Er
Riccardo Minasi ist gebürtiger Römer. Als Violinist hat er sich früh der Barockgeige zugewandt. Er war Konzertmeister und Solist in zahlreichen international bekannten Ensembles für Alte Musik, bis er eine Dirigentenlaufbahn startete. Minasi ist seit 2017 Chefdirigent des Mozarteumorchesters in Salzburg. Mit dem Zürcher Orchestra La Scintilla hat er zahl reiche Konzertprojekte und unter anderem eine hochgelobte CD mit den «Vier Jahres zeiten» von Vivaldi und Verdi realisiert.
«Wir wissen so viel über die künstlerischen Absichten von Monteverdi, aber das wird leider oft ausser acht gelassen»
kenntnisse bei einer Art zu spielen landet, die heute nicht akzeptiert würde. Man muss eine Balance finden zwischen den Erkenntnissen und der Rezeptionssituation. Kannst du ein Beispiel dafür geben? Da ist zum Beispiel die Frage nach den metrischen Freiheiten innerhalb eines Taktes, dem sogenannten Tempo rubato. Wie inegal hat man etwa zu Georg Fried rich Händels Zeiten gespielt? Es gibt im Brüsseler Instrumentenmuseum Walzen für automatische Orgeln, die von einem Musiker aus Händels Umfeld stammen, Orgelkonzerte, Arrangements von Ouvertüren und Ähnliches. Sie führen uns klang lich vor Augen, was mit dem inegalen Spiel gemeint war, von dem in schriftlichen Quellen die Rede ist. Würden wir das heute so machen, gäbe es einen Skandal im Publikum. Die Leute würden sagen, die sind besoffen. Man muss sich immer im Klaren darüber sein, dass wir über Moden reden, wenn wir über Stil sprechen. Und unser Blick auf Moden ändert sich ständig. Wir kennen das doch, wenn wir alte Fotos anschauen und uns kaputtlachen, in welchen Klamotten wir damals herumgelaufen sind. Wie die Mode ändert sich auch unser Hören. Hat die musikwissenschaftliche Forschung nicht die Wahrheit zum Ziel? Es gibt nicht die eine Wahrheit, und es gibt nicht nur eine Richtung in der For schung. Das ist ja das Faszinierende auf dem Gebiet des Erklingenden – der Gegen stand ist immateriell und deshalb flüchtig, und die Erkenntnisse sind angreifbar. Gibt es bei Monteverdi heute noch neue Erkenntnisse oder ist alles weitgehend erforscht? Viel Neues gibt es da nicht mehr so. Aber mich überrascht, dass viele Informationen in der täglichen Praxis noch nicht angekommen sind. Wir wissen so viel über die künstlerischen Absichten dieses Künstlers, aber das wird leider oft ausser Acht gelassen. Wenn ich selbst an einer Aufführung beteiligt bin, steht am Anfang immer eine Vorbereitung, die einen möglichst genauen, sorgfältigen Zugang zum Text und den Quellen miteinschliesst. Dass die Aufführung dann durch meine subjektiven Empfindungen als musikalischer Leiter geprägt wird, versteht sich von selbst. Bei Monteverdi besteht der Notentext nur aus den Vokalstimmen und dem Basso continuo. Die Instrumentierung richtet jeder musikalische Leiter ein. Wie sieht dein Konzept für unsere Monteverdi-Produktion aus? Wir folgen den Angaben des Komponisten. Im Siebten und im Achten Madrigalbuch, aus denen die meisten Musiken stammen, ist Monteverdi geradezu über präzise, was die Angaben zur Instrumentation angeht. Wir spielen nur mit Streichern und einer Continuogruppe und fügen auf keinen Fall Flöten oder Hörner hinzu. Wenn Monteverdi diese Instrumente will, schreibt er das. Es gibt Musiker, die der Kraft von Monteverdis Musik nicht wirklich vertrauen. Sie meinen, sie müssten sie anreichern und Instrumente hinzufügen, um sie noch aufregender zu machen. Dabei ist die Musik extrem kraftvoll, wenn man sie genauso spielt, wie sie ist. Die braucht keine Extras. Das heisst andererseits aber nicht, dass alles festgelegt ist. Selbstverständlich gibt es bei Monteverdi viele Freiheiten, etwa im Hinblick auf Phrasierungen und Ornamentierungen. Wir erleben in Zürich also ein klein besetztes Instrumental-Ensemble, kombiniert mit echten Opernstimmen. Passt das zusammen? Natürlich. Die Violine war zu Monteverdis Zeiten ein ganz junges Instrument. Sie war noch nicht einmal ein Jahrhundert alt und damals Ausdruck höchster instru mentaler Innovation. Man konnte mit dem Klang dieses revolutionären Instruments plötzlich den Kirchenraum füllen, unabhängig von den Orgeln. Die Geigen hatten eine doppelt so hohe Zugspannung auf den Saiten wie unsere heutigen Instrumente. Deshalb stimmt es nicht, wenn behauptet wird, die Barockgeigen seien
schwache Instrumente mit wenig Klang gewesen. Das ist nur ein Missverständnis von vielen. Man spürt im Gespräch mit dir, dass du von der Geige kommst. Wie hast du den Weg zum Dirigieren gefunden? Ich habe mir nie vorgenommen, Dirigent zu werden, es ist einfach so passiert. Ich war mit meinen vielfältigen Aktivitäten als Geiger sehr zufrieden und habe in vielen Ensembles und Orchestern als Konzertmeister gespielt. In dieser Funktion habe ich auch Proben vorbereitet und Einstudierungen übernommen. Eine ent scheidende Wende hin zum Dirigieren war 2008 in Montreal, als Kent Nagano mich bat, die Proben von Tschaikowskis Jewgeni Onegin vorzubereiten. Das ist nun wirklich kein Werk, das man vom Konzertmeisterstuhl aus leiten kann. Ich musste also meine Geige zur Seite legen und mit den Händen Zeichen geben. In dem Moment dachte ich: Ein paar Dirigierstunden könnten nicht schaden. Ich wollte mir die Fähigkeiten eigentlich nur aneignen, um meinen Job als Konzertmeister und Assistent besser machen zu können. Aber dann hat sich die Dirigiertätigkeit immer weiterentwickelt. Das Opernhaus Zürich beispielsweise gab man mir die allererste Gelegenheit, eine Oper szenisch auf die Bühne zu bringen. Das war vor acht Jahren Domenico Cimarosas Il matrimonio segreto in einer Produktion mit dem Inter nationalen Opernstudio. Für diese Chance bin ich sehr dankbar. Als ich zum ersten Mal vor der Philharmonia Zürich stand, war ich einer von diesen jungen schwitzen den Dirigenten, die dem Orchester vor Aufregung ganz kurzatmig erklären, wie sie spielen sollen. Als ich selbst noch am Ersten Pult in den Orchestern sass, habe ich genau diese jungen, schwitzenden, kurzatmigen Dirigenten gehasst. Plötzlich war ich selbst einer. Und deine Erfahrung als Konzertmeister kam dir zugute. Klar. Am meisten lernt man von den schlechten Dirigenten und von den Fehlern, die sie machen. Ich habe oft gedacht: Falls ich irgendwann mal selbst am Dirigenten pult stehen sollte, werde ich diesen Fehler ganz bestimmt nicht machen. Du leitest in Zürich das Orchestra La Scintilla, aber du bist in deiner Arbeit als Dirigent nicht festgelegt auf Ensembles, die auf historischen Instrumenten Werke der Klassik und der Vorklassik spielen. War es ein bewusster Schritt, dieses Repertoire, indem du lange zu Hause warst, zu verlassen und zu neuen Ufern aufzubrechen? Ich habe Spass daran, alles Mögliche auszuprobieren. Ich habe mein ganzes Leben lang schon immer Sachen zu machen versucht, die grösser sind als ich. Wenn man nur macht, was man kann, kommt man nicht so weit, als wenn man sich immer wieder darüber hinauswagt. Jetzt bereite ich gerade die Monteverdi-Produktion mit Christian Spuck vor, vergangene Woche habe ich die Oper Agrippina von Händel in Hamburg dirigiert, davor Gustav Mahlers Dritte Sinfonie in Salzburg. Ich mache einen Freischütz mit dem Concertgebouw Orkest an der Amsterdamer Oper und habe eine Einladung der Berliner Philharmoniker für die übernächste Saison. Jetzt, wo ich mein neues Spielzeug, ein Orchester zu dirigieren, langsam be herrsche, will ich es auch in all seinen Facetten ausprobieren. Du wandelst auf Karajans Spuren. Nein. Um Gottes Willen. Ich bin einfach nur neugierig. Das Gespräch führte Claus Spahn
Monteverdi Musik von Claudio Monteverdi Ballett von Christian Spuck Choreografische Uraufführung Musikalische Leitung Riccardo Minasi / Christoph Koncz Choreografie und Inszenierung Christian Spuck Bühnenbild Rufus Didwiszus Kostüme Emma Ryott Lichtgestaltung Martin Gebhardt Dramaturgie Michael Küster, Claus Spahn Sopran Lauren Fagan Louise Kemény Mezzosopran Siena Licht Miller Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen Tenor Edgaras Montvidas Anthony Gregory Bass Brent Michael Smith Orchestra La Scintilla Ballett Zürich Junior Ballett Premiere 15 Jan 2022 Weitere Vorstellungen 19, 22, 23, 27, 29 Jan; 4, 6, 10, 12, 20, 26 Feb 2022 Partner Ballett Zürich
ab und mit der Unterstützung der Freunde des Balletts Zürich Einführungsmatinee: 9 Jan 2022
32 Volker Hagedorn trifft …
Emma Ryott Emma Ryott stammt aus England. Sie arbeitete für das English National Ballett und die Royal Shakespeare Company. Heute ist sie international als Kostüm- und Bühnenbildnerin tätig. Eine enge Zusammen arbeit in den Bereichen Ballett und Oper ver bindet sie seit 2003 mit Christian Spuck. Auch für seine neueste Inszenierung, «Monteverdi», kreiert sie die Kostüme.
Wenn Emma Ryott im Kino sitzt, schaltet sich ihr Extraauge ein. So, wie sie es mit der Hand andeutet, sitzt es, natürlich unsichtbar, links an der Schläfe und speichert nützliche Eindrücke für ihren Job, an den die Kostümbildnerin dann eigentlich nicht denkt. «Ich gehe ja ins Kino, um hineingezogen zu werden, to get involved!», sagt sie. Aber die Elster in ihr, wie sie sie nennt, schläft nie, «hmmm, this could be inte resting…», und trägt alles ins Nest, die Kinobilder und noch viel mehr, «Sachen aus dem Internet, Zeitungsartikel, und was man in irgendeinem Fenster sieht, Magazine, Modemagazine, auch alte Kollektionen, es gibt Designer, die ich sehr mag, Jean Paul Gaultier, Alexander McQueen…» Das alles fliesst ein in den inneren Fundus und verwandelt sich irgendwann in Stoff und Farbe, Rüschen und Rüstungen, in das, was Schauspieler, Sängerinnen, Tänzer auf der Bühne tragen. Während wir in der Zürcher Opernkantine zusammensitzen, werden in den Werkstätten ein paar Meter weiter silberne Applikationen auf schwarze Gewänder gestickt, einfachere Kleider hängen schon reihenweise auf Bügeln, «250 Kostüme, alles in allem», sagt Emma. Nicht, weil so viele Tänzerinnen und Sänger auf der Bühne wären in Monteverdi, dem neuen Ballett von Christian Spuck – aber es gibt zwei Besetzungen, und jede und jeder darin wird immer wieder mal etwas anderes tragen. Emma Ryott selbst trägt dezentes Beige. «Als Kostümdesignerin laufe ich neu traler herum als die Leute, die ich kostümiere. Ich muss nicht die grosse Präsenz haben. Manche ja, aber ich nicht. Ich bin keine Performerin und will auch keine sein.» Ihr kann die grosse Präsenz genügen, die ihre Arbeit international und besonders im Œuvre des Choreografen Christian Spuck geniesst, mit dem sie seit achtzehn Jahren zusammenarbeitet. Über Monteverdi sprachen die beiden zuerst vor einem Jahr in Moskau, wo Emma für seine Choreografie Orlando das Bolschoi Ballett einkleidete. «Die Musik war dabei noch gar nicht so wichtig, wie sie am Schluss sein wird. Wir sprachen über Atmosphäre mehr als über alles andere. Später dann über Farben, über die basic colour world. Wir wollen diesmal viel mehr Farbe nach so vielen monochro men und disziplinierten Paletten. Wir wollen mehr Freiheit, und wir wollen die Ge schichte über Farben erzählen.» Der Haken ist nur, dass es keine Geschichte gibt, auch wenn Monteverdis Combattimento eines der aufregendsten Liebesdramen der Musik ist. Zusammen mit anderen Werken wird ein abstraktes Ballett daraus, «und das ist schwer hinzukriegen, nicht ohne Kopfzerbrechen!» Ihr Trick ist es, eben doch eine Geschichte zu erzählen, mit den Kostümen. Vom story telling mag sie nicht lassen, seit sie mit zwölf, dreizehn Jahren von Shakespeares Henry V. überwältigt war, in Stratford-upon-Avon. «Das war ein Schulausflug», sagt sie, «ich fand die Ausstattung unbeschreiblich. Ich dachte, das möchte ich auch können, so etwas entwerfen!» Und so studierte sie, jüngste von drei Töchtern einer Lehrerin und eines Werbefachmanns, Theaterdesign in Nottingham. Dann wurde sie Kostüm bildnerin beim English National Ballett. Es folgten dreizehn Jahre bei der Royal Shakespeare Company, zuletzt als Kostümchefin, schliesslich machte sie sich auch mit der Oper vertraut und wurde selbstständig. «Ich musste meine eigene Stimme finden», meint sie. Das gelang ihr auf dem Kontinent. «Es gibt hier mehr Möglichkeiten, es ist ein wunderbares Theatersystem auf eurer Seite vom Teich, aus historischen Gründen. In England ist der Respekt vor dem gesprochenen Wort gross, aber weniger der vor den visuellen Künsten, überhaupt werden die Künste nicht als Teil des Stoffs des Lebens gesehen, eher als Spezialität.» «The fabric of life» ist eine passende Metapher bei einer Frau, die Stoffe über alles liebt. «Kostüme entwerfen ist wie mit Stoffen malen, sie haben eine Sprache. Alle Kleider
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haben eine Sprache, auch das, was Sie jetzt tragen. Das ist unbewusst. Sie merken es nicht mal!» Sie lacht, und ich wage nicht zu fragen, was wohl kleine blaue Knöpfe an einem weissen Hemd über mich erzählen könnten. Aber – welche Sprachen sieht sie denn in den Strassen der Städte, in denen sie unterwegs ist? «Hier in Zürich sind die Leute gut angezogen in die französische Richtung, sie wollen gut aussehen, schick oder casual, aber auf Nummer sicher. In London sieht man viel extremere Dinge, das mag ich. Sehr eklektisch, bunt, spannungsgeladen. Sie wollen etwas sagen. Hier bin ich! Natürlich nicht alle…» Der Wechsel der Moden über die Jahre ist ihr neulich an eige nen Entwürfen von 2006 aufgefallen, «die Art des Zuschnitts, wirklich seltsam. Schultern sehr gross, Taille sehr klein. Das habe ich gemacht? Das war fast ein Schock, jedenfalls sehr überraschend.» Die Suche nach der neuen Kleidersprache von Monteverdi war mit den ersten Gesprächen über die Farbpalette natürlich nicht zu Ende. «Ich sammelte Bilder, und wir trafen uns, um zu gucken, worauf wir wie reagieren, was wir mögen. Dann kam ich mit der Kostümabteilung zusammen, erzählte die Ideen, machte Zeichnungen, und wir kreierten eine Art Kollektion. Die können hier wirklich alles. Sie schufen grosse Kostüme, prunkvoll, extravagant, historisch orientiert am 17. Jahrhundert, aber wir fanden, es ist nicht die richtige Richtung. Man muss das vereinfachen, um die Essenz des Stückes zu treffen.» Wie der Bühnenbildner Rufus Didwiszus, mit dem sie auch diesmal zusammen arbeitet, kennt Emma die Krise auf halbem Weg, «den Punkt, an dem man sich fragt: Was tun wir, wo soll das hingehen? Ist alles, was ich mache, schrecklich? Hat es Sinn? Spricht es zum Publikum?» Dann müsse man einen Schritt zurücktreten: «Okay, schauen wir uns das mal an.» Ja, schauen wir uns das an. Es gibt immer noch weisse Halskrausen, aber so elegant, leicht, reduziert, dass man fast beim Bauhaus ist. Hemden wurden genäht, deren Textur entfernt an Kettenhemden denken lässt – aber nicht explizit. Und alles wirkt schlank. «Die Bewegungsgeschwindigkeit der Tänzerinnen und Tänzer hat selbst eine Stimme, man darf da nicht zuviel drauftun, am wenigsten bei einem abstrakten Bal lett.» Zugleich sind da, gar nicht abstrakt, die Persönlichkeiten. «Christian wählt für bestimmte Bewegungen bestimmte Tänzer aus, das versteht man erst, wenn man eine Weile mit der Compagnie zusammen war. Und das kann ich unterstützen. Ein Kostüm hilft auch, die Rolle und sich selbst zu entdecken, es kann ihnen den kleinen Schubs geben, von dem sie gar nicht wussten, dass sie ihn brauchten.» Das ist eine schöne Beschreibung für das, was Theater auch mit den Menschen machen kann, die es besuchen. Einmal nahm Emma ihren vierjährigen Sohn mit nach Stratford-upon-Avon, den Ort ihrer Erweckung, es gab Wie es euch gefällt. «Er war vollkommen gebannt vom Schnee auf der Bühne. ‹How come it’s snowing on stage, mum?›» Das habe er, nun erwachsen, längst vergessen, aber nicht, dass da etwas Wun derbares geschah. Voriges Jahr hat sie für ein kleines Sommerfestival in Oxfordshire Wagners Rheingold ausgestattet. «Es gab Vorstellungen für Schülerinnen und Schüler, und es war auf Deutsch! Natürlich gab’s auch ein bisschen unruhiges Füssescharren. Mit elf, zwölf kann man nicht alles interessant finden. Aber sie waren hingerissen, sie waren mitten drin!» Für Emmas eigenen Weg war übrigens nicht nur der Schulausflug zu Shakespeare bedeutsam, sondern auch das BBC-Fernsehen am Samstag. «Da gab es die frühen Hollywoodfilme, schwarzweiss, die habe ich mit meinen Schwestern angeschaut. Seitdem ist Edith Head mein Vorbild.» Die Frau, die Kostüme für Bette Davis, Audrey Hepburn, Ginger Rogers, Elizabeth Taylor, für Fred Astaire, Cary Grant entwarf. «Sie war eine Meisterin, absolut unglaublich!» Emmas Extraauge, das war schon früh aktiv. Volker Hagedorn
Höllischer Untergang Mozarts Don Giovanni ist der Libertin schlechthin, ein Verfechter des Genusses, der Ausschweifung und der Mass losigkeit. Wir zeigen seine Höllenfahrt erneut in der bild starken Inszenierung von Sebastian Baumgarten. mit Konstantin Shushakov, Tuuli Takala, Anita Hartig, Evan Hughes u. a. Vorstellungen: 25, 28, 30 Jan, 5, 11, 18 Feb 2022
Fotos: Monika Rittershaus
Alle Infos zur Produktion
Die geniale Stelle 37
Zum Donnerwetter Ein Tonsymbol in Wolfgang Amadeus Mozarts «Don Giovanni»
Hören und im Klavierauszug mitlesen können Sie die «Geniale Stelle» hier:
Leporello ist sehr schlecht gelaunt. Und mit gutem Grund: Wie immer, wenn sein Herr sich bei einem Schäferstündchen vergnügt, muss er vor der Haustür warten, bis der Frauenheld zum Ziel gekommen ist und nach Hause gebracht werden will. Er geht auf und ab: Fünf Schritte in eine Richtung, dann eine wütende Drehung, fünf Schritte zurück, wieder heftige Drehung, hin und wieder eine ausladende wütende Geste – das ist seine ganze Beschäftigung. Es gab wohl nur einen Komponisten, der diese Situation so knapp und witzig in Töne fassen konnte: Vier abgerissene Achtelnoten im Abstand einer Quarte und eine Viertelnote schildern die Schritte, eine kurze schnell aufsteigende Figur zur nächsten Viertelnote die wütende Drehung. Dann geht es von vorn los. Allerdings rückt nun der Spitzenton eine Stufe höher. Eine weitere Drehung, dieselben Achtelnoten, die noch eine Stufe höher reichen, und so weiter, bis nach der vierten gesteigerten Wiederholung der Geduldsfaden reisst: Ein schneller Aufstieg um mehr als eine Oktave und ein noch schnellerer Absturz um zwei Oktaven schildern den Wutausbruch des Wartenden. Dann erst, nach einer Fermatenpause, folgt der Gesangseinsatz: Der Diener lässt seinem Unmut freien Lauf. So weit so gut und nicht weiter erwähnenswert, könnte man meinen. Aber ein Detail lässt doch aufhorchen: Was hat es mit dieser schnellen Schleifer-Figur am Ende jeder Phrase auf sich? Dem Kenner traditioneller Musiksymbole (Mozart konnte sich darauf verlassen, dass sie seinem Publikum gut bekannt waren) ist das nicht nur das heftige Herumdrehen auf dem Absatz, vielmehr bringt der Komponist hier eine Asso ziation ein, die so fernzuliegen scheint, als wäre da gar keine Verbindung herzustellen: Diese Schleiferfigur wird traditionell verwendet, um einen Donnerschlag darzustellen und daher auch gern Jupiter, dem Donnerer und obersten der Götter zugeordnet. (Dass diese Figur gleich am Anfang von Mozarts C-Dur-Sinfonie KV 551 prominent auftritt, mag der Grund sein, dass sie den nicht vom Komponisten stammenden Beinamen «Jupiter» erhalten hat.) Der zornige Diener masst sich das Kostüm des Blitzeschleuderers an, das ihm allerdings deutlich zu gross ist. Nun könnte man wohl annehmen, dass er die Verhältnisse umstürzen, das Unterste zuoberst kehren will. Dass die aufrührerische Geste nichts als Theaterdonner ist, zeigt sich schon bald. Am deutlichsten aber am Ende des Stücks: Eben dieses Motiv begleitet das donnernde Klopfen der Statue des Komturs, die kommt, um die Ordnung wieder herzustellen, die Don Giovanni zum Tanzen gebracht hat. Mozart, der Meister der knappen und präzisen Charakterisierung, macht mit wenigen Tönen unüberhörbar: Der steinerne Abgesandte der himmlischen Gerechtigkeit und der aufmüpfige Diener sind sich darin einig, dass die Ordnung nicht gefährdet werden darf. Leporello denkt keineswegs an Umsturz. Ihm geht es nur um eine bessere Position im System, das er schon darum nicht angetastet wissen will, weil es diese Position dann ja nicht mehr geben würde. Er will selbst «den Edelmann machen» und mit dem Donnerkeil herrschen. Wirklich subversiv hingegen ist sein Herr, der von den steinernen Verhältnissen zermalmt wird, wogegen der sich so gern rebellisch gebärdende Leporello nichts einzuwenden hat. Werner Hintze
DER RING IN LEIPZIG 02. BIS 07. MÄRZ MUSIKSTADT LEIPZIG – HEIMATORT DES OPERNGENIES RICHARD WAGNER Leipzig und die Musik: Das ist jahrhundertelange Tradition. Für zahlreiche Komponisten, darunter Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Clara und Robert Schumann sowie Richard Wagner war die Stadt inspirierender Schaffensort.
OPER LEIPZIG – EIN TRADITIONSHAUS MITTEN IN EUROPA
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Mit Gründung 1693 ist die Leipziger Oper das drittälteste bürgerliche Opernhaus Europas und blickt voller Stolz auf eine mittlerweile über 325-jährige Tradition. Knapp die Hälfte dieser drei Jahrhunderte ist mit dem Gewandhausorchester ein Ensemble von Weltruhm ständiger musikalischer Begleiter der Oper Leipzig.
WAGNER 22 – 3 WOCHEN UNENDLICHKEIT Die Oper Leipzig hat sich unter der Leitung von Intendant und Generalmusikdirektor Prof. Ulf Schirmer das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2022 das gesamte Repertoire der Opern Richard Wagners im Spielplan zu haben. So wird es in der Geburtsstadt Wagners vom 20. Juni bis 14. Juli 2022 im Rahmen eines einzigartigen Festivals möglich sein, alle Opern innerhalb von drei Wochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung zu erleben. Lediglich die vier Teile des »Ring« sind aus der Chronologie ausgenommen und folgen aufeinander.
IHRE OPERNREISE IN DIE GEBURTSSTADT RICHARD WAGNERS ZUM »RING DES NIBELUNGEN« Termin: 02. bis 07. März 2022 • 5 x Übernachtung inkl. Frühstück im Seaside Park Hotel Leipzig • je 1 Eintrittskarte pro Person (PG 1) für »Der Ring des Nibelungen« in der Oper Leipzig: »Das Rheingold« »Die Walküre« »Siegfried« »Götterdämmerung«
02. März 2022 03. März 2022 05. März 2022 06. März 2022
• Stadtführung zu Fuß und im Bus • Besuch der Dauerausstellung »Der junge Richard Wagner 1813 bis 1834« in der Alten Nikolaischule Preis pro Person im DZ ab 1.199 Euro
© Tom Schulze
Informationen und Buchung unter www.leipzig.travel/reiseangebote, incoming@ltm-leipzig.de oder 0049 341 7104 275
Fragebogen 39
Konstantin Shushakov Aus welcher Welt kommen Sie gerade? Global gesehen aus einer Welt der unendlichen Möglichkeiten. Und der Technologie. Im Hinblick auf meinen Beruf als Sänger und die nun wieder aufflammenden Pandemie ist es eine Welt der Unsicherheit, in der man sich immer wieder aufs Neue an alle mög lichen Veränderungen anpassen muss. Auf was freuen Sie sich in der Don Giovanni-Produktion? Am meisten freue ich mich auf die Figur des Don Giovanni, den ich hier in Zürich zum ersten Mal singe. Wer ist Don Giovanni? Jedenfalls nicht einfach ein Womanizer! Für mich ist er vor allem ein unglück licher, einsamer Mensch, der versucht, sein Glück zu finden und seine Ein samkeit zu besiegen. Ich möchte seine innere Welt kennenlernen und auf der Bühne zeigen, was ihn wirklich bewegt. Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt? Das Programm für junge Sängerinnen und Sänger am Bolschoi-Theater in Moskau. Ich denke mit viel Liebe und Dankbarkeit an diese Zeit. Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben? Wenn ich mit einer Metapher antworten würde, dann wäre es das Buch des Le bens! Es fällt mir schwer, ein konkretes Buch zu nennen. Immer, wenn ich mich in ein Buch vergrabe oder auch in eine bestimmte Rolle oder eine Musik, dann ist diese Musik und diese Rolle in dem Moment für mich die Wichtigste. Welche CD hören Sie immer wieder? Je nachdem, in welcher Stimmung ich bin, kann das Pop sein oder klassische Musik, oder auch Rap oder Jazz. Ich finde in jeder Stilrichtung etwas. Welchen überflüssigen Gegenstand in
Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten? In meiner Wohnung gibt es sehr viel Elektronik, ohne die ich natürlich gut le ben könnte. Aber es gefällt mir, mit der Zeit zu gehen und immer auf dem letzten Stand zu sein, was neue Technologien angeht. Was bringt Sie zum Lachen? Lustige Geschichten, Filmkomödien, Scherze – aber bitte nicht über mich! Ich kann nicht über mich selbst lachen. Ich habe schon immer Leute sehr beneidet, die das können. Was hassen Sie am meisten? Wenn Menschen sich gegenseitig nicht respektieren. Warum sind Ihre Freunde Ihre Freunde? Weil ich mit ihnen Freude genauso teilen kann wie Kummer, Erfolg genauso wie Misserfolg. Es sind nicht sehr viele. Ich würde nur ganz wenige wirklich Freunde nennen. Woran merkt man, dass Sie Russe sind? Das müsste man meine nichtrussischen Bekannten fragen! Vermutlich daran, dass ich selten lächle. Das ist eine sehr russische Eigenschaft. Welche Persönlichkeit würden Sie gerne einen Tag lang sein und warum? Kosmonaut. Dann könnte ich unseren Planeten aus der Ferne sehen. Ich glaube, wenn jeder Mensch sich einmal im Weltraum aufhalten könnte, dann würde ihn das dazu inspirieren, unseren Planeten zu bewahren. Vielleicht wäre die Welt dadurch ein kleines bisschen besser. Konstantin Shushakov stammt aus Russland und gehört seit der Spielzeit 2019/20 zum Ensemble des Opernhauses Zürich. Hier war er unter anderem als Guglielmo in «Così fan tutte» und als Marcello in «La bohème» zu hören. In der Wiederaufnahme von Mozarts «Don Giovanni» debütiert er in der Titelrolle.
40 Auf der Couch
Don Giovanni
Don Juan de Tenorio soll Oberkellermeis ter des kastilischen Königs Pedro «des Grausamen» gewesen sein. Die frühen Legenden konzentrieren sich weder auf den Totschläger (Mord im Duell war All tag), noch auf den Frauenhelden (das gehörte zur Rolle des Feudalherrn), son dern auf den Lästerer, der die Ruhe der Toten missachtet. Im ausgehenden Mittel alter war die Welt voller Geschichten von Statuen, die sich beleben, und Heiligen bildern, die von ihrem Sockel steigen. Je mehr wir uns der Neuzeit nähern, desto stärker wird im Don Juan-Stoff die Ruhe losigkeit im sexuellen Begehren und das Rätsel des Schwankens zwischen Idealisie rung und Entwertung. Jede neue Frau ist wunderbar, jede bereits eroberte lästig; in der Oper von Mozart ist Don Juan kein sinnlicher Mensch mehr, der es sich im Genuss be quem macht. Jetzt steht der steinerne Gast, der den Helden mit ins Grab zieht, für ein starres Prinzip, das die vielfältigen Überraschungen und Entwicklungen der Liebe in ein Muster zwängt, das sich durch blinde Wiederholung selbst bestätigt. Ein Geniesser beschäftigt keinen Buchhalter, der seine Eroberungen aufzeichnet.
Leporello spielt mit den bürgerlichen Vor behalten gegen die «lieben Herren», Don Giovanni verbindet die Überheblichkeit des Hochgeborenen mit dem Leistungs ehrgeiz des bürgerlichen, auf Selbstver wirklichung zielenden Individuums. Wer ist da wessen Werkzeug? Leporello muss tun, was sein Herr sagt. Don Giovanni aber ist ebenso Sklave des Registers, das Leporello verwaltet. Jüngst spielte ein Fernseh-Tatort in der heute «pick-up-szene» genannten Subkultur, in der Männer ihre Eroberungen nicht weniger zählen als Don Giovanni. Die moderne Fassung des Leporello-Registers sind Videos; zum tödlichen Verhängnis für den Verführer wird die Mutter eines seiner Opfer, die nicht verzeihen kann, was er mit ihrer Tochter angestellt hat. Manchmal findet ein solcher Mann, der die Freuden und Ängste einer Liebes bindung nicht ertragen kann, seinen Weg in die Analyse, weil ihn die nächste und wieder nächste Eroberung innerlich är mer zurückgelassen hat. Dann zeigt sich, dass er mit dem unablässig wiederholten Muster von Erobern, Verlassen und Zäh len eigene Ängste abwehrt, in der Liebe zu scheitern und verlassen zu werden. Es
sind Männer, die sich nicht wirklich wohl fühlen mit Frauen und nicht daran glau ben, dass sich erotische Erfüllung ent wickeln und steigern kann. Sie fühlen sich männlich, so lange sie erobern; die Frau aber ist kein Gegenüber, das die erschlaf fende Männlichkeit wärmt und pflegt. Sie schwindet im männlichen Verlust phalli scher Macht selbst dahin und wird dann verachtet wie die eigene Schwäche, wie alles, was den phallisch fixierten Mann daran erinnert, dass er als Kind so bitterlich abhängig war von der Zuwendung einer Mutter und enttäuscht wurde. So tut er den Frauen an, was diese ihm auf gar keinen Fall antun dürfen. Er kann erobern, aber er darf das Eroberte nicht geniessen. Halt bietet allein die Zahl der Eroberungen, denn eine Potenz, die in sich unsicher ist, muss sich ständig be weisen. Don Giovanni kommt dem Bösen zuvor, das er von den eroberten Frauen erwartet, um den Preis der Destruktion einer Bindung, noch ehe diese sich gefes tigt hat. Er ist ein Seelenverwandter des orientalischen Herrschers, der jede seiner Gemahlinnen nach der Hochzeitsnacht köpfen lässt, um sich ihrer Treue ganz sicher zu sein.
Illustration: Anita Allemann
aus Mozarts gleichnamiger Oper Von Wolfgang Schmidbauer
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