Un ballo in maschera

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UN BALLO IN MASCHERA

GIUSEPPE VER DI


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UN BALLO IN MASCHERA GIUSEPPE VERDI (1813-1901)


Die Maske Nimm ab die Maske, glühend von Gold, mit Augen von Smaragd darin.» «Nein Liebster, du hast ja doch wissen gewollt, ob’s Herzen gibt, die wild und weise sind, und doch nicht kalt.» «Ich wollt nur sehn, was ist und wirklich gilt, sei’s Liebe, Täuschung oder Hass.» «Nur von der Maske ist dein Geist erfüllt, die hat dein Herz erregt. Du sahst nicht das, was sie verhüllt.» «Bist du nicht meine Freundin, sage mir? Und bin ich dir noch teuer?» «Ach, Liebster, lass uns schweigen hier. Was macht das schon, zählt nicht allein das Feuer in mir, in dir?» William Butler Yeats


Yvonne Naef, Sen Guo Spielzeit 2010/11

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HANDLUNG Erster Akt Graf Horn, Graf Ribbing und ihre Anhänger sind gegen Gustav III. verschwo­ ren. Der Page Oscar überbringt dem König die Einladungsliste zu einem Mas­ kenball, auf der auch der Name Amelia steht. Gustav liebt sie. Bis jetzt ahnt Amelias Ehemann, Renato Graf An­ckar­stroem, nichts davon. Als sein Freund und Sekretär warnt Renato den König vor der Ge­fahr einer Verschwörung; doch Gustav will nichts davon wissen. Der Oberste Richter verlangt, die Wahrsagerin Ulrica Arvidson zu verbannen. Als Oscar sie verteidigt, beschliesst der König, dessen Theaterbegeisterung no­ torisch ist, Ulrica zusammen mit seinem Hofstaat verkleidet aufzusuchen. Die Verschwörer sehen ihre Gele­genheit gekommen. Ulricas Teufelsbeschwörung zieht viele Schaulustige an. Gustav und Oscar beobachten, wie der Seemann Christian Ulrica über seine Zukunft befragt. Der König macht ihre Prophezeiung, er werde in Kürze befördert werden, unverzüglich durch ein Schriftstück, das er Christian unbemerkt in die Tasche steckt, wahr. – Ein Diener Amelias bittet für seine Herrin um eine geheime Unterredung. Gustav belauscht, wie Ulrica Amelia als Mittel gegen ihre verbo­ tene Liebe zum König ein Kraut nennt, das auf der Hinrich­tungs­stätte wächst; sie müsse es allerdings eigenhändig bei Nacht pflücken. Gustav beschliesst, Amelia dorthin zu folgen. Als der verkleidete Hofstaat eintrifft, bittet Gustav Ulrica, ihm zu weissagen. Sie prophe­zeit, er werde von demjenigen ermordet werden, der ihm als erster die Hand reicht. Niemand will ihm die Hand geben; da erscheint Renato, und Gustav ergreift seine Hand. Er lacht über die Weissagung und gibt sich Ulrica zu erkennen. – Christian bringt dem König zusammen mit dem Volk eine Huldigung dar. Die Verschwörer müssen erkennen, dass ihr Mordplan vorerst gescheitert ist.

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Zweiter Akt Amelia will nachts auf der Hinrichtungsstätte vor den Toren der Stadt das Kraut pflücken. Sie trifft auf Gustav, der ihr das Geständnis ihrer Liebe entlockt. Die beiden werden von Renato überrascht. Er ist Gustav gefolgt, um ihn vor den Verschwörern, die ihm auflauern, zu retten. Renato tauscht seinen Mantel mit dem König. Dieser vertraut ihm die verschleier­te Amelia an und nimmt ihm, bevor er flüchtet, das Versprechen ab, ihre Iden­t i­tät nicht zu ergründen. Als die Verschwörer erkennen, dass sie Renato vor sich haben, wollen sie wenig­ stens wissen, wer die Dame an seiner Seite ist. Renato verteidigt Amelias In­ kog­nito; doch als sein Leben in Gefahr ist, gibt sie sich zu erkennen. Die Ver­ schwörer überschütten Renato mit Spott. Er bittet Horn und Ribbing für den nächsten Tag in sein Haus; dann begleitet er Amelia, wie versprochen, in die Stadt zurück.

Dritter Akt Renato will seine untreue Frau Amelia töten. Als sie ihn anfleht, ihren Sohn noch einmal sehen zu dürfen, lässt er von ihr ab und beschliesst, sich statt dessen an Gustav zu rächen. – Renato erklärt Horn und Ribbing, er wolle sich ihnen anschliessen. Das Los soll entscheiden, wer den Anschlag auf den König ausführt; es fällt auf Renato. – Oscar überbringt die Einladung zum Masken­ ball. Diesmal wollen die Verschwörer die Gunst der Stunde nutzen. Gustav beschliesst, Renato auf eine Mission ins Ausland zu entsenden; Amelia soll ihn begleiten. Oscar überbringt das Schreiben einer unbekannten Dame; darin wird vor einem Attentat auf den König während des Maskenballs gewarnt. Gustav ignoriert die War­nung und geht zusammen mit Oscar auf den Ball. Renato erfährt von Oscar, unter welcher Maske sich der König verbirgt. Ame­ lia versucht nochmals, Gustav zu warnen. Der König teilt ihr mit, sie werde mit ihrem Mann das Land verlassen. Während sie sich ein letztes Lebewohl sagen, schreitet Renato zur Tat. Ster­bend weist Gustav ihm die Unschuld seiner Frau nach und verzeiht allen.

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Piotr Beczala, Sen Guo, Nina Russi Spielzeit 2010/11

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KOMISCHE METAMORPHOSEN DES TRAGISCHEN Verdis «Un ballo in maschera» zwischen «Un giorno di regno» und «Falstaff» Barbara Zuber

Welch eine Situation: Zu mitternächtlicher Stunde, am Fusse eines Galgens in schauerlicher Landschaft gestehen sich Gustav III., König von Schweden, und Amelia, die Frau seines besten Freundes Renato Anckarström, ihre Liebe. Plötzlich nähern sich Schritte. Voller Angst überredet Anckarström, der dem König in äusserster Besorgnis gefolgt ist, den Freund zur Flucht vor den sich nahenden Verschwörern. Doch dann muss der ahnungs­lose Anckarström ent­ decken, dass er selber der Verratene ist. Die geheimnisvoll Verschleierte ist ... die eigene Gattin! Die bestürzende reconnaissance im Finale des zweiten Mas­ken­­ ball-Aktes, die zutiefst demütigende Situation, in der sich Anckar­ström be­ findet, stehen in einem scharfen Kontrast zu dem Gelächter der Verschwörer Horn und Ribbing. Ihre süffisanten, zynischen Kommentare lassen den Eklat in eine ko­mi­sche Antiklimax umkippen: «Ve’, la tragedia mutò in commedia» (Seht, aus der Komö­d ie wurde eine Tragödie!). Julian Budden meinte daher, Un ballo in maschera sei weniger «eine romantische Tragödie als vielmehr ei­ ne Komödie mit schwarzen Rändern». Zwar gilt dies nicht uneingeschränkt, doch kann es das Ver­ständnis für den Umstand erleichtern, dass Verdis Ballo in maschera sich in einer gewissen Diskrepanz zu den Stoffen des ernsten Melo­ dramma befindet. Wollte Verdi das wirklich? Zwar suchte und wählte er schon lange vor dem Fal­staff, seit dem Rigoletto, auch Libretti – wie zum Beispiel zur Oper La forza del destino oder sogar zum Otello –, in welchen auch komische bzw. lustspielhaf­ te Elemente einen Platz fanden. Von einer wirklichen Annäherung an das Genre

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der komischen Oper kann aber dennoch nicht die Rede sein. Freilich ärgerte sich Verdi, wenn er in einem 1879 erschienenen Artikel der Gazzetta Musicale di Milano lesen musste, dass bereits Rossini erklärt habe, Verdi sei einfach un­­ fähig, ein komisches Sujet zu behandeln. «Seit Zwanzig Jahren», schrieb er ent­­rüstet an Giulio Riccordi, suche er «nun ein Libretto für eine Opera buffa». Prompt sah sich Riccordi genötigt, den Maestro zu beschwichtigen: Verdi habe mit der Figur des Fra Melitone in seiner Forza del destino genau das Gegenteil bewiesen. Dieser Mönch stelle einen völlig neuen, musikalisch höchst originel­ len Figurentypus dar, der komisch und nicht komisch zugleich sei. Und das finde man in keiner anderen Oper. Unter den Einwänden, die Verdi lange plagten, mag auch der Gedanke gewesen sein, dass er mit seiner einzigen Buffa, Un giorno di regno, die als zweite sei­ner Opern im September 1840 an der Mailänder Scala über die Bühne ging, einen schlimmen Miss­er­folg hinnehmen musste. Dabei setzte Verdi, der an einer mu­sikalisch detaillierten Cha­rakterisierung buffonesker Verwicklungen wenig inter­essiert schien, entgegen den Kon­ventionen der Opera buffa völlig andere Akzente: Schon hier sucht er den für ihn später so typischen grossen, um­fas­­sen­ den musikalischen Ausdruck. Natürlich ist auch über die biogra­fis­ chen Gründe für diesen Fehlschlag viel gemutmasst worden. 1838 starb Verdis Toch­ter Vir­ ginia, ein Jahr später auch sein Sohn Icilio Romano. Und schliess­lich ver­lor Verdi während der Arbeit an der Oper Un giorno di regno auch noch sei­ne Frau Margherita. Dies alles und der erbarmungslose Spott des Publikums bei der Urauf­füh­­rung bewogen den Komponisten, keine Note mehr zu schrei­ben, was auch tatsächlich ein Jahr lang der Fall war. Doch UNSERE OPER LEIDET das spezielle Manko der misslungenen Buffa Un giorno di regno AN ZU GROSSER MONOTONIE. erklärt sich daraus, dass Felice Romanis Libretto dem jungen ES IST EINE EINZIGE Verdi nicht jene monumentalen theatralen Wirkungsmöglich­ SAITE GESPANNT – ABER keiten anbot, nach welchen er damals suchte, und die er schliess­ IMMER DIESELBE. lich im Textbuch zu Nabucco auch fand. GIUSEPPE VERDI (1853) Mag auch die Formel des Komischen zu einfach erscheinen, um dem Eklat im zweiten Finale des Maskenballs gerecht zu werden, so signalisiert das Geläch­ter der Ver­schwö­rer als Echo einer realistischen Enthüllung, dass derlei auch in einer Komödie passieren könnte: eine Groteske über eine Rettung,

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die den Betrug schadenfroh enthüllt. Gleich­zeitig stösst der Geist einer unfro­ hen, galle­bitteren und beklemmenden Komik mit einer sicheren musikalischen Präzision und Schnelligkeit zum Kern der Situa­tion am Ende des zweiten Aktes vor. Die Kräfte, die Anckarströms weiteres Ver­halten antreiben werden, trans­ portieren Verdi und sein Librettist Antonio Somma auf die szenisch und mu­ sikalisch gegenüberstehenden Stimmen. Das höhnische Gelächter Horns und Rib­bings, Anckarströms Wut und Amelias Verzweiflung kontrapunktieren sich gegen­seitig im Quartett des zweiten Finales. Damit aber werden Amelias und Anckarströms nach innen gekehrte Reaktionen, besonders die tiefe Demütigung seines Ich, durch den Spott der Verschwörer noch drastischer beleuchtet. Aus Anckarströms Wunde der Ent­wür­di­gung wächst schliesslich die Motivation für Verrat und Mord an seinem König heraus. Was sich mit diesem Quartet­to con coro herausschält, ist eine bösartige, gefähr­liche, ins Unheimliche gesteigerte und schwarze Komik, die aber auch König Gustavs Tragö­die in ein überscharfes Licht rückt: Die rhythmische Todesfigur der Unisono-Streicher, die Verdi bei der vierten Wiederholung zu einem martialischen Orchester­tut­ti steigert, besie­ gelt endgültig seinen Untergang, während der Lachchor der Ver­schwö­rer wie ein gespenstischer, mitternächtlicher Komödienspuk allmählich verschwindet. So haben wir es im Finale des zweiten Aktes mit einem Unikum innerhalb der Opern Verdis zu tun: Die brisante Situation einer Rettung, die den Betrug ent­ hüllt, schlägt um in eine bösartige komische Antiklimax. Das Paradoxe be­steht darin, dass die logische Konsequenz der zu erwartenden Katastrophe zunächst einmal durch ironische Bre­chung unterwandert und mittels einer kontrast­ dramaturgischen Steigerung in Spott und Hohn aufgelöst wird. Und so ist das entscheidende Merkmal des Komischen im Tragischen dieser Oper seine dramatische Invertiertheit. Denn es kann sich nur in den grotesken Deforma­ tionen des Tragischen wiederfinden. Und indem die Handlung eben mit die­ ser Invertierung durchdrungen ist, kann der dritte Akt das Geschehen umso konsequenter in die Tiefe stürzen: Anckarström, der beschlossen hat, in das Lager der Verschwörer überzuwechseln, lässt nach einer Auseinandersetzung mit Amelia diese das Los ziehen, das ihn selber als Mörder Gustavs bestimmt, bis schliesslich das Opern­fi nale im Ballsaal eine nochmalige Umkehrung, nun vom ausgelassenen Maskentreiben in die Katastrophe, vollzieht.

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Dass Verdi, der sich seit dem Rigoletto auch Anregungen aus der französischen Grand opéra holte, mit dem Finale des zweiten Aktes weit über deren Grenzen hinausging, liegt auf der Hand. Es genügt, an Giacomo Meyer­ beers Robert le diable zu erinnern, um zu erkennen, dass Verdis ...DAS DRAMA, DAS DAS dramatisches Formexperiment, Kontrastie­ ren­ des in Stim­ mung GROTESKE UND ERHABENE, und Charakter innerhalb eines grossen szenischen Komplexes zu­ DIE TRAGÖDIE UND sammenzuziehen und ineinander zu verschränken, das Vorbild DIE KOMÖDIE VERMISCHT... differenzierend überbietet. Denkbar wäre aber auch eine Anre­ VICTOR HUGO, PREFACE DE gung durch die Dramatik und Shakespeare-Rezep­ tion Victor CROMWELL Hugos, zumal die Vorlage, Eugène Scribes Libretto zu Aubers Gustave III ou Le Bal masqué (1833), aus einer Periode stammt, als man sich in Frankreich intensiv mit Sha­kespeares Dramen befasste. Hugo, zwischen 1830 und 1841 das unbestrittene Haupt der romanti­schen Bewegung in Frankreich, verwarf die Regeln des klassischen Dramas und verlang­te eine «mélange des genres», die er in den Dramen Shakespeares zu finden glaub­te. Victor Hugo, der «heimliche Animateur Verdis» (Leo Karl Gerhartz), plädierte für eine Theater­ kunst, die Spass und Ernst miteinander verschränkte, und er lieferte in seiner Préface de Cromwell die wohl relevanteste Theorie für den Verdischen Opern­ typus seit dem Rigoletto (1851) und damit auch für den Ballo in maschera. Freilich stellt Un ballo in maschera gegenüber Verdis früheren Opern Ernani und Rigoletto, geschrieben nach Dramen Victor Hugos, etwas qualitativ Neues dar. Tragi­sches und Komisches bzw. Lustspielhaftes werden nun widerspen­ stig, in schneidenden Gegensätzen nebeneinandergesetzt. Pathos wird in Iro­ nie aufgelöst und in einen musikalischen Zusammenhang überführt, der das Er­habene provozierend als das Groteske enthüllt und damit das Reale auf­ sucht. So sind auch im Ulrica-Bild des ersten Aktes die Kontrapositionen des Schrecklichen und Heiteren wie überhaupt Momente des Ironischen und Gro­ tesken nicht von den konstitutiven Strängen der Fabel abzulösen. Selbst wenn es scheint, Verdi habe im Ulrica-Bild des ersten Aktes nur das Schauerliche und Pittoreske durch eine spezielle musikalische Couleur locale, aufgelockert durch scherzohafte Einlagen, erschliessen wollen, so stellt er gleichzeitig mit kon­ trastierenden Mitteln zentrale Handlungsmotive heraus. Man macht es sich allerdings etwas zu leicht, wenn man, vom dramaturgischen Stand­punkt aus

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gesehen, das ausgedehnte Ulrica-Tableau für ein wenig überflüssig erklärt. Ob­ wohl Amelias Besuch bei der Wahrsagerin und ebenso die Todes­pro­phe­zeiung die Handlung der Oper nicht vorantreiben und nicht unmittelbar dem Aufbau dramatischer Konstellationen dienen, so ist gerade das Ulrica-Bild entscheidend daran beteiligt, die grundlegende antithetische Disposition der musikalischen Dramaturgie, nämlich im Gegensatz von Hell und Dunkel, von Ernstem und Heiterem, von Dämonie und Ironie, von Tragik und Komik endgültig zu ex­ ponieren. Um jene Wirkung eines Hell-Dunkel (Chiaroscuro) zu erreichen, löst Verdis Musik die spannungsgeladenen Situa­tio­nen des Ulrica-Bildes – die Be­schwörung Lucifers, die Episode der Hilfe suchenden Amelia und Ulricas Todesphrophezeiung – jedesmal auf in Heiterkeit und Ausge­lassenheit. So ist die Wahrsagerin Ulrica keineswegs nur die pittoreske, unheimliche Figur ei­ ner aber­gläubischen Vergangenheit. Verdi stellt vielmehr Ulricas Beschwörung hinein in eine musikalisch extrem kontrastierende Reihe verschiedener anachro­ nistischer, d.h. heiterer, komischer und bewusst desillusionierender Episoden. Freilich wird die dramaturgische Immanenz des ausgedehnten Szenenkom­ plexes in Ulricas Be­hau­sung nie durchbrochen. Nichts wird von aussen aufge­ setzt, sondern aus dem grundlegenden Kontrast eines Chiaroscuro (Hell-Dunkel) ent­wickelt und in einem einzigen durchkomponierten dynamischen Prozess zu­ sammengefasst. Diese szenisch-musikalisch hellen und heiteren Episoden zeigen bereits sehr drastisch, wie fatal Gustavs Fehleinschätzung der eigenen privaten wie politi­ schen Situation in Wirklichkeit ist. Denn sie formulieren ja nicht nur einen gegensätzlichen Standpunkt zu Amelias Angst und Gewissensnot und zu der Todesprophezeiung. Gerade mit den heiteren Episoden, die im unheimlichen Ambiente des Ulrica-Bilds fast bizarr wirken, werden Charakter und Tragik des Königs endgültig geklärt: Obwohl ernsthaft bedroht von einer politischen Verschwörung durch den Hochadel seines Landes und verstrickt in die Liebe zur Frau seines besten Freundes, mag Gustav – optimistisch und leichtsinnig, wie er ist – Ulricas Vision nicht ernst nehmen. Und so schlägt der Horror, der die Musik nach der Todesprophezeiung durchfährt und dreizehn Takte lang nachzittert, unvermit­telt um. Elegant und tänzelnd überspielt das Quintett «È scherzo od è folia» die Schre­ckens­nachricht, bis sich auch andere Töne ein­

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mischen: wütende von Ulrica, halb komische, halb drohende von Horn und Ribbing, schmerzliche, lamentierende von Oscar. Damit aber tritt die tiefere musikalisch-dramaturgische Absicht ...SOLCHE FRANZÖSISCHEN zutage: Verdi benötigt das Unheimliche, dämonische Milieu CHARAKTERE des Ulrica-Bildes als musikali­sche Folie und als Kontrastmittel WIE GUSTAV UND OSCAR... zur Charakterdarstellung Gustavs. Und je mehr sich der GalantGIUSEPPE VERDI (1857) homme Gustav von dieser Umgebung auch musikalisch abhebt, desto stärker ist seine theatrale Wirkung. Wenn Gustav beschliesst, in­kognito und in Begleitung der Hofgesellschaft die Hexe Ulrica zu besuchen, dann spielt die Stretta der Introduktion mit einer Fülle von Anspielungen: Pikante anapästische Rhythmen, leggerissimo und staccato gesungen, signalisieren den Gestus der Grand opéra. Und noch mehr verraten Gustavs und Oscars schwung­ volle auftaktige Triolen, ebenso ihre akzentuierten Staccato-Eska­pa­den, die spä­ter vom Chor übernommen werden, etwas von dem musikalischen Über­ mut des auf­gehenden Sterns Offenbach. Beide, Gustav und Oscar, sah Verdi als fran­zö­sische Charaktere. All die Leichtlebigkeit Gustavs, der Schwung unbekümmerter Libertinage kon­­­ zentrieren und übersteigern sich im Pagen Oscar – dieser zwielichtigen Fi­gur, die aus einer Opera bouffe von Jacques Offenbach stammen könnte. Schon Os­ cars gewitzte, graziöse Ballata über die Wahrsagerin Ulrica Arvidson («Volta la terrea», 1. Akt) gibt sich in bester französischer Soubrettenmanier. Diesem Pagen – kapriziös, sensitiv und schwärmerisch –­ fehlt freilich auch der leiseste Anflug bürgerlicher Tugend. Seine Koloraturen gestalte­te Verdi als brillante Gesten eines feinnervigen Höflings. Und immer wieder spielen Oscars preziö­ se musikalische Eskapaden mit dem französischen Lustspielton. Oscar ist eine Figur gekünstelter Passionen, leger und virtuos ausgelebt. Dieses exal­tier­te, schillernde Wesen ist nichts anderes als die bizarre, ironische Travestie seines Königs, was zur Konsequenz hat, dass die französischen buffonesken Züge sei­ nes Cha­rakters musikalisch desto schärfer betont werden müssen, je weiter sich Gustavs Tra­gö­d ie ihrem Ende nähert. Während des Maskentreibens im Ball­ saal (Finale, 3. Akt) trällert Oscar, kurz bevor er ahnungslos an Anckarström die Verkleidung Gustavs verrät, eine Canzona in französischer Coupletform («Saper verreste di che si veste»). Die kurzen Orchester­ritornelle klingen wie

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übermütiges Gelächter. Gustavs Einkreisung durch die maskierten Mörder stellt sich dar wie eine Posse. Die Pointe der Pagenfigur liegt allerdings weniger in einem eher traditionellen tragikomischen Dualismus, in welchen Oscar eingebunden ist, als vielmehr in einer Sympto­matik ambivalenter Konflikte individueller und gesellschaftli­cher Art. Als Momente ei­ner unentschlossenen, leichtsinnigen Persönlichkeit spie­ geln sich Gustavs Eigenschaf­ten in der Heiterkeit und federleichten musikali­ schen Brillanz des Pagen, der die Le­bens­stimmung innerhalb dieser aristokra­ ti­schen Gesellschaft musikalisch am präzisesten dar­stellt und zugleich in ein Unheilvolles pervertiert. Kalt funkeln Oscars gezierte Triller und die merk­­wür­­ dig starren Staccatopassagen, wenn er völlig unerwartet bei der Ver­schwö­rer­ versammlung in Anckarströms Haus (3. Akt) auftaucht und über den Glanz des bevorstehenden Festes plappert. Amelia greift in diesem Quintett Oscars bizarre Musik auf und verwandelt sie in einen unsäglich traurigen Gesang. So reflektieren Oscars lockeres Geschwätz und Amelias Depression – sie hat ja das Los für den Mörder gezogen, weiss also um den geplanten Mordan­schlag auf Gustav – die tragische Ironie einer ausweglosen Situation, die im letzten Bild der Oper, im bunten Tanzgetümmel des Masken­balls zur Kata­strophe führt. Nicht die tragische Verstrickung Gustavs, sondern gerade das Komische mit seinen schwarzen Rändern, genauer: das Ironische und Gro­tes­ke signalisieren das eigentlich Brüchige und Gefährdete seiner Existenz. So dient die Aktivie­ rung eines deformierten Komischen vor allem dem Zweck, musikalisch-drama­ tische Situationen mit neuartigen, auch schockartigen Mitteln zu schaffen. Damit aber wird der begrenzte Hand­lungsraum des Verdischen Melodramma dramaturgisch er­heb­lich erweitert. Sichtbar werden nun durchaus realistische Verhal­tensweisen, die sonst vom Erhabenen der Tragödie ver­ TUTTO NEL MONDO E BURLA... deckt werden. Das Komi­sche muss das Unzu­längliche in den GIUSEPPE VERDI /ARRIGO BOITO, Charakteren auch musikalisch frei­ legen, damit die tragische FALSTAFF Verstrickung glaubwürdig wird. Ein entscheidender Schritt. So seltsam es auch klingen mag: Erst als Verdi das Komische im Tragischen ent­deckte und im Melodramma dem Stil eines gemischten Genres die notwendi­ge musikalisch-dramaturgische Plausibilität verleihen konnte, war er gewisser­mas­sen reif geworden für die musikalische Komödie. Freilich erfolgte

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der ent­­schei­dende Schritt Verdis zu seiner einzigen Commedia lirica, zur Cha­ rakterkomik des Falstaff (1893) erst Jahrzehn­te später. Doch nicht erst in Verdis Alterswerk über den englischen Lumpenaristokra­ten, sondern schon im Ballo in maschera und in La forza del destino weicht die herzhaf­te buffoneske Drastik, die noch in den komischen Szenen der Jugendoper Un giorno di regno den Ton angab, einer differenzierten, subtilen musikalischen Gestik des Ironischen und Grotesken. Und so kann man bereits stellenweise eine verfeinerte parodistische musikalische Diktion, eine anspielungsreich komponierte Charakterko­mik, wie sie für den Falstaff typisch ist, in den komischen, heiteren Szenen von Verdis mitt­leren Opern aufspüren – obwohl keine direkten Verbindungslinien auf­ge­­­ spürt wer­den können. Nun aber, im Falstaff, löst der Tragiker Verdi das Er­­­ha­ bene des Melo­­dramma und seine ironischen Metamorphosen vollends auf im Komischen.

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Das Verlorene Geliebte Hexe, magst du die Verdammten? Sag, weisst du wie Unsühnbarkeit uns quält? Kennst du die Reue mit ihren giftdurchtränkten Lanzen, die unser Herz als Ziel gewählt? Geliebte Hexe, magst du die Verdammten? Mit verfluchten Zähnen zernagt das, was nicht wiederkehrt, unserer Seelen jämmerliches Monument, und wie ein Termitenschwarm zerstört es das Gebäude durch das Fundament. Mit verfluchten Zähnen nagt das, was nicht wiederkehrt! Manchmal sah ich auf einer ordinären Bühne tiefstem Grund, von Orchesterklang umbebt, wie durch Feenhände über einen Höllenschlund ein wunderliches Morgenrot entsteht; manchmal sah ich auf einer ordinären Bühne tiefstem Grund ein Wesen, aus nichts als Licht und Gold und Gaze gemacht, den riesenhaften Satan niederschlagen, jedoch mein Herz, dem nie die Leidenschaft gelacht, ist nur Theater, mit stets vergeblichem Erwarten auf jenes Flügelwesen, ganz aus Licht und Gold und Gaze gemacht! Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen


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EIN SPIEL IM SPIEL David Pountney im Gespräch über seine Inszenierung von Verdis «Maskenball»

Sie gehören zu den Regisseuren, die das Opernhaus Zürich in den letzten beiden Jahr­zehnten geprägt haben – mit bisher vierzehn Inszenierungen (einschliesslich Un ballo in maschera). Darunter war eine ganze Reihe von Ausgrabungen: wirkliche Raritäten wie Montemezzis L’amore dei tre re, Zemlinskys Kreidekreis oder der Simplicius, ein frühes Werk von Johann Strauss, das viele Jahre lang wegen der Quellenlage als unauf­führbar galt. Auch bei den Bregenzer Festspielen, deren Leitung Sie noch bis 2013 inne­haben, haben Sie in den letzten Jahren immer wieder Ent­deckungen ge­macht und mit selten oder noch nie gespielten Werken grosse Erfolge verzeichnen können. Mit Verdis Maskenball bringen Sie nun eines der Kern­stücke des traditionellen Reper­toires auf die Bühne. Ist die Heran­ gehensweise bei einem Stück, das schon so oft in­sze­niert worden ist, eine andere als bei den Raritäten? Man ist vielleicht vorsichtiger bei einer absoluten Rarität wie z.B. Die Passagie­ rin von Weinberg, die wir letzten Sommer als szenische Erstaufführung im Bregenzer Fest­spielhaus herausgebracht haben. Ein solches Werk, das keiner kennt, muss man erst ein­mal möglichst pur auf die Bühne bringen. Bei einer Oper wie Un ballo in mas­chera, die schon in alle möglichen Richtungen inter­ pretiert worden ist, fühlt man sich ein biss­chen freier. Zu einer gewissen Frei­ heit im Umgang mit diesem Werk fordert jedoch auch die Freiheit heraus, mit der Verdi den Stoff, um den es geht, darin umgesetzt hat: Neben Elementen des für ihn typischen Melodrammas gibt es Aspekte einer Schauer­romantik und sogar Passagen von fast operettenhafter Leichtigkeit. Die daraus entste­ hende, fantastische Stilmischung lädt geradezu dazu ein, dass man mit relativ freier Hand interpretatorisch darauf reagiert.

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Sie haben sich – zusammen mit Maestro Nello Santi, dem sehr daran lag – von Anfang an dafür entschieden, für diese Neuinszenierung des Ballo in maschera Verdis und Sommas ursprünglicher Intention zu entsprechen; d. h., die Aufführung nimmt in den Figurennamen und auch, was kleine Änderungen der entsprechenden Textpassagen betrifft, das Schweden des Jahres 1792 zum Bezugspunkt. Das Stück spielt also vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse um die Ermordung von König Gustav III. von Schweden bei einem Maskenball im Schlosstheater Drottningholm. Was hat Sie dazu bewogen? Für mich war diese Entscheidung nicht so zentral. Der historische Hinter­ grund spielt bei Verdi eigentlich nie eine besonders wichtige Rolle. In der Par­ ti­tur von Mac­beth z.B. wird man vergeblich irgendwelche Anklänge an Schott­ land suchen – wenn überhaupt, gibt es davon höchstens winzige Spuren. Oder nehmen wir Rigoletto: Es ist vollkommen egal, ob das Stück am Hof des Her­ zogs von Mantua oder an einem anderen Fürstenhof spielt. Verdi ist nie natu­ ralistisch, sondern erschafft für jedes seiner Werke eine theatralische Welt, die dem jeweiligen Sujet entspricht. Bezeichnen­der­weise spricht er selbst in diesem Zusammenhang von der spezifischen «tinta», also der «Färbung» einer Oper, und nicht von einer «couleur locale», wie sie für die französische Grand opéra typisch ist. Es gibt neuere Forschungen über das Verhältnis von Historie und Opern­ libretto des Ballo in maschera – genannt seien die Arbeiten der Musik­ wissenschaftlerin Ingrid Czaika –, die erkennen lassen, wie frappierend die Übereinstimmung zwischen be­ stimm­ ten, geschichtlich nachweisbaren Charaktereigenschaften Gustavs III. und der Bühnenfigur des Protago­ nisten in Verdis Oper sind. Auch andere historische Figuren und sogar ge­wisse Details um die Ermordung des schwedischen Königs haben Ein­ gang in die Gestaltung Verdis und Sommas gefunden. Am hervorstechend­ sten ist vielleicht Gustavs Begeisterung für das Theater, die sich historisch nachweisen lässt. Der König ist leidenschaftlich gern selbst immer wieder in Rollen geschlüpft und hat offenbar auch die Weltpolitik phasenweise wie eine Art Theateraufführung, in der er der Regisseur ist, betrieben – was

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mit zu der Verschwörung gegen ihn geführt hat. Inwieweit hat dieser historische Bezug für Sie eine Rolle gespielt? Im Gegensatz zu dem, was ich auf die vorige Frage geantwortet habe, muss ich sagen, dass dieser Bezug für mich eine grosse Rolle gespielt hat. Allerdings kann man Gustavs Theaterbegeisterung aus der Partitur herauslesen, unab­ hängig davon, ob sie dem Naturell des historischen Königs entspricht. Aber es ist immerhin interessant, dass Gustav III. offensichtlich besessen war vom Theater. Das hat mich in diesem Fall dazu inspiriert, die Geschichte so zu erzählen, dass Gustav in der Oper die ganze Handlung wie ein Theaterstück selbst inszeniert. Diese «Inszenierung» macht er natürlich mit den Men­schen, die ihn umgeben. Ein zentrales Problem bei diesem Stück war für mich immer die Figur der Ulrica. Nach meinem Gefühl glaubt ein heutiges Publikum, das in einer Aufführung des Maskenball sitzt, nie wirklich an diese Figur.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Obwohl es ja auch für Ulrica ein historisches Vorbild gegeben hat! Es ist belegt, dass König Gustav III. von Schweden, ebenso wie viele andere Mit­ www.opernhaus.ch/shop glieder seines Hofes, die Wahrsagerin Ulrica Arvidson aufgesucht hat, um sich von ihr die Zukunft prophezeien zu lassen... oder Vorstellungsabend imUnter­ Foyer Aberam dass der ganze Hofstaat plötzlich verkleidet in der bescheidenen kunft einer Wahrsagerin auftaucht, ist doch eher unwahrscheinlich. Wenn man diese tenden­ziell unglaubwürdige Episodenfigur dagegen durch das ganze Stück des Opernhauses erwerben gehen lässt, so dass sie immer präsent ist, nimmt man den Stier sozusagen bei den Hörnern und macht aus dem Problem der mangelnden Glaubhaftigkeit bei Ulrica einen Vorzug. Ein anderer Aspekt ist die Liebesgeschichte zwischen Gustav und Amelia, die auch etwas von einem Rollenspiel hat. Diese Beziehung wirkt auf mich jedenfalls seltsam unehrlich, und auch Piotr Beczala, der den Gustav singt, hat das mir gegenüber ähnlich beschrieben. Gusta­vs Spiel mit dem Feuer, wenn er die Frau seines besten Freundes und treue­sten Vasal­len zu seiner Geliebten machen will, könnte schon auch etwas mit seinem Hang zu theatralischen Situationen zu tun haben. Also habe ich mich dafür entschie­ den, die ganze Handlung so ablaufen zu lassen, als ob Gustav sie für sich insze­ nieren würde. Die Konsequenz dieser Konstruktion ist natürlich, dass er am Ende als einziger am Leben bleibt: Wie bei einem Romanautor, dessen Figuren

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in dem Augenblick, in dem er die Feder zur Seite legt, ihr Leben verlieren – die ganze Welt, der sie angehö­ren, geht unter. Nachdem ich meine Inszenierung des Ballo schon auf den Weg ge­bracht hatte, stiess ich auf eine DVD mit einzel­ nen Opernszenen, die von verschiedenen Filmregisseuren wie z.B. Ken Russel inszeniert sind. Eine davon war das Finale der Oper Un ballo in maschera, inszeniert von Mickey Rourke. In der Lesart dieses verfilmten Ballo lief das Finale auf dieselbe Pointe hinaus: Gustav ist der einzige, der entkommt. Das hat mich in meiner Idee sozusagen nachträglich bestärkt. Gibt es in diesem Spiel im Spiel einen oder mehrere Augenblicke, in denen die Realität durchschlägt? Was hat es z.B. mit der Intrige der Verschwörer auf sich, die Gustavs Tod planen? Wie ernst muss man dieses Handlungs­ motiv nehmen? Ulrica jedenfalls scheint die Bedrohung Gustavs durch Horn, Ribbing und Konsorten offensichtlich sehr ernst zu nehmen. Ich erinnere mich, dass der Bühnenbildner Raimund Bauer am Anfang der Arbeit an Ballo die Frage aufgeworfen hat, ob man nicht einen politischen Zu­ sammenhang herstellen sollte. Die Verschwörer treten ja gleich zu Beginn auf. Doch so zwingend die Idee erscheint, diese Verschwörung als ernste Gefahr zu schildern: Sobald man die Musik hört, will es einem nicht mehr gelingen. Das Staccato-Motiv mit den gebrochenen Dreiklängen klingt einfach zu sehr nach Tom & Jerry. Auch deshalb habe ich mich entschieden, das Geschehen auf eine theatralische Ebene zu heben; da fragt man nicht mehr, ob das Gebaren der Verschwörer übertrieben wirkt, im Gegenteil: Es passt genau zu dieser Musik. Vielleicht die einzige Phase im Stück, die realistisch wirkt, ist die Se­quenz zu Beginn des 3. Aktes in Renatos Haus. Gustav tritt hier nicht auf. Doch dann gibt es die Episode mit der Urne, in die die Verschwörer die Zettel mit ihrem Namen werfen, damit das Los entscheidet, wer das Attentat ausführen soll. Dazu schreibt Verdi eine übertrieben melodramatische Musik, die die schicksal­ hafte Szene in ein schauerliches Licht taucht. Dieselbe Art von Musik begegnet in der Beschwörungs-Szene der Ulrica im 1. Akt und auch wieder zu Beginn des 2. Akts, wenn Amelia sich, wie es ihr Ulrica geraten hat, auf der Hinrich­ tungs­stätte nach dem Kraut umsieht, mit dessen Hilfe sie sich die Liebe zum König aus dem Herzen reissen will. Also ist es in meiner Inszenierung Ulrica,

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die Amelia auf dem Galgenfeld das Kraut übergibt. Und ich lasse sie auch in der Verschwörer-Szene, in der das Los gezogen wird, auftreten: Ulrica ist es, die die Urne herumreicht. Sie wird dadurch zu einer durchgehenden Farbe – als ob sie einer Horrorgeschichte von Edgar Allan Poe entsprungen wäre. Zugleich sorgt sie gewissermassen dafür, dass ihre eigene Prophezeiung in Erfüllung geht, indem sie Renato das Los zuschanzt... Das könnte man so sehen, ja! Jedenfalls hat meine Ulrica nichts Übernatürli­ ches. Betrachten wir die Geschichte aus der Perspektive einer anderen Figur, nämlich der Amelia: Kann man ihre Seelennöte, die Verdi in der Musik auf so bewegende Weise zum Ausdruck bringt, als Rollenspiel beschrei­ ben? Ist ihre Bereitschaft, lieber in den Tod zu gehen als die verbotene Liebe zum König zu leben, nur gespielt? Einer grossen Liebe zu entsagen, ist ein hochromantisches Motiv. Man findet es auch bei Wagner. Verdis Maskenball spielt mit all diesen literarischen Kon­ zepten der Epoche. Amelia ist wie eine dieser strahlenden Frauenfiguren aus einer Erzählung von Charles Dickens: eine Lichtgestalt, sozusagen mit einem Heiligenschein versehen – im Gegen­satz zu Ulrica, die, wie schon gesagt, eher der Fantasie eines Edgar Allan Poe ent­sprun­gen sein könnte. Im Englischen gibt es für diese Literatur die Bezeichnung «gothic». Auch Jane Austens Ro­ man Northanger Abbey gehört dazu, oder die Wer­ke von Sir Walter Scott, der einen sehr nachhaltigen Einfluss auf die Opernlibrettistik des 19. Jahrhunderts ausgeübt hat. Diese ganze Richtung, auf die auch die Kostüme von MarieJeanne Lecca Bezug nehmen, oszilliert zwischen dem wohligen Geniessen des Schreckens und der Ironisierung des Schauerlichen, bis hin zu Bram Stokers Dracula oder Mary Shelleys Frankenstein. In der deutschen Romantik taucht das vor allem bei E.T.A. Hoffmann auf. In der Musik verbindet sich diese Welt seit Webers Freischütz mit bestimmten harmonischen Wendungen und spezifi­ schen Instrumenten; meist sind es die tiefen Blechblasinstrumente. Diese Ent­ wicklungslinie zitiert Verdi in seinem Ballo in maschera. Das wird weiter ge­ führt in der Filmmusik des Horror-Genres, in be­stimmten Kriminalhörspielen

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oder auch in der musikalischen Untermalung von Comics, wenn unheimliche Situationen geschildert werden sollen. Philosophisch betrach­tet, ist die Sphäre des «gothic» die Kehrseite der Aufklärung: Die Nachtseite entwickelt ihre ei­ gene Faszination, die mondbeschienenen Stätten des Grauens, der unheilvolle Flug des Raben, das Abseitige, Groteske gewinnt als Gegenbewegung zum Licht des Rationalismus immer mehr an Reiz und wird zur Hauptströmung der Romantik. In diesem Sinne spielt meine Inszenierung von Verdis Masken­ ball mit bestimmten Motiven des «gothic». Das Gespräch führte Konrad Kuhn

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Piotr Beczala, Sen Guo Spielzeit 2010/11

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DIE MASKE DES ROTEN TODES Edgar Allan Poe

Lange schon wütete der Rote Tod im Lande; nie war eine Pest verheerender, nie eine Krankheit grässlicher gewesen. Blut war der Anfang, Blut das Ende – überall das Rot und der Schrecken des Blutes. Mit stechenden Schmerzen und Schwindelanfällen setzte es ein, dann quoll Blut aus allen Poren, und das war der Beginn der Auflösung. Die scharlach­roten Tupfen am ganzen Körper der unglücklichen Opfer – und besonders im Gesicht – waren des Roten Todes Bannsiegel, das die Gezeichneten von der Hilfe und der Teilnahme ihrer Mit­ menschen ausschloss; und alles, vom ersten Anfall bis zum tödlichen Ende, war das Werk einer halben Stunde. Prinz Prospero aber war fröhlich und uner­ schrocken und weise. Als sein Land schon zur Hälfte entvölkert war, erwählte er sich unter den Rittern und Damen des Hofes eine Gesellschaft von tausend heiteren und leichtlebigen Kameraden und zog sich mit ihnen in die stille Ab­ geschiedenheit einer befestigten Abtei zurück. Es war dies ein ausgedehnter prächtiger Bau, eine Schöpfung nach des Prinzen eigenem exzentrischen, aber vornehmen Geschmack. Das Ganze war von einer hohen, mächtigen Mauer um­schlossen, die eiserne Tore hatte. Nachdem die Höflingsschar dort einge­ zogen war, brachten die Ritter Schmelzöfen und schwere Hämmer herbei und schmiedeten die Riegel der Tore fest. Es sollte weder für die draussen wütende Verzweiflung noch für ein etwaiges törichtes Verlangen der Eingeschlossenen eine Tür offen sein. Da die Abtei mit Proviant reichlich versehen war und alle erdenkli­chen Vorsichtsmassnahmen getroffen worden waren, glaubte die Ge­ sellschaft der Pest­gefahr Trotz bieten zu können. Die Welt da draussen mochte für sich selbst sorgen! Jedenfalls schien es unsinnig, sich vorläufig bangen Ge­ danken hinzu­geben. Auch hatte der Prinz für allerlei Zerstreuungen Sorge ge­ tragen. Da waren Gaukler und Komödian­ten, Musikanten und Tänzer – da war Schönheit und Wein. All dies und dazu das Gefühl der Sicherheit war drinnen in der Burg – draussen war der Rote Tod.

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Im fünften oder sechsten Monat der fröhlichen Zurückgezogenheit versam­ melte Prinz Prospero – während draussen die Pest noch mit ungebrochener Gewalt raste – seine tausend Freunde auf einem Maskenball von unerhörter Pracht. Reichtum und zügellose Lust herrschten auf dem Feste. Doch ich will zunächst die Räumlichkeiten schildern, in denen das Fest abgehalten wurde. Es waren sieben wahrhaft königliche Gemächer. Im allgemeinen bilden in den Palästen solche Festräume – da die Flügeltüren nach beiden Seiten bis an die Wand zurückgeschoben werden können – eine lange Zimmerflucht, die einen weiten Durchblick gewährt. Dies war hier jedoch nicht der Fall. Des Prinzen Vorliebe für alles Absonderliche hatte die Gemächer vielmehr so zusammenge­ gliedert, dass man von jedem Standort immer nur einen Saal zu überschauen vermochte. Nach Durchquerung jedes Einzelraumes gelangte man an eine Bie­ gung, und jede dieser Wen­dungen brachte ein neues Bild. In der Mitte jeder Seitenwand befand sich ein hohes, schmales gotisches Fenster, hinter dem eine schmale Galerie den Windungen der Zimmerreihe folgte. Die Fenster hat­ ten Scheiben aus Glasmosaik, dessen Farbe immer mit dem vorherrschenden Farb­ton des betreffenden Raumes übereinstimmte. Das am Ost­ende gelegene Zimmer zum Beispiel war in Blau gehalten, und so waren auch seine Fenster leuchtend blau. Das folgende Gemach war in Wandbekleidung und Ausstat­ tung purpurn, und auch seine Fenster waren purpurn. Das dritte war ganz in Grün und hatte dementsprechend grüne Fensterscheiben. Das vierte war orangefarben eingerichtet und hatte orangefarbene Beleuchtung. Das fünfte war weiss, das sechste violett. Die Wände des siebenten Zimmers aber waren dicht mit schwarzem Sammet bezogen, der sich auch über die Deckenwölbung spannte und in schweren Falten auf einen Teppich von gleichem Stoffe nieder­ fiel. Und nur in diesem Raume glich die Farbe der Fenster nicht derjenigen der Dekoration: hier waren die Scheiben scharlachrot – wie Blut. Nun waren sämtliche Gemächer zwar reich an goldenen Ziergegenständen, die an den Wänden entlang standen oder von der Decke herabhingen, kein ein­ziges aber besass einen Kandelaber oder Kronleuchter. In der ganzen Zimmer­reihe gab es weder Lampen- noch Kerzenlicht. Statt dessen war draussen in den an den Zimmern hinlaufenden Galerien vor jedem Fenster ein schwerer Dreifuss aufgestellt, der ein kupfernes Feuerbecken trug, dessen Flamme ihren Schein

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durch das farbige Fenster hereinwarf und so den Raum schimmernd erhellte. Hierdurch wurden die phantastischsten Wirkungen erzielt. In dem westlich­ sten oder schwarzen Gemach aber war der Glanz der Flammenglut, der durch die blutigroten Scheiben in die schwarzen Sammetfalten fiel, so gespen­stisch und gab den Gesichtern der hier Eintretenden ein derart erschreckendes Ausse­ hen, dass nur wenige aus der Gesellschaft kühn genug waren, den Fuss über die Schwel­le zu setzen. In diesem Gemach befand sich an der westlichen Wand auch eine hohe Standuhr in einem riesenhaften Ebenholzkasten. Ihr Pendel schwang mit dump­fem, wuchtigem, eintönigem Schlag hin und her; und wenn der Mi­nutenzeiger seinen Kreislauf über das Ziffernblatt beendet hatte und die Stun­de schlug, so kam aus den ehernen Lungen der Uhr ein voller, tiefer, so­ no­rer Ton, dessen Klang so sonderbar ernst und so feierlich war, dass bei je­ dem Stun­den­­schlag die Musikanten des Orchesters, von einer unerklärlichen Gewalt ge­­zwungen, ihr Spiel unterbrachen, um diesem Ton zu lauschen. So muss­te der Tanz plötzlich aussetzen, und eine kurze Missstimmung befiel die heite­re Gesellschaft. So lange die Schläge der Uhr ertönten, sah man selbst die Fröh­­lich­sten erbleichen, und die Älteren und Besonneneren strichen mit der Hand über die Stirn, als wollten sie wirre Traumbilder oder unliebsame Ge­­dan­ ken ver­­scheuchen. Kaum aber war der letzte Nachhall verklungen, so durch­lief ein lusti­ges Lachen die Versammlung. Die Musikanten blickten einander an und schäm­ten sich lächelnd ihrer Empfindsamkeit und Torheit; und flüsternd ver­ein­barten sie, dass der nächste Stundenschlag sie nicht wieder derart aus der Fassung bringen solle. Allein wenn nach wiederum sechzig Minu­ten (drei­tau­ send­sechshundert Sekunden der flüchtigen Zeit) die Uhr von neuem an­­schlug, trat dasselbe allgemeine Unbehagen ein, das gleiche Bangen und Sinnen wie vordem. Doch wenn man hiervon absah, war es eine prächtige Lustbarkeit. Der Prinz hatte einen eigenartigen Geschmack bewiesen. Er hatte ein feines Empfinden für Farbenwirkungen. Alles Herkömmliche und Modische war ihm zuwider, er hatte seine eigenen, kühnen Ideen, und seine Phantasie liebte seltsame, glü­ hende Bilder. Es gab Leute, die ihn für wahnsinnig hielten. Sein Gefolge aber wusste, dass er es nicht war. Doch man musste ihn sehen und kennen, um dessen gewiss zu sein. Die Einrichtung und Ausschmückung der sieben Gemächer

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waren eigens für dieses Fest fast ganz nach des Prinzen eigenen Angaben ge­ macht worden, und sein eigener, merkwürdiger Geschmack hatte auch den Cha­rakter der Maskerade bestimmt. Gewiss, sie war grotesk genug. Da gab es viel Prun­kendes und Glitzerndes, viel Phantastisches und Pikantes. Da gab es Masken mit seltsam verrenkten Gliedmassen, die Arabesken vorstellen sollten, und andere, die man nur mit den Hirngespinsten eines Wahnsinnigen verglei­ chen konnte. Es gab viel Schönes und viel Üppiges, viel Übermütiges und viel Groteskes und auch manch Schauriges – aber nichts, was irgendwie widerwär­ tig gewirkt hätte. In der Tat, es schien, als wogten in den sieben Gemächern eine Unzahl von Träumen durcheinander. Und diese Träume wanden sich durch die Säle, deren jeder sie mit seinem besonderen Licht umspielte, und die tollen Klänge des Orchesters schienen wie ein Echo ihres Schreitens. Von Zeit zu Zeit aber riefen die Stunden der schwarzen Riesenuhr in dem Sammetsaal, und eine kurze Weile herrsch­te eisiges Schweigen – nur die Stimme der Uhr erdröhnte. Die Träume erstarrten. Doch das Geläut verhallte – und ein leich­ tes halbunterdrücktes Lachen folgte seinem Verstum­men. Die Musik rauschte wieder auf, die Träume belebten sich von neuem und wog­ten noch fröhlicher hin und her, farbig beglänzt durch das Strahlenlicht der Flammenbecken, das durch die vielen bunten Scheiben strömte. Aber in das westlichste der sieben Ge­mä­cher wagte sich jetzt niemand mehr hinein, denn die Nacht war schon weit vorge­schrit­ten, und greller noch floss das Licht durch die blutroten Schei­ ben und überflammte die Schwärze der düsteren Draperien; wer den Fuss hier auf den dunklen Teppich setzte, dem dröhnte das dumpfe, schwere Atmen der nahen Riesenuhr war­nen­der, schauer­li­cher ins Ohr als allen jenen, die sich in der Fröhlichkeit der anderen Gemä­cher umher­tummelten. Diese anderen Räume waren überfüllt, und in ihnen schlug fieberheiss das Herz des Lebens. Und der Trubel rauschte lärmend weiter, bis endlich die ferne Uhr den Zwölfschlag der Mitternacht erschallen liess. Und die Musik verstumm­ te, so wie früher; und der Tanz wurde jäh zerrissen, und wie früher trat ein plötzlicher, unheimlicher Stillstand ein. Jetzt aber musste der Schlag der Uhr zwölfmal ertönen; und daher kam es, dass jenen, die in diesem Kreis die Nach­ denklichen waren, noch trübere Gedanken kamen und dass ihre Versonnen­ heit noch länger andauerte. Und daher kam es wohl auch, dass, bevor noch der

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letzte Nachhall des letzten Stundenschlages erstorben war, manch einer Musse genug gefunden hatte, eine Maske zu bemerken, die bisher noch keinem aufge­ fallen war. Das Gerücht von dieser neuen Erscheinung sprach sich flüsternd he­ rum, und es erhob sich in der ganzen Versammlung ein Summen und Murren des Unwillens und der Entrüstung – das schliesslich zu Lauten des Schreckens, des Entsetzens und höchsten Abscheus anwuchs. Man kann sich wohl denken, dass es keine gewöhnliche Erscheinung war, die den Unwillen einer so toleranten Gesellschaft erregen konnte. Man hatte in dieser Nacht der Maskenfreiheit zwar sehr weite Grenzen gezogen, doch die fragliche Gestalt war in der Tat zu weit gegangen – über des Prinzen weitgehen­ de Duldsamkeit hinaus. Auch in den Herzen der Übermütigsten gibt es Saiten, die nicht berührt werden dürfen, und selbst für die Verstocktesten, denen Leben und Tod nur Spiel sind, gibt es Dinge, mit denen sie nicht Scherz treiben lassen. Einmütig schien die Gesellschaft zu empfinden, dass in Tracht und Be­nehmen der befremdenden Gestalt weder Witz noch Anstand sei. Lang und hager war die Erscheinung, von Kopf zu Fuss in Leichentücher gehüllt. Die Maske, die das Gesicht verbarg, war dem Antlitz eines Toten täuschend nachgebildet. Doch all dies hätten die tollen Gäste des tollen Gastgebers, wenn es ihnen auch nicht gefiel, hingehen lassen. Aber der Verwegene war so weit gegangen, die Gestalt des Roten Todes darzustellen. Sein Gewand war blutbesudelt, und seine breite Stirn, das ganze Gesicht sogar war mit dem scharlachroten Todessigel gefleckt. Als die Blicke des Prinzen Prospero diese Gespenstergestalt entdeckten, die, um ihre Rolle noch wirkungsvoller zu spielen, sich langsam und feierlich durch die Reihen der Tanzenden bewegte, sah man, wie er im ersten Augenblick von einem Schauer des Entsetzens oder des Wider­w illens geschüttelt wurde; im nächsten Moment aber rötete sich seine Stirn in Zorn. «Wer wagt es», fragte er mit heiserer Stimme die Höflinge an seiner Seite, «wer wagt es, uns durch solch gotteslästerlichen Hohn zu empören? Ergreift und demaskiert ihn, damit wir wissen, wer es ist, der bei Sonnenaufgang an den Zinnen unsres Schlosses aufgeknüpft werden wird!» Es war in dem östlichen, dem blauen Zimmer, wo Prinz Prospero diese Worte rief. Sie hallten laut und deutlich durch alle sieben Gemächer – denn der Prinz war ein kräftiger und kühner Mann, und die Musik war durch eine Bewegung

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seiner Hand zum Schweigen gebracht worden. Das blaue Zimmer war es, in dem der Prinz stand, umgeben von einer Gruppe bleicher Höflinge. Sein Befehl brach­te Bewegung in die Höflingsschar, als wolle man den Eindringling er­ greifen, der mit würde­voll gemessenem Schritt dem Sprecher näher trat. Doch das namenlose Grauen, das die wahn­w itzige Vermessenheit des Vermummten allen eingeflösst hatte, war so stark, dass keiner die Hand ausstreckte, um ihn aufzuhalten. Ungehindert kam er bis dicht an den Prinzen heran – und wäh­ rend die zahlreiche Versammlung, zu Tode ent­setzt, zur Seite wich, ging er unange­fochten seines Weges. Und er schritt von dem blauen Zimmer in das purpurrote – von dem purpurroten in das grüne – von dem grünen in das orange­farbene – und aus diesem in das weisse – und weiter noch in das violette Zimmer, ehe eine entscheidende Bewegung gemacht wurde, um ihn aufzuhal­ ten. Dann aber war es Prinz Prospero, der rasend vor Zorn und Scham über seine eigene, unbegreifliche Feigheit die sechs Zimmer durcheilte – er allein, denn von den andern vermochte vor tödlichem Schrecken kein einzi­ger ihm zu folgen. Den Dolch in der erhobenen Hand, war er in wildem Un­ge­stüm der weiterschreitenden Gestalt bis auf drei oder vier Schritte nahe gekommen, als sie, die jetzt das Ende des Sammetgemaches erreicht hatte, sich plötzlich zu­ rück­wandte und dem Verfolger gegenüberstand. Man hörte einen durchdrin­ genden Schrei, der Dolch fiel blit­zend auf den schwarzen Teppich, und im nächsten Augenblick sank auch Prinz Prospero im Todeskampf zu Boden. Nun stürzten mit dem Mute der Verzweiflung einige der Gäste in das schwarze Gemach und ergriffen den Vermummten, dessen hohe Gestalt aufrecht und regungslos im Schatten der schwarzen Uhr stand. Doch unbeschreiblich war das Grauen, das sie befiel, als sie in den Leichentüchern und hinter der Leichen­ maske, die sie mit rauem Griffe packten, nichts Greifbares fanden – sie war leer… Und nun erkannte man die Gegenwart des Roten Todes. Er war gekom­ men wie ein Dieb in der Nacht. Und einer nach dem andern sanken die Festge­ nossen in den blutbetauten Hallen ihrer Lust zu Boden und starben – ein jeder in der verzerrten Lage, in der er verzweifelnd niedergefallen war. Und das Leben in der Ebenholzuhr erlosch mit dem Leben des letzten der Fröhlichen. Und die Gluten in den Kupferpfannen verglommen. Und unbeschränkt herrsch­ ­te über alles mit Finsternis und Verwesung der Rote Tod.

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Eros Masken! Masken! Dass man Eros blende. Wer erträgt sein strahlendes Gesicht, wenn er wie die Sommersonnenwende frühlingliches Vorspiel unterbricht. Wie es unversehens im Geplauder anders wird und ernsthaft ... Etwas schrie ... Und er wirft den namenlosen Schauder wie ein Tempelinnres über sie. O verloren, plötzlich, o verloren! Göttliche umarmen schnell. Leben wand sich, Schicksal ward geboren. Und im Innern weint ein Quell. Rainer Maria Rilke


Die Maske, die Jacob Johan Graf Anckar­ström am 16. März 1792 trug, als er König Gustav III. erschoss.


GUSTAV III. VON SCHWEDEN – EIN THEATERKÖNIG Die Opernhelden in Verdis «Maskenball» und ihre historischen Vorbilder Ingrid Czaika

Als Giuseppe Verdi 1856 auf der Suche nach einem neuen Opernstoff war, in­spirierte ihn spontan das Sujet Gustave III ou Le Bal masqué von Eugène Scribe. Zwar dient der historische König Gustav III. lediglich als Folie für die Opernfigur, die Giuseppe Verdi und Antonio Somma für ihren Maskenball kreierten, dennoch kommen sie dem Wesenskern des Königs sehr nahe und stellen den realen Hintergrund des Attentates trotz der musikdramatischen Überhöhung wirklichkeitsnah dar. Gustavo wird dadurch nicht nur eine dra­ maturgische Grösse des Dramas sondern in erstaunlich vielen Details ein psy­ chologisches Abbild des historischen Königs. Gustav III. von Schweden war in seiner Persönlichkeit ein gespaltener Mensch, der einerseits seine Aufgaben als Herrscher pflichtbewusst wahrnehmen wollte, der andererseits aber drohte, in der «Rolle» des Königs wirklichkeitsverloren in eine theatralische Figur seiner eigenen Fantasie abzugleiten. Dieses Wechselspiel zwischen Realität und Traum zeichnet Verdi bei seinem Gustavo deutlich nach. Es wird sogar zu ei­ ner treibenden Kraft im dramatischen Verlauf der Oper; denn Gustavo verliert sich nicht nur in seinem Liebestraum zu Amelia sondern auch im Theater- und Maskenspiel, worüber er seine Königspflichten vernachlässigt und die politi­ sche Bedrohung um ihn herum verdrängt. Obwohl die unglückliche Liebe zu Amelia eine zentrale Bedeutung in der Opernhandlung hat, ist sie reine Fiktion ohne realen Hintergrund. So hat auch die Figur Amelia kein historisches Gegenüber. Im Gegensatz dazu spiegelt die

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Liebe zum Verkleiden und zum Theaterspiel tatsächliche Charakterzüge des historischen Königs wider. Schon mit zehn Jahren schrieb Kronprinz Gustav erste Libretti und Dramen und spielte mit Hingabe selbst Theater. Wie schon seine Mutter unterhielt auch Gustav III. ein blühendes Theaterwesen im Schlosstheater Drottningholm; als König förderte er Kunst und Kultur und begründete mit dem ersten Opernhaus Schwedens auch die Anfänge einer schwedi­schen Operntradition. Zwar machte sich Gustav III. sehr verdient um das kulturelle Erbe seines Landes, doch kann man in seiner Kunstbegeisterung eine Theaterbesessenheit erkennen, die er im tagespolitischen Geschäft nicht abzulegen vermochte. Sein politisches Handeln wurde zunehmend zu einer theatralischen Selbstinszenierung und entbehrte nicht gewisser despotischer Züge. Der Politiker Gustav III. verstrickte sich immer mehr in das Dilemma seiner Regierungsutopie zwischen Aufklärung und Absolutismus. Eine ähnli­ che Zwangslage zeigt auch die Opernfigur Gustavo. Er begibt sich zunehmend in einen Teufelskreis, in dessen Spiel er die Masken eines unglücklich Lieben­ den, eines treulosen Freundes und eines leichtsinnigen Königs trägt und sich so dem Ernst der Realität verweigert. Zu spät erst stellt er sich der Wirklichkeit. Auf einer abstrakten psychologischen Ebene treffen Verdi und Somma damit in verblüffender Nähe den Charakter der realen Figur. Die erfundene Liebes­ geschichte um Amelia fungiert dabei als Katalysator, um Gustavs Wesenskern in verdichteter Form auf der Opernbühne abzubilden. Dem Opernhelden Gustavo wird schlussendlich seine schwärmerische Liebe zu Amelia, der Frau seines Vertrauten Renato Anckarström, zum todbringen­ den Verhängnis. Der verratene Renato schliesst sich dem Bund der Verschwö­ rer um Horn und Ribbing an und wird selbst zum Königsmörder. Ihn treiben Eifersucht, verletzte Ehre und enttäuschte Freundschaft. Keines dieser Motive kann historisch mit Graf Jacob Johan Anckarström in Verbindung gebracht werden. Als Anhänger der Rousseauschen Philosophie richtete sich sein Hass wesentlich allgemeiner gegen die Zwänge der Gesellschaft. Man kann die Mo­ tive der einzelnen Drahtzieher des Attentats nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Die Verschwörer bildeten keineswegs eine einheitliche politi­ sche Opposition. Die Beweggründe waren vielfältig: Vor allem jugendlicher Freiheitsdrang und allgemei­ ner Oppositionsgeist ohne konkrete politische

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Richtung oder gar Revolutionsidealismus trieben die Grafen Adolf Ludwig Ribbing und Klas Fredrick Horn in den Kreis der Adels­opposition. Sie sind die einzigen der historischen Verschwörer, die in der Oper individualisiert werden. Renato ist zwar am Ende derjenige, der Gustavo umbringt, was Jacob Johan Anckarström als sein historisches Pendant erscheinen lässt, doch trägt Renato Wesenszüge zweier verschiedener Vorbilder, die in einer Opernfigur vereint werden. Zu Beginn der Oper wird er als treuer Freund und Berater des Königs gezeigt. Er ist es, der den König vor seinen Feinden warnt und beim nächtli­ chen Rendezvous rettet. Er ist es auch, der freien Zutritt zum König hat und ihm freundschaftlich die Hand drückt. Diese Charakterisierung Renatos weist eindeutig auf den Vertrauten und Freund Gustavs III. hin: Graf Gustav Mau­ ritz Armfelt. Mit dem König verband ihn die Theaterleidenschaft, jedoch zeichnete er sich auch als weitsichtiger Politiker und geschickter Diplomat aus. Im Gegensatz zum König unterschied er klar zwischen höfischem Vergnügen und poli­t ischem Geschäft. Dieser Spagat zeigt sich ebenso in der Vielfalt seiner Ämter, denn Gustav III. betraute ihn sowohl mit den Aufgaben eines Staats­ vertreters des Schwedi­schen Reiches als auch mit der Leitung des Königlichen Theaters. Allein in diesem Han­deln äussert sich ein Wesenskern in Gustavs Charakter. Er missachtete die Grenzen zwischen seiner Theaterleidenschaft und der politischen Verantwortung als König. Das Attentat auf ihn während eines Maskenballs beendet sein Leben in einer geradezu opernhaften Apotheose. Es war geprägt von vielfältigem Maskenspiel als Laienschauspieler auf der Bühne einerseits und Selbstinszenierung als absolutistischer Herrscher andererseits. Jedoch zeigt dieses Spiel mit Rollen und Masken auch Gustavs Unsicherheit und Suche nach sich selbst. Stets quälte ihn die Ungewissheit vor der Zukunft. Er suchte Antworten in spirituellen Kreisen und im Mystizismus. Sein Besuch bei der Wahrsagerin Ulrica Arfvidsson (Arvedson) ist historisch verbürgt. In den Jahren von 1770 bis zu Gustavs Tod hatte sie ihre Glanzzeiten und zählte zahlreiche Mitglieder des Königshofes zu ihren Kunden. Sie soll auch den plötzlichen Tod des Königs prophezeit haben. Insofern ist selbst diese Episode der Oper nicht nur dem dramaturgischen Effekt der Bühne geschuldet, sondern ein Abbild realer Vorgänge.

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Ebenso weist das Finale der Oper – der Königsmord auf dem Maskenball – in zahlreichen Details eine erstaunliche Nähe zu den Vorgängen am 16. März 1792 auf. Gemeinsam mit seinen Höflingen betrat Gustav III. das Fest in dem von ihm gegründeten Opernhaus, obwohl er kurz vorher eine anonyme War­ nung erhalten hatte. Wie sich während der polizeilichen Ermittlungen wenig später herausstellte, bekam einer der Verschwörer Skrupel und schrieb dem König diesen Brief. Gustav ignorierte die Warnung und begab sich in seinem schwarzen Seidendomino auf den Ball. Dort wurde er von mehreren schwar­ zen Masken umringt, unter ihnen auch Anckarström. Er schoss auf den König, ohne ihn damit sofort zu töten. Während des folgenden Auflaufs spielte zu­ nächst die Musik im Ballsaal weiter. Unter den Begleitern des Königs waren neben den Kammer­junkern Hans Henric von Essen und Georg de Besche auch weitere Hofpagen. Da beide aber auf Grund ihres Alters nicht als Vorbilder für die Opernfigur Oscar in Frage kommen, kann man den jugendlichen Oscar eher als exemplarische Individualisierung zahlreicher anonymer Pagen am Kö­ nigs­hof verstehen. Mag man auch der Sterbe-Szene des Königs eine opernhaft zerdehnte Dramatik vorwerfen, so zeigt das langsame Sterben Gustavos nur in geringem Umfang das tatsächliche Hinsiechen Gustavs III., dessen Todeskampf volle 13 Tage dauerte.

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STOCKHOLM? POMMERN? FLORENZ? KAUKASUS? BOSTON? Die verschiedenen Fassungen von Verdis «Maskenball» Konrad Kuhn

Der Plot zu Giuseppe Verdis Oper Un ballo in maschera geht bekanntlich auf eine wahre Begebenheit zurück: Am 16. März 1792 fiel der schwedische Kö­ nig Gustav III. bei einem Maskenball im von ihm begründeten, noch heute in seiner historischen Form bespielten Operntheater auf Schloss Drottningholm einem Attentat zum Opfer. Den töd­lichen Pistolenschuss gab Graf Jacob Johan Anckarström ab, der sich mit einigen anderen Adeligen, darunter die Grafen Horn und Ribbing, gegen den König verschwo­ren hatte. Dichtet man dem König noch eine verbotene Liebe zur Frau des Attentäters (die es in Wahrheit nicht gegeben hat) an, schreit der Stoff geradezu nach der Opernbühne. So gab es denn auch schon 40 Jahre nach dem tragischen Ereignis in Stockholm eine erste Oper über den Schwedenkönig: Gustave ou Le Bal masqué von Da­ niel François Esprit Auber. Das Libretto schrieb der französische Erfolgsautor Eugène Scribe; die Urauffüh­rung fand am 27. Februar 1833 an der Pariser Opéra statt. Zehn Jahre später wurde das Sujet auch ins Italienische gebracht: Am 2. März 1843 wurde Saverio Merca­dantes Oper Il reggente auf ein Libretto von Salvatore Cammarano in Turin uraufge­führt. Noch einmal ein Dutzend Jahre später entzündete Giuseppe Verdis Fantasie sich an dem Stoff. Ihn reiz­ te die Verschränkung des klassischen Liebesdreiecks mit der Sphäre höfischer Vergnügungssucht, wie sie im titelgebenden Maskenball oder auch im Mum­ menschanz des Hofstaats, wenn dieser die Wahrsagerin Ulrica aufsucht, zum Ausdruck kommt. Damit bot dieses Sujet ihm eine willkommene Gelegenheit, an die im Rigo­letto verarbeiteten Motive anzuknüpfen: Ein leichtlebiger Herr­

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scher verstrickt sich in eine Liebesaffäre mit tödlichem Ausgang. War die Liebe von Rigolettos Tochter Gilda zum Herzog von Mantua ihr selbst zum Ver­ hängnis geworden, so ist es im Ballo in mas­chera König Gustav, der von Rena­ to, dem eifersüchtigen Ehemann seiner angebeteten Amelia, ermordet wird; ganz zu unrecht, wie dieser kurz nach dem Mordanschlag erfahren muss – denn Amelias Ehre ist unbefleckt. Verdis Oper entstand im Auftrag des Teatro San Carlo in Neapel. Dort wollte man allerdings keinen Königsmord auf offener Bühne zeigen: Gärte doch in ganz Italien die revolutionäre Stimmung gegen die diversen Fremdherrscher verschiedener Provenienz, die das Land von Mailand bis Palermo bedrückten. Es sollte nur noch drei Jahre dauern, bis die Einheit Italiens erreicht und der grösste Teil des Landes befreit war: Im März 2011 wurde das 150-jährige Jubi­läum dieses Datums begangen. Kurz zuvor, 1859, kam im Zusammen­ hang mit Aufführungen des Ballo in maschera die berühmt gewordene Parole «VIVA VERDI» als Geheimbotschaft des Risorgimento auf. Damit liess man nicht nur den Komponisten hochleben, sondern man apostrophierte auch den Protagonisten der konstitutionellen Monarchie, unter dessen Führung es 1861 dann zur Staatsgründung kam: König Vittorio Emanuele II. von SardinienPiemont, der zum König von ganz Italien wer­den sollte – «Viva Vittorio Ema­ nuele Re D’Italia». Es war kein Zufall, dass Verdis Name sich mit dieser poli­ tischen Parole verband; war doch schon der Gefangenenchor aus seiner 1842 uraufgeführten Oper Nabucco zum Fanal für den Freiheitsdrang der Italiener geworden. Vergleicht man jedoch frühere Werke des Komponisten, so fällt auf, dass der politische Gehalt im Maskenball nicht im Vordergrund steht. Verdi ging es vielmehr um die spezifische Atmosphäre am Hof des schwedischen Königs, von dem man weiss, dass er Versailles als sein erklärtes Vorbild betrachtete. Mit der Zensurbehörde in Neapel hatte Giuseppe Verdi bereits einige Jahre zu­ vor unliebsame Erfahrungen gemacht: Sie hatte während der Entstehung der Oper Luisa Miller, die am 8. Dezember 1849 am Teatro San Carlo uraufge­ führt worden war, massiv eingegriffen und immer wieder Änderungen am Text gefordert. Das ging so weit, dass der Sohn des Grafen Walter in Verdis Schiller­ vertonung nicht wie im Original, dem Drama Kabale und Liebe, Ferdinand heissen durfte, da der regierende Fürst des Königreichs beider Sizilien, ein

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Bourbone, so hiess; statt dessen wurde er in Rodolfo umbenannt. Als Verdis Wahl nun für die neue Oper, die Anfang 1858 am San Carlo uraufgeführt werden sollte, auf Eugène Scribes Drama um die Ermordung Gustavs III. fiel, schien es zunächst keine grundsätzlichen Einwände seitens der Obrigkeit zu geben. Und dies, obwohl 1856 ein Attentat auf Neapels Herrscher Ferdinand II. verübt worden war, das dieser jedoch überlebt hatte. So machte sich Verdi, gemeinsam mit seinem Librettisten Antonio Somma, an die Arbeit. Scribes Dramentext wurde gründlich umgearbeitet. Auf Verlan­gen des Zensors wurde die Handlung ein Jahrhundert früher angesiedelt und an den Hof eines Her­ zogs von Pommern anstelle des schwedischen Königshofes verlegt. Den Titel änderte man von Gustavo III in Una vendetta in domino. Als Bezugspunkt blieb jedoch die Ermordung von Gustav III. im Jahre 1792 in Stockholm klar erkennbar. Unglücklicherweise ereignete sich am 14. Januar 1858 ein weiteres spektaku­ läres Atten­tat: Felice Orsini, ein Anhänger des italienischen Freiheitskämp­ fers Giuseppe Maz­zini, verübte einen Bombenanschlag auf Napoleon III. von Frankreich, als dieser in Paris gerade auf dem Weg in die Oper war. Auch dieses Attentat verfehlte sein Ziel. In Neapel war man jedoch aufgeschreckt. Der Zensor verlangte nun eine völlige Umformung der geplanten Oper. Die Theaterleitung beging den Fehler, Verdi nicht von der geänderten Haltung der Zensurbehörde seinem Libretto gegenüber in Kenntnis zu setzen. Vielmehr gab man noch vor Verdis Ankunft in Neapel bei einem anonym gebliebenen Autor eigen­mächtig eine Umarbeitung der Oper in Auftrag, die die Geschichte ins Florenz des 14. Jahrhunderts verlegte und den Titel Adelia degli Adimari trug. Darin ging es nicht mehr um einen leichtlebigen Regenten im Zeitalter des Absolutismus, der von einer Gruppe von Verschwörern auf einem Mas­ kenball ermordet wird; statt dessen bildete der Konflikt zwischen den beiden rivalisierenden Adelsgeschlechtern der Ghibellinen und der Guelfen im ausge­ henden Mittelalter den Hintergrund der Handlung, die wichti­ger Motive und Situationen beraubt war. Als Verdi in Neapel eintraf und man ihm die veränderte Fassung seiner Oper vorlegte, war er entsetzt. In einem Brief an Somma vom 7. Februar 1858 schreibt er, dass «...mein Drama komplett verstümmelt wurde. Ich frage, was im Drama

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der Opernfirma von mir geblieben ist?» Und an den mit ihm befreundeten Vincenzo Torelli, Gesellschafter und Sekretär des Teatro San Carlo, schrieb er am 14. Februar 1858: «Immer und immer wieder schlägt man Änderungen am Libretto vor, die auf nichts anderes hinauslaufen, als ihm jeden Charakter und jede Wirkung zu nehmen, nachdem die Genehmigung bereits erteilt war, wie Ihr mir mitgeteilt hattet. Die Handlung fünf oder sechs Jahrhunderte zurück­ verlegen? Was für ein Anachronismus! Die Szene streichen, in der der Name des Mörders ausgelost wird? Aber das ist doch die stärkste und neuartigste Situation des Dramas; und darauf soll ich verzichten? ... Es hilft nicht, mir von Erfolg zu reden. Wenn hie und da ein paar Nummern Applaus bekommen, ist das nicht genug für ein Musikdrama. In der Kunst habe ich meine klaren, festumrissenen Ideen und Überzeugungen, auf die ich nicht verzichten kann.» Inzwischen war Verdi in ganz Europa als der führende Komponist seines Lan­ des aner­kannt. Die Trias Traviata/Rigoletto/Trovatore hatte seinen Ruhm weit über Italiens Grenzen hinaus getragen. Er war nicht mehr bereit, Eingriffe der Zensurbehörde in einem solchen Ausmass hinzunehmen. Also entzog er dem Teatro San Carlo kurzerhand das Auf­führungsrecht für seine neue Oper und begann, mit einem anderen Thea­ter über die Uraufführung zu verhandeln. Neapel reagierte mit einer Klage, die vor Gericht mit einem Vergleich beige­ legt werden musste: Das San Carlo wurde mit dem bereits im Jahr zuvor in Venedig uraufgeführten Simon Boccanegra abgespeist. Das Teatro Apollo in Rom wurde zur neuen Uraufführungsbühne des Maskenball. Damit war der Weg frei, um die Oper in einer Fassung herauszubringen, die der ursprüng­lich intendierten Form zumindest nahe kam. Freilich verlangte auch die Zensurbehörde des Kirchenstaates Änderungen am Sujet. Vielleicht war Verdi durch die ständigen Kämpfe zermürbt; jedenfalls schreibt er in einem weiteren Brief an Somma vom Juli 1858 resigniert: «Die Zensur würde Stoff und Situationen genehmigen, möchte die Handlung je­ doch ausserhalb Europas verlegt wissen. Was würdet Ihr zu Nordamerika zur Zeit der englischen Herrschaft sagen? Wenn nicht Amerika, dann einen ande­ ren Ort: vielleicht den Kaukasus...» Die letzte Bemer­kung ist wohl Ausdruck bitterer Ironie. Jedenfalls kam man überein, Boston zum Ort der Handlung zu machen. Der Schwedenkönig Gustavo wurde zu dem neuenglischen Gouver­

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neur Riccardo Graf Warwick, die Zigeunerin Ulrica Arvidson zu einer Schwar­ zen, des Königs Freund, Renato Graf Anckarström, zu einem «kreolischen» Sekretär, und die Verschwörer Graf Horn und Graf Ribbing wurden in Tom und Sam umbenannt. In dieser Gestalt fand die Uraufführung am 17. Februar 1859 in Rom statt, und die Oper wurde zum Riesenerfolg. Die Versetzung der Handlung des Maskenball ins Neuengland des 17. Jahr­ hunderts widerspricht dem Charakter der Musik. Auch sind Figuren wie Riccar­ do oder Oscar im puritanischen Milieu eigentlich undenkbar. So hat sich in den letzten Jahrzehnten an vielen Bühnen die Praxis durchgesetzt, wieder auf die historischen Figurennamen und das Schweden des ausgehenden 18. Jahrhun­ derts als Ort und Zeit der Handlung zurück­zugehen. 2003 wurde von dem Musikwissenschaftler Philip Gossett, in Zusammenarbeit mit Ilaria Narici, un­ ter Rückgriff auf Skizzen und frühe, von Verdi später verworfene Fassungen eine sog. «hypothetische Rekonstruktion» der Oper vorgelegt. Sie weicht nicht nur textlich, sondern auch musikalisch an vielen Stellen von der bekannten, 1859 in Rom uraufgeführten Version ab. Betrachtet man die Uraufführungs­ version des Mas­kenball, wie sie Verdi als die für ihn gültige Fassung autorisiert und später nie mehr verändert hat, muss man eingestehen, dass sie von so voll­endeter Meisterschaft ist, dass man keine Note daran ändern sollte. Die «rekonstruierte» schwedische Fassung ist demgegenüber eindeutig schwächer. Um trotzdem den Bezug zu dem historischen Ereignis, das Verdi ursprünglich zu dieser Oper inspiriert hatte, wiederherzustellen, genügt es, die Namen aus­ zutauschen und an wenigen Stellen den Text zu ändern. So wurde auch für die Neuinszenierung am Opernhaus Zürich verfahren.

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Der Tod ist gross. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. Rainer Maria Rilke

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Vladimir Stoyanov, Piotr Beczala Spielzeit 2010/11


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UN BALLO IN MASCHERA GIUSEPPE VERDI (1813-1901) Melodramma in drei Akten Libretto von Antonio Somma nach dem Drama «Gustave III ou Le Bal masqué» von Eugène Scribe Uraufführung: 17. Februar 1859, Teatro Apollo, Rom

Personen

Gustav III., König von Schweden Tenor Renato Graf Anckarstroem, des Königs Sekretär Amelia, seine Gemahlin Sopran Ulrica Arvidson, Wahrsagerin Mezzosopran Oscar, Page des Königs Sopran Christian, ein Seemann Bass Graf Ribbing, Verschwörer Bass Graf Horn, Verschwörer Bass Der Oberrichter Tenor Ein Diener Amelias Tenor

Bariton

Chor

Gesandte, Offiziere, Matrosen, Wachen, Volk (Männer, Frauen und Kinder), Edelleute, Verschwörer (Anhänger von Ribbing und Horn), Diener, Masken und tanzende Paare Die Handlung spielt in Stockholm und Umgebung im Jahre 1792


ATTO PRIMO

ERSTER AKT

PRELUDIO

ORCHESTERVORSPIEL

Una sala nel palazzo del re. In fondo l’ingresso delle sue stanze. È il mattino. Deputati, Gentiluomini, Popolani, Uffiziali, sul dinanzi Ribbing, Horn e loro aderenti, tutti in attesa di Gustavo.

Ein Saal im Königspalast. Im Hintergrund der Eingang zu den Gemächern des Königs. Es ist Morgen. Gesandte, Edelleute, Volk, Offiziere. Im Vordergrund Ribbing, Horn und ihre Anhänger. Alle warten auf den König.

INTRODUZIONE

INTRODUKTION

UFFIZIALI E GENTILUOMINI

OFFIZIERE UND EDELLEUTE

Posa in pace, a’ bei sogni ristora, O Gustavo, il tuo nobile cor. A te scudo su questa dimora Sta d’un vergine mondo l’amor.

Ruhe dich in Frieden aus, Gustav, und erquicke dein edles Herz mit schönen Träumen! Als Schild schwebt schützend über diesem Haus die Liebe einer unschuldigen Welt.

RIBBING, HORN E LORO ADERENTI

RIBBING, HORN UND IHRE ANHÄNGER

E sta l’odio, che prepara il fio, Ripensando ai caduti per te. Come speri, disceso l’obblio Sulle tombe infelici non è.

Und der Hass, der auf Vergeltung sinnt, wenn er derer gedenkt, die durch dich fielen. Anders als du hoffst, hat sich kein Vergessen auf die Gräber der Unglücklichen gesenkt.

OSCAR

OSCAR

S’avanza il re.

Der König kommt!

Entra Gustavo salutando gli astanti.

Gustav tritt ein und begrüsst die Umstehenden.

SCENA E SORTITA GUSTAVO

SZENE UND AUFTRITTSARIE DES GUSTAV

GUSTAVO

GUSTAV

Amici miei... Soldati...

Meine Freunde ... Soldaten...

ai Deputati

zu den Gesandten

E voi del par diletti a me!

Und ihr, die ich ebenso schätze!

riceve delle suppliche

Er nimmt Bittschriften entgegen.

Porgete: A me s’aspetta: io deggio Su’ miei figli vegliar, perchè sia pago Ogni voto, se giusto. Bello il poter non è, che de’ soggetti Le lacrime non terge, e ad incorrotta Gloria non mira.

Gebt her! Man erwartet es von mir: Also wache ich über meine Kinder und erfülle jeden Wunsch, wenn er gerechtfertigt ist. Macht ist nur schön, wenn der, der sie hat, die Tränen der Untertanen trocknet und ehrlich erworbenen Ruhm im Auge hat.

OSCAR a Gustavo

OSCAR zu Gustav

Leggere vi piaccia Delle danze l’invito.

Beliebt es Euch, die Einladung zum Ball zu lesen?

GUSTAVO

GUSTAV

Avresti alcuna Beltà dimenticato?

Du hast doch keine der Schönen vergessen?


Programmheft UN BALLO IN MASCHERA Melodramma in drei Akten von Giuseppe Verdi Premiere am 25. April 2011, Spielzeit 2010/11 Wiederaufnahme am 7. Juni 2017, Spielzeit 2016/17

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Konrad Kuhn Mitarbeit Rebecca Rüegger Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Handlung schrieb Konrad Kuhn für dieses Heft /// Barbara Zuber, Komische Metamorphosen des Tragischen. Leicht gekürzte Fassung eines Beitrags, der zuerst im Programmheft der Bayerischen Staatsoper zur Neuin­szenierung «Un ballo in maschera» am 31. Januar 1994 erschien. Wir danken der Autorin für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. /// Das Gespräch mit David Pountney führte Konrad Kuhn für dieses Heft. /// Ingrid Czaika, Gustav III. von Schweden – ein Theaterkönig. Originalbeitrag für dieses Heft. /// Konrad Kuhn, Stockholm? Pommern? Florenz? Kaukasus? Boston? Originalbeitrag für dieses Heft. /// William Butler Yeats, Die Gedichte, hg. von Norbert Hummelt. Luchterhand Literatur­ verlag, München 2005. – Charles Baudelaire, 4 Strophen aus «Das Verlorene» (L’Irréparable), in: Die Blumen des Bösen, über­setzt von M. Burkert. Die Blaue Eule Verlag, Essen 1995. /// Die Gedichte von Rainer Maria Rilke entnehmen wir der Werkausgabe, 1. Band: Gedichte, Insel Verlag, Frankfurt am

Studio Geissbühler Fineprint AG

Main 1963. /// Edgar Allan Poe, Die Maske des Roten Todes. Diogenes Verlag, Zürich 1984. Bildnachweise: Wir danken Marie-Jeanne Lecca für die freundliche Genehmi­ gung zur Reproduktion ihrer Kostümskizzen zur Neuinszenie­ rung «Un ballo in maschera» in Zürich 2011 (S. 17, 18) /// Die Abbildung der Maske von Graf Anckarström (S. 35) entneh­ men wir: Catherine the Great & Gustav III. Katalog zur Aus­stel­ lung des Nationalmuseums Stockholm, des Staatl. Museums Erimitage und des Staatl. Russischen Museums in St. Petersburg. Unter der Schirmherrschaft Seiner Majestät, König Carl XVI. Gustaf von Schweden und Seiner Exzellenz, Boris Jelzin, Präsident der Russischen Föderation. Helsingborg 1999. Suzanne Schwiertz fotografierte das Ensemble während der Klavierhauptprobe am 19. April 2011. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nach­träglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Freunde der Oper Zürich

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