Mosè in Egitto

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Premiere Mosè in Egitto

Mosè in Egitto Samstag, 19. September 2009, 19.00 Uhr In italienischer Sprache mit deutscher Übertitelung

MOSÈ IN EGITTO Azione tragico-sacra in drei Akten (sechs Bildern) von Gioachino Rossini (1792-1868) Libretto von Andrea Leone Tottola nach der Tragödie «L’Osiride» (1760) von Francesco Ringhieri Uraufführung: 1. Fassung: 5. März 1818, Teatro San Carlo, Neapel 2. Fassung: 7. März 1819, Teatro San Carlo, Neapel Zürcher Erstaufführung: 5. Dezember 1838, Zürcher Aktientheater Musikalische Leitung Inszenierung Bühnenbild Kostüme Lichtgestaltung Choreinstudierung Choreografie Faraone Amaltea Osiride Elcìa Mambre Mosè Aronne Amenofi

Paolo Carignani Moshe Leiser, Patrice Caurier Christian Fenouillat Agostino Cavalca Christophe Forey Hans Rudolf Kunz Jürg Hämmerli Beate Vollack Michele Pertusi Sen Guo* Javier Camarena* Eva Mei* Peter Sonn* Erwin Schrott* Reinaldo Macias* Anja Schlosser* *Rollendebüt

Orchester der Oper Zürich Chor der Oper Zürich Figuranti speciali Unterstützt von Evelyne und Herbert Axelrod Weitere Vorstellungen Mi 23. Sept. 19.00 Premieren-Abo B Fr 25. Sept. 19.00 Belcanto-Abo So 27. Sept. 19.00 Freier Verkauf Fr 02. Okt. 19.00 Freitag-Abo A So 04. Okt. 20.00 Sonntagabend-Abo B Do 08. Okt. 19.00 Donnerstag-Abo B So 11. Okt. 14.00 Sonntagnachmittag-Abo A Do 15. Okt. 19.30 Migros-Abo A So 18. Okt. 20.00 Volksvorstellung Di 20. Okt. 19.30 Dienstag-Abo 2 Zum letzten Mal in dieser Saison Fr 23. Okt. 19.00 Misch-Abo

6 Sven-Eric Bechtolf

Gioachino Rossini

Mit «Mosè in Egitto» gelangt eine der selten gespielten Seria-Opern von Gioachino Rossini auf die Zürcher Opernbühne – eine Herausforderung für das belgischfranzöische Regieduo Moshe Leiser und Patrice Caurier, die nach ihrer brilliant-witzigen Inszenierung von Halévys «Clari» zum zweiten Mal in Zürich arbeiten. Im Gespräch erzählen die beiden Regisseure, warum «Mosè in Egitto» keine biblische Oper ist, was Rossini mit amerikanischen Fernsehserien zu tun hat und warum sich das Rote Meer nicht einfach teilen lässt. Moshe Leiser, Patrice Caurier, nachdem Sie vor anderthalb Jahren Jahren Halévys «Clari» mit neuem Leben erfüllt haben, widmen Sie sich mit Gioachino Rossinis «Mosè in Egitto» einem Werk, das mit Ausnahme der berühmten Preghiera des Moses dem breiten Publikum unbekannt ist. Was hat Sie bewogen, sich mit «Mosè in Egitto» auseinanderzusetzen? PC: Wir haben uns in der Vergangenheit viel mit dem Rossini der opera buffa beschäftigt. Mehrfach haben wir «Il Barbiere di Siviglia», «Il Turco in Italia» und «La Cenerentola» inszeniert – Opern, die wirklich geniale Musik zu bieten haben. Wir sind froh, dass sich in Zürich nun die Gelegenheit ergeben hat, eine opera seria auf die Bühne zu bringen. Das ist, als ob man ein Land, das man bisher nur bei Tageslicht gesehen hat, nun endlich auch bei Nacht kennenlernt. ML: Natürlich wollten wir nach der erfreulichen Erfahrung mit «Clari» im vorigen Jahr auch unsere Verbindung mit dem Zürcher Opernhaus ausbauen. Selbst unter Rossini-Spezialisten diskutiert man, ob «Mosè in Egitto» der späteren französischen Oper «Moïse et Pharaon» vorzuziehen sei. Hätte es für ein belgisch-französisches Regieduo nicht nahe gelegen, sich der letzteren Fassung zu widmen? ML: Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass es wirklich schwer ist, Sänger zu finden, die ein gutes Französisch singen. Für die italienische Oper ist das ein bisschen einfacher. Der zweite Grund ist, dass es sich bei «Mosè in Egitto» um den ganz unverstellten, originalen Rossini handelt. «Moïse et Pharaon» war eine Adaption

für die Pariser Opéra, bei der Rossini sein Jugendwerk den Erfordernissen der Grand Opéra angepasst hat. Wir wollten an den Ursprung zurück. «Mosè in Egitto» trägt die Bezeichnung «Azione tragico-sacra» und wird oft als biblische Oper beschrieben. Ist sie das wirklich? ML: Bei den Opern, die man in der Zeit der Quaresima, der dem Karneval folgenden Fastenzeit, aufführte, orientierte man sich zwar an der Bibel, gleichzeitig nahm man sich jedoch unglaubliche Freiheiten heraus. Wir haben uns gefragt, ob Rossini und seine Mitstreiter das Alte Testament wirklich gelesen haben. Ihre Sicht auf die biblischen Geschichten ist jene des 19. Jahrhunderts. Der Gott des Alten Testaments erscheint als ein Gott der Rache, ein Gott der Macht, ein Gott des Militärs, während der christliche Gott als ein Gott der Liebe und des Verständnisses stilisiert wird. Auch die Darstellung der Lebensumstände der Juden in der ägyptischen Sklaverei ist eigenartig. So gibt es zum Beispiel in der ganzen Oper keinen Chor der Juden, in dem sie ihre Sklaverei beklagen. Die Oper beginnt stattdessen mit der Klage der unter den von Gott gesandten Plagen darbenden Ägypter. Moses spricht nicht über die von seinem Volk ersehnte Freiheit, sondern betont fortwährend die Stärke und Überlegenheit seines Gottes. Schockierend ist der Moment, als er von seinem Bruder Aaron erfährt, dass die Jüdin Elcìa mit dem ägyptischen Prinzen Osiride geflohen ist und lediglich meint: «Wer sich unserem Gott widersetzt, soll mit seinem Leben dafür büssen.» Kein Wort davon steht in der Bibel. Auch Osiride und Elcìa wird man


Moshe Leiser, Patrice Caurier

dort vergeblich suchen. Die Bezeichnung «Azione tragico-sacra» darf nicht ganz so ernst genommen werden. Es ist eine Handlung mit grossen menschlichen und machtpolitischen Konflikten. Eine biblische Oper ist es nicht, sondern eine Oper, die sehr frei auf dem Alten Testament basiert. Im Mittelpunkt steht die Konfrontation zweier Machtmenschen: Pharao und Moses. Wie sehen Sie diese Figuren, und welche Konsequenzen hat diese Sicht für Ihre Inszenierung? ML: Für uns ist das Geschehen in dieser Oper, insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Moses und dem Pharao, ein Art Allego-

Erwin Schrott

Christian Fenouillat

rie auf den Zustand der heutigen Gesellschaft. Pharao ist der Repräsentant einer sehr strengen, materialistischen, reichen Gesellschaft, die sich der eigenen Macht nicht mehr sicher ist, was sehr an den heutigen Zustand der westlichen Welt erinnert. Moses erinnert uns in seinem Fanatismus an all die religiösen Führer gleich welcher Couleur, die sich im Besitz der einzigen Wahrheit wähnen und sich das Recht zum Töten herausnehmen. Das Sicherheitsgefühl des Westens ist im Schwinden begriffen, die Angst vor Terrorismus, vor Extremismus ist zur täglichen Begleiterin geworden. Wir sehen uns Kräften gegenüber, die unter dem Einfluss religiöser Führer durchaus bereit sind, für ihre

Agostino Cavalca

Werte, ihren Glauben zu sterben. Für welche Werte würden wir im Westen unser Leben geben? Was uns vorschwebt, ist keine plumpe Aktualisierung, kein «Updating» von «Mosè in Egitto». So wie Rossini ein biblisches Märchen erzählt, wollen wir mit Hilfe des Librettos von Andrea Leone Tottola ein modernes politisches Märchen erzählen, über den Konflikt unserer Gesellschaft mit all ihren Ängsten: der Angst vor Machtverlust, Terrorismus, Epidemien... Es spielt keine Rolle, ob es um Juden und Ägypter oder um Israelis und Palästinenser geht. Denn wenn es zu dem Punkt «Mein Gott ist besser als deiner» kommt, ist das Märchen plötzlich traurige Wahrheit.


Premiere Mosè in Egitto

Welche Rolle spielt die Liebesgeschichte zwischen der Jüdin Elcìa und Osiride, dem Sohn des Pharao, die vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Moses und Pharao angesiedelt ist? PC: Das ist eine problematische Beziehung, denn wir haben es hier ja nicht mit Romeo und Julia im Nahen Osten zu tun. Osiride ist in seinem Machtdenken ganz der Sohn seines Vaters. Für uns ist Elcìa der einzige positive Charakter in dieser Oper. Sie versucht, verantwortlich mit ihrer Liebe umzugehen und Konflikte zu vermeiden. Ihre Botschaft lautet: «Hört auf, euch gegenseitig umzubringen, egal ob es um mich, eure Götter oder eure Macht geht. Beendet das Morden!» Elcìa hat deshalb die Hauptrolle in dieser Oper, nicht Moses. ML: Die Beziehung zwischen Elcìa und Osiride als Versuch, Grenzen zu überwinden, scheitert, da sie mit den Machtinteressen Pharaos und dem Fanatismus Moses’ kollidiert. Erst wenn man einen Menschen um seiner selbst, als Individuum und nicht wegen seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen Gemeinschaft liebt, hat Liebe eine Chance auf Erfüllung. Konnten Sie Erfahrungen aus den Buffo-Opern für die Arbeit an dieser Seria verwenden? PC: Zum Teil ist das möglich. Auch in «Mosè in Egitto» stösst man immer wieder auf ähnliche musikalische Strukturen, wie man sie aus den Buffo-Opern kennt. Das Duett «Parlar, spiegar non posso» zwischen Pharao und Osiride erinnerte uns sehr an das Duett zwischen Don Magnifico und Dandini in «La Cenerentola», auch das Quartett «Ah, mira! – Oh ciel!» von Elcìa, Osiride, Amaltea und Aronne könnte durchaus seinen Platz in einer Opera buffa haben. Dass die gleiche Musik in unterschiedlichen dramatischen Situationen funktioniert, spricht für ihre Qualität. Wer wollte Rossini dafür verurteilen, dass er da in seine musikalische Trickkiste greift. ML: Je nach der dramatischen Situation wird diese Musik völlig unterschiedlich interpretiert, so dass man sofort merkt, ob man gerade einer Wahnsinnsszene oder einem Komödienbild beiwohnt. Hier kommen die Interpreten ins Spiel. Sie sind es, die die Interpretation liefern. Die Musik ist das Material, das von den Sängern, vom Dirigenten und vom Regisseur be8

nutzt werden muss, um Bedeutungen heraus zu kristallisieren. Rossinis Kompositionsdramaturgie ist sehr offen. Er schlägt eine Struktur vor, und an uns ist es dann, diese Struktur im Rahmen der dramatischen Situation mit Buffaoder Seria-Leben zu erfüllen. Den Sängern eröffnet das ungeahnte Möglichkeiten. Sie dürfen erfinderisch sein und sich selbst mit Ideen einbringen; von allein funktioniert das nicht. Auf Ihren Proben richten Sie grosses Augenmerk auf eine detaillierte Arbeit am Text. Was wollen Sie durch die intensiven «Leseproben» erreichen, die Sie dem szenischen Probieren konsequent voranstellen? ML: Opernregisseure, die keinen Einfluss darauf nehmen, wie die Musik gesungen wird, sind zu bedauern. Bei einem Schauspielregisseur wäre es undenkbar, dass er mit seinen Akteuren nicht daran arbeitet, wie sie ihren Text darbieten. Der Unterschied zur Oper ist nicht so gross, wie man vielleicht denkt. Auch hier entscheidet sich in Abhängigkeit von der dramatischen Situation, welchen Ausdruck, welche Farbe, welche Akzente ein gesungener Text bekommen soll. Dabei geht es eben nicht nur um die Rezitative, sondern ebenso um die Arie, die Ensembles. Die Musik erwacht in dem Moment zum Leben, wenn sie auf die Bühne gebracht wird. Dabei ist der Komponist natürlich der erste Regisseur. Seinen Intentionen muss man nachspüren und seine Ideen mit der Dreidimensionalität des Bühnenraumes konfrontieren. Wenn man das nicht tut, erschöpft sich die Arbeit im Arrangieren hübscher Bilder zu schöner Musik, doch hat das mit Regie nichts zu tun. Einem Schauspieler kann man sagen: In dieser Situation muss das sehr dramatisch klingen, du musst hier Angst ausdrücken. Bei einem Sänger musst du erklären, wie er das in der Musik realisieren kann. Also: Benutz dieses Staccato, um die Angst auszudrücken. Oder: Deine Vokalise an dieser Stelle klingt leer, wenn du Angst ausdrücken willst, brauchst du eine andere Vokalise, es ist eine andere Art Phrasierung, hier brauchst du eine andere Farbe, es ist nicht die richtige Dynamik etc. 80 Prozent unserer Regie besteht aus solchen Interpretationshinweisen. Die erste Frage ist immer: Wie hören wir die Musik, und wie stellen wir sie uns in der Interpretation durch die Sänger vor? Dabei sind

die Rezitative nur die Spitze des Eisbergs. Im Falle von Moses denkt man zunächst vielleicht, dass alles salbungsvoll und grossem Pathos interpretiert werden muss, weil es sich ja um die Bibel handelt und es um Könige und Propheten geht. Davon versuchen wir wegzukommen. Zu allererst stehen dort Menschen auf der Bühne, die nicht dreimal langsamer sprechen als der Durchschnittsbürger, nur weil sie Propheten sind. Wir wollen Lebendigkeit und keine deklamierend-pompöse Rezitation. Welche Lösung haben Sie für die ausgedehnten Chorszenen gefunden? PC: Wir haben analysiert, in welcher Situation sich die Leute in jeder einzelnen Szene befinden. Meistens gibt es ein Zusammenspiel mit den Solisten. Aber es gibt auch Situationen, in denen man erfinderisch sein muss. Da ist beispielsweise die Arie von Amaltea, der Ehefrau des Pharao, in der sie ihr Herz ausschüttet, es aber ständig diese Einwürfe «Calma te» vom Männerchor gibt, und man eigentlich nicht weiss, woher diese Herren nun gerade kommen. Hier mussten wir einen Trick anwenden, um ihnen eine Daseinsberechtigung zu geben. Ansonsten ist der Chor aber immer in konkrete Situationen integriert. ML: Wir arbeiten sehr gern mit Chören, sie haben eine grosse Kraft auf der Bühne. Wir versuchen immer, Lösungen zu finden, die jede einzelne Person auf der Bühne unverzichtbar für das Erzählen der Geschichte macht und bemühen uns, den Chormitgliedern ebenso grosse Aufmerksamkeit zu widmen wie den Solisten. Den Zürcher Operchor haben wir bei «Clari» und während der Proben zu «Mosè» als sehr spielfreudiges Ensemble kennengelernt. Das sind wunderbare Leute, die es hassen, auf der Bühne zum Herumstehen verurteilt zu sein. Sie wollen aktiv an einer Inszenierung beteiligt sein. Wenn sie fühlen, dass ihre Mitwirkung dabei hilft, eine Geschichte zu erzählen, kennt ihre Motivation keine Grenzen. Wer «Mosè in Egitto» inszeniert, steht unweigerlich vor dem Problem der Teilung des Roten Meeres. PC: Wir können bei dieser spektakulären Szene im dritten Akt nicht mit Hollywood konkurrieren und wollen das auch nicht. Cecil B. De Milles Filmepos «Die zehn Gebote» mit Charl-


oben: Moshe Leiser und Michele Pertusi, unten: Patrice Caurier

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Premiere Mosè in Egitto

ton Heston ist natürlich bis heute im Bewusstsein des Publikums. Was ihm mit den Mitteln des Kinos gelungen ist, ist auf der Opernbühne nicht möglich. Doch wollen wir mit theatralischen Mitteln etwas ähnlich Überzeugendes versuchen. Interessanterweise scheint Rossini selbst mehr am Untergang der Ägypter als an der Flucht der Juden interessiert gewesen zu sein. Er gewährt gerade mal die Zeit einer Fermate, um das Meer zu öffnen, und lässt den Juden etwa zehn Sekunden Zeit für ihre Flucht. Für die nachrückenden Ägypter schreibt er dann wieder vier Minuten Musik, in denen sie im Meer versinken müssen. Ein von Grauen erfüllter Moment am Schluss der Oper und am Ende unserer Inszenierung, in der es um das Aufeinandertreffen zweier Kulturen geht. Hier müssen wir einen Bogen von der metaphorischen Ebene unserer Lesart in die Realität schlagen. Anstatt bei Cecil B.DeMille haben Sie sich an anderer Stelle Inspiration geholt... ML: Als wir uns mit dem Pharao und der problematischen Beziehung zu seinem Sohn beschäftigt haben, haben wir festgestellt, wie nahe die Szene der beiden an der Vater-SohnBeziehung, wie sie in der Fernsehserie «The Sopranos» gezeigt wird, ist. Eine wirklich wunderbare Serie, die am Beispiel eines Mafia-Bosses von der Schwierigkeit erzählt, Macht und Familie unter einen Hut zu bringen. Aber auch in der Serie «24 – Jack Bauer» fanden wir bestimmte Konstellationen aus «Mosè in Egitto» wieder. Auch dort geht es um die Angst vor Terrorismus und jenen Fanatismus, der sich «Ich darf töten, weil ich an meinen Gott glaube» auf die Fahnen geschrieben hat. Ist Ihre Inszenierung Religionskritik mit Rossini-Musik? ML: Wir sind nicht in der Oper, um die Leute irgendwie für ihren Glauben zu verurteilen oder die eine gegen die andere Religion auszuspielen. Auf die Fragen des Lebens muss jeder seine eigenen Antworten finden. Wenn diese Antworten jedoch beginnen, mein Leben zu beeinflussen, wenn Glaube, wenn Religion den Tod anderer Menschen in Kauf nimmt und sich in Intoleranz übt, dann bekommt «Tragedia sacra» eine neue Bedeutung: Religion als Vorwand für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ganz gleich im Namen welchen Gottes. Die Frage danach muss erlaubt sein. Gesprächspartner von Moshe Leiser und Patrice Caurier war Michael Küster.

Rückkehr zu den Wurzeln – Paolo Carignani über Rossini und seine Begeisterung für «Mosè in Egitto» Für Paolo Carignani, der die Zürcher Neuinszenierung von «Mosè in Egitto» dirigiert, bedeutet die Begegnung mit Rossinis Oper eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Der erste Klavierauszug, den er sich als junger Klavierschüler zulegte, war der von «Il Barbiere di Siviglia». Nachdem er sich als Chefdirigent der Frankfurter Oper in den letzten Jahren viel mit Alban Berg, Wagner und Strauss beschäftigt hat, ist er glücklich, zu Rossini zurückzukehren. Aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts, meint er, könne man diesen Komponisten völlig neu entdecken. Nach einem arbeitsreichen Sommer ist er auf Rossini bestens vorbereitet. Schliesslich hat er beim Rossini Opera Festival in Pesaro, wo sich die besten Rossini-Sänger der Welt die Klinke in die Hand geben, erst kürzlich «Le Comte Ory» und die «Petite Messe Solenelle» dirigiert. Am Rande der Aufführungen hatte er Gelegenheit, das Geburtshaus des «Schwans von Pesaro» in Augenschein zu nehmen und sich mit dem Rossini-Spezialisten Alberto Zedda über die Jahre währende Beschäftigung Rossinis mit dem Mosè-Stoff auszutauschen. Nördlich der Alpen habe man noch einigen Nachholbedarf, wenn es darum gehe, den «ganzen» Rossini kennenzulernen. Schliesslich sei er eben nicht nur der Schöpfer komischer Opern wie «Il Barbiere di Siviglia» oder «La Cenerentola», sondern habe auch auf dem Gebiet der opera seria Massstäbe gesetzt, die auf nachfolgende Komponisten nicht ohne Wirkung geblieben seien. Ein Werk wie Verdis «Nabucco» sei ohne das Vorbild von «Mosè in Egitto» kaum denkbar. Den beiden in Neapel uraufgeführten Erstfassungen gibt Paolo Carignani eindeutig den Vorzug gegenüber dem später für die Pariser Oper entstandenen «Moïse et Pharaon»: «Wir greifen in Zürich auf die starke und konzentrierte neapolitanische Fassung von 1818/19 zurück. Eigentlich ist hier schon alles enthalten. Bestechend ist der direkte theatralische Zugang, die Auseinandersetzung zwischen Mosè und dem Pharao trifft unverstellt auf den Zuschauer. Amalteas Arie «La pace mia smarrita» ist ebenso enthalten wie Moses’ Preghiera, die sich einfach kein Rossini-Bass dieser Welt entgehen lassen kann.» Auf das ihm zur Verfügung stehende «Mosè»Ensemble angesprochen, konstatiert Carignani, dass heute leider viele Rossini-Opern unaufgeführt bleiben, weil sie – vielleicht abgesehen von Pesaro – kaum adäquat zu besetzen sind:


Premiere Mosè in Egitto

Paolo Carignani

«Es spricht für die Leistungsfähigkeit des Zürcher Opernhauses, eine Oper wie ‹Mosè in Egitto› auf den Spielplan zu setzen, denn die Anforderungen an eine ‹Mosè›-Besetzung sind hoch. Man muss sich daran erinnern, dass Rossini in Neapel mit Isabella Colbran, Andrea Nozzari und Michele Benedetti drei der besten Sänger seiner Zeit zur Verfügung standen. Sehr wichtig ist, dass man Moses und Pharao mit zwei Bässen besetzt, die sich von der Stimmfarbe gut unterscheiden, um den Kontrast der beiden Figuren herauszukristallisieren. Bei unseren Protagonisten ist das der Fall: Erwin Schrott hat als Mosè Gelegenheit, sich eine der wichtigen Rollen des Belcanto-Repertoires zu erschliessen. Michele Pertusi, der den Pharao singen wird, ist einer der grossen Rossini-Sänger unserer Zeit ist, der fastalle wichtigen Rollen, die Rossini für seine Stimmlage komponiert hat, gesungen hat. In der anspruchsvollen Rolle des Osiride, nur einer von insgesamt drei schwierigen Tenorpartien in dieser Oper, ist Javier Camarena zu erleben, der längst kein Geheimtipp mehr ist und sicher einer grossen Zukunft im Belcanto-Fach entgegensieht. Und Eva Mei als Elcìa ist natürlich ebenfalls ein Glücksfall für unsere Besetzung.» Von der musikalischen Qualität der Oper ist Carignani überzeugt: «Man spürt vieles, was man dann in voller Ausprägung in den späteren Opern Rossinis findet. Es mag zunächst verwundern, dass er sich für eine opra seria auch in seinen Buffo-Opern bedient, die verschiedensten Themen durch unterschiedliche Instrumentierung dem neuen (Kon-)text anpasst und dabei eine

völlig andere Farbigkeit kreiert. In diesem Sinne ist Rossinis Musik so abstrakt, dass sie ihren Zweck in der opera buffa ebenso erfüllt wie in der opera seria.» Eine besondere Herausforderung für Carignani sind die Chorszenen: «Wenn man die grossen Chöre am Anfang und am Ende der Oper gehört hat, erscheint einem ein Stück wie ‹Nabucco› gar nicht mehr so neu. Dass der Chor bei Rossini über weite Strecken der Oper auf der Bühne agiert, stellt einen Dirigenten vor die Aufgabe, die Chöre z.B. durch einen Wechsel in der Besetzungsstärke so abwechslungsreich und differenziert wie möglich zu gestalten. Im Vergleich zu anderen RossiniOpern haben Moses und Pharao nur begrenzte Möglichkeiten, sich gesanglich zu profilieren. Der Titelheld muss ohne Auftrittsarie auskommen, und da zeigt sich, dass Rossini weniger daran gelegen war, dass Moses mit grosser Virtuosität auftrumpft – ebenso wenig wie der Pharao. Viel mehr kommt es bei ihnen auf Stimmfarben, auf Charakter, auf Persönlichkeit an. Bei Elcìa und Osiride wiederum sind Koloraturen und Verzierungen gefordert, in denen ihre Liebe einen angemessenen Ausdruck findet». Dem metaphorischen Zugang, den Moshe Leiser und Patrice Caurier in ihrer Inszenierung versuchen, steht der Dirigent aufgeschlossen gegenüber: «Der Kampf um die Durchsetzung machtpolitischer oder religiöser Interessen ist ein hochaktuelles Thema. Dass die Liebe zwischen Elcìa und Osiride nicht möglich ist, zeigt, wie abhängig unser privates Glück von gesellschaftlichen Realitäten und Konventionen ist.» mk

Grusswort des Sponsors «Mosè in Egitto», Gioachino Rossinis 1818/ 1819 entstandene «Azione tragico-sacra» über den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, gehört nicht zu den Klassikern des Repertoires. Ein solches Werk zu erkunden, bedeutet für ein Opernhaus, Neues auszuprobieren und sich auf Unbekanntes einzulassen. Dazu sind die Vision des Teams um Dirigent Paolo Carigniani und die beiden Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier ebenso unabdingbare Voraussetzung wie eine hochkarätige Besetzung, angeführt von Erwin Schrott in der Titelpartie und Michele Pertusi als seinem Gegenspieler, dem Pharao. Darüber hinaus ist «Mosè in Egitto» auch eine grosse Herausforderung für den Chor. Um kulturelle Höchstleistungen und künstlerische Exzellenz zu ermöglichen, bedarf es aber auch immer wieder besonderer finanzieller Anstrengungen. In diesem Sinn möchten wir mit unserem Engagement für die Zürcher Neuinszenierung von «Mosè in Egitto» ein Zeichen setzen und die Wichtigkeit der Unterstützung auch auf privater Ebene unterstreichen. Es ist uns ein Anliegen, besonders auf dem Gebiet der klassischen Musik und des Musiktheaters als Förderer einen Beitrag zur Lebendigkeit und Vielfalt der Kultur zu leisten, die unser Leben so unendlich viel reicher macht. Evelyne und Herbert Axelrod 11


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