MAG 89: Dialogues des Carmélites

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MAG 89

Olga Kulchynska singt Blanche in «Dialogues des Carmélites»


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Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen: die Sopranistin K ristine Opolais im Portrait.

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Editorial

Die wahren Helden des Opernhauses Verehrtes Publikum,

MAG 89 / Feb 2022 Unser Titelbild zeigt Olga Kulchynska, die in «Dialogues des Carmélites» die Rolle der Blanche singt. (Foto Florian Kalotay)

eigentlich soll es Sie gar nicht interessieren, was an einem Opernhaus hinter der Bühne passiert. Der Zauber jeder Aufführung besteht ja gerade darin, dass 1400 unsichtbare Hände fleissig zimmern, schleppen, richten, schminken, zupfen und ihre Instrumente stimmen, damit jeden Abend wie aus dem Nichts eine Welt auf der Bühne entsteht und der Heldentenor ins Scheinwerferlicht treten kann, um eine grossartige Arie zu singen. Aber im Moment funktioniert das leider gar nicht gut, weil auch im Opernhaus das Omikron-Virus wütet und Tag für Tag Menschen nicht arbeiten können, die dringend für das Zustandekommen einer Vorstellung gebraucht werden. Das führt dazu, dass nun schon seit Wochen am Opernhaus die wahren Helden nicht auf der Bühne stehen, sondern dahinter. Da ist zum Beispiel das Künstlerische Betriebsbüro, in dem jeden Tag neue Hiobs­botschaften von positiv getesteten Sängerinnen und Sängern eintreffen. Die Ausfälle müssen neu und künstlerisch adäquat besetzt werden, was leichter klingt als es ist. Der Ersatz muss – nicht selten noch am Tag der Vorstellung – gesucht, engagiert, nach Zürich geholt, untergebracht und von den Spielleiterinnen und Spielleitern einstudiert werden. Der Wahnsinn ist so gross, dass die Kolleginnen schon wieder darüber lachen können, in einer Mischung aus Verzweiflung und trotzigem Jetzt-erstrecht. Ihren Rekord haben sie bei einer Vorstellung von Le Comte Ory aufgestellt, für die sie fünf Umbesetzungen in sechs Partien organisiert und damit den Abend ge­rettet haben. Da sind zum Beispiel die Crews der Bühnentechnik, die die Kulissen Tag für Tag pünktlich auf- und abbauen und ihre schwere körperliche Arbeit momentan nur mit Maske verrichten dürfen. Sie sind in eingespielten Teams organisiert, denn jeder Griff muss sitzen. Fremde Hände können zur Gefahr werden. Deshalb lassen sich Corona­ fälle bei ihnen nur schwer ersetzen, was dazu führt, dass die ausgedünnten Teams permanent mehr arbeiten, schwerer schleppen und zusätzliche Schichten absolvieren. Da ist zum Beispiel die Ballett-Compagnie, die so stark von Coronafällen betroffen war, dass es am seidenen Faden hing, ob der Vorhang zur Monteverdi-Premiere überhaupt hochgehen konnte. Hier waren die Tänzerinnen und Tänzer die Retter in der Not, die von heute auf morgen zusätzliche Parts tadellos übernommen haben, und die Ballettmeisterinnen und Ballettmeister, die von früh bis spät in den Studios Zweit-und Drittbesetzungen fit für die Vorstellungen gemacht haben. Man könnte auch vom Chor und dem Orchester berichten, wo der Corona-Ausnahmezustand ebenfalls Normalität ist. Freuen Sie sich deshalb, verehrtes Publikum, dass bisher – wir klopfen auf Holz! – noch keine Vorstellung wegen Omikron ausfallen musste. Das ist dem hohen Arbeits­ ethos zu verdanken, das am Opernhaus herrscht. «Hauptsache, der Lappen geht hoch», lautet ein alter Intendantenspruch. Nie haben die Menschen auf und hinter der Bühne so schwer darum ringen müssen. Am 13. Februar geht er hoffentlich hoch für unsere nächste Premiere – die Oper Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc, ein ebenso selten gespieltes, wie grossartiges Werk, zu dem Sie in unserer aktuellen MAG-Ausgabe, wie immer, ausführliche Informationen finden. Claus Spahn

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SPENCER (2021) / arthouse.ch

HANDY AUS. HERZ AN. arthouse.ch


Inhalt

10 Einblicke in das Leben der Karmeliterinnen – die Priorin eines Schweizer Klosters im Gespräch 18 Die Regisseurin Jetske Mijnssen und der Dirigent Tito Ceccherini sprechen über die Neuproduktion von Francis Poulencs Oper «Dialogues des Carmélites» 27 Ein mysteriöser Charakter – Olga Kulchynska über die Hauptrolle der Blanche in Poulencs Oper 36 Der exzentrische Cembalist Mahan Esfahani im Porträt

Opernhaus aktuell – 6, Drei Fragen an Andreas Homoki – 7, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 9, Die geniale Stelle – 32, Volker Hagedorn trifft … – 36, Der Fragebogen – 39, Auf der Couch … – 40

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Der besondere Blick von Monika Rittershaus


22.01.2022.15:18 + HAUPTPROBE + DON GIOVANNI +


Opernhaus aktuell

Der Ring des Nibelungen 3. La Scintilla-Konzert 6. Brunch- / Lunchkonzert

Opernkomponisten einmal anders mit Riccardo Minasi

Verdi, Wagner und Puccini sind als Opernkomponisten in die Geschichte eingegangen. Dass sie hin und wieder auch kleine Werke jenseits der Opernbühne geschaffen haben, wird neben ihren grossen Theater­erfolgen leicht übersehen. Riccardo Minasi und das Orchestra La Scintilla widmen solchen Kleinoden berühmter Opernkomponisten deshalb ein ganzes Konzertprogramm. Neben Streichquartetten von Verdi und Puccini in orchestrierten Fassungen erklingt auch Wagners Siegfried-­ Idyll, das er 1870 heimlich komponierte und zu Weihnachten für seine Frau Cosima im Treppenhaus seiner Villa am Vierwaldstädtersee aufführen liess. Mit einem Orgelkonzert von Händel und einer Sinfonia von Hasse sind auch Opernkomponisten des 18. Jahrhunderts vertreten. Das Orchestra La Scintilla interpretiert die Werke auf den Instrumenten, die der jeweiligen Epoche entsprechen. Bereits im Februar ist Riccardo Minasi ausserdem mit Mitgliedern des Orchestra La Scintilla im Spiegelsaal zu erleben. Auf dem Programm stehen das Oboenquartett und das Horn- sowie das Klarinettenquintett von Mozart. Brunchkonzert: Sonntag, 13 Feb, 11.15 Uhr, Spiegelsaal Lunchkonzert: Montag, 14 Feb, 12 Uhr, Spiegelsaal La Scintilla-Konzert: Montag, 7 März, 19.30 Uhr, Opernhaus Zürich

Liederabend

Matinee

Stephen Costello

Einführungsmatinee L’italiana in Algeri

Der in Philadelphia geborene Tenor Stephen Costello wurde 2007 bekannt, als er gerade 26 -jährig an der New Yorker Met debütierte. Heute ist er mit lyrischen Tenorpartien von Donizetti, Gounod, Verdi und Puccini an den international renommiertesten Häusern zu Gast. Am Opernhaus Zürich, wo er bereits als Solist in Verdis Requiem zu erleben war, gibt er im März einen Liederabend. Das Programm wird später auf unserer Website veröffentlicht. Mittwoch, 2 März, 19 Uhr Opernhaus

Bereits mit seiner ersten abendfüllenden Buffa-Oper löste der junge Rossini 1813 eine europaweite Rossini-Euphorie aus. Zwei Wochen vor unserer mit Cecilia Bartoli und Lawrence Brownlee prominent besetzten Premiere geben Beteiligte im Gespräch mit Dramaturgin Kathrin Brunner Einblicke in die Produktion. Sonntag, 20 Feb, 11.15 Uhr Bernhard Theater

Ring-Zirkel Am 30. April 2022 ist es soweit: Die Premiere von Richard Wagners Rheingold markiert zugleich den Beginn des neuen Rings in Zürich. Das Opernhaus hat einen exklusiven Ring-Zirkel gegründet, dessen Mit­glieder in den Genuss eines besonderen Begleit­ programms kommen. Dazu gehören Begegnugnen mit Künstlerinnen und Künstlern, eine Spurensuche in der Villa Wesendonck, ein Dinner im Baur au Lac sowie Probenbesuche. Für weitere Informationen zur Mitgliedschaft im Ring-Zirkel steht Ihnen Katherine Waldvogel gerne zur Ver­ fügung (Leiterin der Geschäftsstelle der Freunde des Opernhauses Zürich, katherine.waldvogel@opernhaus.ch).

7. Brunch- / Lunchkonzert

Verklärte Nacht

Das Sextett Verklärte Nacht gehört zu den beliebtesten Werken von Arnold Schönberg. Musikalisch steht es noch ganz in der Tradition der Spätromantik. Ein Skandal war bei der Uraufführung 1902 hingegen sein programmatischer Hintergrund: Das gleichnamige Gedicht von Richard Dehmel, auf das sich der Komponist bezog, handelt von freier Liebe. Ann-Katrin Stöcker (Klavier), Vera Lopatina (Violine) und Xavier Pignat (Violoncello) spielen das Werk in einer Version für Klaviertrio von Schönbergs Schüler Eduard Steuermann. Ausserdem erklingt in diesem Brunch-/ Lunchkonzert das Klaviertrio D-Dur des jungen Richard Strauss. Brunchkonzert: Sonntag, 6 März, 11.15 Uhr Lunchkonzert: Montag, 7 März, 12 Uhr Spiegelsaal

Illustrationen: Anita Allemann, Foto: Daniel auf der Mauer

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Drei Fragen an Andreas Homoki

Lust auf Entdeckungen Herr Homoki, die Oper Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc, die am 13. Februar am Opernhaus Premiere hat, gehört zu den selten gespielten Randwerken des Re­per­ toires. Wie wichtig ist es, solche Stücke auf den Spielplan zu setzen? Sehr wichtig, denn das sogenannte Randrepertoire ist voll von grossartigen Stücken, und die soll man natürlich auch spielen. Wir tun das, aber wir sind am Opernhaus Zürich auch in der glücklichen Situation, dass wir neun Opernpremieren pro Spielzeit herausbringen, so viele wie nur wenige andere Häuser. Deshalb fällt es uns leichter, auch ausgefallene Titel zu spielen. Bei einer so hohen Premierenfrequenz braucht man dieses Repertoire, um einen Spielplan interessant zu gestalten. Ich stelle immer wieder fest, dass man auf einen unglaublichen Reichtum an kaum gespielten Werken stösst, wenn man ein bisschen tiefer im Opernre­ pertoire gräbt. Natürlich sind Traviata und Don Giovanni tolle Opern, aber Juliette von Bohuslav Martinů oder Der feurige Engel von Sergej Prokofjew – um zwei der Titel zu nennen, die wir in den vergangenen Jahren gemacht haben – sind genauso spannend. Im Haus ist übrigens die Leidenschaft für unbekannte Werke oft viel grösser als bei den Standardwerken, die andauernd gespielt werden. Es befeuert, wenn man gemeinsam etwas Neues entdeckt und die Qualitäten einer Oper im Entstehungsprozess einer Inszenierung immer deutlicher zutage treten. Wir hoffen natürlich, dass sich diese Freude am Entdecken auch auf unser Publikum überträgt. Für wie offen und abenteuerlustig halten Sie das Zürcher Publikum? Ich erlebe es als sehr offen. Das gilt für neue Interpretationen bekannter Werke, die grundsätzlich mit Neugier und einer positiven Haltung aufgenommen werden, und auch für unbekannte

Stücke. Bei ihnen müssen wir natürlich Überzeugungsarbeit leisten, denn viele werden diese Oper des Franzosen Francis Poulenc, die 1957 uraufgeführt wurde, noch nicht kennen. Das Wichtigste dabei ist, dass das Publikum Vertrauen haben kann, dass die Stücke, die wir aussuchen, Substanz haben und in bestmöglicher Qualität auf die Bühne kommen. Und das schafft man nur, wenn man selbst an sie glaubt, sie ernst nimmt, erstklassig besetzt und in einer starken Inszenierung auf die Bühne bringt. Wie überzeugt sind Sie von Dialogues des Carmélites, einer Oper, die in den für uns ja sehr fernen Sphären des klösterlichen Glaubens spielt? Das ist ein tolles Stück. Man mag auf den ersten Blick vielleicht denken, so eine Geschichte über Nonnen sagt mir nichts. Aber dem Stoff wohnt grosse Relevanz und Allgemeingültigkeit inne. Er geht auf ein historisches Ereignis während der französischen Revolution zurück, als sechzehn Karmeliterinnen es vorzogen, hingerichtet zu werden, statt ihr Klosterleben aufzugeben. Da werden überzeitliche Fragen aufgeworfen: Woran glauben wir? Wofür sind wir bereit zu sterben? Wie gehen wir in einer existenziellen Situation mit unseren Ängsten um? Mein Eindruck aus den ersten Probenwochen ist: Das wird eine emotional ganz starke Produktion. Unsere Regisseurin Jetske Mijnssen schafft intensive Beziehungsspannungen zwischen den Figuren, die der Kom­ ponist mit einem faszinierenden psychischen Innenleben ausgestattet hat. Und wir haben eine hochkarätige Be­set­ zung, etwa mit Olga Kulchynska in der Hauptrolle der Blanche, die sich tief in diese Figur hineindenkt, oder einer tollen Charakterdarstellerin wie Evelyn Herlitzius als Klosterpriorin Madame de Croissy. Ich freue mich sehr auf diese Premiere.

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« CINEASTISCHES MEISTERWERK » JURY ZURICH FILM FESTIVAL

A CHIARA E IN FILM VO N

JONAS CARPIGNANO

AB 17. FEBRUAR IM KINO


Wie machen Sie das, Herr Bogatu?

Altes Gemäuer, frisch gemalt Wahrscheinlich haben Sie sich noch nie mit der Frage auseinandergesetzt, wie Sie etwas Neues möglichst einfach alt aussehen lassen können. Meistens ist es ja eher um­ gekehrt. Doch gerade unsere Bühnenbilder sollen oftmals nicht so aussehen, als wären sie soeben aus der Werkstatt gekommen, sondern so, als würden ihre Bewohner schon seit vielen Jahren in ihnen leben. Im Bühnenbild zu Dialogues des Carmélites – ein altes Kloster, entworfen von Ben Baur – wohnen die Nonnen augenscheinlich schon seit Jahrhunderten und unterhalten das Kloster perfekt. Kein Staubkorn liegt herum, dennoch ist das Alter des Gemäuers offensichtlich: Die Wände scheinen im Laufe der Zeit immer wieder feucht geworden zu sein und haben Flecken, und die Farbe von Fenstern und Türen hat Risse. Flecken malen kann vermutlich jeder, aber rissige Farbe malen? Nach einem Besuch bei Christian Hoffmann, unserem Leiter der Theater­ male­rei, kann ich Ihnen das Rezept verraten, und Sie können damit einfach alles alt aussehen lassen: Nehmen wir an, Sie wohnen in einem Märchenschloss. Nun zog es durch die Fenster immer fürchterlich, und Sie haben diese neu machen lassen. Von aussen ist der Anblick nun unerträglich: Alte Mauern, die mit verwunschenem Efeu bewachsen sind, in Kombination mit einer neuen Dreifachverglasung in weissen Kunststoffrahmen – das geht natürlich gar nicht! Grundieren Sie die Rahmen mit einer Kunststoffgrundie­ rung aus dem Baumarkt, kaufen Sie auch noch 2K PU Pigmentlack in dunklem Braun (z.B. RAL 8017 Schokoladenbraun), die Farbe Hellelfenbein (RAL 1015) und Reiss­ lack für lösungsmittelhaltige Farben. Dann lackieren Sie den Rahmen in Schokoladen­ braun, möglichst unregelmässig – dies wird die Farbe der späteren Risse. Das lassen Sie trocknen. Mindestens 24 Stunden lang. Nun tragen Sie mit dem Pinsel fett das Hellelfenbein auf und lassen dieses nur antrocknen. Beim Testen mit der Fingerkuppe sollte der Lack nicht kleben bleiben. Nach 50 Minuten alle 10 Minuten testen. Wenn Sie lange warten, werden die Risse feiner, wenn Sie zu lange warten gibt es gar keine Risse … Nun tragen Sie auf die angetrocknete Farbe mit dem Pinsel gleichmässig den durchsichtigen Reisslack auf. Während des Trocknens des Reisslackes zieht dieser nach mehreren Stunden die darunterliegende Farbe zusammen und sorgt für grosse Risse im Hellelfenbein und das Schokoladenbraun kommt zum Vorschein. Lassen Sie das in der Nacht durchtrocknen und entfernen Sie dann die Reisslackschicht mit einem feuchten Schwamm. Sie haben ein «Craquelée», ein Rissnetz, erzeugt und Ihr Märchen­ schloss ist wieder makellos verwunschen. Für das Kloster auf der Bühne konnten wir übrigens ohne lösungsmittelhaltige Farben arbeiten. Aber ich gehe davon aus, dass Sie nicht möchten, dass die Farbe Ihrer Fensterrahmen im Laufe der Jahre verwittert.

Illustration: Anita Allemann

Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich

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Dialogues des Carmélites 11

Stille und Zwiegespräche mit Gott Die Oper «Dialogues des Carmélites» von Francis Poulenc, die am 13. Februar Premiere hat, spielt in einem Kloster. Wir haben eine Gemeinschaft der Karmeliterinnen im Greyerzerland besucht, um zu erfahren, wie Nonnen leben. Ein Gespräch mit der Priorin Schwester Anne-Elisabeth über Berufung, Alltag und Prüfungen der Karmeliterinnen von Le Pâquier Fotos Danielle Liniger


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Sie sind die Priorin des Klosters. In der Oper Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc müsste ich jetzt «hochehrwürdige Mutter» zu Ihnen sagen. Wie spreche ich Sie richtig an? Ich bin Schwester Anne-Elisabeth. Bei uns gibt es keine Titel, denn das gehört nicht zu unserer Spiritualität. Die Zeiten, als man noch «Mère» sagte, sind vorbei. Wir sind Schwestern, eine einzige Familie. Unsere Ordensgründerin, Teresa von Avila, wollte kleine Gemeinschaften von 13 Schwestern, damit noch der Geist einer Familie spürbar ist. Später hat sie diese Gemeinschaften dann aus praktischen Gründen auf 20 bis 21 Schwestern erhöht. Also herrschen bei Ihnen grundsätzlich flache Hierarchien? Als Priorin trage ich natürlich die Hauptverantwortung, denn immer wieder müssen wichtige Entscheidungen getroffen werden. Aber wir sind sehr demokratisch organisiert. Wenn es zum Beispiel um die Renovation im Kloster geht, wie unlängst beim Einbau der Heizung in unserem Gästehaus, dann diskutieren wir die einzelnen Punkte gemeinsam. Eine Priorin allein hat nicht alle Gaben und Fähigkeiten. Jede Schwester bringt sich mit ihren eigenen Stärken ein. Schwestern, die grosse Erfahrungen haben oder junge mit neuen Ideen – das alles fliesst in unsere Entscheidungsfindung mit ein. Auf diese Art wird jede einzelne Schwester respektiert und in ihrem Wesen wahrgenommen. Dann sind Sie, modern gesprochen, die Managerin des Klosters. Das könnte man so sagen. Anne-Elisabeth ist vermutlich nicht Ihr ziviler Name. Wie sind Sie zu diesem Namen gekommen? Elisabeth ist mein Taufname. Im Kloster gab es aber bereits eine Schwester Elisabeth, daher nenne ich mich Anne-Elisabeth. Es ist jedoch ein Name, der bereits vorher in mir war. Voilà. Jedes Wort hat eine Bedeutung: Anne zum Beispiel heisst Gnade und Geschenk. Mit ganzem Namen heisse ich Anne-Elisabeth de la Miséri­ corde. Jede Schwester hat eine solche Bezeichnung. Sie zeigt, was uns wichtig ist und was uns anspricht.

Der Karmel Die Geschichte des Karmeliterordens geht bis ins 12. Jahrhundert zurück, als sich Einsiedler am Fusse des Karmel in Palästina niederliessen und sich einem streng ere­mitischen Leben hingaben. Um 1240 zogen sie wegen der Gefahr durch die Sarazenen nach Eu­ro­pa. Im 16. Jahrhun­ dert reformierte Teresa von Avila den Orden und grün­dete zahlreiche neue Klöster. Die Karme­li­ te­rin­nen in Le Pâquier stehen in ihrer Nachfolge. Homepage: https:// carmel-lepaquier.com

Haben Sie in Ihrem zivilen Leben einen Beruf ausgeübt, bevor Sie ins Kloster eingetreten sind? Natürlich. Das ist bei uns sehr wichtig. Wir verlangen beim Eintritt ins Kloster eine vollständige Berufsausbildung. Man muss bereits in seinem Beruf gearbeitet und selbständig gelebt haben, denn das zeigt, dass bereits eine Persönlichkeit da ist. Ich selbst habe die kaufmännische Berufsschule gemacht, habe in einer Luzerner Papeterie und später als Hilfskrankenschwester in einem Spital in Vevey gearbeitet. Gleichzeitig spürte ich aber diesen Ruf in mir, Christus nachzufolgen. Als ich jemanden traf, der Beziehungen zum Karmel in Le Pâquier hatte und mich einmal dorthin mitnahm, wusste ich, dass dieser Orden zu mir passte. Ich fühlte mich immer wohl in der Stille, im Alleinsein, im Zwiegespräch mit Gott – im Karmel ist das zentral, besonders das stille Gebet. Doch auch das Gemeinschaftsleben ist hier wichtig. Teresa von Avila, die den Orden im 16. Jahrhundert reformierte und eine sehr praktisch veranlagte Frau war, lag die Balance zwischen dem Leben in Gemeinschaft und dem Leben in Einsamkeit sehr am Herzen. Ist der Eintritt in ein Kloster anfangs vielleicht auch eine Flucht? Bei der Hauptfigur Blanche in unserer Oper Dialogues des Carmélites ist das zum Beispiel der Fall. Im Normalfall leben Karmeliterinnen das ganze Leben im gleichen Kloster. Wir haben eine Klausur und sind 24 Stunden im gleichen Haus zusammen. Diese Lebensform funktioniert nicht, wenn jemand anwesend ist, der vor seinen Proble-


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men geflüchtet ist. Das würde man spüren, und es würden Schwierigkeiten ent­ stehen. Ich habe diese Erfahrung ja selbst gemacht, als ich nach meiner Be­ rufsausbildung und vor meinem Eintritt in den Karmel zunächst bei den Domini­ kane­rinnen von Bethanien gelandet war, was aber nicht mein Ort war. Dort bin ich nach drei Jahren ausgetreten. Rückblickend war dieser erste Eintritt eine Flucht vor meiner Familie, in der ich mich unfrei fühlte. Ich habe das jedoch erst viel später verstanden. Eine Blume verwelkt, wenn sie nicht in dem Terrain lebt, die ihrem Grundwesen entspricht. Jede, die nicht diese Berufung in sich hat, empfindet später eine gewisse Traurigkeit, wenn die Lebensform nicht mit ihrem Innersten übereinstimmt. Ein ganzes Leben hier zu verbringen, nur um Zuflucht zu suchen oder vor seinen Problemen zu fliehen, ist unmöglich. Die Probleme würden sofort ans Licht kommen. Gibt es bei Ihnen deshalb diesen langen Aufnahmeprozess von acht Jahren? Seit einigen Jahren sind es jetzt sogar mindestens neun Jahre. Vorher gab es nach dem definitiven Engagement viele Austritte, deshalb hat man das verlängert. Heute sind die Gesellschaft und die Familienstrukturen ganz anders, viele kommen aus zersplitterten Familien, alles ist fluider. Es ist eine ganz andere Welt. So eine Aufnahme braucht Zeit, und diese Zeit muss man geben, um sich gegenseitig kennen­zulernen, um zu wachsen und diese Berufung zu vertiefen, denn alle Dimen­ sionen unseres Wesens sind betroffen und zur Einheit berufen. Haben Sie es schon oft erlebt, dass jemand an diesem Prozess gescheitert ist? Selbstverständlich. Eben wenn wir merken: Es ist eine Flucht. Oder jemand ist zu alt und kann sich nicht mehr integrieren. Mit 40, 50 Jahren hat man schon einiges erlebt, hat vielleicht seine Macken. Nicht, dass man genauso wie die Gemeinschaft werden müsste – aber ein solcher Weg kann in diesem Alter doch sehr schwierig werden. Gibt es denn Nachwuchs? Momentan haben wir eine Frau in Ausbildung, die den weissen Schleier trägt. Im vergangenen Dezember wurde sie Novizin. Weitere drei werden die Probezeit absol­ vieren. Das Interesse ist da, aber was daraus wird, wissen wir natürlich noch nicht. Hatten Sie bei Ihrem Eintritt in den Karmel das Gefühl, die Welt hinter sich zu lassen oder vielmehr in sie hineinzutreten? Ich wusste einfach, dass ich hier eintreten musste. Diesem starken Ruf musste ich gehorchen, ohne richtig sagen zu können, warum. Heute ist mir klar: Ich möchte für die Gemeinschaft da sein, mich mit meiner Persönlichkeit einbringen und für die Menschheit beten. Zurückgelassen habe ich nichts. In meinem vor­herigen Leben habe ich diese Fülle nicht gefunden. Haben Sie schon von Poulencs Oper gehört? Ich wusste davon, hatte sie mir aber noch nie angehört. Als Ihre Anfrage kam, habe ich mich dann selbstverständlich darüber informiert, mir Auszüge der Musik angehört und einzelne Produktionen auf YouTube angeschaut. Die 16 Karmeliterinnen von Compiègne, die während dem Französischen Terrorregime 1794 für ihren Glauben in den Tod gingen, wurden 1906 durch den Papst selig gesprochen. Haben sie noch eine Bedeutung für den Karmel? Uns hier in der Schweiz sagt das eigentlich nichts mehr. Aber es gibt den Karmel in Joncquières. Sie sind die Nachfolgerinnen der Karmelitinnen von Compiègne, die deren Erbe weitertragen. Sie sind ganz davon erfüllt. Könnten Sie sich vorstellen, für Ihren Glauben zu sterben?


Schwester Anne-Elisabeth ist die Priorin des Klosters in Le Pâquier im Greyerzerland.


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Man kann auf so eine Frage nie antworten, wenn man nicht in dieser Situation ist. Doch grundsätzlich würde ich sagen: Ja. Aber ich hätte sicher Angst. Die Schwestern haben damals ja auch unterschiedlich reagiert. Früher gab es die gewaltsame und aktive Verfolgung der Christen, heute verschwindet der Glaube mehr und mehr. Es kann natürlich sein, dass dieses Desinteresse plötzlich wieder in Gewalt umschlägt und eine ganze Gemeinschaft trifft. Dann könnte ich mir durchaus vorstellen, für meinen Glauben zu sterben. Unser Leben für den Glauben, für Jesus Christus hinzu­geben, das leben wir ja schon heute täglich. Alles, was wir machen, ist für ihn: «Pour toi, par amour». Auch wenn wir unsere Gelübde leben – den Gehorsam beispielsweise, was nicht immer so einfach ist –, sind diese Gelübde auch ein Weg, aus Liebe das eigene Leben hinzugeben. Das ist nicht für uns selbst, sondern für die Menschheit. Wir beten für andere. Das zentrale Thema der Oper von Poulenc ist die Angst. Ist Angst ein Thema für den Karmel? Das Überwinden von Angst? Kann Religion eine Strategie gegen Angst sein? Angst ist durchaus ein Thema für uns. Ganz konkret haben wir das vor zwei Jahren erlebt, als wir alle in der ersten Welle von Corona erkrankt waren. Das war ganz am Anfang, als man noch nicht viel über die Krankheit wusste, auch nicht, wie man sich schützt, und es noch keine Impfung gab. Zwei Schwestern und ich mussten ins Krankenhaus. Einige unter uns haben Todeserfahrungen gemacht. Mich als Verantwortliche hat es zusätzlich belastet, zu wissen, dass es den anderen nicht gut geht und ich nichts machen kann. Man will niemanden verlieren. Damals habe ich sehr viel Angst erlebt, und zwar in so einer konzentrierten und gewaltsamen Art, wie ich mir das nie hätte vorstellen können. Ich habe die Erfahrung des Schreiens gemacht. Ich wollte noch nicht sterben, denn ich war noch nicht bereit dazu, sondern habe noch eine Aufgabe zu erfüllen. Ich hatte sehr viele schreckliche Bilder in mir. Aber die Hilfe kam mir in der Gestalt des heiligen Joseph, den ich sehr gerne habe. Er fragte mich: Was willst du? Ich sagte zu ihm: «Beschütze meine Schwestern, …und auch mich». Zum Glück ist wirklich niemand gestorben. Ich hatte danach fast 15 Monate lang Long Covid, heute bin ich geheilt. Aber es war hart. Die Erfahrung der Angst war extrem. Auch die Erfahrung, wie man wirklich reagiert, wenn man dem Tode so nah ist, und nicht nur schön darüber redet. Die andere Schwester, die ebenfalls schwer erkrankt war, hat das hingegen ganz anders erlebt und hat sogar eine positive Erfahrung gemacht. Ich weiss nicht, warum ich das negativ empfunden habe. Ich hatte deswegen fast Schuldgefühle. Heute sehe ich das anders und kann nachempfinden, dass so viele Menschen Todesängste haben. Unsere Gemeinschaft hält sehr stark zusammen, und durch die Schwäche ist das noch stärker geworden. Wir haben damals auch sehr viel Wohlwollen und Hilfe von anderen erfahren. Das war beeindruckend. Sie sprechen die Aussenwelt an. Sie scheinen ein erstaunlich offenes Verhältnis zur ausserklösterlichen Welt zu haben. Sie haben eine Homepage, sind auf Facebook vertreten und haben ein Gästehaus, in welchem ich ganz unkompliziert übernachten konnte. Wenn jemand nicht bekannt ist, existiert er nicht. Das gilt auch für das Kloster. Wir hatten hier immer Priorinnen, die sehr offen und aufmerksam gegenüber der Welt waren. Als Anfragen von aussen kamen, ob man auch bei uns übernachten könnte, haben wir sofort überlegt, was wir machen können. Wir haben uns dann für dieses Gästehaus entschieden und es wurde so gebaut, dass der Geist des Karmel auch dort gelebt werden kann, ohne dass wir zu sehr darin integriert wären. In der benediktinischen Tradition ist so etwas sehr wichtig, da gibt es auch gemeinsame Mittagessen für die Gäste. Aber das ist eine immense Arbeit, die wir nicht leisten können. Ein alter Pater sagte zu uns einmal: Alles, was gegessen wird, muss gekauft werden. Da unsere Schwestern Feinschmeckerinnen sind, haben wir uns dann


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gefragt, warum wir nicht Guetzli backen sollen. 2008 ist unsere Guetzli-­Bäckerei entstanden. Wir haben klein angefangen, in unserer Küche. Jetzt haben wir eine Guetzli-Bäckerei nach neuesten hygienischen Standards. Wir haben unsere Guetzli am Anfang bei einer grossen Lebensmittel-Ausstellung in Bulle verkauft. Das war revolutionär: Der Karmel, der in Klausur sein müsste, geht in die Welt! Aber wir mussten uns bekannt machen. Wir leben nicht nur von Brot und Wasser und Liebe, und niemand bezahlt uns. Dann brauchte es eine Internetseite für unseren Verkauf, und so kam eines zum anderen. Es ist wichtig, ein offenes Fenster für die Welt zu haben, denn wir sind kein Museum und wollen auch keines sein. In Dialogues des Carmélites wird aufgrund einer Notsituation viel diskutiert. Doch eigentlich ist im Karmel das Schweigen oberstes Gebot, auch wenn ich jetzt gelernt habe, dass Sie die Auseinandersetzung, die Diskussion und den lebendigen Austausch untereinander genauso fördern. Was hat es mit dem klösterlichen Schweigegebot auf sich? Für uns alle ist das Schweigen die Möglichkeit, bei Gott zu bleiben und mit ihm in Kontakt zu treten. Teresa von Avila hat die Erfahrung gemacht, dass Gott in einem drin lebt. Das ist wie eine Liebesbeziehung: Jemand ist da. Wenn man seine Aufmerksamkeit darauf richten möchte, kann das nur in der Stille geschehen. Wäre ich ständig mit der äusseren Welt beschäftigt, mit meinen Schwestern, kann ich nicht mehr bei mir und nicht bei ihm sein. Schweigen ist der Raum, der es ermöglicht, dass man miteinander verbunden ist, und das Gebet ist der Ausdruck davon. In der Welt gibt es so viel Leid – «le monde est en feu» sagte Teresa von Avila, das gilt noch immer. Im eigenen Schweigen höre ich diese Resonanz und bete dafür. Im Lärm kann das alles nicht passieren. Stimmt es, dass Sie eine kleine Einsiedelei im Kloster haben? Ja, das ist ganz wichtig im Karmel. Jede Schwester kann sich während des Jahres in der Einsiedelei im Dachstock des Hauses für zwei Wochen in die Stille zurück­ ziehen, auch, um geistig wieder aufzutanken, denn das Gemeinschaftsleben und die Arbeit fordern doch sehr. In unserem Garten haben wir auch kleine Einsiedeleien, Rückzugsorte für tagsüber. Hat Sie die Einsamkeit auch schon zur Verzweiflung gebracht? Wir bleiben Menschen, und da kann uns alles passieren. Auch wir erleben, dass die Stille schwer werden kann: Entweder aufgrund unserer eigenen aktuellen psychischen Verfassung, oder wir tragen irgendetwas in der Welt mit. Wir glauben, dass Christus für uns den Kreuzweg aus Liebe gegangen ist, um uns zu erlösen. Wir sind da, um diesen gleichen Weg zu gehen, in welcher Form auch immer. Ich habe einmal gelesen, dass die Karmeliterinnen ihre Hände nie zeigen. Ich zeige meine Hände häufig. Sie sind ja dafür da, um etwas zu tun. Nur im Gebet, da bleiben die Hände oft unter dem Skapulier. Der Körper hilft mit, um zu sich selbst zu kommen. Mittwochs ist bei Ihnen «Wüstentag für die Gemeinschaft». Was bedeutet das? Durch die Guetzli-Bäckerei sind wir jetzt viel mehr zusammen, als eigentlich in einem Karmel vorgesehen ist. Früher hat jede für sich in ihrer Zelle gearbeitet, hat genäht, gestickt oder Fahnen hergestellt. Aber das ist nicht mehr zeitgemäss. In unserer Bäckerei arbeiten sechs bis acht Schwestern zusammen, je nachdem, wie schnell es mit dem Teig gehen muss. Das kann auch sehr ermüdend sein, auch wenn wir im Schweigen sind. Um das auszugleichen, haben wir am Mittwoch diesen Wüstentag. Die Gemeinschaft ist dann in zwei Gruppen aufgeteilt: Die eine ist völlig frei in ihrem Tun, hat mehr Zeit zum Gebet, Studium oder geistiger Lesung, die andere macht die wesentlichen Arbeiten wie Pforte, Küche und so weiter.


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Kommt es manchmal zu Konflikten? Dass es Spannungen gibt, ist klar, denn jede Schwester hat ihr eigenes Temperament. Es gibt Schwestern, die wie ein Feuer sind und ein Feuer bleiben. Das darf durchaus seinen Platz haben. Doch wir müssen uns weiterentwickeln. Wir arbeiten daher bereits seit 20 Jahren eng mit einer Psychologin zusammen. Hier geht es darum, wie wir am besten miteinander kommunizieren, wie man sich richtig ausspricht und wie Konflikte vermieden werden können. Letztendlich geht es um gegenseitigen Respekt. Welche Bedeutung hat die Musik, der Gesang in Ihrem Kloster? Musik ist für uns etwas sehr Wichtiges, und gerade das Singen ist gut für den Zusammenhalt. Wir singen täglich das Chorgebet, die Psalmen, die Laudes, das Mittagsgebet, die Vesper und die Office des Lectures. Auch hier arbeiten wir mit einer Frau, die uns in Gesang unterrichtet. Eine letzte Frage: Könnten Sie sich vorstellen, die Oper von Poulenc in Zürich anzuschauen? Lust hätte ich schon, das ist klar. Aber die Frage ist: Ist das wichtig für uns? Wir müssten das diskutieren. Nach draussen gehen wir grundsätzlich nur für Arzt­ besuche, für Kommissionen oder um uns zu bewegen, denn man muss ja auch auf seinen Körper achtgeben – diesen Ausgleich braucht es. Wenn der Opernbesuch eine Art Fortbildung wäre, wer weiss... Das Gespräch führte Kathrin Brunner


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Die Ängste vor dem letzten Weg Francis Poulencs Oper «Dialogues des Carmélites» erzählt von einer Nonnengemeinschaft, die es vorzieht, zum Schafott zu schreiten, statt ihr Klosterleben aufzugeben. Was hat uns diese Geschichte aus dem Kloster heute zu sagen? Sehr viel, finden die Regisseurin Jetske Mijnssen und der Dirigent Tito Ceccherini, die künstlerisch für die Neuproduktion der Poulenc-Oper verantwortlich sind Probenbilder Admill Kuyler


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Jetske Mijnssen und Tito Ceccherini, die Oper Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc spielt hauptsächlich in einem Nonnenkloster, es geht um Märtyrertode. Eine richtige Liebesgeschichte gibt es nicht. Das hat mit der Lebensrealität der meisten Zuschauerinnen und Zuschauer wenig zu tun. Weshalb packt uns dieses Stück trotzdem? Jetske Mijnssen: Es geht hier nicht nur um Karmeliterinnen, um Nonnen, sondern der Titel macht es deutlich: Im Zentrum steht der Dialog, das Gespräch, das für mich ein Gespräch ganz generell unter Frauen ist. Diese Nonnen sind keine anony­­me Figuren, sondern von Poulenc ausserordentlich individuell und plastisch gezeichnet. Jede hat ihre ganz eigene Persönlichkeit und besondere Haltung. Wir erleben ihre Ängste und existenziellen Sorgen – als Zuschauerin gehe ich mit diesen Figuren mit. Im Zentrum steht die Hauptfigur Blanche, die mit ihrer Herkunft zu kämpfen hat: Sie ist in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Das macht sie für uns zu einer nachvollziehbaren, modernen Figur. Tito Ceccherini: Vielleicht bin ich jetzt zu dialektisch, aber ich finde, gerade weil es nicht um eine Liebesgeschichte geht, werden endlich einmal Dinge ver­ handelt, die alle betreffen. Natürlich versteht jeder, was Liebe bedeutet, wir alle sind mit den damit verbundenen Emotionen wie Hass, Zweifel oder Eifersucht vertraut. Aber das Leben ist selten so einseitig. Wir stellen uns doch ständig Fragen, Fragen wie: Was möchte ich im Leben machen? Schaffe ich das auch? Geschieht das genau so, wie ich mir das vorstelle? Diese Fragen stellt sich Blanche, mit der wir durchs Stück gehen. Tito Ceccherini: Ja. Sie ist eine Suchende, die ihren Weg geht, ja gehen muss. Sie kann in dieser dysfunktionalen Familie nicht bleiben. Die Rollen haben sich völlig verkehrt: Der Bruder bemuttert Blanche und bedrängt sie mit überzärtlicher Fürsorge. Doch wenn es darum geht, den adeligen, von der Französischen Re­­vo­lution bedrohten Vater zu beschützen, reist der Bruder ab und Blanche, die

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Dialogues des Carmélites – Worum es geht Paris, 17. Juli 1794: 16 Nonnen des Karmeliterordens von Compiègne wer­ den in den letzten Tagen der jakobini­ schen Terrorherrschaft auf der Pariser Place de Grève unter dem Vorwand der konterrevolutionären Verschwörung hingerichtet. Beim Gang aufs Schafott stimmen die Nonnen einen Hymnus an; mit jedem Aufprall der Guillotine wird der Chor leiser, bis die letzte Stimme er­loschen ist. Poulencs Oper Dialogues des Car­ mélites greift die historische Begebenheit auf und geht weit über sie hinaus. Das ge­heimnisvolle Wesen der hinzuerfunde­ nen Figur der Blanche de la Force steht im Zentrum der Oper. Blanche ent­ stammt einer adligen Familie, sie wächst mit ihrem Vater, dem Marquis de La Force, und ihrem Bruder auf, die Mutter

starb bei ihrer Geburt. Unter Panikatta­ cken leidend und in der Hoffnung, ihre Angst loszuwerden, sucht Blanche Auf­ nahme in einem Karmeliterorden. Sie trifft auf die alte, todkranke Priorin Ma­ dame de Croissy, die Blanche in einem Aufnahme­ gespräch mit den strengen Regeln des Klosters bekannt macht. Blanche fühlt sich bestärkt und wählt den Ordensnamen Blanche von Christi Todesangst. Im Kloster lernt Blanche die Novizin Constance kennen, die einen sorglosen Umgang mit dem Tod pflegt. Sie glaubt, dass sie jung sterben und mit Blanche in den Tod gehen wird. Kurze Zeit später stirbt die Priorin – nicht ohne vorher Blanche der Obhut von Mère Marie anvertraut zu haben. Constance wünscht sich, dass Mère Marie neue Prio­rin wird. Doch Priorin wird schliess­

lich eine andere, Madame Lidoine. In­ zwi­schen hat die Französische Revolu­ tion auch vor den Klostermauern nicht Halt gemacht. Blanches Bruder will seine Schwester aus dem Kloster holen, doch Blanche fühlt sich im Karmel sicher. Die Nonnen werden verhaftet, das Todesur­ teil durch das Revolutionstribunal ver­ kündet. Blanche, die aus Angst vor dem Märtyrer­ gelübde zwischenzeitlich ge­ flohen ist, folgt ihren Schwestern aufs Schafott. Der französische Komponist Francis Poulenc hat sein grösstes Werk für das Musiktheater Mitte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Seine musikalische Sprache ist unverwechselbar und hält trotz der kompositorischen Entwicklungen der Moderne an einer erweiterten Tonalität fest.


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gerade ins Kloster eingetreten ist, soll sich um ihn kümmern. Das sind menschliche Verhaltens­weisen, die durchaus mit uns heute zu tun haben. Jetske Mijnssen: Du sprichst den Vater an. Der Vater verdrängt alle Probleme und bemerkt nicht, was mit Blanche los ist. Wenn der jakobinische Terror aus­ bricht, kümmert es ihn nicht, dass er als Adliger in Gefahr ist. Er glaubt, ihm könne nichts passieren. Aber dann geht alles schief. Das kann man ja generell über diese Oper sagen: Nichts geschieht so, wie vor­ gesehen. Alle planen etwas für sich, doch es kommt ganz anders … Tito Ceccherini: Die alte, schwerkranke Priorin zum Beispiel sollte in den Augen ihrer Mitschwestern einen leichten Tod sterben. Sie hat immer Gott gedient und gebetet, doch im Angesicht des Todes ist sie vollkommen verzweifelt und stirbt qualvoll. Eine andere einflussreiche Nonne im Kloster, die Lehrerin der Novizinnen, Mère Marie, die der Gemeinschaft das Martyriumsgelübde abringt, ist am Ende die Einzige, die nicht aufs Schafott geht. Und was Blanche betrifft: Wir lernen sie als eine Figur kennen, die primär von ihren Ängsten geleitet wird. Am Ende über­ rascht sie uns aber, wenn sie mit ihren Mitschwestern freiwillig in den Tod geht. Es ist eine wirklich komplexe Oper … Am Anfang dieser Geschichte steht ein Familientrauma. Welches ist das? Jetske Mijnssen: Als Blanche zur Welt kam, ist ihre Mutter bei der Geburt ge­­ storben. Das macht der Vater der Tochter unausgesprochen zum Vorwurf. Es ist ein Trauma, das immer wieder in ihm hochkommt. Poulenc deutet Ungesagtes zwischen den Figuren ja generell immer ganz fein an, man spürt ständig diese unter­ schwelligen Spannungen. Es gibt einen bemerkenswerten Moment am Ende der Familienszene: Blanche erklärt dem Vater, dass sie ins Kloster, in den Karmel eintreten will. In diesem Augenblick kippt etwas im Vater und man merkt, dass er seine Tochter zum ersten Mal als eigenständigen Menschen wahrnimmt. Das Tragische ist: In dem Moment entgleitet sie ihm bereits. Tito Ceccherini: «Au Carmel!» – das ist einer der ganz wenigen Takte in dieser Oper, wo zwei Figuren gleichzeitig singen, Vater und Tochter. Ensembles gibt es in Carmélites eigentlich nur in den mehrstimmigen, lateinisch gesungenen Gebeten, die sich immer wie Inseln in dieser Oper ausnehmen. Daher ist dieser Moment sehr auffällig. Der Vater singt eigentlich nur in Rezitativen, und selbst wenn er Lega­­to singt, ist das immer noch ein Rezitativ. Er spricht, spricht, spricht… Ist diese Textlastigkeit ein Problem? Das Libretto basiert ja auf einem Bühnen­ stück von Georges Bernanos, der wiederum als Vorlage die Novelle Die Letzte am Schafott von Gertrud von Le Fort verwendet hat. Tito Ceccherini: Ich lerne den Wert des Textes von Bernanos immer mehr zu schätzen. Er ist aussergewöhnlich nuancenreich, überaus präzise in den Emotionen und den Gedanken. Jetske Mijnssen: Genau. Der Dialog ist trotz des philosophischen Tones, der immer wieder angeschlagen wird, so menschlich. Die Figuren werden in keinem Moment zu Karikaturen. Diese Figuren haben ja tatsächlich gelebt: Es sind die Karmeliterinnen von Compiègne, die während der Französischen Revolution wegen ihres Glaubens hingerichtet wurden. Nur Blanche ist eine freie Erfindung von Gertrud von Le Fort. Poulenc hat sich sehr mit dieser Figur identifiziert. Jetske Mijnssen: An ihr wird das Thema der Angst, das zentral für diese Oper ist, in ihrer vielfältigsten Erscheinungsform aufgezeigt. Blanche leidet unter einer extremen Lebensangst, unter ständigen Panikattacken. Sie ist immer die Aussen­seiterin, zu­ hause in der Familie, aber auch im Kloster. Sie erwartet vom Kloster im Grunde die Erlösung von ihrer Angst, Sicherheit und Geborgenheit. Aber bereits bei ihrem


Sandra Hamaoui als Sœur Constance de St.-Denis


Eintrittsgespräch nimmt ihr die alte Priorin alle Illusionen. Wie das im Leben eben so ist: Man geht auf eine Reise, um vor seinen Problemen zu fliehen, kommt nach Hause, und die Probleme liegen noch immer auf dem Tisch. Tito Ceccherini: Ich sehe Blanche ein wenig als Traumwandlerin. Ihr Instinkt führt sie auf diesen Weg … Jetske Mijnssen: Dabei trifft sie auf Frauen, die ihren Weg sehr prägen. Die alte Priorin ruft Blanche kurz vor ihrem Tod als Einzige zu sich. Sie will, dass Blanche es besser macht als sie selbst. Durch ihren furchtbaren Tod und ihre Angst vor dem Tod nimmt sie es gewissermassen auf sich, dass Blanche am Ende ohne Angst und Schmerzen sterben kann. Dann gibt es diese Begegnungen von Blanche mit Sœur Constance, die in ihrer Frische und Leichtigkeit eine sehr anziehende Figur ist. Gleichzeitig hat Constance eine tiefe Reife, sie weiss über Leben und Tod Bescheid und hat vor nichts Angst. Constance lässt sich von Blanches Strenge und Härte ihr gegenüber nie abschrecken. Selbst wenn Blanche die Gemeinschaft plötzlich verlässt, hält Constance zu ihr. Um auf den zentralen Aspekt der Angst zurückzukommen: Wie transportiert die Musik dieses Gefühl, diese permanente Spannung? Tito Ceccherini: Da reicht eine überraschende, innerhalb von Poulencs musikalischer Sprache weniger selbstverständliche Dissonanz, um das anzudeuten. Plötzlich tauchen musikalische Schatten auf, die völlig quer zur vorgängig etablierten Musik­ sprache stehen: ganz andere Akkorde, oder Töne in anderen Registern, tiefe Bässe mit Pauken zum Beispiel. Das ist überraschend in Poulencs tonaler, mit klassischen Mitteln gestalteten Sprache. Poulenc gliedert die Oper in dreimal vier Bilder, also insgesamt 12 Bilder, die jeweils durch musikalische Zwischenspiele voneinander abgetrennt werden. Wie schafft er diesen Bogen, ohne dass das Werk in Einzelteile zerfällt? Jetske Mijnssen: Die Dramaturgie ist wirklich bemerkenswert. Auffällig ist, dass die Szenen immer bereits am Laufen sind, wenn sich der Vorhang erneut hebt. Sie sind nie die Fortsetzung der vorherigen Szene ist. Manchmal kann man sich, sobald der Vorhang zugeht, sogar vorstellen, dass die Szenen weiterlaufen. Das ist Suspense. Man merkt, dass Bernanos’ Stück ursprünglich ein Filmscript war. Tito Ceccherini: In der Musik gibt es dieses fliessende, schreitende Tempo, das durch die ganze Oper geht und nie aufhört. Es mündet schliesslich in die letzte Szene: dem Schreiten zum Schafott. Wie ist diese berühmte Schlussszene musikalisch gestaltet? Tito Ceccherini: Im Grunde unterliegt ihr ein ganz einfaches musikalisches Kon­ zept, aber die Elemente, die dazu kommen, wirken überraschend. Die schneidenden Guillotinenschläge erklingen zum Beispiel an völlig unerwarteten Stellen, in un­ regelmässigem Abstand. Auch die dynamischen Nuancen sind in dieser Szene nicht vorhersehbar. Natürlich beginnt die Szene leise, sie wird lauter und endet leise. Aber dazwischen gibt es überraschende, dynamische Stufen. Nach den vielen Dialo­gen gibt es hier keine Gespräche mehr, nur noch das Murmeln des Chores und den Hymnus «Salve Regina». Mit jedem Schlag erstirbt eine Stimme. Durch das Ende der Gespräche ist die Individualität der Schwestern ausgelöscht, das Ende des menschlichen Dialogs überhaupt. Wie ergeht es dir mit der Schlussszene, Jetske? 16 Frauen sterben hintereinan­ der auf dem Schafott, und wir müssen dabei zusehen … Jetske Mijnssen: Ich bin jedes Mal entsetzt, wenn diese Szene kommt. Auch unseren Sängerinnen fällt es schwer, das zu singen und zu spielen. Der Gang zum Schafott wird radikal durchgeführt. Der grausame Tod von Madame de Croissy im ersten Teil der Oper ist eine Vorbereitung auf dieses Ende, doch sie stöhnt und schreit –

Dialogues des Carmélites Oper von Francis Poulenc Musikalische Leitung Tito Ceccherini Inszenierung Jetske Mijnssen Bühnenbild Ben Baur Kostüme Gideon Davey Lichtgestaltung Franck Evin Choreografische Mitarbeit Lillian Stillwell Choreinstudierung Janko Kastelic Dramaturgie Kathrin Brunner Le Marquis de La Force Nicolas Cavallier Blanche, seine Tochter Olga Kulchynska Le Chevalier, sein Sohn Thomas Erlank Madame de Croissy Evelyn Herlitzius Madame Lidoine Inga Kalna Mère Marie de l’In­carnation Alice Coote Sœur Constance de St.-Denis Sandra Hamaoui Mère Jeanne de l’Enfant Jésus Liliana Nikiteanu L’Aumônier du Carmel François Piolino Sœur Mathilde Freya Apffelstaedt 1er Commissaire Savelii Andreev 2e Commissaire Alexander Fritze Le Geôlier Valeriy Murga Officier Benjamin Molonfalean Thierry Yannick Debus Philharmonia Zürich Chor der Oper Zürich Premiere 13 Feb 2022 Weitere Vorstellungen 17, 19, 25, 27 Feb; 3, 5 März 2022 Unterstützt von


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das fehlt am Schluss, da schreit es in uns. Szenisch suche ich dafür natürlich alles andere als eine platt realistische oder gar blutrünstige Lösung, denn es geht ganz allgemein um das brutale Auslöschen von Individuen. Die Nonnen sterben zwar für ihren Glauben, aber dieser freiwillige Tod ist unter enormem Druck der re­volutionären Kräfte zustande gekommen, durch äussere Gewalt. Und die Nonnen haben Angst! Das Martyriumsgelübde haben die Schwestern auch nur des­ halb abgelegt, weil Mère Marie so radikal, fast ideologisch darauf beharrte. Zum Zeitpunkt der Komposition war der Tod im Leben von Francis Poulenc allgegenwärtig. Er war während der Komposition der Carmélites in einer tiefen persönlichen Krise, litt unter Todesängsten und bildete sich eine Krank­ heit ein. Gestorben ist dann aber während der Fertigstellung der Partitur Poulencs ehemaliger Partner. Jetske Mijnssen: Dass sich Poulenc in diesem Stück mit den letzten Dingen auseinandersetzt, ist klar. Die Dialoge sind fast immer ein Austausch über den Tod. «Gott, warum hast du mich verlassen?» – Das ist die zentrale Frage, die immer wieder im Stück auftaucht. Bei der sterbenden und Gott verfluchenden alten Prio­ rin Madame de Croissy, aber auch bei Madame Lidoine, die in der Gefängnis­szene die verängstigten Nonnen darauf hinweist, dass Jesus im Garten Gethsemane auch Angst hatte. Und Blanche nennt sich im Kloster Blanche de l’Agonie du Christ, also von Christi Todesangst – ein Name, den auch die alte Priorin trug. Poulenc verbindet seine Figuren mit unseren eigenen tiefen Fragen und Ängsten.

Die Regisseurin Jetske Mijnssen im Gespräch mit Dirigent Tito Ceccherini


Wie empfindest du den Katholizismus in diesem Stück? Wie ist er dargestellt? Jetske Mijnssen: Im Stück ist Religiosität spürbar, aber nicht explizit Katholizismus. Auch wenn Poulenc selbst bekennender Katholik war, waren ihm allzu strenge Glaubensvertreter suspekt, das weiss man. Er suchte immer das Lebendige. In Carmélites ist nichts manifest, sondern es wird gezweifelt und diskutiert. Noch ein letztes Wort zu Poulenc als Komponisten, dessen musikalische Sprache für ein Werk der 1950er-Jahre überraschend tonal ist, vergleicht man sie mit anderen musikalischen Strömungen in dieser Zeit. Serialismus oder Zwölftonmusik interessierte Poulenc kaum. Dafür wird er im deutschsprachi­ gen Raum gerne belächelt … Tito Ceccherini: Ich bin ein Enthusiast der Neuen Musik, das muss ich voraus­ schicken. Aber ich habe in meinem Leben immer mehr Abstand von der Frage genommen, wie man sich legitimieren soll. Dass die Vier letzten Lieder von Richard Strauss oder sein Oboenkonzert zeitgleich wie die Erste Klaviersonate von Pierre Boulez entstanden sind, ist zwar erstaunlich, aber muss ich das auch be­werten? Es gibt so viele unterschiedliche Arten, neu zu sein, und das hat nicht unbedingt damit zu tun, ob man nun tonal oder atonal komponiert. Letztlich geht es darum, was und nicht wie man etwas mit seiner musikalischen Sprache erzählt. Auch wenn Poulencs Oper nichts mit der Darmstädter Schule zu tun hat, hätte sie kein Jahr früher komponiert werden können. Das Gespräch führte Kathrin Brunner

Nicolas Cavallier als Marquis de La Force, Blanches Vater, mit Tänzerinnen und Tänzern



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Für mich ist Blanche ein grosses Mysterium Mit Blanche hat Francis Poulenc einen faszinierend rätselhaften Charakter als Hauptfigur seiner Oper «Dialogues des Carmélites» geschaffen. Olga Kulchynska versucht ihn für die Zürcher Produktion zu ergründen

Olga, wir sprechen noch vor der ersten szenischen Probe über deine Rolle. Wie ergeht es dir in deinen Vorbereitungen mit Blanche? Als ich das Libretto las, ergaben sich für mich so viele Fragen an das Stück und an Blanche! Wenn ich an einer Rolle arbeite, suche ich die Charakterzüge einer Figur auch immer in mir selbst. Doch in diesem Fall war das anders. Für mich ist Blanche ein grosses Mysterium und emotional noch nicht richtig greifbar. Bis jetzt empfinde ich sie als eine völlig wahnsinnige, verrückte Person. Noch immer suche ich die richtige psychologische Diagnose für sie, vielleicht ist sie bipolar. Auch musikalisch gesehen ist diese Rolle voller Kontraste. Manchmal ist Blanche sehr ruhig, fast apathisch, manchmal ist sie völlig überdreht, ja hysterisch. Ihr Ausser-Atem-Sein, ihre Zartheit und Ängstlichkeit sind deutlich in der Komposition verankert. Aber generell ist die Figur für mich zum jetzigen Zeitpunkt noch eine Gestalt aus dem 18. Jahrhundert. Hast du dich mit den historischen Quellen der Geschichte beschäftigt und die Novelle Die Letzte am Schafott von Gertrud von Le Fort, die die Basis für das Schauspiel von Georges Bernanos und der Oper von Poulenc war, gelesen? Ja. Und ich habe nachgeforscht, wer diese Karmeliterinnen sind. Dieser Orden existiert heute ja noch immer. Ich habe mir diesbezüglich einige Dokumentarfilme angesehen: Der Karmeliterorden ist ein sehr verschlossener Orden, dem man sich kaum nähern kann. In den Interviews dieser BBC-Dokumentation ist mir aufge­ fallen, dass die Nonnen wie Blanche sprechen: geradezu wolkig und voller Ekstase und Verklärung. Sie benutzen grosse Begriffe wie «Opfer» oder «Leid» – aber ehrlich gesagt: Ich verstehe nicht, was sie damit meinen. Hast du dennoch einige Seiten in Blanche entdeckt, die etwas mit dir zu tun haben? Das Einzige, was ich bei Blanche nachvollziehen kann und das ja jeder kennt, ist das Gefühl der Angst. Doch auch da sind Blanches Ängste wiederum so umfassend: Sie hat Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leben, Angst vor der Gesellschaft ... Ich persönlich habe vor allem Angst vor der Zukunft. Angst vor dem Tod – nein, das habe ich nicht. Darf ich dich fragen: Bist du selbst religiös? Ja, sehr. Ich bin in einer traditionellen, religiös-orthodoxen Familie aufgewachsen, aber in den letzten zwei Jahren habe ich mich eher der protestantischen Kirche zugewandt. All diese katholischen Traditionen, diese Rituale, diese Ergebenheit und Hingabe, die sind eigentlich sehr weit weg von mir.

Wir führen unser Gespräch via Zoom, denn du bist wegen einer Covid-­In­ fektion noch in Isolation. Hat diese Isolation etwas mit dir und deiner Sicht auf Blanche gemacht?


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Ich glaube nicht. Ich bin sowieso eine introvertierte Person und mag es eigentlich sehr, isoliert zu sein. Ich brauche es nicht, mich mit vielen Menschen zu umgeben. Ich kann sehr gut lange alleine sein und leide dabei auch nicht. Blanche ist ja auch eine sehr isolierte Figur... Blanche hat Angst vor Menschen. Sie versucht, in ihrem richtigen Leben vor ihren Ängsten zu flüchten, und geht in den Karmeliterorden. Aber natürlich findet sie auch da nicht das, wonach sie wirklich sucht. Alles ist problematisch in ihrem Leben, ihre Familie, die Gesellschaft, sogar der Orden. Egal, wo man bei ihr auch gräbt, es öffnen sich immer Abgründe. Am Ende der Oper bringt sie es dann auf den Punkt: Sie sagt, sie sei in die Angst hineingeboren, sie habe darin gelebt und lebe noch immer darin. Einen wichtigen Teil ihres Wesens macht sicher ihr Glaube aus. Sie verändert sich am Ende der Oper nicht aufgrund ihrer inneren Verfassung, ihrer Instinkte, aufgrund der Umstände oder wegen ihrer Beziehung zu den Nonnen, sondern weil ihr Glaube wächst. Wenn Blanche in den Tod geht, ist das für dich etwas Positives, im Sinne einer Erlösung, oder doch etwas Negatives? Für Blanche ist es sicher eine Erlösung und ein sichtbares Zeichen ihres Glaubens. Viele Gläubige finden darin ihren Frieden. Sie betrachten das Leben ja nur als einen Korridor, einen Übergang zum nächsten Leben, das viel besser ist. Alle Nonnen im Stück wissen das und warten auf diese Erlösung. Natürlich haben sie auch Angst davor zu sterben, zumal auf diese schreckliche Art. Andererseits aber scheinen sie zu wissen, dass ein anderes, viel besseres Leben auf sie wartet. Ich persönlich finde diese Idee des Martyriums natürlich schwierig. Blanche ist ohne Mutter aufgewachsen. Sucht sie vielleicht auch das mütterliche Element im Kloster, in der Verkörperung der Schwestern? Vielleicht sucht sie im Konvent tatsächlich eine Art Mutterwärme und Zärtlichkeit. Aber sie bekommt sie nicht. Mir fällt auf, dass Blanche in all den Begegnungen und den Gesprächen mit den Schwestern im Kloster immer eine Opferposition einnimmt. Man kennt das ja von Menschen, die zuhause missbraucht oder geschlagen wurden. Anders verhält sie sich hingegen in Bezug auf Constance: Mit ihr ist sie sehr hart, manchmal fast übergriffig. Dann gibt es diese merkwürdige, beinahe inzestuöse Beziehung zu ihrem Bruder. Er nennt sie zum Beispiel «mein Häschen»... Im letzten Dialog mit ihrem Bruder sagt sie einen merkwürdigen Satz: Sein Mitleid und seine Zärtlichkeit würden sie zerreissen, sie aber verlange nichts weiter als Respekt. Auch ihre Familie hatte immer dieses Mitleid mit ihr. Sie aber möchte als Person ernstgenommen werden, nicht als Objekt. Ihr familiärer Hintergrund ist von grosser Bedeutung. Ihre Mutter starb, als sie geboren wurde. Vermutlich fühlt sie für diesen Tod auch eine gewisse Schuld. Hast du dich vorab mit Poulenc beschäftigt? Kanntest du seine Musik schon? Ich habe ein paar seiner Lieder gesungen und ich habe einige Artikel von ihm gelesen. Er hat eine Art Anleitung geschrieben, wie seine Lieder zu singen seien. Poulenc sagt, dass das Wichtigste der Text sei, dass man den Text analysieren und die bedeutsamsten Wörter herausfinden müsse. In Bezug auf die Partie der Blanche ist das aber gar nicht so einfach. Manchmal sind die musikalischen Höhepunkte an Stellen, an denen die Worte gerade unbedeutend zu sein scheinen, manch­mal ist es umgekehrt. Text und Musik streben in ihrer Bedeutung oft aus­ einander. Und das macht es schwer, sich die Partie zu merken. Poulenc macht stellenweise auch völlig überraschende Dinge. Er unterbricht eine Melodie inmitten eines Satzes und führt sie dann auf eine völlig andere Weise weiter.


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Als Francis Poulenc die Rolle der Blanche schrieb, hatte er eine ganz bestimm­te Sängerin im Kopf: Denise Duval, mit der er oft zusammengearbeitet hat. Sie hat dann auch die Pariser Erstaufführung des Werks gesungen. Was ist das Spezifische am Gesang der Blanche? Die Rolle ist wirklich ganz anders als alles, was ich bis jetzt gesungen habe. Die Partie ist eher ein Sprechen mit Melodie als ein wirklicher Gesang, eine Art Sprechgesang. Der Gesang wirkt auf mich typisch französisch und sollte auch so inter­ pretiert werden. Wenn man französische Sängerinnen französische Werke des 20. Jahrhunderts singen hört, singen sie in der Mittellage oft gar nicht so laut und mit wenig Vibrato. Sie lassen der Stimme insgesamt wenig Raum. Für mich wird es eine Herausforderung sein, so zu singen. Ich muss hier sehr an meinem Stil arbeiten. Man sollte wie eine Liedsängerin singen, aber das Orchester ist gross besetzt und laut. Wie bringt man das miteinander in Einklang? Wir werden das in den Proben ausprobieren. Das Gespräch führte Kathrin Brunner


Ballett Zürich


Im Café der gebrochenen Herzen Christian Spucks neue Kreation «Monteverdi» verschränkt Musik, Tanz, Gesang und Szene zu einem Abend voll Poesie, Atmosphäre, Intimität und Weltverlorenheit Vorstellungen: 12, 20, 26 Feb 2022

Fotos: Gregory Batardon

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Die geniale Stelle 33

Liebe und Krieg Neun Takte aus Claudio Monteverdis «Il combattimento di Tancredi e Clorinda»

Hören und im Notentext mitlesen können Sie die «Geniale Stelle» hier:

So etwas hat es gegeben! Ein Komponist präsentiert sein neuestes Werk und erntet helle Begeisterung, weil seine Musik ganz modern ist, nur so strotzt von kühnen Harmonien, neuartigen Klangfarben und ungewöhnlichen Spieltechniken. Die Zuhörer lauschen mit angehaltenem Atem einer Erzählung, die sie zwar gut kennen, aber noch nie so gehört hatten. Ein Werk der musikalischen Avantgarde eroberte sein Publikum im Sturm. Das waren noch Zeiten! Mehr noch: Monteverdis Vertonung einiger Verse aus Torquato Tassos Epos Das befreite Jerusalem mutet auch nach fast vierhundert Jahren noch frisch und fast zeitgenössisch an. Erzählt wird eine Episode der Zeit des ersten Kreuzzugs: Der christliche Ritter Tancredi kämpft in der Nacht mit der sarazenischen Kriegerin Clorinda, die er für einen Mann hält. Zu spät erkennt er, dass er die Frau getötet hat, die er über alles liebte. Sie vergibt ihm, bittet ihn um die Taufe und stirbt in seinen Armen. Das ist eine Geschichte, die ein grosses Orchester mit reichem Schlagwerk zu verlangen scheint – Monteverdi beschränkt sich auf drei Singstimmen und ein kleines Streicherensemble und vollbringt das Wunder, durch geschickten Einsatz neuer Techniken wie Tremolo und Pizzicato den Lärm der Schlacht und die Wut der Krieger so plastisch zu schildern, dass sich der Zuhörer mitten in das Geschehen versetzt fühlt. Aber nicht nur diese spektakulären Effekte begeistern; vielleicht noch erstaunlicher ist Monteverdis Fähigkeit, mit feinsten Ausdrucksnuancen das ganze Spektrum menschlicher Empfindungen von wütendem Hass bis zur zärtlichsten Liebesgeste auszudrücken und so auf kleinstem Raum eine gewaltige, tief ergreifende Tragödie zu gestalten. Wer in diesem Werk die eine «geniale Stelle» sucht, wird sich nicht entscheiden können, denn hier ist buchstäblich jeder Takt ein Geniestreich. Das zeigt schon der scheinbar ganz unauffällige Anfang: «Tancredi, der Clorinda für einen Mann hält, will sich mit ihr im Kampf messen.» Mit dieser schnörkellosen Mitteilung beginnt das Stück, und die Singstimme scheint denselben trockenen Ton anzuschlagen, indem sie den Text auf einem einzigen Ton psalmodierend vorträgt. Aber etwa in der Mitte der Phrase schleicht sich eine kleine Abweichung ein: Plötzlich sinkt die Stimme um einen Ganzton nach unten, um aber sofort wieder aufzusteigen. Ein winziges Zittern der Stimme, das auf die emotionale Beteiligung des Erzählers hindeutet. Wenn in der Folge ausgesprochen wird, dass sich Tancredi mit dem vermeintlichen Gegner im Kampf messen will, gibt es aber kein Halten mehr: Die Stimme sinkt mit einer resignierten Geste um eine Quinte ab, die letzten beiden Töne der Phrase sehr lang dehnend, was den trauervollen Gestus der Phrase noch einmal unterstreicht. Was man in der ersten Halbphrase vielleicht noch überhören konnte, tritt nun deutlich hervor: Der Erzähler referiert nicht unbeteiligt, sondern ist selbst von dem Geschehen, das er berichtet, zutiefst ergriffen, auch wenn er seine Rührung verbergen möchte. Denn was dieser karge Einleitungssatz ausspricht, ist der tragische Kern des Geschehens: dass die Liebenden Krieger sind, dass der Krieg sie zum Kampf treibt, der beide zerstört. So spektakulär Monteverdis Musikgemälde des blutigen Kampfes ist, die eigentliche Grösse liegt in dieser sparsamen, tief mitfühlenden und dabei ganz unsentimentalen Zeichnung der seelischen Dimension des Geschehens. Werner Hintze


34 Wiederaufnahme


Kommt ein Türke nach Italien In Jan Philipp Glogers fulminanter Inszenierung ist Rossinis Buffa «Il turco in Italia» mehr als ein Witz – nämlich ein lustvolles und hintersinniges Spiel um die Missverständnisse, die entstehen, wenn orien­ talische und westliche Kultur aufeinanderprallen mit Olga Peretyatko, Nahuel Di Pierro, Renato Girolami, Pietro Spagnoli, Mingjie Lei u.a. Vorstellungen: 20, 24, 27 Feb, 4 März 2022

Fotos: Hans Jörg Michel

Alle Infos zur Produktion


36 Volker Hagedorn trifft …

Mahan Esfahani Mahan Esfahani gehört zu den schillernd­s­ten Figuren der inter­nationalen Cembalisten-­Szene. Er versteht sich auf seinem Instrument als Pionier und Archäologe zugleich. Er widmet sich dem traditonellen Cembalo-­ Repertoire ebenso wie zeitgenössischen Kom­ po­­­sitionen und selten gespielten Werken des 20. Jahrhunderts. Mit dem Orchestra La Scintilla verbindet ihn eine enge künstlerische Partnerschaft. Am 7. März ist er gemeinsam mit dem Ensemble als Orgelsolist zu er­leben.

Nach allem, was ich über ihn gelesen habe, mag er Kontroversen. Dann fange ich doch mal etwas provokant an, gleich nach der Frage, ob er jetzt in Prag sitzt, beim Zoomen. Ja, das tut er. Demnächst tritt er mit dem Orchestra La Scintilla in Zürich auf, das auf historischen Instrumenten spielt, sogar auf eigens rekonstruierten «alten» Saiten. Wie verträgt sich die Originalklangtreue mit der Offenheit, dem Unorthodoxen, für das er steht, der Cembalist, der seinem Instrument laut The New Yorker «ein fast schon hipstermässiges Profil» verpasst hat, gern Bach mit Steve Reich kombiniert und auf seiner Website optisch irgendwo zwischen Graffiti und Gucci rangiert? «Ist es etwa nicht offen, mit historischen Instrumenten zu arbeiten?», fragt er zurück. «Das Entscheidende am Revival der frühen Aufführungspraxis ist ja gerade die Offenheit. Wenn wir den Geist des Experimentierens verlieren, ist das nicht länger Musikmachen.» Und gerade jetzt gebe es in der «Alte Musik»-Szene eine Tendenz zur Homogenisierung, zur einheitlichen Spielweise. «Wenn Sie aber Mitglieder dieser Barockorchester fragen, ob sie das, was sie tun, mit historischer Information begründen können, haben die meisten keine Antwort.» Es kann also nicht schaden, sich mal wieder über die Quellen zu beugen, wie Riccardo Minasi, der künstlerische Leiter von La Scintilla, und Mahan Esfahani das tun. «Ich habe kein Problem mit Purismus! Meine Bibliothek hier ist voll mit Traktaten zur Aufführungspraxis, die ich in den Originalsprachen lese.» Aber Authentizität komme allein dadurch nicht zustande. Er zitiert auf Deutsch seine Lehrerin Zuzana Růžičková: «Wenn man überzeugend ist, ist man authentisch.» Růžičková ist jene tschechische Cembalistin, deren Bach-Aufnahmen in den 1970ern wohl in jedem klassikaffinen Haushalt zu finden waren. Wegen ihr, die einst Auschwitz und Bergen-Belsen überlebte, ist Mahan Esfahani 2011 von London nach Prag gezogen. Da war sie 84 und er 27 Jahre alt. Was lernte er von ihr, die ihre Aufnahmen, der Zeit entsprechend, überwiegend auf stahlbesaiteten Klavierhybriden von Sperrhake und Neupert gemacht hatte, auch wenn sie später historische Instrumente sehr schätzte? «Dass grosse Kunst Fragen stellt», sagt Esfahani. «Ich war mit Mitte Zwanzig zu einem Punkt gekommen, als ich eine Menge Antworten hatte und keine Fragen. Ich dachte, so kann’s nicht bleiben.» In den Klang des Cembalos hatte er sich mit neun Jahren verliebt, den Klang einer alten Aufnahme mit Karl Richter. Als Kind iranischer Eltern, die ihre Heimat verlassen hatten, wuchs Mahan auf in Rockville, im US-Staat Maryland. Mit sechzehn hatte er ein eigenes Instrument, einen Bausatz, studierte in Stanford, aber nicht gleich Musik, sondern begann mit Medizin, Jura, Geschichte, Musikwissenschaft – und nahm Cembalounterricht. «Man versucht, den Sog des Unvermeidlichen zu vermeiden», so fasst er die Anläufe zusammen, «ausserdem fängt kein vernünftiger Mensch mit Cembalo an, wenn er nicht gerade aus einer reichen Familie kommt. Ich musste es immer rechtfertigen, auch vor mir selbst.» Bestätigt sah Esfahani sich erst mit 30 Jahren, nachdem seine Aufnahme von Rameaus Pièces de Clavecin ihm erstmals die «Gramophone Editor’s Choice» eingebracht hatte. «Da dachte ich, well, so weit sind wir gekommen, dann setze ich das fort.» Zu der Zeit hatte er sich, über Mailand und Oxford nach London geraten, mit einer Menge glücklicher Zufälle, auch als Interpret moderner Cembalomusik einen Namen gemacht, Francis Poulencs Konzert für die BBC aufgenommen und eines vom tschechischen Komponisten Viktor Kalabis. Dessen Witwe hörte es im Radio und gratulierte brieflich: Zuzana Růžičková. Sie rechnete wohl kaum damit, dass ihn das als Schüler zu ihr bringen würde. Als sie, die späte Lehrerin und seine wichtigste, wie er sagt, mit 90 Jahren starb, blieb er in Prag. «Es ist hier ruhiger als in London,


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persönlicher, es gibt eine besondere Sympathie für Musik. Und jedes Mal, wenn ich ein neues Programm habe, gibt es jemanden, den ich anrufen kann: Kann ich dir heute Abend zu Hause etwas vorspielen?» Auf London lässt er trotzdem nichts kommen. «Es ist der Ort in Europa, wo ich zum ersten Mal ich selbst sein konnte und nicht daran leiden musste». Da habe die deutschsprachige Welt noch einen langen Weg vor sich, «mit Ausnahme der früheren DDR – im Gegensatz zu dem, was die Leute über sie denken!» Ein Schock, nicht nur für Esfahani, war ein Auftritt in der Kölner Philharmonie.«Reden Sie doch gefälligst Deutsch!», hatte man ihm dort 2017 zugerufen, als er Steve Reichs Piano Phase erklärte. Die anschliessende Aufführung wurde wegen Tumulten im Saal abgebrochen. Mit oder ohne Tumult, für ein «sentimentales Revival der Vergangenheit», wie er es nennt, steht dieser Musiker jedenfalls nicht zur Verfügung, genauso wenig für eine «selbstreferenzielle Welt» der Cembalisten. «Ich bevorzuge es, Pianisten als meine Kollegen zu sehen, die grösste Inspiration für mich als Spieler ist Grigory Sokolov. Cembalo ist nur das Instrument, auf dem ich mich am besten ausdrücken kann. Und seien wir ehrlich: Wir spielen Instrumente, weil wir nicht singen können. Ich kann’s nicht.» Er lacht. «Niemand will mich singen hören!» Fragt man Esfahani nach grossen Vorbildern, geht er weit zurück. «Wenn wir Wanda Landowska nicht erwähnen, belügen wir uns.» Die 1879 in Warschau geborene Musikerin spielte auf einer Spezialanfertigung mit Eisenrahmen und sieben Pedalen, nicht historisch korrekt, aber bahnbrechend, sie inspirierte Komponisten und Musiker wie Ralph Kirkpatrick, einen weiteren Helden von Esfahani. «Schon früh in seiner Laufbahn hat er neue Musik aufgenommen, das Konzert von Manuel de Falla. Kirkpatrick und Landowska haben die fundamentale Frage gestellt: Gibt es Grenzen für das, was dieses Instrument kann? Es gibt etwas Tieferes in uns, wofür wir das Instrument nutzen. Wir müssen es ohne Limits sehen, sonst sehen wir sie in uns.» Auch die Limits einer quellennahen Aufführungspraxis stehen ihm nicht im Weg, wenn ihn etwas berührt. Mahan Esfahani findet, die remasterten Aufnahmen von Růžičková klingen «wie gestern gespielt, abgesehen vom Instrument natürlich, während einige Pioniere des Cembalospiels, die zu ihrer Zeit Autoritäten der Authentizität waren, jetzt verwelkt klingen. Auch der Beethoven von Claudio Arrau klingt nach seiner Zeit, seinem Platz, obwohl er ein toller Pianist war. Wie geht das zu? Es ist ein Rätsel. Warum nehmen wir auf ? Für jetzt, oder damit es in fünfzig Jahren jemand versteht?» Vielleicht ist es wie mit einem Kuss, schlage ich vor. In fünfzig Jahren zählt er nichts, aber im Moment ist es das wichtigste Ereignis, das man sich vorstellen kann. «So hätte ich es nicht gesehen», meint er, «aber es ist ein sehr guter Punkt». Dazu passt, dass er im Lockdown zu Hause viele halb vergessene Stücke gehört hat, Ouvertüren von Sullivan, Oratorien von Gounod, ein Klavierquartett von Amy Beach. «Es machte Spass, und kein Komponist oder Interpret brüllte mir dabei ins Ohr, wie wichtig er ist. Es passt schon, dass Corona im Beethovenjahr ausbrach. Ich liebe Beethoven, aber Gott bewahre uns vor seinen Bewunderern, in deren Augen er die EU unterstützt, die Flüchtlinge, diese Regierung, aber nicht jene. Ich war davon so müde!» Und er setzte sich ans Clavichord, dieses überaus leise und sensible Hausklavierchen, «mein absolutes Lieblingsinstrument», das jeder Cembalist des 18. Jahrhunderts ebenso spielte wie die Orgel. «Lustig, dass ich in Zürich Organist sein werde!» Inzwischen ist die nächste Komposition für Mahan Esfahani in Arbeit. Im November wird in Köln Standstill von Miroslav Srnka uraufgeführt, mit dem Gürzenich-Orchester. Wie ist es, als Interpret eine neue Partitur zu erkunden? «Ich gestehe Ihnen etwas, nämlich, dass ich die Stücke oft jahrelang nicht verstehe. Es ist ein langer Prozess. Aber mein Job ist nicht, sie komplett zu verstehen, sondern sie zu spielen. Man muss für die Musik den Raum zum Existieren schaffen. Wenn wir jetzt das Wohltemperierte Klavier spielen, verstehen wir dann Bach? Es wird immer ein Geheimnis bleiben. Das heisst nicht: stop working. Wir arbeiten weiter am Verstehen.» Volker Hagedorn


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Fragebogen 39

Lauren Fagan In welche Welt tauchen Sie ein, wenn Sie Musik von Claudio Monteverdi in der Ballettproduktion von Christian Spuck singen? Ehrlich gesagt, ist diese Monteverdi-­Welt für mich völlig neu. Ich singe Monte­ verdis Musik zum ersten Mal. Sie wird jetzt für mich immer mit Tanz ver­ bunden sein. Wenn ich die Madrigale höre, ruft das tiefe Gefühle in mir wach. Die Poesie und die unglaublichen Har­ monien mit ihren Dissonanzrei­bungen versetzen mich in eine melancholische Stimmung. Und das ist ja genau das, was Christian Spuck erreichen wollte. Sie treten in Monteverdi gemeinsam mit den Tänzer:innen des Balletts Zürich auf. Was gibt Ihnen diese künstlerische Begegnung? Die Arbeit mit Christian und dem Ballett Zürich ist für mich künstlerisch sehr erfüllend. Obwohl wir unterschied­ liche künstlerische Sprachen sprechen, haben wir uns sofort verstanden. Selbst wenn ich die Bewegungen der Tän­ zer:innen auf der Bühne nicht sehe, kann ich ihre emotionale Intention spüren und sie mit meiner Stimme ausdrücken. Können Sänger:innen etwas von Balletttänzer:innen lernen? Auf jeden Fall. Die Disziplin, die Hin­ ga­be, mit der sie ihre Kunst betreiben, die Teamarbeit, die Feinheit von Christians Choreografie – das alles hat mich sehr inspiriert. Woran merkt man, dass Sie Australierin sind? Ich habe auf meinen Reisen immer ein Glas Vegemite dabei. Das ist der Brot­aufstrich, den wir Australier lieben und den der Rest der Welt sehr gewöhnungs­bedürftig findet. Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt? Als ich zur Schule ging, habe ich viel im Chor und in Musicals gesungen und

während dieser Zeit meine Leidenschaft für die Stimme und für das Auftreten entdeckt. Ohne diese Erfahrung hätte ich nie den Weg zur Oper ge­funden. Mit Monteverdi hat die Kunstform Oper begonnen. Was muss passieren, dass sie auch in hundert Jahren noch existiert? Die Regierungen müssen Musik von Anfang an als festen Bestandteil in die Bildung integrieren und Kindern aus allen sozioökonomischen Schichten die Möglichkeit geben, in einem Chor zu singen, ein Instrument zu spielen, eine Oper zu sehen oder ein Orchester live spielen zu hören. Das ist die einzige Möglichkeit, wie die Oper in Zukunft ein Publikum haben wird. Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben? Die Kameliendame von Alexandre Dumas, ein Geschenk meines Gesangs­ lehrers. Ich lese den Roman immer wieder – besonders, bevor ich Violetta singe. Welche CD hören Sie immer wieder? Im Moment höre ich jeden Tag Puccinis La rondine mit Antonio Pappano als Dirigent und Angela Gheorghiu und Roberto Alagna. Welchen überflüssigen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten? Ich habe es noch nicht gekauft, aber ich will unbedingt ein Bild von Palm Beach in Sydney für meine Wohnung kaufen, damit ich jeden Tag an meine Heimat denken kann.

Lauren Fagan ist eine der beiden Sopran­ stimmen in unserer Produktion «Monteverdi». Sie wurde in Australien geboren und hat in London studiert. In der vergangenen Spielzeit war sie die Giulietta in Offenbachs Oper «Les Contes d’Hoffmann», die Andreas Homoki am Opernhaus Zürich neu inszenierte.


40 Auf der Couch

Blanche

Zu den eindrucksvollsten Bildwerken Roms gehört die Verzückung der heiligen Teresa von Avila über dem Altar der Kir­ che Santa Maria della Vittoria, eine Arbeit Lorenzo Berninis. Der Bildhauer gestaltet eine Szene aus der Autobiografie der gros­ sen Mystikerin: «In der Hand des Engels sah ich einen langen goldenen Pfeil mit Feuer an der Spitze. Es schien mir, als stiesse er ihn mehrmals in mein Herz, ich fühlte, wie das Eisen mein Innerstes durch­ drang, und als er ihn herauszog, war mir, als nähme er mein Herz mit, und ich blieb erfüllt von flammender Liebe zu Gott. Der Schmerz war so stark, dass ich klagend aufschrie. Doch zugleich empfand ich eine so unendliche Süsse, dass ich dem Schmerz ewige Dauer wünschte.» Teresa muss eine eindrucksvolle Per­ sönlichkeit gewesen sein, meines Wissens die einzige Frau, die das eiserne Gesetz des katholischen Männerprivilegs durch­ brach, indem sie nicht nur den eigenen Orden der barfüssigen Karmeliterinnen reformierte, sondern einen männlichen Zweig dieser Reformation auf den Weg brachte. Teresa war die Enkelin eines sephardischen Juden, der sich taufen liess und einen spanischen Adelstitel kaufte. Ihr Vater wollte nichts von ihrer spirituel­ len Begeisterung wissen. Teresa wuchs in einem Elternhaus auf, in dem die Erinne­ rung an eine Bekehrung unter Zwang

noch lebendig war. Hat sie gerade deshalb ihre Gottesliebe übersteigert? Wer in einen Orden eintritt, den in­ spiriert die Gestalt der Gründerin. Tere­sa wollte ein in erstarrten Riten praktiziertes Klosterleben erneuern, den Glauben zu ei­ner ganz persönlichen, intimen Über­ zeugung formen. Blanche de la Force, die Hauptfigur in Poulencs Oper Dialogues des Carmélites, sucht nach einer trauma­ tischen Erfahrung mit einem aggressiven Mob Zuflucht in einem Kloster der Kar­ me­litinnen von Compiègne. Sie tritt uns als ein Mädchen entgegen, das mit Schuld­ ­gefühlen ringt, weil seine Mutter nach der Geburt starb. Blanche ist ohne Mutter auf­­gewachsen und auf der Suche nach Halt. Wie wir heute wissen, brauchen kleine Kinder ein einfühlendes Gegenüber, das sie darin unterstützt, ihre Emotionen zu akzeptieren und sich an ihnen zu orien­ tieren. Ältere Kinder brauchen eine Spiel­ gruppe, die ihnen die Möglichkeit gibt, sich zu erproben und Selbstvertrauen zu gewinnen. Die Möglichkeiten dazu waren im 18. Jahrhundert für Frauen allgemein nicht sonderlich gut, für eine mutterlos

aufgewachsene Tochter aus adeliger Fa­ milie in wirren Zeiten jedenfalls denkbar schlecht. Den Karmeliterinnen von Compièg­ ­ne hatten die Revolutionäre verordnet, Gelübde und Gemeinschaft zu verlassen. Widerstand gegen diese Anordnung galt als Hochverrat. Es stand den frommen Frauen frei, das Leben normaler Bürgerin­ nen zu führen. Sie aber wurden von ihrer Novizenmeisterin bedrängt, ihr Leben in der Gemeinschaft fortzusetzen und die Hinrichtung in Kauf zu nehmen. Die Geschichte gehorcht nicht dem Bonmot von Marx, dass sie als Tragödie beginnt und sich als Farce wiederholt. Die Wiederholung kann durchaus tragischer werden. Was geschieht mit Menschen, die nicht in die Glaubenswelt einer neuen Macht passen? Der Vater der heiligen Te­ resa von Avila überlebte, weil er sich, als Jude geboren, taufen liess. So hätten auch die Karmeliterinnen von Compiègne davon­kommen können. Die Dichter und Komponisten, die den Stoff im 20. Jahrhundert neu beleb­ ten, mussten sich mit einer Gnadenlosig­ keit auseinandersetzen, die jede Überheb­ lichkeit hinsichtlich eines moralischen Fortschritts der Menschheit verbietet. In der rassistischen Ideologie Hitlers wurde die Wahl, Überzeugungen zu opfern, den Verfolgten nicht mehr angeboten.

Illustration: Anita Allemann

aus Francis Poulencs Oper «Dialogues des Carmélites» Von Wolfgang Schmidbauer


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