MAG 93
Louise Alder singt Susanna
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Editorial
Das Phänomen Mozart Verehrtes Publikum, am 19. Juni hat Mozarts Oper Le nozze di Figaro am Opernhaus Premiere, eines der brillantesten Werke der Opernliteratur, wenn nicht der gesamten Kunstgeschichte. Und es geht einem in den Proben wie ganz oft bei Mozart: Man ist – spätestens, wenn sich die Ereignisse im berühmten Finale des zweiten Akts überschlagen – nur noch sprachlos darüber, wie der Komponist das alles schaffen konnte: Aus wieviel überflies senden Quellen in seinem Kopf er schöpfte, wie er seine hakenschlagende theatralische Fantasie in jeder Szene hochpräzise auf den Punkt gezirkelt und seinen Figuren gleichzeitig eine berührende Seelen- und Empfindungstiefe eingehaucht hat. Wie ist so etwas möglich? Man kriegt das bei aller Stückkenntnis nie wirklich zu fassen. Das Phänomen Mozart. Er ist immer schon weg und mit wehenden Rockschössen um die Ecke, will man sich seiner vergewissern. Zu schnell ist sein Lebens-, Arbeits- und Denktempo. Der Librettist Lorenzo Da Ponte behauptete, Mozart habe den Figaro innerhalb von nur sechs Wochen geschrieben. Das erscheint angesichts der Länge und der Dichte der Komposition kaum glaubhaft. Womöglich hat Da Ponte übertrieben. Aber was Mozart von Oktober 1785 bis April 1786, als er an der Oper arbeitete, nebenbei noch alles erledigte, sprengt jedes Vorstellungsvermögen: Drei Klavierkonzerte hat er pa rallel zum Figaro geschrieben, dazu die Komödie mit Musik Der Schauspieldirektor, ausserdem die Maurerische Trauermusik und weitere Kammermusikwerke. Er trat als gefeierter Dirigent und Pianist in Konzerten auf, besuchte regelmässig seine Frei maurerloge, unterrichtete, hatte Logiergäste in seiner Wohnung und war entspannt genug, bei einem Faschingsball verkleidet als indischer Philosoph aufzutreten und Pamphlete in Rätselform gegen die Aristokratie zu verteilen. Mozart hatte das Kom ponierte immer schon fertig im Kopf, wenn er zu den Notenblättern griff, und brachte es dann in rasender Geschwindigkeit zu Papier. Mit normalem Verstand ist dieser Produktivitäts-Aberwitz nicht nachvollziehbar, aber zum Glück hat er sich in Le nozze di Figaro niedergeschlagen. Die Oper lebt von genau dem Tempo, der Lust an der Gleichzeitigkeit, den Überraschungen, Zufällen und Volten des Lebens, ohne die Mozart sich gelangweilt hätte. Die turbulente Hand lung bringt seine Figuren – allen voran den Grafen Almaviva – in den Zustand der Überforderung, den es für ihn selbst offenbar nie gab. Deshalb ist Le nozze di Figaro eines der sprechendsten Beispiele für Mozarts Genie. Und Opernhäuser sind nicht zuletzt genau dafür da, solche Meisterwerke immer wieder zur Diskussion zu stellen. Das Team unserer Zürcher Neuproduktion besteht aus dem italienischen, in der historisch informierten Aufführungspraxis verwurzelten Dirigenten Stefano Monta nari, dem deutschen Regisseur Jan Philipp Gloger und einem jungen, temperament sprühenden Solist:innen-Ensemble, das viele neue Namen für Zürich aufbietet. Seien Sie dabei, wenn der Vorhang zu Mozarts tollem Tag hochgeht. Claus Spahn
MAG 93 / Juni 2022 Unser Titelbild zeigt Louise Alder, die in «Le nozze di Figaro» die Susanna singt (Foto Florian Kalotay)
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Inhalt
18 Handelt Mozarts Oper «Le nozze di Figaro» von toxischer Männlichkeit? Ein Gespräch mit der Diskriminierungsexpertin Inés Mateos 24 Jan Philipp Gloger inszeniert einen neuen «Figaro» und gibt Auskunft über sein Konzept 38 Auf der Studiobühne präsentieren Junge Choreograf:innen ihre Kreationen 50 Das Opernhaus Jung erarbeitet unter anderem mit einer Integrationsklasse eine Choreografie. Ein Gespräch mit der Klassenlehrerin Kathrin Lutterbeck Opernhaus aktuell – 6, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 17, Volker Hagedorn trifft … – 34, Der Fragebogen – 37, Die geniale Stelle – 46
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Der besondere Blick von Monika Rittershaus
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. 04.2022.12:15 + GENERALPROBE + DAS RHEINGOLD +
Opernhaus aktuell
Lunchkonzert Galakonzert Internationales Opernstudio
Der hochtalentierte Sängernachwuchs präsentiert sich im Gala-Konzert Ob in Premieren wie in Wagners Rheingold, in Rossinis L’italiana in Algeri, in Poulencs Dialogues des Carmélites oder in zahlreichen Wiederaufnahmen – die Mitglieder des Internationalen Opernstudios beeindruckten das Publikum in dieser Saison bereits in zahlreichen kleineren und grösseren Partien auf der Bühne des Opernhauses. Nun gehört der Abend des 4. Juli ganz dem Sängernachwuchs: Die jungen Talente präsentieren sich mit bekannten und unbekannteren Arien oder Ensembles des Opernrepertoires, mit Offenbach, Donizetti, Massenet, J. Strauss, Kurt Weill u.a. Begleitet werden sie vom Zürcher Kammerorchester unter Adrian Kelly, dem Leiter des Internationalen Opernstudios; die szenische Einstudierung übernimmt Natascha Ursuliak. Montag, 4 Jul, 19 Uhr, Opernhaus Zürich
Lunchkonzert Raritäten Das letzte Kammermusikkonzert in dieser Saison ist gross besetzt: Johann Nepomuk Hummels Septett op. 74 für Flöte, Oboe, Horn, Viola, Violoncello, Kontrabass und Klavier sowie Milij Balakirews Klavier-Oktett op. 3 stehen dann auf dem Programm. Hummel, einst pianistisches Wunderkind, Schüler Mozarts und Haydns und späterer Hofkapellmeister in Esterháza, Stuttgart und Weimar, schrieb ein umfangreiches Kammermusikwerk. Sein Septett ent stand um 1816 und war (in der Fassung als Quintett) auch ein Vorbild für Schuberts berühmtes Forellenquintett. Milij Balakirews Oktett entstand rund 50 Jahre später. Der Komponist, der auch ein hervorragender Pianist war (der virtuose Klavierpart im Oktett überrascht daher kaum), entstammt dem Kreis des sogenannten «mächtigen Häufleins», dem auch Alexander Boro din, Nikolai Rimski-Korsakow und Modest Mussorgsky angehörten. Montag, 27 Jun, 12 Uhr, Spiegelsaal
Liederabend
Liederabend Bryn Terfel Das Timbre seiner Stimme ist unver wechselbar, seine Bühnenpräsenz gera dezu legendär: Der walisische Bass bariton Bryn Terfel ist auf den wichtigs ten Opernbühnen der Welt zuhause. In Zürich war er unter anderem als Holländer und Sweeney Todd zu hören. Seine Zürcher Fans haben nun die Gelegenheit, ihn ab 3. Juli ein weiteres Mal in einer seiner Paraderollen zu er leben: als Sir John Falstaff, die beleibte Titelfigur von Giuseppe Verdis letzter Oper.
Ausserdem kann man sich zuvor schon auf einen Liederabend mit dem sym pathischen Sänger freuen. Auf dem Pro gramm steht unter anderem Let Us Garlands Bring von Gerald Finzi, ein Liederzyklus, der 1942 uraufgeführt wurde und ganz auf Texten aus Stücken William Shakespeares basiert. Daneben singt Bryn Terfel walisische Folksongs aus seiner Heimat im Wechsel mit Liedern von Ivor Novello, einem walisi schen Entertainer, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst als Filmstar, später dann als Musical-Komponist Karriere machte. Nach ausgewählten Schubert-Liedern erklingen im zweiten Block Kompositionen, die vom Glanz der Sterne inspiriert wurden, wie zum Beispiel «Nuit d’étoiles» von Claude Debussy und «O du mein holder Abend stern» aus Richard Wagners Tannhäuser. Begleitet wird Bryn Terfel von der Pianistin Annabel Thwaite und der Harfenistin Hannah Stone. Mittwoch, 15 Jun, 19.30 Uhr, Opernhaus
Jung/imprO-Opera
Wagner für Kinder Unsere beliebte imprO-Opera für Kinder ab 7 Jahren stellt diesmal die musiktheatrale Welt Richard Wagners vor. Mit Hilfe des Erzählers Christoph Betulius erwürfeln sich die Kinder die Opernfiguren und ihre Geschichte gleich selbst. Musiker:innen und Sänger:innen bringen sie dabei mit charakteristischen Stellen aus Wagners Tannhäuser oder der Walküre in Be rührung – und sorgen so sicher auch bei den Erwachsenen für den einen oder anderen Ohrwurm! Samstag, 11 Jun / Sonntag, 12 Jun, jeweils 15.30 Uhr, Treffpunkt Billettkasse
Illustrationen: Anita Allemann, Foto: Paul Leclaire
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Opernhaus aktuell
Ein grosses Hörabenteuer Das faszinierende Musiktheater «Lunea» von Heinz Holliger, am Opernhaus Zürich uraufgeführt, ist jetzt als Live-Mitschnitt auf CD erschienen
Der Bariton Christian Gerhaher als Lenau in der Zürcher Uraufführung
CD «Lunea» Heinz Holliger: «Lunea». Lenau-Szenen in 23 Lebensblättern. Libretto: Händl Klaus Christian Gerhaher, Bariton Juliane Banse, Sopran Ivan Ludlow, Bariton Sarah Maria Sun, Sopran Annette Schönmüller, Mezzosopran Philharmonia Zürich Basler Madrigalisten Heinz Holliger, Dirigent ECM New Series 2622/23; 485 6322
Der Dichter Nikolaus Lenau gehört zu den faszinierendsten Künstlern der Romantik: als Lyriker, Dramatiker, Politiker, Geiger und Gitarrist eine mul tiple Begabung, verfiel er im Alter von 42 Jahren dem Wahnsinn und starb geistig zerrüttet in einer Nervenheilan stalt. Der Schweizer Komponist Heinz Holliger war von dieser rastlosen Per sönlichkeit und deren verrückt dichteri scher Fantasie fasziniert und widmete ihr seine zweite grosse Oper, die als Auftragswerk des Opernhauses Zürich im März 2018 uraufgeführt wurde. Von der Zeitschrift «Opernwelt» zur Uraufführung des Jahres gewählt, ist Heinz Holligers Lunea nun auch auf CD in einem Live-Mitschnitt erhältlich. Die Aufnahme erhielt eine breite Reso nanz in den Feuilletons. Dazu The Guardian: «Holliger’s opera is superbly presented in this live recording, with Gerhaher leading an impressive cast.» Und der Deutschlandfunk spricht von
einer «klanglich faszinierenden Produk tion». Die FAZ hebt den künstlerischen Mehrwert hervor, die eine CD-Auf nahme gerade im Falle von Holligers filigraner Partitur leisten kann: «Die kompositorische Dichte macht eine sze nische Realisierung im Grunde genom men überflüssig, denn das Drama ent faltet sich rein in der Musik. Die CD erweist sich damit als passendes Medium, im Gegensatz zu manch anderen Büh nenwerken vor allem der Moderne, die stärker von der Szene her konzipiert sind und erst auf Bildtonträger richtig zur Geltung kommen.» «Lenau-Szenen in 23 Lebensblät tern» nennt Holliger sein Musiktheater, das im Kopf des nervlich angeschlage nen Künstlers spielt. Das Libretto von Händl Klaus setzt sich aus privaten Notizen, Aphorismen, Briefen und Ge dichtversen Lenaus zusammen, und auch Holliger verfuhr bei seinem Kompo nieren nach diesem Zettelkastenprinzip: Für jeden Satz, jedes Wort suchte er eine spezifische kompositorische Lösung. Dabei verwendet er auch das aus 34 Instrumenten bestehende Orchester wie einen Setzkasten – es erklingt nie als Ganzes, sondern ist immer im kammer musikalischen Bereich zu hören. Auslöser des Stücks war für Holliger der Nervenschlag Lenaus, «der Riss durch seinen Kopf», wie es der Dichter formu lierte. Von diesem Riss ausgehend, nahm Holliger den Weg Lenaus bis zu dessen Verdämmern (und gleichzeitig zurückspulend in dessen Jugend) in den Blick. «Holliger erfand disparate, harsche, raue Klänge, Schlaglichter auf eine Existenz, die mit der Welt nicht klarkommt. Er setzt auf Wirkung, die ist enorm. Eine vielgestaltige Klangwelt, mittendrin die aberwitzig farbenreiche Figur Lenaus, gesungen von Christian Gerhaher.» (Süddeutsche Zeitung)
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Drei Fragen an Andreas Homoki
Ein «Figaro» muss Spass machen Herr Homoki, die nächste Premiere ist Le nozze di Figaro. Welche Bedeu tung haben die drei Da-Ponte-Opern von Mozart für das Opernhaus Zürich? Sie sind unumschränkter Kernbestand der musikalischen Weltliteratur und natürlich auch Ikonen in unserem Repertoire. Die muss man einfach neu gemacht haben, wenn man als Intendant das Programm an einem Haus über einen Zeitraum von 13 Jahren künstlerisch gestalten darf. Wir haben ja mit Don Giovanni die erste Da-Ponte-Oper gleich in unserer Eröffnungs-Spielzeit präsentiert. Die Inszenierung von Sebastian Baumgarten galt – zumindest für das damalige Profil des Opernhauses – als ästhetische Grenzüberschreitung. Ich hatte an ihr aber von Anfang an grosse Freude, und die Aufregung von damals hat sich inzwischen in eine freundliche, offene, humorbereite Rezeption verwandelt. Così fan tutte in der Regie von Kirill Serebrennikov wiederum hatte durch die politischen Umstände, die die Produktion begleiteten, eine grosse internationale Aufmerksamkeit, war aber unabhängig davon eine pointiert heutige und genau gearbeitete Inszenierung, die sich sehr gut in unser Repertoire eingefügt hat. Und jetzt kommt Le nozze di Figaro in der Regie von Jan Philipp Gloger, bei dem ich mir sicher bin, dass er unsere Stück-Trilogie erfolgreich abschliessen wird. Er hat ja insbesondere mit seiner Vivaldi-Ausgrabung La verità in cimento und Rossinis Il turco in Italia bewiesen, dass er genau der Richtige ist für variantenreiche, temporeiche Stücke, bei denen ganz viel von einer präzisen Figurengestaltung abhängt. Was braucht ein Figaro, um zu ge lingen? Er muss lustig sein. Wenn er das nicht ist, hat die Inszenierung schon verloren. Und die Regie muss sich auf die anspruchsvollen, turbulent komödien-
haften Situationen einlassen. Hier versteckt sich jemand, läuft Gefahr, entdeckt zu werden, wird dort gesehen und schon schlägt die Szene um und wirft ein neues Dilemma auf – so etwas muss man bedienen, sonst macht ein Figaro keinen Spass. Man hat als Regisseur zwar weniger Freiheit als in anderen Werken, die braucht man aber auch nicht, weil Mozart das Stück einfach genial und traumwandlerisch sicher gestaltet hat. Es gibt darin nichts, bei dem man denkt, das war vielleicht 1786 lustig, ist es aber heute nicht mehr. Nein, diese Oper ist universell und bis heute super lebendig. Was mich persönlich immer so für den Figaro einnimmt, ist die Liebe, die Empathie, die Menschenfreund lichkeit, von der die Musik durchströmt ist. Die emotionale Wärme, die darin zum Ausdruck kommt, ist etwas ganz Besonderes. Don Giovanni und Così sind in ihrer Grundtemperatur viel kälter und zynischer. Wie wichtig ist die Besetzung für einen guten Figaro? Sehr wichtig natürlich. Der Star in diesem Stück ist nicht ein einzelner Sänger oder eine Sängerin, sondern das En semble. Bei Mozart reicht es nicht, eine berühmte Primadonna zu engagieren, und der Rest passt dann schon irgendwie. Das Ensemble muss genau auf einander abgestimmt sein und in Beziehung zueinander funktionieren, das ist die hohe Schule einer guten Mozart- Besetzung. Und alle müssen grossartige Spieler sein. Deshalb kann gerade ein Figaro auch die Plattform für begabte, temperamentvolle, neue Sängerinnen und Sänger sein. Bei uns sind mit Louise Alder als Susanna, Morgan Pearse als Figaro, Daniel Okulitch als Graf und Lea Desandre als Cherubino gleich vier Hauptrollen mit für Zürich neuen Namen besetzt. Nur Anita Hartig als Gräfin ist bei uns im Haus schon bekannt und geschätzt. Das ist genau richtig. Ich freue mich auf dieses Ensemble.
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10 Zum Krieg in der Ukraine
Proben trotz Bomben Das Opernhaus von Odessa gehört zu den schönsten der Welt. Es wurde von den gleichen Architekten wie das Opernhaus Zürich entworfen und wirkt in seiner äusseren Erscheinung fast wie eine Partnerbühne. Wir haben bei der Direktorin des Theaters, Nadezhda Babich, nachgefragt, wie es den Künstler:innen geht
Odessa ist eine kulturell vielfältige, lebendige Stadt mit mehreren Universi täten und vielen Theatern, darunter auch das berühmte Opernhaus, das – ebenso wie das Opernhaus Zürich – von den Architekten Fellner & Helmer entworfen und 1887 eröffnet wurde. Nun wurde die Stadt seit Beginn des russischen Angriffskriegs bereits mehrmals bombardiert. Können Sie die ak tuelle Situation in der Stadt beschreiben? Odessa leidet natürlich unter der kriegerischen Aktion der Russischen Föderation, so wie viele andere Städte auch. Obwohl die Frontlinie ganz in unserer Nähe verläuft, ist es in Odessa vergleichsweise ruhig, denn die ukrainischen Streitkräfte halten in heldenhafter Art und Weise dem Druck der Besatzer in Mykolajiw stand. Die Front verläuft im Grunde dort, also etwa 100 Kilometer östlich von uns. Man befürchtet auch einen Angriff aus Transnistrien; das wäre furchtbar, denn es würde bedeuten, dass Odessa von zwei Seiten in die Zange genommen wird. In der letzten Zeit sind die Angriffe auf Odessa zahlreicher geworden; auch Wohnhäuser und Einkaufszentren wurden bombardiert. Dabei sterben Zivilisten, kleine Kinder, alte Menschen. Der Flughafen wurde schwer getroffen, die Infrastruktur steht unter Beschuss. Alle unsere Strände sind seit den ersten Tagen des Überfalls vermint. Aber das Leben in Odessa geht trotzdem weiter. Ist die Versorgung der Zivilbevölkerung gesichert? Seit ungefähr einem Monat gibt es in Odessa wie auch in den meisten anderen Orten der Ukraine Probleme mit dem Treibstoff. Die Schlangen an den Tankstellen sind manchmal mehrere Kilometer lang, man wartet über fünf Stunden auf Benzin. Die Angriffe der Russischen Föderation haben den Grossteil der Tanklager zerstört. Dieser Treibstoffmangel wirkt sich auf den öffentlichen Verkehr aus – die privaten Unternehmen waren gezwungen, die Zahl der Busse in der Stadt auf ein Minimum zu reduzieren. Lebensmittel und Medikamente haben wir genug. Alles Lebensnotwendige kann man kaufen.
Foto: Getty Images / Scott Peterson
Wie sieht momentan Ihr Alltag aus? Seit dem 17. Mai haben wir im Theater unsere künstlerische Arbeit wieder aufgenommen, soweit das in Kriegszeiten möglich ist. Mindestens einmal täglich gibt es Luftalarm, meistens in der Nacht. Das Theater besitzt einen zertifizierten Schutzraum mit einem Haupt- und zwei Nebeneingängen und ist auf einige Tausend Menschen ausgelegt. Der Schutzraum ist ausgestattet mit Bänken, Wasservorräten, Arzneischränken, Taschenlampen und WLAN. Das Opernhaus in Odessa ist ein Wahrzeichen der Stadt. Befürchten Sie, dass dieses Wahrzeichen direkt angegriffen werden könnte? Ja, unser Opernhaus gilt tatsächlich als eines der schönsten Theater der Welt und befindet sich im Herzen der Stadt. Nicht umsonst hat das Magazin «Forbes» das Theater in die Liste der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Osteuropas aufgenommen. Insgesamt gibt es etwa 200 Gebäude und Denkmäler in der Stadt, die zu unserem kulturellen Erbe gehören, 30 davon haben ganz offiziell nationale Bedeutung. Die Stadt tut alles, um nicht nur die Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner zu gewährleisten, sondern auch die Architekturdenkmäler der Stadt zu schützen. Die einzige Chance, sie für kommende Generationen zu bewahren, wäre, wenn das Zentrum von Odessa UNESCO-Weltkulturerbe würde. Die Stadt hat sich gleich in den ersten Tagen des Kriegs sehr darum bemüht, und diese Bemühungen werden unterstützt vom Kultusminister Italiens, Dario Franceschini. Wie ist die Stimmung zurzeit im Theater? Die Stimmung ist sehr kreativ! Alle sind an ihre Arbeit zurückgekehrt, nachdem das Opernhaus zu Beginn des Kriegs ja zunächst für einige Zeit geschlossen war. Im Ballettsaal findet das tägliche Training statt, aus den Musikzimmern erklingen die
12 Zum Krieg in der Ukraine
Stimmen der Solistinnen und Solisten, der Chor und das Orchester studieren neue Stücke ein. Im Moment laufen die Proben zur Oper Katerina des ukrainischen Komponisten Alexander Rodin nach Motiven aus Kobzar von Taras Schewtschenko. Auch unsere Werkstätten arbeiten wieder mit voller Kraft: Sie nähen Kostüme und Schuhe, bauen Bühnenbilder, tüfteln an Requisiten. Sie meinen, es herrscht also fast so etwas wie Theateralltag? Ja, vom täglichen Bombenalarm abgesehen. Im Moment arbeiten wir auch an einem Ballett für Kinder von Juri Schewtschenko. Und natürlich proben wir die Stücke aus unserem Repertoire, darunter einige ukrainische Klassiker, aber auch Verdis Nabucco und Trovatore und Puccinis Turandot. Seit dem ersten Kriegstag organisiert unser Theater zudem an verschiedenen Orten der Stadt Benefizkonzerte zur Unterstützung der Streitkräfte, an denen Solistinnen und Solisten, Mitglieder des Chores und das Orchester in kleiner Besetzung teilnehmen. Darüber hinaus sind unsere Künstlerinnen und Künstler auch an Konzerten für Militärangehörige beteiligt; solche Konzerte finden als solistische, improvisierte Auftritte bei den Truppen statt, die unser Land verteidigen. In diesen Tagen machen wir die Aufnah men für ein Online-Konzert zum Europatag. Unter der Leitung der Dirigenten Wjatscheslaw Tschernucho-Wolitscha – unser Chefdirigent – und Igor Tschernetskij spielen wir Highlights aus bekannten Opern und Balletten ukrainischer und europäischer Komponisten. Aber wir sind auch ausserhalb der Ukraine aktiv: Mitglieder unseres Orchesters haben in 20 verschiedenen Städten Deutschlands Konzerte gegeben, der Erlös kam Kindern in der Ukraine zugute, die besonders unter den Folgen des Kriegs leiden. Sie haben von Konzerten für Militärangehörige gesprochen; wo finden solche Konzerte statt? Nur in Sälen, die über zertifizierte Schutzräume verfügen. Die Sicherheit steht an erster Stelle. Seit 2014 haben wir auch in Krankenhäusern regelmässig Konzerte veranstaltet, in denen Opfer der Antiterror-Operation – also des Kampfes gegen die Invasion der Russischen Föderation im Donbass – behandelt wurden. Heute ist das leider nicht mehr möglich, denn die Krankenhäuser sind überfüllt von Verletzten. Ärzte und Pflegende arbeiten unter prekären Umständen, um Leben zu retten. Sind die Kollektive in der Oper überhaupt noch voll besetzt? Müssen denn nicht alle Ukrainer unter 60 Jahren kämpfen? Wir sind der Ansicht: Kämpfen sollen Menschen, die dazu in der Lage sind, also ausgebildete Soldaten sowie Männer und Frauen, die bereit sind, sich ausbilden zu lassen. Das Ministerium für Kultur und Information hat beantragt, professionelle Tänzer, Sänger und Musiker vom Wehrdienst zu befreien; sie können an der Kultur front mehr bewirken. Aber natürlich gibt es bei uns im Opernhaus auch Mitarbeiter, die sich freiwillig für die Landesverteidigung gemeldet haben und nun eine entsprechende Ausbildung absolvieren. Sind auch Mitglieder des Opernhauses auf der Flucht? Von Flucht würde ich nicht sprechen. Einige Frauen mit Kindern wurden evakuiert. Und einige Künstler, die der Krieg während eines Gastspiels überrascht hat, sind im Ausland geblieben; sie unterstützen die Ukraine von dort aus finanziell. Kann man denn überhaupt Musik machen und Opern proben, wenn man damit rechnen muss, dass die Stadt immer wieder bombardiert wird? Wir haben keine andere Möglichkeit. Für die Künstlerinnen und Künstler ist es sehr wichtig, dass sie proben können, damit sie in Form bleiben. Und wann immer die Sirenen ertönen, werden die Proben abgebrochen, und alle gehen so schnell wie möglich in den Luftschutzkeller.
Was kann die Kunst Ihrer Meinung nach den Menschen in dieser Zeit geben? Als Winston Churchill während des Zweiten Weltkriegs von einem seiner Minister gefragt wurde, ob man nicht die Rüstungsausgaben auf Kosten der Ausgaben für die Kultur erhöhen sollte, hat Winston Churchill geantwortet: «Und wofür kämpfen wir dann?» Wir hier in Odessa kämpfen für unseren Staat, für unsere Kunst und unsere Kultur. Denn die Kultur, das ist unser Staat, unser Volk. Deshalb ist die Verteidigung der ukrainischen Kultur die Front, an der wir kämpfen müssen. Diese Front ist nicht weniger wichtig. Und wir haben viel zu verteidigen. Die Kunst bietet uns in dieser schwierigen Zeit die Möglichkeit, uns als Gemeinschaft zu fühlen, die Liebe zu unserem Land miteinander zu teilen; sie lässt uns verstehen, wer wir sind und was wir wollen, sie ist ein wichtiger Teil unserer Identität. Die Kunst trägt dazu bei, unsere Menschlichkeit weiterzuentwickeln, sie nährt unsere Seelen und hilft uns, wenigstens vorübergehend all diese Schrecken zu vergessen. Über Odessa hört man, es sei eine Stadt, in der weit über 100 verschiedene Nationen immer friedlich zusammengelebt haben. Ist das so? Ja, in der Region um Odessa leben tatsächlich mehr als 130 verschiedene Nationen und Ethnien zusammen. Hier hat es nie chauvinistische Tendenzen gegeben. Man spürte immer sehr viel Liebe zu dem Land, das diesen Menschen aus verschie denen Nationen eine Heimat gegeben hat. Wir haben diese kulturelle Vielfalt immer sehr genossen. Und aus ihr sind viele talentierte Menschen hervorgegangen, die weltweit auf den Opernbühnen glänzen, deren Werke internationale Galerien schmücken oder deren Errungenschaften der Welt wissenschaftlichen Fortschritt gebracht haben. Wir schätzen die Kultur jeden Volkes und sind stolz auf das, was der Schmelztiegel Odessa hervorgebracht hat.
Foto: Alamy Stock Foto
Das Gespräch führte Beate Breidenbach
14 Zum Krieg in der Ukraine
Die Utopie von einem anderen Russland Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind knapp vier Millionen Russinnen und Russen aus Russland ausgewandert – darunter auch die russische Theaterkritikerin Marina Davydova. Hier denkt sie darüber nach, wie die Zukunft Russlands nach dem Ende des Krieges aussehen könnte
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espräche unter russischen Emigrantinnen und Emigranten werden zurzeit von zwei Themen dominiert: Zum einen von der Frage nach der Kollektiv schuld der Russinnen und Russen gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrai nern, zum anderen von der Frage nach dem Schicksal Russlands. In Bezug auf die zweite Frage herrscht unter meinen Landsleuten, die Russland verlassen haben, eine unglaubliche Verzagtheit. Praktisch alle, mit denen ich während der letzten drei Monate gesprochen habe, sagten mir, dass sie für Russland keine Zu kunft sehen. Für die Ukraine gibt es – ungeachtet der Tragödie, die sie zurzeit durch leben muss – auf lange Sicht eine optimistische Perspektive; für Russland jedoch kann es keinen guten Ausgang geben, egal, wie der Krieg enden wird. Was die Zukunft Russlands angeht, hatten alle, mit denen ich in letzter Zeit sprach, sofort ihr persön liches «worst case scenario» parat. Irgendwann einmal habe ich mich gefragt: Was ist eigentlich jetzt Russland? Ist es das Territorium in den bekannten politischen Grenzen, das bestimmt wird von den kriminellen russischen Machthabern, ihren wütenden Pro pagandisten und den von dieser Propaganda an der Nase herumgeführten Millionen meiner Landsleute? Was ist mit den anderen Millionen von Menschen, die die Russi sche Föderation mit dem Beginn des Krieges verlassen haben? Nach letzten Schätzun gen sind das etwa 3,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger, das entspricht ungefähr der Bevölkerung eines kleinen europäischen Landes. Sie sind doch auch irgendwie Russland. Und viele von ihnen sind ausserordentlich talentiert, unternehmerisch, kreativ. Im Grunde erlebt Russland gerade wieder einmal eine «kulturelle Revolution», initiiert durch die Regierung, die einen Austausch der intellektuellen Elite herbeiführt. Dieser Austausch begann schon mit der Annexion der Krim 2014, der Krieg hat nur dazu beigetragen, ihn zum Abschluss zu bringen. Die erste «kulturelle Revolution» erlebte Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berühmt geworden ist damals das «Philosophenschiff», eine Sammelbezeichnung für mehrere Passagierschiffe, mit denen 1922 oppositionelle russische Intellektuelle aus der Sowjetunion in die Verbannung geschickt wurden. Bemerkenswert, dass es die sowjetische Macht selbst war, die im Rahmen ihres Kampfes mit den Andersdenkenden die Fahrkarten für diese Schiffe kaufte; in der Folge ersetzte sie die ausgereisten Kul turschaffenden und Wissenschaftler:innen mit deutlich weniger herausragenden Figu ren, die der vorherrschenden Ideologie näherstanden. Wie überhaupt alle Emigrations wellen (in den 1920er, 1970er und 1990er Jahren) immer die besonders gebildeten und talentierten meiner Landsleute aus der UdSSR forttrugen. Mit anderen Worten, für den jetzigen Exodus der Intellektuellen und die jetzige Kulturrevolution gab es offensichtliche Prototypen. Doch in dieser altbekannten Entwicklung unserer Geschichte gibt es eine neue Wendung. Niemals zuvor standen Emigrantinnen und Emigranten die kommunika tiven Möglichkeiten zur Verfügung, die es heute gibt. Früher haben die russischen Intellektuellen – nachdem sie sich in Städten wie Paris, Istanbul, Belgrad oder Berlin
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niedergelassen hatten – sehr schnell den Kontakt zu ihren Landsleuten in Russland, aber auch in anderen Ländern verloren. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien und der neuen Version des Internets WEB 3 ergab sich für Millionen von Menschen, die ihr Land verlassen haben, die Chance, als einheitlicher geistiger und kultureller Raum weiter zu existieren. Diese Chance, so scheint es, haben wir nun zum allerersten Mal. Und ich beobachte, wie sich innerhalb weniger Monate in den Weiten des Inter nets ein «anderes Russland» herausbildete. Wie hier und da Initiativen und Startups wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schiessen. Diesen Initiativen können sich Emigrantinnen und Emigranten aus allen Teilen der Welt anschliessen. Zum Beispiel die Relocation School, die es ermöglicht, sich im neuen Leben zurechtzufinden, ohne die Verbindung zur Heimat zu verlieren: Diese virtuelle Schule bietet Kurse in litaui scher, georgischer, türkischer, deutscher, armenischer und anderen Sprachen an und gleichzeitig Kurse in russischer Geschichte, deren Geschichtsbild nicht von der «ru schistischen» (ein kürzlich aufgetauchter Terminus, der sich auf den russischen Faschis mus bezieht) Ideologie bestimmt wird. Davon abgesehen, haben sich russische IT-Spezialisten (die neue Welle der Emi gration hat die grosse Mehrheit solcher Spezialisten aus Russland fortgeschwemmt) mit Regisseuren und Künstlerinnen zusammengetan, um in den Weiten des Internets ihre utopische Version einer Regierung zu begründen, mit elektronischen Pässen, einer eigenen Konstitution und eigenen Gesetzen, ähnlich der Città del Sole, wie sie der italienische Philosoph Tommaso Campanella um 1600 beschrieben hat. Die Arbeit an diesem Projekt geht voran. Gerade jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, wird im Chat einer sehr initiativen Gruppe darüber nachgedacht, nach welchen Regeln und Kriterien jemand Bürgerin oder Bürger des neugegründeten Staates werden kann. Klar ist: Entscheidend wird nicht die Nationalität der Interessierten sein, sondern die humanitären Werte, zu denen sie sich bekennen. Dieser virtuelle Raum eines anderen Russland existiert nicht nur ausserhalb der Grenzen der Russischen Föderation, sondern ausserhalb jeglicher nationaler Grenzen (ich nenne dieses Phänomen «Russia in the cloud»). Die Landkarte dieses utopischen Landes stelle ich mir vor wie einen Archipel, dessen Inseln über alle Teile der Welt verteilt sind, darunter auch die Russische Föderation – schliesslich existieren auch hier immer noch Orte, an denen interessante Kunst, politischer Aktivismus, humanitäre Initiativen lebendig sind, die trotz der destruktiven Bestrebungen des «ruschistischen» Leviathans existieren. Und all diese Inseln sind miteinander verbunden. Manchmal denke ich, vielleicht ist genau das ja die Zukunft: Menschen, die nicht in vertikal ausgerichteten, national geprägten Gesellschaften miteinander verbunden sind, sondern als horizontal organisierte Gemeinschaft in den Weiten des Worldwide Web. In diesem Fall hätte das «andere Russland» eine bestimmte Mission – nämlich die technischen und ideellen Grundlagen für solche Gemeinschaften zu entwickeln. Wie auch immer – es hängt nur von uns ab, ob das andere Russland ein wichti ger Akteur des politischen und humanitären Lebens wird. Und ob es der Welt etwas anderes als Krieg und die archaische Ideologie des «Ruschismus» anbieten kann. Aus dem Russischen von Beate Breidenbach
Marina Davydova geboren in Baku, ist Festivalleiterin und Theatermacherin sowie Theaterkritikerin und -historikerin. 2016 war Marina Davydova Direktorin des Schauspielprogramms der Wiener Festwochen.
Jetzt auch online Die Werkeinführungen der Dramaturgie sind auch online und mobil auf jedem Smartphone abrufbar.
Wie machen Sie das, Herr Bogatu? 17
Illustration: Anita Allemann
Dornröschens Albtraum Dies ist sie wieder – meine letzte Kolumne der Spielzeit, in der ich darüber berichte, wie man es eher nicht machen sollte. Zum jetzigen Zeitpunkt weiss ich noch nicht, ob wir unseren offensichtlichsten Fail dieser Spielzeit bald vor zehntausend Menschen wiederholen werden. Doch von Anfang an: Unsere Ballettvorstellungen Dornröschen liefen technisch alles andere als optimal. Beim Bühnenbild handelt es sich um einen grossen und sehr schweren Bau mit hohen Wänden, herrschaftlichen Türen und einem nicht sichtbaren, sehr massiven Stahlunterbau, der alles trägt. Sie müssen sich vorstellen, dass diese riesigen Türen eine sehr grosse Stabilität der Konstruktion erfordern, damit die Flügel immer leichtgängig öffnen und schliessen. Dieser Bau steht auf Rädern, er kann sich zusammen mit den Tänzer:innen drehen, aber auch vor- und zurückfahren. Die Tänzer tanzen mal auf dem festen Bühnen boden, mal im Bühnenbild, die Tänzerinnen wirbeln um den Bau herum, treten durch die Türen und verschwinden wieder. Und der Bau tanzt mit. Dafür sind acht sehr starke Motoren eingebaut, die mit Reibrädern den tonnenschweren Bau leichtfüssig bewegen sollten. Das funktionierte zu Beginn der Proben vor knapp zwei Jahren recht gut – auch wenn unsere Maschinisten schnell feststellten, dass dieser Bau ein gewisses Eigenleben hat und gerne mal nicht ganz dort hinfährt, wo er sollte. Das konnten unsere Steuermänner aber während der Proben gut korrigieren. Doch bei der Premiere beschloss der Bau, die Schlussverwandlung nicht mehr machen zu wollen, und blieb einfach stehen, anstatt nach hinten zu fahren, um die Bühne für die letzte Szene frei zugeben. Das tanzende Ensemble reagierte unglaublich gut und improvisierte den Schluss so, dass es dem Publikum nicht aufgefallen ist. Die nachfolgende Untersuchung des Fehlers ergab, dass uns Räder verkauft worden waren, die einen Herstellungsfehler hatten und bei hoher Belastung blockierten. Neue fehlerfreie Räder waren zu dieser Zeit schwer zu bekommen, so dass wir vor jeder Vorstellung die Räder kontrollierten und beschädigte austauschten. Während der Corona-Zwangspause hatten wir dann Zeit, alle Räder durch neue, fehlerfreie auszutauschen. Um Ostern dieses Jahres herum wurde der Bau wieder aus dem Schlaf erweckt. Die Vorstellungen liefen ganz passabel über die Bühne, doch dann kam Ostermontag und eine Vorstellung, an der der Bau beschloss, die Hauptrolle zu übernehmen: Bei einer Pirouette blockierte eine Seite, was dazu führte, dass aus der Drehung eine Schwenkbewegung wurde und der Bau Richtung Orchestergraben driftete. Die Maschinisten stoppten die Bewegung. Wir mussten die Vorstellung unterbrechen. Unsere Techniker:innen wuchteten den Bau wieder dahin, wo er sein sollte – doch dieser wollte nicht mehr so richtig mitmachen. Ein Desaster. Am Tag danach finden wir die Ursache: Wieder tauchen zerstörte Räder unter dem Bau auf. Wir suchen fieberhaft den Grund und glauben, ihn darin gefunden zu haben, dass beim Aufbau der Vorstellung die schweren Einzelteile bei der Überfahrt vom Lift auf die Bühne über eine Schwelle fahren müssen und die Räder dort manchmal hängenbleiben und einen Seitenschlag bekommen, der sie verbiegt, aber nicht zerstört. Und dass dieses be schädigte Rad dann der Last nicht standhält und den Geist aufgibt. In den letzten Wochen haben unsere Schlosser den ganzen Unterbau abgeändert und konnten dadurch Räder mit doppelt so grosser Tragfähigkeit einbauen. Diese haben auch an der Schwelle weniger Probleme. Morgen wird das letzte Bauteil fertig. Zum Ausprobieren, ob es jetzt funktioniert, fehlt uns die Zeit. Ob es klappt, werden wir ALLE nach der Vorstellung am 11.6. wissen – denn diese übertragen wir live auf den Sechseläutenplatz. Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich
Einen Augenblick nur, dann lass ich dich in Ruhe.
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Susanna: Herr Graf, es gibt da einen Punkt, den ich ansprechen möchte. Graf Almaviva: Sprich nur, meine Liebe , mit dem Recht, das du heute über mich gewinnst. Fordere, was du willst. Verlange. Befiehl.
❤
😏
Susanna:
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Graf Almaviva: Aber Susanna, ich will dich doch glücklich machen. Du weisst genau, wie sehr ich dich liebe.
😈
Susanna: Lassen Sie mich. Ich Unglückliche. Graf Almaviva: Wenn du nur wenige Augenblicke mit mir heute Abend im Garten…
👀
Susanna: ??? Graf Almaviva: Ich würde dich dafür auch bezahlen.
🍆💦🤑😎
😻
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Ich bin hier der Boss, und deshalb musst du mir zur Verfügung stehen Graf Almaviva stellt in Mozarts Oper «Le nozze di Figaro» einer Angestellten nach. Heute wäre das ein schwerer Fall von Machtmissbrauch und toxischer Männlichkeit. Wir haben die Geschichte mit Inés Mateos, einer Beraterin für Diversitätsfragen und Frauengleichstellung, durchgesprochen
Inés Mateos ist Exper tin, Moderatorin und Dozentin zu gesell schaftlichen Fragen rund um Bildung und Diversität. Sie schult Belegschaften in transkultureller Kompetenz und leitet Projekte zu Vielfalt und Gleichstellung, unter anderem am Opernhaus Zürich
Frau Mateos, wir spielen am Opern haus Zürich Mozarts Le nozze di Figaro in einer Interpretation, die nicht historisch, sondern in unserer Gegenwart verortet ist. Ein hand lungstreibendes Motiv der Oper ist der Versuch des Grafen Almaviva, Susanna, die Dienerin seiner Ehefrau, ins Bett zu kriegen. Mit den Augen von heute betrachtet, ist das ein klarer Fall von sexueller Übergriffig keit eines Vorgesetzten gegenüber einer Angestellten. Wie oft kommt diese Konstellation in der modernen Arbeitswelt vor? Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil es dazu keine grundsätzlichen empirischen Erhebungen gibt. Wir erleben aber einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, der ans Tageslicht bringt, dass das oft vorkommt – Vorgänge, in denen das Machtgefälle in Beschäftigungsverhältnissen eine grosse Rolle spielt und die Zuneigung nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Sie sind mit der Konstellation in der Oper vergleichbar und bringen – wie bei Mozart – ganze Betriebe und Branchen durcheinander. Die #MeToo- Debatte hat das gezeigt. Auch wenn es keine belastbare Em pirie darüber gibt, ist das Thema ein gesellschaftlich sehr relevantes? Auf jeden Fall. Es geht hier ja nicht um Diskussionen und Meinungen, sondern um verbriefte Fälle, die bekannt ge worden und zum Teil auch vor Gericht
gekommen sind. Kein Rauch ohne Feuer. Das ist ganz klar. Ist Machtgefälle der entscheidende Nährboden für sexuelle Übergriffig keit? Überhaupt nicht. Übergriffigkeit gibt es natürlich auch zwischen hierarchisch gleichberechtigten Menschen, und sie kommt unabhängig von Arbeitsverhältnissen in der ganzen Breite der Ge sellschaft vor. In vertikalen Machtstrukturen erlangt die Problematik aber eine grössere Dringlichkeit. Die Abhän gigkeiten wirken verschärfend. Sich gegen den Chef oder den Vorgesetzten zur Wehr setzen zu müssen ist viel schwieriger. Existenzielle Ängste um den Job und die Rolle im Unternehmen kommen ins Spiel sowie das Problem, beispielsweise nicht zu wissen, an wen man sich wenden kann. Das vergiftet die Situation ungemein. Der Graf sagt an einer Stelle zu Susanna: Ich liebe dich. Ist es über griffig, einer Untergebenen zu sagen, dass man in sie verliebt ist? In der Oper schon. Denn Susanna steht ja unmittelbar vor ihrer Hochzeit mit Figaro. In dieser Situation ist so ein Geständnis völlig inakzeptabel. Mal abgesehen von der Frage, wie ernst es dem Grafen mit dieser «Liebe» ist. Der Verdacht liegt nahe, dass es ihm nicht ernst ist. Er will vor allem mit
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Susanna ins Bett. Im gleichen Rezita tiv sagt er zu ihr, sie möge doch am Abend in den Garten kommen, er würde sie auch dafür bezahlen. Das ist Aufforderung zur Prostitution und kein Liebesantrag. Da wäre also die fristlose Kündigung des Grafen fällig? Mindestens. Das geht gar nicht. Gegen einen Grafen im Feudalismus des 18. Jahrhunderts konnte man leider keine Beschwerde einreichen, geschweige denn eine Kündigung erwirken. Die Oper spielt in einer Zeit, in der das ius primae noctis, das Recht der ersten Nacht, noch ein Thema war. Der sich modern gebende Graf hat es eigentlich abgeschafft, möchte es aber bei Susanna noch ein mal zur Anwendung bringen. Die Oper thematisiert ein männliches Besitzdenken aus dem Geist der Leib eigenschaft, das in mancher Hinsicht bis heute nicht überwunden ist, nämlich dass ein Chef glaubt, die Menschen, die ein Arbeitsverhältnis zu ihm eingegan gen sind, gehörten ihm. Genau dieses Besitzdenken reproduziert ja der Fall des amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein, der die #MeToo-Lawine ausgelöst hat: Ich bin hier der Big Boss, ich bezahle dich und deshalb musst du mir zur Verfügung stehen, auch sexuell. Nochmal zu dem «Liebes»-Geständ nis: In anderen Fällen kann es ja ernst gemeint sein. Und dann? Seien wir ehrlich: In der Arbeitswelt kommt es selbstverständlich vor, dass sich Menschen verlieben und sich ihre Liebe gestehen; dass sie sich finden und Beziehungen und Familien gründen. Es gibt auch Paare, die im gleichen Betrieb arbeiten, in der Kunst- und Kulturszene, in der Sie arbeiten, vielleicht noch ein bisschen mehr als anderswo. Es in die Sphäre des Unerlaubten zu verbannen, dass sich Menschen in diesen Kontexten Erotisches sagen, wäre weltfremd. Voraussetzung allerdings ist die Gegenseitigkeit. Und wenn Macht im Spiel ist, kann es schnell schwierig werden. Die oder der Unter-
gebene hat das Gefühl, nicht schroff ablehnend reagieren zu können, wenn der Chef sagt: Ich liebe dich. Die Fälle werden komplizierter, wenn beide zuerst einverstanden waren, dann aber einer vielleicht nicht mehr. Die ganze Geschichte wird aufgerollt, man weiss gar nicht mehr so genau, wie es wirklich war. Ich würde heute jeder und jedem Vorgesetzten empfehlen, keine Beziehung mit Untergebenen zu beginnen. Besser man lässt es, wenn man sich nicht in Teufels Küche begeben will. Man kann nie wissen, ob das, was von der Gegenseite kommt, tatsächlich Gegenliebe für die angetragenen Gefühle ist, oder ob das Machtgefälle doch eine Rolle spielt. Es hat nicht nur bei Psychiaterinnen und Ärzten seine Berechtigung, dass sie auf keinen Fall eine Beziehung mit Patient:innen eingehen dürfen, und dass sie die Therapie abbrechen müssen, um eine erotische Begegnung möglich zu machen, falls das Begehren sehr dringend wird, was ja passieren kann. Wie oft kommt es heute vor, dass schwere Fälle von toxischer Männlichkeit ungeahndet bleiben? Ich würde sagen: Zu oft. Sexuelle Belästigung findet ja auch schon auf der verbalen Ebene statt, und dort kommt sie sehr oft gar nicht zur Sprache. Das weiss man aus Studien. Gegen gravierende Vorfälle vorzugehen, trauen sich Betroffene inzwischen öfter. Aber es ist nach wie vor eine grosse, schwere Entscheidung, sich als Betroffene oder Betroffener zu outen. Die Öffentlichkeit kommt dann hinzu, und das macht die Sache folgenreich für alle Beteiligten. In der Arbeitswelt bedeutet das meistens, dass man auch als Opfer nicht mehr in dem Anstellungsverhältnis bleiben kann oder will. Deshalb gibt es einige Fälle, bei denen die Betroffenen zwar zu einer Vertrauensperson gehen, aber danach den Fall nicht weiterziehen. In Le nozze di Figaro tun sich die Frauen zusammen, um das Problem selbst zu lösen. Sie wollen es dem Grafen mit einer Verkleidungsintrige heimzahlen und den Täter blamieren. Ist das eine gute Strategie?
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Das Sich-Wehren beginnt ja oft im Stillen mit einem inneren Aufbegehren: Was will der von mir? Was läuft da? Oder die Frauen fühlen sich einfach unwohl in bestimmten Situationen und sprechen mit einer Kollegin darüber, die wiederum sagt: Bei mir hat er das auch schon versucht. Die wirklich krassen Täter sind oft keine Einzeltäter. Die machen das immer wieder. Und man kann schon sagen, dass heute die öffentliche Skandalisierung zu einem wirksamen Mittel gegen Übergriffe geworden ist. Durch die gesellschaftliche Debatte im Zuge von #MeToo hat die Opferseite einen Hebel in die Hand bekommen. Männer beginnen, ihr Verhalten zu reflektieren, weil sie Geschichten lesen, die nicht gut für die Männer ausgegangen sind? Harvey Weinstein sitzt im Gefängnis und kommt wahrscheinlich nicht mehr raus. Ja und das ist auch richtig so. Es gibt aber auch die umgekehrte Bedrohungslage: Es behauptet jemand einen Übergriff, der gar nicht stattgefunden hat. Das sind gefährliche Nebenschauplätze, die als Folgen der Entwicklung ent standen sind. Die Selbstreflexionsbereitschaft der Männer aber steigt. Noch im vergangenen Jahrhundert wurden die Dinge, über die wir reden, als Kavaliers delikt abgetan. Wie beim Grafen Almaviva, der hat auch kein Unrechtsbewusstsein. Natürlich nicht. Wie auch? Man muss da nicht bis in den Feudalismus zurückgehen. Keine Haushälterin und keine Magd, die nach Übergriffen oft noch schwanger wurde, konnte sich vor noch nicht allzu langer Zeit wehren, denn das hätte dazu geführt, dass sie selbst bestraft worden wäre. Zumindest hätte sie ihre Arbeit oder oft auch ihre soziale Stellung verloren. Le nozze di Figaro spielt an einem tollen Tag, wie es in der Schauspiel vorlage bei Beaumarchais heisst, einem Hochzeitstag. Der Graf will eigentlich eine Party für seine Leute schmeissen. Alle sind aufgedreht, gut
drauf und bereit, die Grenzen des Anstands und der sozialen Rolle ein bisschen zu übertreten. Das ist das Partyproblem, das es ja auch in der Arbeitswelt unserer Tage gibt, bei Be triebsfeiern oder feuchtfröhlichen privaten Einladungen von Vorgesetz ten. Wie gefährlich sind diese Zonen der Ausgelassenheit? Sie sind gefährlich – aber eben auch schön. Ich fände ein Arbeitsleben, in dem sich das Berufliche und das Private gar nicht mehr mischen dürfen, eine traurige Angelegenheit. Viele von den öffentlich gewordenen Übergriffsgeschichten sind genau bei solchen Ge legenheiten passiert, bei denen auch das Rauschhafte seinen Raum hatte, das viele lieben und als wichtigen Teil eines schönen Lebens betrachten. Für Menschen, die ihren Beruf mit Passion ausüben, und das sind ja nicht wenige, ist das Hedonistische eine wichtige Energiequelle, und das will man mit anderen teilen. Die Grenzen zwischen dem Geschäftlichen und dem Privaten lösen sich auf, auch die Vorgesetzen wollen nicht immer nur Chef sein. Alkohol und Drogen kommen ins Spiel, und es passieren Dinge, von denen man dann am nächsten Tag nicht mehr so genau weiss, ob sie wirklich gut waren. Klar ist das ein gefährliches Feld. Es gefällt mir, dass Sie als Vertreterin der Opfer von Übergriffen trotzdem das Rauschhafte nicht verdammen. Aus meiner Berufserfahrung heraus glaube ich grundsätzlich nicht so recht an die Schwarzweiss-Zuschreibungen. Obwohl – ganz klar – Menschen aufgrund von Diskriminierungsmerkmalen wie Geschlecht oder sozialer Herkunft ein deutlich stärkeres Risiko tragen, Opfer zu werden. Wir werden dieses Problem aber nicht nur damit lösen können, dass wir eine strikte Unterschei dung in Täter und Opfer vornehmen. Deshalb finde ich auch die öffentliche Debatte so wichtig. Ich bin schon streng und kompromisslos im Einstehen dafür, dass niemand das Recht hat, über andere zu verfügen. Aber es hilft uns nicht weiter, wenn wir die Rahmenbedingun gen unseres Zusammenlebens so stark
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formalisieren, dass es etwa keine Be triebsfeste und Vermischungen mehr gibt. Trotzdem heisst «Nein» ganz unmissverständlich «Nein». Das erinnert an den Brief französi scher Feministinnen um Catherine Deneuve, den sie vor vier Jahren auf dem Höhepunkt der #MeToo-De batte in Le Monde veröffentlichten, und sich dagegen aussprachen, jeden Flirt und jede Galanterie als chauvinistische Aggression anzu prangern. Wofür sie heftigste Kritik einstecken mussten. Nehmen Sie eine Verhärtung der Diskussion um angemessenes Verhalten zwischen den Geschlechtern wahr? Das finde ich eine spannende Diskussion. Es gibt eben auch unterschiedliche kulturelle Zugänge zu diesem Thema. Der französische Feminismus, schon der frühe jenseits von Deneuve und ihren Schauspiel-Kolleginnen, ist ein ganz anderer als der amerikanische, der eher puritanisch geprägt ist und in seinen Forderungen mehr in Richtung Lustfeindlichkeit geht, während die Französinnen immer auch aus einer Position der Stärke der Frauen argumentieren. Frauen können sich selbst wehren und sind nicht nur potenzielle Opfer, die von übergeordneten Instanzen geschützt werden müssen. Sie integrieren die Kraft der Erotik in eine Position der Stärke. Was wir allerdings bei Weinstein, Epstein, Berlusconi und all diesen Geschichten mächtiger Männer erlebt haben, hat mit der Kontroverse um Lust und Lustfeindlichkeit nichts zu tun, sondern nur mit Machtmissbrauch und Erniedrigung. In der Debatte lautet der Vorwurf von rechter Seite: Der Feminismus und die linke Identitätspolitik mit ihrer Cancel Culture vertreiben alles Schöne aus der Welt. Der umge kehrte Vorwurf lautet: Es passiert zu wenig. Die alten patriarchalischen Strukturen bleiben einfach weiter bestehen. Wie kommen wir aus diesen verhärteten Fronten heraus? Wir sind in einer Phase, in der wir die Machtverhältnisse zwischen den Ge-
schlechtern, und allgemeiner zwischen Privilegierten und Benachteiligten, noch stark auf der eher symbolischen Ebene der Political Correctness bearbeiten, aber es gibt Bewegung. Wir rütteln an den zementierten Verhältnissen. Macht positionen werden in Frage gestellt. Es gibt Bewegung. Ich halte die Verun sicherung beispielsweise für produktiv, wenn Männer nicht mehr wissen, ob sie einer Frau in den Mantel helfen oder ein Kompliment machen dürfen. Denn es bedeutet, dass wir dabei sind, diese Geschlechterverhältnisse neu auszu handeln. Was ist okay, was nicht? Wenn durch Komplimente immer nur exis tierende Machtpositionen reinszeniert werden, sind sie ein Problem. Aber ja, natürlich dürfen wir darüber nicht vergessen, die wirklich harten, grossen Themen in unserer Welt anzugehen. Wem gehören die Ressourcen in dieser Welt? Wer besetzt die Machtpositionen? Wer bestimmt, was richtig und falsch ist? Wo ist das Kapital akkumuliert? Wo ist es akkumuliert? Zu über 90 Prozent bei Männern. Das Gespräch führte Claus Spahn
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Ein toller Tag im Strudel des Begehrens Das Opernhaus beschliesst die Spielzeit mit einer Neuinszenierung von Mozarts «Le nozze di Figaro». Der Regisseur Jan Philipp Gloger verortet die Oper in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts und erzählt von inneren Ausnahmezuständen in der Wohlstands-Moderne. Ein Gespräch über emotionale Kontrollverluste, sexuelle Übergriffigkeit und die Utopie der Toleranz Probenfotos Admill Kuyler
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Jan Philipp, ist es eigentlich ein Vergnügen oder purer Stress, Mozarts Le nozze di Figaro zu inszenieren? Beides. Es ist Stress, weil die Oper aus sehr viel Handlung besteht. Mozart und Da Ponte haben jede, noch so kurze Situation superpräzise ausgearbeitet. Deshalb muss die Regie sehr viel Detailarbeit leisten, denn eine Figaro-Inszenierung funk tioniert nur dann, wenn sie auch kleinste Details ernst nimmt. Auf der anderen Seite ist es ein unglaublicher Spass, diese Oper zu machen, weil in ihr so viel Vitalität, Tempo und überraschende szenische Wendungen stecken. Wir proben jetzt seit drei Wochen, aber sie kommen mir vor wie drei Monate. Ich habe das Gefühl, die Sängerinnen und Sänger der Produktion schon ewig zu kennen, obwohl ich fast alle bei Probenbeginn zum ersten Mal gesehen habe. Wir stehen in einem sehr intensiven, engen Austausch. Die Figaro-Handlung erscheint manchmal wie ein Labyrinth angesichts der Fragen, wer etwas schon weiss oder noch nicht mitgekriegt hat, wer sich hinter welcher verschlossenen Tür verbirgt, wer wen belauscht und von wem verwechselt wird. Treibt das einen Regisseur in die Verzweiflung? Nein, überhaupt nicht. Da muss man durch. Das ist sozusagen die Basis für jede Inszenierung. Man dröselt die Handlung auf und folgt dabei der eigenen szenischen Konzeption. Wenn die Figuren so gut erzählt sind, dass das Publikum der Handlung folgen kann, ist viel gewonnen. Es geht auf der Bühne also nicht ohne Türen im zweiten Akt, ohne ein Fenster, aus dem Cherubino in höchster Not springen kann, ohne ein Sommernachtstraum-Dunkel im vierten Akt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Figaro-Inszenierung funktioniert, die dem Werk nur mit schönen, abstrakten Bildern oder steilen konzeptionellen Thesen begegnet. Wenn man von der Regie nicht geradezu gezwungen wird, dieser genialen Handlung zu folgen, kommt dem Stück Entscheidendes abhanden. Mozart legt in Le nozze di Figaro szenisch wie musikalisch ein rasantes Tempo vor. Die Denkgeschwindigkeit des Komponisten ist aberwitzig. Ist das eine der grossen Qualitäten der Oper? Die Ereignisse überschlagen sich, wenn man etwa an das irrsinnige Finale des zweiten Akts denkt. Man glaubt, als Zuschauer nicht mehr mitzukommen, schon ganz und gar, wenn man die Oper zum ersten Mal sieht. Das hat den vorteilhaften Effekt, dass man dann als Zuschauerin die Vorgänge im gleichen Modus der Überforderung erlebt wie die Figuren auf der Bühne, denn auch sie werden ja immer wieder von den Ereignissen überrollt.
Die Doppelseite 24 / 25 zeigt die Hauptfiguren unserer «Figaro»-Neuproduktion im Spotlight. Von links nach rechts: Daniel Okulitch (Graf Almaviva), Morgan Pearse (Figaro), Louise Alder (Susanna), Lea Desandre (Cherubino), Anita Hartig (Gräfin Almaviva)
Die Figaro-Handlung lebt von überraschenden Kippmomenten. Alles kann im nächsten Augenblick schon wieder anders sein. Die Verhältnisse sind durch eine permanente Instabilität gekennzeichnet. Genau. Und in der Instabilität der Handlungsentwicklung spiegelt sich die Instabili tät der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Entstehungszeit. Der Figaro ist ja 1786 entstanden, also kurz vor der Französischen Revolution, und er erzählt davon, dass nichts mehr sicher ist. Diese Instabilität bekommen zuallererst natürlich die Herrschenden, vor allem der Graf, zu spüren, der um seine Macht und seine Privilegien fürchten muss. Aber Le nozze di Figaro bringt darüber hinaus alle Figuren in Bedrängnis, nicht nur durch die turbulenten äusseren Ereignisse, sondern vor allem auch in Form von inneren Konflikten und einschneidenden Er lebnissen. Sie verlieren die Kontrolle über ihr Begehren. Figaro ist auch eine Oper über individuellen und gesellschaftlichen Kontrollverlust – und es ist ein grosses Vergnügen, den Figuren dabei zuzusehen, wie sie mit dem äusseren und ihrem persönlichen inneren Durcheinander an diesem tollen Tag umgehen.
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Kannst du das an einem Beispiel erläutern? Spannend, weil voller Ambivalenzen, ist etwa das Verhältnis zwischen Susanna und dem Grafen. Sie ist die Dienerin der Gräfin, gehört also zur sozialen Schicht der Bediensteten und will Figaro heiraten. Der Graf steht wiederum an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie und missbraucht seine Macht gegenüber Frauen. Heute würden wir das als schwere sexuelle Übergriffigkeit bezeichnen. Gleichzeitig wirkt der Graf aber auch unheimlich attraktiv auf Susanna. Das ist komponiert, und das werden wir auch herausarbeiten. Susanna steht also innerlich zwischen zwei Männern, nämlich ihrem Figaro auf der einen Seite, mit dem sie ein liebevolles, sehr freundschaftlich scherzendes Beziehungsverhältnis hat, und dem erotisch ver lockenden Grafen. Vermutlich erwächst die Verlockung nicht zuletzt auch aus der Machtposition des Grafen, das ist das Perfide an der Konstellation. Da Susanna aber eine aufrichtige Figur ist, kann sie sich schlecht eingestehen, dass sie sich von der Erotik der Macht korrumpieren lässt. Man sieht: Das sind gefährliche Konfliktlagen, die auch in unsere heutige Zeit passen. Nicht nur der Graf und Susanna sind in sie verstrickt. Alle Figuren erfahren die Chancen und die Gefahren, die sich auftun, wenn man seinem Begehren und den Irrwegen folgt, die es nach sich ziehen kann. Das ist für mich das grundsätzliche Thema in Le nozze di Figaro: Was passiert, wenn man an einem tollen Tag seinem Begehren nachgibt? Das versuchen wir zu untersuchen. Ist es nicht vor allem der von einer Frau gesungene Jüngling Cherubino, der die Macht des Eros verkörpert? Ich wage mal die These: Wir tragen alle einen Cherubino in uns. Ich finde nämlich, dass der Satz aus dessen Arie im ersten Akt: «Non so più, cosa son, cosa faccio» («Ich weiss nicht mehr, was ich bin, was ich tue») zu einer Art Leitsatz für alle Figuren im Stück wird. Cherubino bewegt sich noch ausserhalb der gesellschaftlichen Ordnung, steht zwischen dem Jung- und dem Erwachsensein, fluktuiert zwischen Mann und Frau. Dieses Hybride ist etwas, das sich möglicherweise jede Figur wünscht, und so infiziert er das gesamte Personal der Oper mit seiner in alle Richtungen offenen Lust. Machen die Figuren eine Entwicklung durch im Verlaufe des Stücks? Ja, alle, weil sie wichtige Erfahrungen machen. Durch die Intrigen, die sie spinnen, durch das, was sie miteinander erleben und sich gegenseitig antun, kommen sie mit der Macht des Begehrens in Berührung und gehen klüger aus dem tollen Tag heraus, vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch verletzter. Sie haben etwas für ihr Leben gelernt. Die Gräfin spricht das ganz offen aus, wenn sie am Ende sagt: «Ich bin sanfter geworden». Und Cherubino wird am Ende dem Grafen immer ähnlicher. Erst ist er der kleine süsse Engel, aber am Ende wirkt auch er übergriffig. Wenn am Schluss der Oper die Verkleidungsintrige offen gelegt, der Graf blamiert und das grossherzige Verzeihen ausgesprochen ist, folgt dann der Moment der totalen Desillusion bei den Hauptfiguren wie in Così fan tutte? Così ist viel brutaler. Ich habe einen positiveren Blick auf den Figaro-Schluss. Nachdem alle Figuren die Unbeherrschbarkeit des Begehrens erfahren haben, stehen sie im übertragenen Sinne nackt voreinander und müssen sich eingestehen, dass der Mensch nun mal von Lust und Eifersucht getrieben ist. Ich verbinde die Utopie mit dem Stück, dass das zu einem echten Verzeihen führen kann, ein Verzeihen nicht ohne Verletzungen. Aber zumindest so, dass man in den letzten Takten singen kann: «Coriam tutti a festeggiar» («Fröhlich eilen wir zum Fest»). Wir haben jetzt viel über den Eros gesprochen. Ist Le nozze di Figaro aber nicht auch ein klassenkämpferisches, ein politisches Stück? Ohne soziale Gegensätze funktioniert ein Figaro nicht. Es muss ein gesellschaftliches
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Oben und Unten geben. Dass die Bediensteten existenziell abhängig vom Grafen sind, führt ja erst zu den Konflikten, die das Stück prägen. Abhängigkeitsver hältnisse müssen zunächst bestehen, damit man sie missbrauchen kann. Wir fanden es ausserdem interessant, wenn die Milieus sich aufeinanderzubewegen, wenn die Herrschenden sozialromantisch und leicht sehnsüchtig das sogenannte einfache Leben des «niederen Standes» aufsuchen und die Bediensteten umgekehrt, vielleicht am stärksten Susanna, nicht frei von Faszination für Adel und Reichtum und die daran geknüpften Hoffnungen auf sozialen Aufstieg sind. Was das Stück politisch macht, ist, dass die Gefühlswelten mit bestimmten moralischen Überzeugungen in Kollision geraten, und keiner vermag uns besser als Mozart in diese Gefühlswelten hineinzuziehen. Du spürst im Figaro also eher menschlich emanzipatorische Energien? Das Politische läuft über die Gefühle. Nehmen wir zum Beispiel die Arie der Marcellina, die oft gestrichen wird. Marcellina ist die ältere, erfahrene Frau, die sich im Verlauf des Stücks als Figaros Mutter erweist. In der Schauspielvorlage von Beaumarchais hat sie einen grossen Monolog, den man geradezu wie einen feministischen Urschrei lesen kann – gegen die Männer und ihre Allmacht. Der Monolog schrumpft bei Mozart und Da Ponte zu einer Arie, und der Text verkleinert den Auftritt durch die etwas merkwürdige Metapher von den Tierpaaren, die in Frieden leben, während die Menschen das nicht können, weil sich die Männer so schlecht gegenüber den Frauen benehmen. In unserer Inszenierung haben wir die Arie nicht gestrichen und versuchen sie als Initialzündung für eine gewisse Frauensolidarität zu zeigen. Man spürt bei dem, was du sagst, dass du Le nozze di Figaro für ein auch in unserer Zeit relevantes Stück hältst. Wo spielt denn die Inszenierung? In der Gegenwart von heute, möglicherweise sogar in der Schweiz. Die einzelnen Akte spielen auf unterschiedlichen Etagen einer herrschaftlichen Villa. Der erste Raum zeigt den Hinterhof, den Dienstboteneingang und darüber die Aussenseite der gräflichen Räumlichkeiten, sodass die Milieus der Wohlhabenden und der Bediensteten direkt aneinandergrenzen. Im zweiten Akt sind wir im Aufenthalts- und Umkleideraum der Angestellten, sozusagen auf der Rückseite oder im Untergeschoss des Reichtums. Der dritte Akt führt dann hinauf in den gräflichen Salon, der von den Bediensteten allerdings für eine wenig herrschaftliche Hochzeitsparty gekapert wird. Und am Schluss sind wir an einem Ort, der die Standesunterschiede scheinbar auflöst. Ein Ort des Verborgenen und versteckt Sexuellen, den ich an dieser Stelle aber noch nicht verraten möchte. Ben Baur hat dieses Bühnenbild entworfen in einem Stil, den ich immer gerne Hyper-Realismus nenne. Es ist ja sehr folgenreich, wenn man ein Stück, das 1786 geschrieben wurde, in die Gegenwart verlegt. Die Frage, die dann immer gleich gestellt wird, lautet: Geht das auch auf? Ich finde, ein Figaro muss die Konkretion wagen. Eine abstrakte Inszenierung ist für mich bei diesem Stück nicht vorstellbar. Und natürlich muss es aufgehen! Wir haben grossen Spass daran, die entsprechenden Übersetzungen szenisch zu ent wickeln. Manchmal wird natürlich eine gewisse Reibung mit dem gesungenen Text bleiben. Wir hoffen aber, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer diese Transferleistung gerne und lustvoll mitvollziehen. Ein wichtiges Motiv der Handlung ist das ius primae noctis – das Recht der ersten Nacht, wonach in der Zeit des Feudalismus der Adelspatron das Recht hatte, mit der Braut zu schlafen, bevor sie verheiratet wurde. Der Graf im Figaro hat dieses Recht eigentlich abgeschafft, will sich aber im Falle von Susanna nicht daran halten. Was kann dieses ius primae noctis im 21. Jahr-
hundert denn sein? Von solchen Rechten sind wir ja glücklicherweise Jahr hunderte entfernt? Der Graf versucht die Modernisierung der Gesetze, die er selbst initiiert hat, zu unterlaufen. Das passt doch wunderbar in unsere Zeit, in der in allen Firmen und Institutionen sogenannte Codes of Conduct, also Verhaltenskodexe gegen Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe und Diskriminierung aufgesetzt werden. Völlig zu recht übrigens. Ich finde es wichtig, dass wir uns in unserem Sozial verhalten Regeln geben, die den wachsenden Sensibilitäten für Diskriminierung und unangebrachtes Verhalten Rechnung tragen. Wir haben uns gefragt: Was ist, wenn der Graf nicht das ius primae noctis abschafft, sondern einen neuen Ver haltenskodex ausruft, und sich dadurch angreifbar macht, weil alle wissen, dass er sich an die neuen Regeln selbst nicht hält? Man kann sich als Regisseur noch so viel konzeptionelle Gedanken über einen Figaro machen, am Ende ist das alles nicht viel wert, wenn man kein starkes Ensemble am Start hat. Kannst du mit der Zürcher Besetzung deine Ideen realisieren? Auf jeden Fall. Für einen Figaro braucht man ein hochagiles Ensemble, das Geduld und Lust hat, die kleingliedrigen Situationen genauso präzise zu spielen wie die grossen Ensembles. Man braucht Künstlerinnen, die wach sind für die Kollegen, Lust auf Detailarbeit haben, letztlich singende Schauspieler:innen sind. Man braucht aber auch Sängerinnen und Sänger, die in den vokalen Glanzmomenten brillieren. Das alles vereint die Zürcher Besetzung und das ist eine ganz grosse Freude. Unsere Susanna Louise Alder ist sehr erfahren in ihrer Partie, gleichzeitig aber total offen für neue interpretatorische Ideen, die sie sofort als Grundlage für eigene Erfindun gen nimmt. Sie verteidigt ihre Figur, wie das in unserem Cast alle tun, was sehr produktiv ist. Für die Partie der Susanna braucht es die Mischung aus einer attrakti ven und zugleich sehr pragmatischen, zupackenden Frau, die keine Probleme aufwirft, sondern sie löst und sich die Handlung immer wieder nimmt. Das strahlt Louise mit jeder Geste und jedem Ton aus. Das gilt auch für Morgan Pearse, unseren Figaro. Er ist ein sehr gestischer Sänger, der eine unheimliche Durchlässigkeit hat, wie wir das im Schauspielbereich nennen. Die Impulse gehen in den Körper und teilen sich dem Publikum sofort mit. Louise und Morgan kennen sich übrigens gut: Sie haben vor zehn Jahren als junge Leute ihren ersten gemeinsamen Figaro auf der Royal Academy in London einstudiert, sie war Susanna, er der Graf. Anita Hartig und Daniel Okulitch als Gräfin und Graf sind ebenfalls sehr glaubwürdig in ihrer Emotionalität. Sie können das Begehren zum Ausdruck bringen und verkörpern gleichzeitig auf ideale Weise die Generation von Paaren, bei denen einiges auf dem Spiel steht, wenn ihre Beziehung in die Krise gerät. Und Lea Desandre ist für mich der perfekte Cherubino, nicht nur, weil sie die Verwandlungsfähigkeit mitbringt, einen Sechzehnjährigen auf der Bühne zu verkörpern. Lea spielt mit weiblichen und männlichen Attributen, sie kann zwischen pubertär-jugendlichem und erwachsenem Auftreten changieren und zeigt in ihrer Erscheinung etwas Genderfluides, das immer einen grossen Reiz an dieser Figur ausmacht. Muss eine Figaro-Inszenierung lustig sein? Das ist zumindest unser Anspruch. Ich möchte in dieser Oper das Gefühl haben, lachen zu dürfen. Denn das Lachen ist immer ein Lachen über uns selbst, ver bunden mit dem Gefühl, erwischt worden zu sein. Unser Lachen lehrt uns etwas über uns. Das Gespräch führte Claus Spahn
Le nozze di Figaro Oper von W. A. Mozart Musikalische Leitung Stefano Montanari Inszenierung Jan Philipp Gloger Bühnenbild Ben Baur Kostüme Karin Jud Lichtgestaltung Martin Gebhardt Video Tieni Burkhalter Dramaturgie Claus Spahn Il Conte di Almavia Daniel Okulitch La Contessa di Almaviva Anita Hartig Figaro Morgan Pearse Susanna Louise Alder Cherubino Lea Desandre Marcellina Malin Hartelius Bartolo Yorck Felix Speer Basilio Spencer Lang Don Curzio Christophe Mortagne Barbarina Ziyi Dai Antonio Ruben Drole Tango Tanzpaar Eugenia Parrilla / Yanick Wyler Philharmonia Zürich Chor der Oper Zürich Statistenverein des Opernhauses Zürich Partner Opernhaus Zürich
Premiere 19 Jun 2022 Weitere Vorstellungen 22, 25, 28 Jun; 1, 3, 7, 10 Jul 2022
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34 Volker Hagedorn trifft …
Louise Alder Louise Alder singt die Susanna in der Zürcher Neuproduktion von «Le nozze di Figaro». Sie war Ensemblemit glied an der Oper Frankfurt, wo sie u.a. Susanna, Pamina, Musetta, Despina und Sophie («Werther») sang. Sie trat ausserdem an Häusern wie der Wiener Staatsoper (ebenfalls als Susanna), der Bayerischen Staats oper und am Teatro Real Madrid auf.
Eine Eigenschaft gibt es, die auch jenseits der Bühne die meisten Sängerinnen und Sänger von Opern verbindet. Sie können unheimlich schnell umschalten, sich ohne Anlauf ganz auf eine Situation einlassen, offen reagierend auf alles, was da kommen mag. Auch wenn es die Fragen eines Journalisten sind, der jetzt eigentlich nicht so in den Plan passt, jetzt, da das Flugzeug aus London verspätet landete und die Bühnen probe in 45 Minuten beginnt. Louise Alder nimmt in der Zürcher Opernkantine so entspannt Platz, als wäre es ihr freier Nachmittag. Kaum hat sie einen Becher Kaffee vor sich stehen, sprechen wir erstmal über eine Zofe aus dem 18. Jahrhundert, als hätten wir alle Zeit der Welt dafür. Wie kommt es überhaupt, dass diese Susanna im Figaro uns interessieren kann, eine Subalterne in einer längst Geschichte gewordenen feudalen Gesellschaft? Louise Alder, die diese Rolle bislang in vier verschiedenen Produktionen sang, verweist keines wegs gleich auf Mozarts Musik. «Sein Librettist Da Ponte», meint sie, «war sehr clever, wie er die Story anlegte. Das war ein Skandal zu der Zeit, Diener als zentraler Teil der Handlung. Ich wuchs natürlich nicht mit Dienern auf, ich komme andererseits auch nicht aus einer Familie von Dienern. Aber ich verstehe die Schwierigkeiten in ihrem Leben. Das ist näher an uns als Händels Götter und Könige, und niemand wird in einen Bären verwandelt.» Sie lacht. Es macht ihr Spass «to inhabit the role, diese Rolle zu bewohnen». Denn bei allem, was sich von einer Produktion zur andern ändere, «her spirit never changes. Sie ist stark und positiv, gerissen, clever. Sie hat die Fäden in der Hand. Und sie fühlt sehr viel.» Was allerdings sie fühlt, das sei sehr abhängig vom Ensemble, nicht nur vom Stück und von der Regie. «Der Graf des einen Sängers ist anders als ein anderer, darauf reagiere ich.» Spannend findet sie es auch, beim Leben mit einer Rolle über Jahre hin zu merken, wie sie selbst sich entwickelt, «je besser du das Stück kennst, desto besser kannst du es spielen». Lebenserfahrung brauche man auch, um in eine Rolle zu finden. Dass sie selbst Angst und Schmerz kenne – wovon ihr helles, offenes Gesicht jetzt keine Spur verrät –, helfe ihr für die Pamina in der Zauberflöte, «sonst ist es schwer, das zu machen. Ich bin ja ganz froh, dass meine Mutter mich nie aufge fordert hat, jemanden zu töten, so wie die Königin der Nacht das tut.» Ganz besonders nicht diese Mutter. Die Geigerin Susan Carpenter-Jacobs hat das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra of the Age of Enlightenment in eben dem Jahr 1986 mitbegründet, in dessen November ihre Tochter zur Welt kam. Und als im Sommer 1989 die Proben zum Figaro in Glyndebourne begannen, mit dem 34 -jährigen Simon Rattle am Pult, war die Zweijährige dabei. «Es war eins der ersten Stücke, die ich je hörte. Meine ganze Kindheit lang wurde ich da mit hingenom men, deswegen ist Mozart bei mir wirklich im Blut.» Eine Garantie für eine Musiker laufbahn sei das keineswegs. «Die Kinder der Kollegen meiner Eltern, meine Freunde, haben sich sehr unterschiedlich entschieden. Einige wollten unbedingt Musik machen, andere konnten sich gar nichts Schlimmeres vorstellen.» Sie selbst brauchte eine Weile, «um Oper nicht als etwas zu sehen, wo meine Eltern mich hinschleppten». Als Teenager begann sich Louise für die Stories, Inszenierungen, Sänger:innen des Musiktheaters zu interessieren, «und im Kopf hatte ich einen Traum vom Singen, ganz sicher. Aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte. Mein Vater singt im Extrachor von Covent Garden, er ist kein Solist». Von früh an spielte sie Geige und Oboe, «aber direkt auf ein Music College wollten meine Eltern mich nach der Schule nicht gehen lassen. Sie wollten eine breitere Ausbildung, also studierte ich Musikwissenschaft in Edinburgh.» Und da gab es eine sehr gute Gesanglehrerin, die sie auf die Bahn brachte.
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Und auch gleich auf die Unibühne, wo Louise ihre Liebe zum Musical und ihr Tanz talent auslebte. Aber ihr Interesse an Oper überwog und führte sie ans Royal College of Music nach London. «Ich war gesangstechnisch überhaupt keine Naturbegabung», meint sie, «und musste wirklich arbeiten, um meinen Weg zu finden.» Sie schwärmt von den Lehrerinnen, die ihr dabei halfen. «Patricia MacMahon hat mir klargemacht, dass ich ohne guten Werkzeugkasten nicht weit kommen würde. Mein Musikverständ nis war weit über meiner Technik, und bei ihr begann ich Freude am Verlangsamen zu finden, Schritt für Schritt die Löcher auszufüllen. Und Dinah Harris konnte mir genau sagen, was physiologisch in mir vorgeht, ich wollte das so gut kennen, wie ich die Geige kenne. Sie half mir, den Kehlkopf zu entspannen. Es ging darum, die natür liche Brustresonanz, die ich beim Sprechen habe, in meine Singstimme zu inkorporie ren, damit es wirklich wie ich klingt: Das ist Louise, das ist ihr Klang! Was wir Sänger tun, ist unnatürlich, aber es sollte so natürlich klingen wie möglich.» Für kurz unterbricht uns der Kantinenlautsprecher. «In wenigen Minuten beginnt das Vorsingen auf der Bühne. Good evening ladies and gentlemen…» Das kennt Louise auch, acht Jahre ist es jetzt her. «Nach drei Jahren am Royal College of Music nahm ich an einem Wettbewerb teil, den ich nicht gewann. Aber Bernd Loebe hörte mich da, und ich durfte bei ihm in Frankfurt vorsingen.» Es wurden fünf Jahre im Ensemble der Frankfurter Oper daraus, «mein Gehirn stand in Flammen! Immer mehrere Produktionen gleichzeitig, manche alt, manche neu. Diese Erfahrung hätte ich im United Kingdom nie machen können, es gibt da kein Ensemblesystem. Und ich fühlte mich als Teil einer grossen Familie.» Es wundert sie ein bisschen, dass nicht viel mehr britische Sänger:innen auf dem Kontinent auftreten. «Es gibt im UK nur sechs grössere Opernhäuser, das reicht nicht! Zudem werden die darstellenden Künste in meiner Heimat nicht als etwas Wichtiges gesehen, das wurde während der Pandemie sehr deutlich. Aber sie kämpfen. Und sie kämpfen gut!» Alle kreativen Leute auf den britischen Inseln, sagt sie, fühlen sich europäisch. «Wir spielen europäische Musik! Der Gedanke, dass Menschen das als Teil ihrer Identität nicht mehr wollten, war uns vollkommen fremd. Der Brexit hat das UK entzweit. Wir haben das Gefühl, dass es kein Vereintes Königreich mehr ist.» Was fand sie schlimmer, Brexit oder Lockdown? Louise lacht, aber bitter. «Die Pandemie hat die Folgen des Brexit maskiert. Wer den für eine gute Idee hielt, kann jetzt nicht klar erkennen, dass es keine gute Idee war, denn die Pandemie war schlimm für alle, besonders für alle Freelancer, mit Geldsorgen und Identitätskrisen.» Sie selbst hat in der auftrittslosen Zeit social media als Kommunikationsmittel entdeckt. «Das richtete mich auf! Es waren 140 junge Sängerinnen und Sänger aus 25 Nationen, denen ich Feedbacks geben konnte. Ich wäre im Himmel gewesen, wenn es schon während meines Studiums die Möglichkeit gegeben hätte, Tipps von Leuten at the top of their game zu bekommen!» Auf der Höhe des Spiels ist sie nun selbst, die wenig später, noch mit dicken Sportschuhen und schon mit Zofenschürze, dem Grafen gegenübersteht, dritter Akt, erste Szene. Susanna lässt ihn auf ein Date hoffen, das ist Teil ihres Plans, sie lügt also. Oder? Es fasziniert sofort, wie Louise Alder und Daniel Okulitch die Ambivalenzen offenlegen, die da vom Klavier kommen und aus den Gesangslinien. Eine kleine Hand bewegung, ein kurzer Blick, ein Ton, den sie von ihm übernimmt… Ja, der Conte ist ein egomaner Macho, aber seine Sehnsucht ist tief. Ja, Susanna spielt mit ihm, aber ungefährlich ist das Spiel nicht. Daran wird nun gefeilt. Heikle Intimität, feine Komik, ein Labor der Emotionen, Hochspannung, die sich zwischendurch in Probenspässen entlädt. Mit Mozart würde sie gern einen trinken gehen, hat Louise gesagt, die so alt ist wie der Komponist, als er starb. «Er kannte das Leben, und wie. Das Leben muss zu seiner Zeit auf eine Weise hart gewesen sein, die wir nicht ergründen können. Und er hatte einen Sinn für dreckige Witze. Das mag ich sehr.» Volker Hagedorn
36 Podcast
in l a M lius te r a H Zwischenspiel Der Podcast des Opernhauses
Am Opernhaus Zürich sang sie alle wichtigen Mozart-Partien ihres Fachs, arbeitete mit wichtigen Künstlerinnen und Künstlern wie Ruth Berghaus, Nikolaus Harnoncourt und Franz Welser-Möst zusammen und gehörte über viele Jahre fest zum Ensemble: die Sopranistin Malin Hartelius. Im neuen Podcast spricht sie über ihre Karriere in Zürich und interna tional, über ihr Leben zwischen Oper und Familie und darüber, warum manche Fragen Männern nie gestellt werden.
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Fragebogen 37
Morgan Pearse Aus welcher Welt kommen Sie gerade? Aus dem Kosmos von Georg Friedrich Händel, in den ich in San Francisco und Deutschland eingetaucht war, bevor ich für Figaro nach Zürich kam. Wie lange begleitet Mozart Sie schon durch Ihr Sängerleben? Die erste Partie, die ich gelernt habe, war Sarastro an der High School. Figaro war dann die erste Rolle, die ich nach Abschluss meiner Ausbildung überhaupt auf einer Bühne gesungen habe, allerdings der in Rossinis Il barbiere in Siviglia. Er begleitet mich also schon während meiner gesamten Laufbahn. Was macht einen guten Figaro aus? Ich finde, er muss Verletzlichkeit zeigen, besonders in der Eifersuchts-Arie des vierten Aktes. Figaro sucht immer Lösungen für die auftauchenden Probleme, aber er befürchtet, dass alles vergeblich ist, weil er glaubt, dass seine Susanna lieber den Grafen will. Das stürzt ihn in eine Eifersuchtsspirale. Woran merkt man, dass Sie als gebür tiger Australier in London zu Hause sind? Auf jeden Fall an meiner Vorliebe für eine gute Tasse Kaffee am Morgen! Manche mögen sagen, dass ein «Flat White» eine australische Sucht ist, ich sage nur: Er ist köstlich!
vor allem Sachliteratur. Aber ein Buch, das ich andauernd benutze, ist das neue Kochbuch meines Freundes Alan, in dem es viele Gerichte gibt, die man einfach in einem Topf kochen kann. Perfekt, wenn man nicht zu Hause ist und viele Proben hat. Welche CD hören Sie immer wieder? Schon so lange ich denken kann, bin ich ein Fan von Händel, vor allem, weil er mit einfachen Harmonien so grosse Emotionen erzeugen kann. Ich liebe die Figur der Rodelinda und höre mir Dorothea Röschmann in dieser Rolle immer wieder an. Wunderschön! Welchen nutzlosen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten? Ich hatte diese etwas zwanghafte Angewohnheit, Duschhauben aus Hotelzimmern mit nach Hause zu nehmen, ohne zu wissen, was ich eigentlich mit ihnen anfangen soll. Während der Pandemie haben mein Partner und ich, wie viele auch, angefangen, Sauerteigbrot zu backen. Und es war praktisch, die Hauben zum Abdecken des Brotes während der Gärung zu verwenden. Also waren sie doch nicht ganz so nutzlos.
Welche Bildungserfahrung hat Sie besonders geprägt? Ich hatte das grosse Glück, in der High School von Musik umgeben zu sein. Das ist leider nicht normal für Kinder in Australien. Bei uns war mehr als ein Drittel der Schule im Chorprogramm. Ich war jedes Mal beseelt, wenn wir Bach gesungen haben.
Sie schmeissen eine Party für Mozart. Was gibt es zu trinken und zu essen? Und über was reden Sie mit ihm, be vor er betrunken ist? Ich würde natürlich darauf bestehen, selbst für das Catering zu sorgen. Vielleicht ein australisches BBQ? Dazu grosse Mengen von kräftigem austra lischen Shiraz. Im Gespräch müssten wir ein für alle Mal die Salieri-Gifttod-Debatte aus der Welt schaffen. Dass Salieri Mozart vergiftet hat, ist ja Unsinnt, aber immer noch eine unausrottbare Legende.
Welches Buch würden Sie am liebsten nie aus der Hand legen? Vor allem während der Pandemie habe ich wieder angefangen, viel zu lesen,
Morgan Pearse gibt mit dem Figaro in Mozarts «Le nozze di Figaro» sein Hausdebüt in Zürich. Er wurde in Australien geboren und studierte an der Royal College of Music International Opera School in London.
Proben zu «Boyband» von Dominik Slavkovský mit George Susman, Luca D’Amato, Jesse Fraser und Cohen Aitchison-Dugas
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Ballett Zürich 39
Jung, divers, rebellisch Am 14. Juni hat eine neue Ausgabe unserer Studioproduktion mit Werken junger Choreografinnen und Choreografen Premiere. Neun Mitglieder des Balletts Zürich und des Junior Balletts bringen Stücke zur Uraufführung, die sie selbst kreiert haben Text Michael Küster Fotos Admill Kuyler
Marta Andreitsiv ist zum ersten Mal beim choreografischen Nachwuchsprogramm des Balletts Zürich dabei. In ihrem Stück In all of us führt sie drei Lebensgeschichten zusammen und fragt, wie sich Fremd- und Eigenwahrnehmung unterscheiden. Auf einer von Spiegeln dominierten Bühne tanzt sie gemeinsam mit Greta Calzuola und Lukas Simonetto, die wie sie selbst zum Junior Ballett gehören.
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Auch wenn man von Freunden und Bekannten umgeben ist, kann man sich gelegentlich ganz schön allein fühlen. Wie gerät man in eine solche Siuation? Gibt es Wege, um der Isolation zu entkommen? Oder muss man die Einsamkeit aushalten, weil sie zum Leben einfach dazu gehört? Diesen Fragen geht Luca Afflitto in sei nem Stück Like No Time Has Passed nach.
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Lucas Valente tanzt seit 2017 im Ballett Zürich. Er ist längst dabei, sich neben seiner Tänzerkarriere auch als Choreograf zu profilieren. In diesem Sommer wird er am renommierten «Concours des Jeunes Chorégraphes» im französischen Biarritz teilnehmen. In der letzten «Junge Choreo grafen»-Ausgabe beschäftigte er sich mit den dunklen Welten der Schizophrenie. In seinem Stück Lost in Memories dreht sich bei ihm diesmal alles um das Thema «Erinnerung». Jesse Fraser, ebenfalls Tänzer im Ballett Zürich, hat dafür einen Museumsraum der Er innerungen mit verschiedenen Objekten kreiert, zu denen sich sechs Tänzerinnen und Tänzer auf sehr unterschiedliche Weise in Beziehung setzen werden.
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Luca D’Amato gehört seit 2019 zum Junior Ballett. Mit seiner Choreografie So dark I can almost see you geht für ihn ein Traum in Erfüllung. Dass er Rafaelle Queiroz, eine der charismatischsten Tänzerinnen des Balletts Zürich, tatsächlich für diesen, von ihm kreierten Pas de deux gewinnen würde, hätte er nicht zu hoffen gewagt. Eine der Ideengeberinnen für sein Stück ist Nyx, die griechische Göttin der Nacht.
Nicht nur als choreografisches, sondern auch als tänzerisches Doppel präsentieren sich Achille de Groeve und Riccardo Mambelli. Inspiriert von Paolo Sorrenti nos Film La grande bellezza, feiern sie in ihrem Stück die allzu oft bedrohte Schönheit des menschlichen Lebens.
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Dominik Slavkovský bringt aus den vergangenen «Junge Choreografen»-Jahr gängen bereits einiges an Erfahrung mit. So hat er zum Beispiel ein Videogame in eine überaus witzige Choreografie ver wandelt und sich von einem angeblichen UFO-Absturz zu einem hintersinnig- humorvollen Stück inspirieren lassen. Im Mittelpunkt seiner neuesten Kreation mit dem Titel Boyband steht die britische Sound-Pionierin Daphne Oram (19252003). Mit «Oramics», einem von ihr entwickelten System zur grafischen Klang erzeugung, war sie in den 1960-er Jahren eine Wegbereiterin experimenteller elektronischer Musik.
Kevin Pouzou hat in seiner Laufbahn nicht nur viele Prinzen und Liebhaber getanzt, sondern ist auch in vielen abstrak ten Choreografien aufgetreten. Pas de deux mit den verschiedensten Partnerinnen gehörten hier wie dort fast automatisch dazu. Genug Erfahrung also, um sich nun selbst kreativ mit dieser Kunstform und dem tänzerischen Dialog von Mann und Frau auseinanderzusetzen. In seinem Pas de deux geht es um den Erwerb von Widerstandsfähigkeit für schwierige Si tuationen. Es tanzen Aurore Lissitzky und Riccardo Mambelli.
Junge Choreograf:innen 2022 Martha Andreitsiv Luca Afflitto Luca D’Amato Achille de Groeve / Riccardo Mambelli Théo Just Kevin Pouzou Dominik Slavkovský Lucas Valente Es tanzen Mitglieder des Balletts Zürich und des Junior Balletts
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Premiere 14 Jun 2022 Weitere Vorstellungen 15, 21, 22, 23 Jun 2022 Studiobühne
Dass man die Gender-Diskussion auch choreografisch fassen kann, zeigt Théo Just in seinem Stück mit dem beziehungs reichen Titel W(e)men. Gemeinsam mit vier Tänzerinnen erzählt er vom Platz der Weiblichkeit in unserer Gesellschaft und thematisiert die noch immer in vielen Be reichen anzutreffende Ungleichbehand lung von Frauen und Männern.
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Wer zuletzt lacht Den Saisonausklang bestreitet eine der sympathischsten Bühnenfiguren: Giuseppe Verdis unsterblicher Sir John Falstaff, verarmter Cavaliere auf Freiers füssen, der, zum Gefoppten geworden, dennoch am Ende lachend auf die Welt blickt.
Fotos: Judith Schlosser
mit Bryn Terfel, Irina Lungu, Konstantin Shushakov u. a. Vorstellungen: 3, 5, 8, 10 Juli 2022
Die geniale Stelle 47
…davon muss man schweigen Vier Verse aus Richard Wagners «Tristan und Isolde»
Für König Marke bricht eine Welt zusammen: Der Held Tristan, für den er alles getan hat, den er zum Thronerben gemacht hat, auf dessen dringliche Bitte hin er die irische Königstocher Isolde geheiratet hat – der Mensch, dem er am meisten vertraute, hat ihn mit Isolde betrogen. Verzweifelt fragt er seinen Adoptivsohn nach dem Grund für dieses Handeln, und der sagt: «O König, das – / kann ich dir nicht sagen; / und was du frägst, / das kannst du nie erfahren.» Was für eine kaltschnäuzige Antwort! Nicht nur, dass Tristan die Antwort ver weigert, er scheint ihn auch noch zu verhöhnen. Denn die Redundanz der beiden Sätze, die er äussert, kann doch nur Hohn sein. Das wird sichtbar, wenn man seine Antwort leicht paraphrasiert: «Das sage ich dir nicht, also wirst du es nie erfahren.» Warum tut Tristan das? Es ist doch kaum denkbar, dass Wagner seinen Helden als Zyniker entlarven und damit aller Sympathien beim Publikum berauben will, das sein Schicksal doch noch eine lange Strecke mit Interesse verfolgen soll. Lässt sich dieser Antwort also ein anderer, verborgener Sinn abgewinnen? Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass die oben gegebene Paraphrase den Inhalt unauffällig entstellt. Denn es heisst: «…das kann ich dir nicht sagen», nicht «will» oder «werde». Diese Formulierung ist doppelsinnig: Sie bedeutet entweder, dass etwas nicht in Worten ausgedrückt werden kann, oder aber einfach «ich weiss es nicht». In beiden Fällen verschwindet der Eindruck des Hohns sofort: Wenn Tristan nicht weiss oder nicht in Worten ausdrücken kann, warum das geschehen ist, ist es nicht seine Absicht, es Marke zu verschweigen. Nun kann man ausschliessen, dass Tristan den Grund seines Handelns nicht kennt, es bleibt also nur, die beiden ersten Verse ganz wörtlich zu verstehen: Tristan ist unfähig, den Grund zu nennen. Aber warum dann noch die nur leicht variierte Wiederholung dieser Aussage? Wenn Tristan es ihm nicht sagen kann, wird Marke es nie erfahren. Warum muss das noch einmal betont werden? Bei wiederholtem Lesen fällt ein Wort mehr und mehr auf, das ebenfalls doppeldeutig ist: «erfahren». «Etwas erfahren» kann heissen, dass man eine Information empfängt, oder aber, dass man etwas erlebt – eine Erfahrung macht. Versteht man das Wort in diesem letzteren Sinne, ist offensichtlich, dass die beiden Sätze keineswegs dasselbe besagen, sondern grundsätzlich verschiedene Aspekte des Gedankens beleuchten. Tristans Handeln liegt eine alles verändernde Erfahrung zugrunde: Als Isolde und er glaubten, Gift genommen zu haben und dem Tod unmittelbar gegenüber zu stehen, erkannten sie blitzartig, dass ihre Selbstidentifikation mit ihren sozialen Rollen ein Irrtum war: «Ich bin ja gar nicht die gedemütigte Königin, ich bin ja gar nicht der gepriesene Held, ich bin meine Liebe, die ich fast verraten hätte.» Mit dieser Er kenntnis sind die beiden den Konventionen des höfischen Lebens, der Welt des Tages für immer entronnen: «Trennen konnt’ uns sein Trug, doch nicht mehr täuschen sein Lug.» Die Erkenntnis, dass die Welt, die sie bisher bewohnten, eine Täuschung ist, befreit sie, trennt sie aber auch unwiderruflich von allen, die ihre neu gewonnene Gewissheit nicht teilen. Tristan kann diese Erfahrung nicht in Worten vermitteln, Marke müsste selbst erfahren, also selbst erleben, was Tristan und Isolde erfahren haben, und das ist dem König nicht möglich. Man kann von Wagners poetischen Leistungen halten, was man will, man wird aber nicht bestreiten können: Wer diese, die Grenzen menschlichen Verstehens transzendierende, Idee in vier knappe und präzise Verse zu fassen vermag, ist unbestreitbar ein Dichter. Werner Hintze
Fotos: Suzanne Schwiertz
Wiederaufnahme 49
Mild und leise Eine Liebessehnsucht, die sich erst im Tod erfüllt: Davon erzählt «Tristan und Isolde», Richard Wagners radikalstes Werk für das Musiktheater. Dessen Entstehung war eng mit Zürich verbunden, was sich in der hochgelobten Inszenierung von Claus Guth subtil spiegelt. Mit Camilla Nylund, Michelle Breedt, Michael Weinius, Franz Josef Selig u. a. Vorstellungen: 26, 29 Jun; 2, 6, 9 Jul 2022
50 Opernhaus Jung
Ein Teil der Gesellschaft sein Das Opernhaus Jung ermöglicht Jugendlichen im Rahmen des Projekts «#Angels» eine Choreografie zu erarbeiten und auf der Studiobühne aufzuführen. Darunter sind auch Integrationsschüler:innen der Fachschule Viventa. Ein Gespräch mit der Klassenlehrerin Kathrin Lutterbeck Fotos Maria Cheilopoulou
Kathrin Lutterbeck, ich war gerade bei einer Choreografie-Probe des Projekts #Angels und muss sagen, dass ich selten eine so konzentrierte Schulklasse erlebt habe. Sind deine Schüler:innen immer so diszipliniert? Die Jugendlichen, die an diesem Projekt teilnehmen, kommen aus drei verschiedenen Integrationsklassen und sind alle freiwillig dabei. Wir zwingen niemanden. Im Vergleich zu einer regulären Schulklasse ist die Altersspanne ausserdem viel breiter: Viele sind nicht mehr in der Pubertät – oder haben nie eine gehabt. Anders als bei einer Klasse, die aus lauter Teenagern besteht, übernehmen deshalb die Älteren die Verantwortung und bringen eine andere Dynamik in die Gruppe. Disziplinarisch haben wir in unserer Schule aber auch sonst kaum Probleme. Du bist die Lehrerin einer dieser Klassen. Auf welcher Schulstufe unterrichtest du? Wir bieten ein 10. Schuljahr an, ein sogenanntes Berufsvorbereitungsjahr. Die Jugendlichen in unseren drei Klassen sind aber alle erst seit kurzem in der Schweiz. Davor sind sie in einem anderen Land zur Schule gegangen, einige von ihnen haben noch nie eine Schule besucht. In der Regel können sie nicht gut genug Deutsch, um sich auf eine Lehrstelle zu bewerben. Unser Ziel ist es, die Schüler:innen soweit vorzubereiten, dass sie sich in einem Jahr bei einem Lehrbetrieb vorstellen können. Das Choreografie-Projekt des Opernhauses, an dem wir bereits in der Vergangenheit mit mehreren Klassen teilgenommen haben, ist für die Schüler:innen ein grosser Gewinn, auch deshalb, weil sie in diesem Zwischenjahr lernen sollen, sich ausserhalb der Schule selbständig in Zürich zu organisieren. Warum sind die Jugendlichen in deiner Klasse nach Zürich gekommen? Sie sind aus ganz unterschiedlichen Gründen hier: Die einen haben seit Geburt einen Schweizer Pass, sind aber beispielsweise in Südamerika aufgewachsen und durch einen Umzug der Eltern neu in die Schweiz gekommen, wo sie nun in kurzer Zeit in unsere Sprache und Kultur hineinfinden müssen. Andere, die beispielsweise aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder Somalia kommen, haben eine Flucht und oft ein schreckliches Schicksal hinter sich. Die einen sind also mit dem Flugzeug direkt in die Schweiz gekommen, die anderen haben teilweise eine mehrjährige Reise hinter sich mit Erfahrungen im Gefängnis, im Flüchtlingsboot und all jenen Dingen, von denen man in den Zeitungen liest. Man kann diese Schicksale weder kurz
Kathrin Lutterbeck ist mit 30 Jahren an die Fachschule Viventa gekommen und unterrichtet dort Integrationsklassen.
Opernhaus Jung 53
zusammenfassen noch vergleichen. Entsprechend unterschiedlich leben die Jugendlichen hier auch: Einige wohnen bei der Familie, andere wissen gar nicht, wo ihre Familie ist oder ob es sie noch gibt. Was bringst du persönlich für die Arbeit mit einer solchen Klasse mit? Ich bin gelernte Primarlehrerin und habe mich schon sehr früh für die Integration engagiert. Mit 30 Jahren bin ich an die Fachschule Viventa gekommen und hatte damals das Gefühl, bereits meine Lebensstelle gefunden zu haben. Die Arbeit mit den Jugendlichen ist das, was ich am liebsten mache. Besonders fasziniert mich an der Integrationsarbeit die Vielseitigkeit. Mit Schubladendenken kommt man hier nicht weit. Jedes Schicksal ist einzigartig, und alles kommt immer anders als man denkt... Wie würdest du die Aufgabe der Integration definieren? Für mich geht es darum, eine Lust zu wecken, hier zu partizipieren und sich nicht zu verschliessen: Die Jugendlichen sollen das Gefühl haben, ein Teil der Gesellschaft, ein Teil von diesem Zürich zu sein. Und sie sollen eine gewisse Selbstsicherheit kriegen: Jeder hat das Recht, hier zu sein und einen Platz einzunehmen. Sie müssen auch lernen, dass sie für das, was sie hier kriegen, nicht öfter «Danke» sagen müssen als die einheimischen Jugendlichen. Wie sieht der Schulalltag deiner Klasse aus, wenn gerade keine Choreografie- Probe ansteht? Wir unterrichten sie in Deutsch, Allgemeinbildung, Sport, Informatik und Mathematik. In meiner Klasse habe ich einige Schüler:innen, die noch nie eine Schule besucht haben. Um sie für die Lehrstelle vorzubereiten, geht es in diesem PasserelleJahr darum, ihren Rucksack zu füllen, oder auch einfach mal zu sehen, was überhaupt drin ist. Sie bringen ja auch viel mit. Wir machen eigentlich eine Art Stand ortbestimmung. Das #Angels-Projekt kommt in dieser Phase sehr gelegen, weil es in einem choreografisch-musikalischen Erarbeitungsprozess ja auch darum geht, sich zu zeigen, seinen Platz einzunehmen, das Verhalten in einer Gruppe auszu testen, den Umgang miteinander zu lernen und vor allem auch zuzuhören. Aber die Jugendlichen dürfen sich in diesem Rahmen auch einmal ausprobieren und ein bringen. Das finde ich wichtig. In der Schule verhalten sie sich manchmal fast zu angepasst. Du hast am Anfang gesagt, dass einige der Jugendlichen «gar keine Pubertät hatten». Hat diese Angepasstheit damit zu tun? Wenn man mit 14 Jahren in Afghanistan eine Flucht beginnt, ist das genau die Zeit der Pubertät und in diesem Fall eine Zeit, in der man von heute auf morgen auf sich selbst gestellt ist und «erwachsen» sein muss. Die Pubertät ist aber eigentlich die Phase, in der es darum geht, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden oder ihn sich zu erkämpfen. Diese Arbeit müssen wir mit unseren Schüler:innen verstärkt nachholen. Das kann auch mal persönlich und emotional werden. In meiner Klasse habe ich deutlich mehr Männer als Frauen. Viele glauben deshalb wohl, dass ich hier mit einem disziplinlosen Tohuwabohu zu kämpfen habe. Das ist aber nicht so. Niemand hier ist daran interessiert, sich Feinde zu machen.
Schülerinnen und Schüler der Fachschule Viventa bei einer Choreografieprobe zum Projekt «#Angels»
Es würde dem migrationskritischen Teil unserer Gesellschaft gut tun, ein paar Stunden in eurer Schule oder in einer der Choreografie-Proben zu sitzen… Ja, die Vorbehalte sind krass. Das erleben wir ständig. Wir gehen demnächst eine Woche ins Schullager und merken, dass die Leute dort zuerst einmal Angst haben: Angst, dass unsere Jugendlichen im Coop stehlen, Angst, dass sie laut sind und pöbeln. Sobald sie aber bereit sind, hinzuschauen und diese Menschen zu erleben, merken sie, dass diese Ängste weitgehend unbegründet sind. Unsere Jugendlichen
#Angels Drei Choreografien mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen Choreografie Mirjam Barakar, Bettina Holzhausen, Sonia Rocha Musik Philipp Schaufelberger Kostüme Natalie Péclard Tänzer:innen Sekundarschule Thalwil Integrationsschüler*innen Fachschule Viventa Zürich Freiwillige Jugendliche und junge Erwachsene aus dem Angebot 16+ von Opernhaus Jung Premiere 6 Jul 2022 Weitere Vorstellungen 7, 8 Jul 2022 Studiobühne
wollen niemandem Angst machen. Aber sie haben viel Energie und Empathie. Vor zwei Wochen ist ein Schüler aus der Ukraine in unsere Klasse gekommen. Er kann noch kaum Deutsch. Aber für die Schüler war es völlig selbstverständlich, sich um ihn zu kümmern und ihn aufzunehmen. Sie wissen ja aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn man nichts versteht. Gestern hat dieser Schüler seinen ersten Vortrag gehalten. Er konnte noch nicht viel sagen. Aber es haben alle wie wild applaudiert! Mit der gleichen Haltung begegnen sie auch dem Schüler, der im Roll stuhl sitzt. Er wird nicht überbehütet, aber es ist selbstverständlich, dass er über allhin mitgenommen wird. Er gehört dazu. Das konnte ich auch in euren Proben beobachten… Er wurde in Syrien von einem Auto angefahren. Ein Arzt hat ihn dann in die Schweiz gebracht, damit er hier bessere Behandlungsmöglichkeiten hat. Sein Kollege, der mit ihm zusammen in den Unfall verwickelt wurde, ist gestorben, er selbst hat schon viele Operationen hinter sich. Ich finde es erstaunlich, wie gut er in diesem Projekt mitmacht. Manchmal vergesse ich, dass er im Rollstuhl sitzt. Ich gehe davon aus, dass ihr als Lehrpersonen regelmässig mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert seid. Gehört es zu eurer Aufgabe, sie zu themati sieren und aufzuarbeiten? Früher habe ich oft versucht, diese Erfahrungen in den Unterricht einzubeziehen. Heute ist es mir wichtiger, den Schüler:innen eine «normale» Zeit zu ermöglichen. Sie sollen nicht täglich darauf reduziert werden, wie und warum sie hierhinge kommen sind und was ihnen in der Vergangenheit alles passiert ist. Sie sollen auch einmal normal sein dürfen. Das #Angels-Projekt hilft ihnen dabei, sich mit etwas Spielerischem auseinanderzusetzen, mit einer Choreografie, vergleichsweise einer «Nichtigkeit», und nicht immer mit den existenziellen Fragen, die viele von ihnen mitbringen und deswegen schlaflose Nächte haben. Es ist mir wichtig, ihnen viele positive Gefühle mitzugeben. Warum ist die Zusammenarbeit mit dem Opernhaus für euch interessant? Ist das die Kultur, die Jugendliche mit Migrationshintergrund benötigen? Einmal die Möglichkeit zu haben, auf einer Bühne des Opernhauses zu stehen und die Erfahrung zu machen, dass Leute kommen, um ihre Aufführung zu sehen, das erschliesst den Jugendlichen aus unseren Klassen auf jeden Fall einen Bereich, mit dem sie sonst nie in Kontakt gekommen wären. Es geht uns in der Integration ja darum, dass sie sich auf verschiedenen Ebenen in der Stadt zu bewegen lernen und nicht nur in ihrer Community. Dass diese Produktion einen so hohen Stellenwert hat und dass die Schüler:innen professionell mit Bühne, Kostüm, Licht, Musik und viel Organisation umgeben werden, das ist für ihr Selbstbewusstsein viel wert. Es geht um die Erfahrung, etwas zu leisten und dann dafür gefeiert zu werden. Aber sie müssen dabei auch lernen, durchzuhalten. Irgendwann kommt bei vielen der Moment, in dem sie sich denken: Das ist mir jetzt doch alles zu viel. Oder sie können sich am Morgen nicht motivieren, zur Probe zu gehen. Für diejenigen, die gerade volljährig geworden sind und jetzt alleine in Zürich leben, ist das zuweilen eine richtige Herausforderung. Teil des #Angels-Projekts ist es auch, dass ihr mit der Klasse eine Ballett-Vorstellung am Opernhaus anschaut. Wie hat den Jugendlichen der Ballettabend Angels’ Atlas gefallen? Tosender Applaus! Ich glaube, die Aufführung hat ihnen sehr gut gefallen. Die drei Choreografien von Crystal Pite und Marco Goecke haben aber auch Unsicher heiten ausgelöst und Fragen aufgeworfen. In Angels’ Atlas geht es ja auf emotionale Weise um Erfahrungen des Todes und des Jenseits, das andere Stück von Crystal Pite, Emergence, kann mit seiner Organisation von insektenartigen Schwärmen auch
Opernhaus Jung 55
leicht als militärisch aufgefasst werden. Aber allein die athletischen Körper der Tänzer:innen machen auf Jugendliche in diesem Alter natürlich grossen Eindruck. Ausserdem wurden wir von der Tanzpädagogin Bettina Holzhausen sehr gut vorbereitet und haben richtig tolle Plätze gekriegt. Wir wurden nicht irgendwo in der hintersten Reihe parkiert. Die Schüler:innen wissen, wie teuer diese Plätze normalerweise sind, und sie schätzen das sehr. Bringt sie das nicht wieder in die Lage, besonders dankbar sein zu müssen? Nein, dieses Gefühl versuche ich ihnen nicht zu geben. Ich sage ihnen: Nehmt das Angebot an und geniesst es. Wahrscheinlich werdet ihr nie mehr auf über 100 Franken teuren Plätzen im Opernhaus sitzen. Die Schüler:innen wollen natürlich schön angezogen zu so einem Abend gehen. Einzelne haben sich in der Vergangen heit deshalb auch in Unkosten gestürzt. Das versuchen wir seither zu vermeiden. Ich selbst habe während der Vorstellung den Stress, zu kontrollieren, dass sie nicht zu viel am Handy hängen; aber Bettina Holzhausen sagt, der unkontrollierte Umgang mit dem Handy sei nicht nur bei den jungen Zuschauer:innen ein Problem... Der organisatorische Aufwand für dieses Projekt ist für uns Lehrpersonen manchmal sehr gross. Zuweilen frage ich mich, warum wir wieder zugesagt haben. Aber wenn die Jugendlichen es am Ende geschafft haben und unter grossem Jubel bei der Aufführung auf der Studiobühne stehen, dann weiss ich, dass es sich gelohnt hat! Das Gespräch führte Fabio Dietsche
56 Auf der Couch
Falstaff
Im Jahr 1428 liess der Bischof von London die Gebeine des Oxford-Theologen John Wycliff (1330 -1394) ausgraben, verbrennen und die Asche in die Themse schütten. 13 Jahre vorher waren auf dem Konzil von Konstanz bereits die theologi schen Werke des Reformators verbrannt worden, der viel von Luthers Gedanken vorwegnahm und anders als dieser die politischen Folgen seiner Lehren nicht mehr selbst erlebte: Aufstände von Anhän gern, die gegen ihre Bischöfe rebellierten. Die Bischöfe schlugen zurück und machten aus dem frommen Denker einen Verbrecher. Einer der Saufkumpane des Prinzen in Shakespeares Königsdrama Heinrich IV trug in der ersten Fassung den Namen Oldcastle und ist als historische Figur be legt. Er war einer der Anführer des Aufstands der Wycliff-Anhänger und weigerte sich, seinem Glauben abzuschwören. Schliesslich wurde er hingerichtet. In den Pamphleten der Kirche gegen die Ketzerei hiess es später, er sei ein Raubritter gewe sen, ein Fettwanst und Grossmaul. Shake speare fand die Figur des Oldcastle in anonymen Quellen. Als er sein Drama
verfasste, hatte sich das britische Königshaus von der katholischen Kirche getrennt. Oldcastle war jetzt ein Märtyrer und Freiheitskämpfer. Angeblich war es keine Geringere als Königin Elisabeth, die Shakespeare dazu bewegte, dem dicken Ritter ein eigenes Lustspiel zu widmen: den grossspurigen, gewissenlosen Schwerenöter, der in Die lustigen Weiber von Wind sor von den Frauen gefoppt wird, die er ausnützen will. Hinter dem Gemütlichen lauert bekanntlich das Ungemütliche. Dieses Thema hat von Shakespeare bis Stevenson und Tolkien die englische Literatur umgetrieben. Im Menschen steckt das Tier, und je mehr er sich über seine Tugenden belügt, desto mehr Macht wird es entfalten. Im Grunde gibt es nur zwei Möglich keiten, das vorbildhaft Erhabene und das abscheulich Animalische zu versöhnen: die Kunst und den Humor. Shakespeare muss das nicht einmal gewusst haben, aber er hat Falstaff auf die Bühne gestellt und Komponisten wie Salieri und vor allem Verdi inspiriert. Dieser Held ist wahrhaftig keiner. Da er dem Ideal des Ritters so gar nicht ent-
spricht, ist es leicht, neben ihm tugendhaft zu erscheinen. In der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde hat Robert L. Stevenson die Verwandlung des frommen Ritters Oldcastle in den unfrommen Falstaff neu erzählt. Der Menschenfreund, Arzt und Naturforscher Dr. Jekyll will der Natur des Bösen auf die Spur kommen, um es definitiv zu besiegen. Er braut einen Trank, der die unterdrückte Wut des Tugendboldes in eine eigene Persönlichkeit formt, eben den Mr. Hyde. Während es anfangs noch gelingt, den Bösewicht rechtzeitig in den angesehenen Bürger zurückzuverwandeln, wird der Zaubertrank jedoch immer schwächer und Mr. Hyde stärker. Gäbe es nicht Wein, gutes Essen und die Fähigkeit, sich selbst zu überschätzen, Falstaff wäre nicht komisch, sondern gefährlich wie Mr. Hyde. Aber da er nun einmal so ist, wie ihn Shakespeare geschaffen hat, ein fetter Mann, der nachts gut schläft, dürfen auch wir über ihn lachen, wie das Gefolge des Bacchus über den fetten, trunkenen Silen.
Illustration: Anita Allemann
Die Anziehungskraft des Mr. Hyde Von Wolfgang Schmidbauer
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