Dialogues des Carmélites

Page 1

DIALOGUES DES CARMÉLITES

FR ANCIS POULENC


Room. With a view. Der neue, rein elektrische Audi Q4 e-tron und Audi Q4 Sportback e-tron. Mit grosszügigem Raumkonzept. Future is an attitude

Mehr unter audi.ch

Audi Q4 35 e-tron, 170 PS, 19,1 kWh/100 km, 0 g CO₂/km, Kat. A Audi Q4 Sportback 35 e-tron, 170 PS, 18,6 kWh/100 km, 0 g CO₂/km, Kat. A


DIALOGUES DES CARMÉLITES FRANCIS POULENC (1899-1963)

Unterstützt von



Gott gibt uns auf! Gott wendet sich ab!

Priorin, 1. Akt, 4. Bild


HANDLUNG Erster Akt 1. BILD Der Chevalier de la Force ist besorgt um seine Schwester Blanche. Soeben hat er vernommen, dass ihre Kutsche von Revolutionären angehalten wurde. Dies ruft in seinem Vater ein altes Trauma hervor: Bei einem Feuerwerksunfall muss­ te seine hochschwangere Frau vor dem rasenden Mob fliehen. Sie erlitt eine Frühgeburt und starb, ihre Tochter, Blanche, überlebte. Blanche erzählt von ihrer Panik auf der Strasse. Der Schatten eines Dieners an der Wand erschreckt sie derart, dass sie erneut mit ihrer Angst konfrontiert wird. Sie eröffnet ihrem Vater, dass sie ihr Leben in einem Karmeliterinnenklos­ ter verbringen will. Nur dort glaubt sie Ruhe zu finden. 2. BILD Blanche bittet Madame de Croissy, die alte und schwerkranke Priorin des Kar­ mel, sie zum Noviziat zuzulassen. Die Priorin warnt Blanche, dass sie einen steinigen Weg vor sich haben werde und der Orden keine simple Zufluchtsstät­ te sei. Doch die Strenge der Ordensregeln bestärkt Blanche in ihrem Wunsch. Als sie der Priorin eröffnet, sich Blanche von Christi Todesangst nennen zu wollen, erteilt ihr die erschütterte Priorin den Segen. 3. BILD Blanche und Constance, die ebenfalls Novizin des Karmel ist, sind mit Alltags­ arbeiten beschäftigt. Sie reagiert unwirsch auf Constances unermüdliche Fröh­ lichkeit, und das ganz besonders angesichts der todkranken Priorin. Als Cons­ tance Blanche von ihrer Vision erzählt, dass sie beide eines Tages gemeinsam sterben werden, unterbricht sie Blanche empört.

6


4. BILD Der Tod der alten Priorin naht. Trotz ihres Glaubens wird sie von Angst und Schmerzen überwältigt. Über ihre gottlosen Reden ist die anwesende Mère Marie de l’Incarnation entsetzt. Die Priorin befiehlt Mère Marie, Blanche in ihre Obhut zu nehmen. Sie lässt Blanche zu sich kommen, ihre Worte gleichen einem Vermächtnis. In einer Vision sieht die Priorin die Verwüstung des Klos­ ters voraus. Blanche wird Zeugin ihres qualvollen Todes.

Zweiter Akt 5. BILD Blanche und Constance halten die Totenwache für die Priorin. Blanche gerät plötzlich in Panik und will aus der Kapelle fliehen. Mère Marie tritt hinzu und weist sie streng zurecht. Sie rät ihr jedoch, ihre Verfehlung nicht allzu schwer zu nehmen. Zwischenspiel: Während sie den Blumenschmuck für die verstorbene Pri­ orin vorbereiten, unterhalten sich Blanche und Constance über deren Nachfol­ ge. Constance hofft, dass Mère Marie die neue Priorin wird. Der schwere Tod der alten Priorin beschäftigt Constance. Sie überlegt, ob sie möglicherweise den Tod einer anderen gestorben sei. 6. BILD Zur neuen Priorin wurde nicht die aus dem Hochadel stammende Mère Marie gewählt, sondern die bescheidene Madame Lidoine. In ihrer ersten Ansprache an die Schwestern fordert sie von ihnen, ihr Seelenheil auch in politisch unsi­ cheren Zeiten im Gebet und nicht im Martyrium zu suchen. Zwischenspiel: In die bisherige Klosterruhe dringt immer mehr die Unru­ he der Revolution. Der Chevalier de la Force möchte seine Schwester Blanche sprechen. Die Priorin besteht darauf, dass Mère Marie dem Gespräch beiwohnt.

7


7. BILD Der Chevalier will Frankreich angesichts der gefährlichen politischen Situation verlassen. Er bittet Blanche, zu ihrem Vater zurückzukehren. Doch Blanche verteidigt ihre neue Lebensweise als Karmeliterin. Sie behauptet, nicht aus Angst, sondern aus Pflichtgefühl im Kloster bleiben zu wollen. 8. BILD Der Beichtvater des Klosters hat seine letzte Messe mit den Nonnen gefeiert. Er wurde soeben seines Amtes als Priester enthoben und will fortan im Ge­ heimen seinen Glauben leben. Von draussen dringt der Lärm des Pöbels ins Kloster. Ein Volksbeauftragter verkündet, dass gemäss einer neuen Bestimmung sämtliche Klöster geräumt werden müssen. Mère Jeanne überreicht Blanche den Petit Roi. Als erneut Lärm von drau­ ssen ertönt, lässt Blanche die kleine Statue erschrocken fallen.

Dritter Akt 9. BILD In Abwesenheit der Priorin schlägt Mère Marie ihren Mitschwestern vor, das Gelübde zum Martyrium abzulegen. Eine geheime Abstimmung findet statt. Es gibt eine Gegenstimme. Constance bekennt sich dazu, schliesst sich dann jedoch den anderen an. Zwischenspiel: Die Stimme eines Beamten verkündet das Ende der Ordens­ gemeinschaft und erklärt die Nonnen zu Bürgerinnen. Die zurückgekehrte Priorin muss feststellen, dass die Nonnen gegen ihren Willen das Martyriums­ gelübde abgelegt haben. 10. BILD Blanche ist aus dem Kloster in ihr ehemaliges Vaterhaus geflohen und lebt dort als niedere Dienstmagd. Ihr Vater wurde von den Revolutionären umgebracht. Mère Marie sucht sie auf und bittet sie eindringlich, sich zu verstecken. Blanche bleibt.

8


11. BILD Die Nonnen sind – mit Ausnahme von Mère Marie – wegen angeblicher konter­ ­revolutionärer Aktivitäten verhaftet worden. Die Priorin spricht ihren Mitschwes­ ­tern Trost zu und übernimmt die volle Verantwortung für das Marty­riums­ge­ lübde, obwohl sie es selbst nicht abgelegt hat. Sie erinnert die Schwestern an die Todesangst Christi im Garten Gethsemane. Die Nonnen werden zum Tod verurteilt. Zwischenspiel: Der Beichtvater berichtet Mère Marie von der bevorstehen­ den Hinrichtung der Karmeliterinnen. Er will sie davon abhalten, sich ihren Schwestern anzuschliessen. Mère Marie – innerlich zerrissen – stimmt ihm zu und flieht. 12. BILD Das «Salve regina» singend, werden die Karmeliterinnen nacheinander durch die Guillotine exekutiert. Constances Vision, gemeinsam mit Blanche zu sterben, wird wahr: Blanche erscheint und folgt ihren Schwestern vollkommen ruhig in den Tod.

9





DER LETZTE WEG Regisseurin Jetske Mijnssen und Dirigent Tito Ceccherini im Gespräch

Jetske Mijnssen und Tito Ceccherini, die Oper Dialogues des Carmélites von Francis Poulenc spielt hauptsächlich in einem Nonnenkloster, es geht um Märtyrertode. Eine richtige Liebesgeschichte gibt es nicht. Das hat mit der Lebensrealität der meisten Zuschauerinnen und Zuschauer wenig zu tun. Weshalb packt uns dieses Stück trotzdem? Jetske Mijnssen: Es geht hier nicht nur um Karmeliterinnen, um Nonnen, sondern der Titel macht es deutlich: Im Zentrum steht der Dialog, das Gespräch, das für mich ein Gespräch ganz generell unter Frauen ist. Diese Nonnen sind keine anony­­me Figuren, sondern von Poulenc ausserordentlich individuell und plastisch gezeichnet. Jede hat ihre ganz eigene Persönlichkeit und besondere Haltung. Wir erleben ihre Ängste und existenziellen Sorgen – als Zuschauerin gehe ich mit diesen Figuren mit. Im Zentrum steht die Hauptfigur Blanche, die mit ihrer Herkunft zu kämpfen hat: Sie ist in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Das macht sie für uns zu einer nachvollziehbaren, modernen Figur. Tito Ceccherini: Vielleicht bin ich jetzt zu dialektisch, aber ich finde, gerade weil es nicht um eine Liebesgeschichte geht, werden endlich einmal Dinge ver­handelt, die alle betreffen. Natürlich versteht jeder, was Liebe bedeutet, wir alle sind mit den damit verbundenen Emotionen wie Hass, Zweifel oder Eifersucht vertraut. Aber das Leben ist selten so einseitig. Wir stellen uns doch ständig Fragen, Fragen wie: Was möchte ich im Leben machen? Schaffe ich das auch? Geschieht das genau so, wie ich mir das vorstelle? Diese Fragen stellt sich Blanche, mit der wir durchs Stück gehen. Tito Ceccherini: Ja. Sie ist eine Suchende, die ihren Weg geht, ja gehen

13


muss. Sie kann in dieser dysfunktionalen Familie nicht bleiben. Die Rollen haben sich völlig verkehrt: Der Bruder bemuttert Blanche und bedrängt sie mit überzärtlicher Fürsorge. Doch wenn es darum geht, den adeligen, von der Französischen Re­­vo­lution bedrohten Vater zu beschützen, reist der Bruder ab und Blanche, die gerade ins Kloster eingetreten ist, soll sich um ihn kümmern. Das sind menschliche Verhaltens­weisen, die durchaus mit uns heute zu tun haben. Jetske Mijnssen: Du sprichst den Vater an. Der Vater verdrängt alle Probleme und bemerkt nicht, was mit Blanche los ist. Wenn der jakobinische Terror ausbricht, kümmert es ihn nicht, dass er als Adliger in Gefahr ist. Er glaubt, ihm könne nichts passieren. Aber dann geht alles schief. Das kann man ja generell über diese Oper sagen: Nichts geschieht so, wie vorgesehen. Alle planen etwas für sich, doch es kommt ganz anders … Tito Ceccherini: Die alte, schwerkranke Priorin zum Beispiel sollte in den Augen ihrer Mitschwestern einen leichten Tod sterben. Sie hat immer Gott gedient und gebetet, doch im Angesicht des Todes ist sie vollkommen verzweifelt und stirbt qualvoll. Eine andere einflussreiche Nonne im Kloster, die Lehrerin der Novizinnen, Mère Marie, die der Gemeinschaft das Martyriumsgelübde abringt, ist am Ende die Einzige, die nicht aufs Schafott geht. Und was Blanche betrifft: Wir lernen sie als eine Figur kennen, die primär von ihren Ängsten geleitet wird. Am Ende überrascht sie uns aber, wenn sie mit ihren Mitschwestern freiwillig in den Tod geht. Es ist eine wirklich komplexe Oper … Am Anfang dieser Geschichte steht ein Familientrauma. Was hat es damit auf sich? Jetske Mijnssen: Als Blanche zur Welt kam, ist ihre Mutter bei der Geburt ge­­storben. Das macht der Vater der Tochter unausgesprochen zum Vorwurf. Es ist ein Trauma, das immer wieder in ihm hochkommt. Poulenc deutet Ungesagtes zwischen den Figuren ja generell immer ganz fein an, man spürt ständig diese unter­schwelligen Spannungen. Es gibt einen be­mer­kens­werten Moment am Ende der Familienszene: Blanche erklärt dem Vater, dass sie

14


ins Kloster, in den Karmel eintreten will. In diesem Augenblick kippt etwas im Vater und man merkt, dass er seine Tochter zum ersten Mal als eigen­ ständigen Menschen wahrnimmt. Das Tragische ist: In dem Moment ent­ gleitet sie ihm bereits. Tito Ceccherini: «Au Carmel!» – das ist einer der ganz wenigen Takte in dieser Oper, wo zwei Figuren gleichzeitig singen, Vater und Tochter. En­ sembles gibt es in Carmélites eigentlich nur in den mehrstimmigen, lateinisch gesungenen Gebeten, die sich immer wie Inseln in dieser Oper ausnehmen. Daher ist dieser Moment sehr auffällig. Der Vater singt eigentlich nur in Rezitativen, und selbst wenn er Lega­­to singt, ist das immer noch ein Rezitativ. Er spricht, spricht, spricht…

Das komplette Programmbuch Ist diese Textlastigkeit ein Problem? Das Libretto basiert ja auf einem Bühnen­stück von Georges Bernanos, der wiederum als Vorlage die können Sie auf Novelle Die Letzte am Schafott von Gertrud von le Fort verwendet hat. Ich lerne den Wert des Textes von Bernanos immer www.opernhaus.ch/shop mehr zu schätzen. Er ist aussergewöhnlich nuancenreich, überaus präzise in den Emotionen und den Gedanken. oder am Vorstellungsabend imTones, Foyer Genau. Der Dialog ist trotz des philosophischen der immer wieder angeschlagen wird, so menschlich. Die Figuren werden in keinem zu Karikaturen. desMoment Opernhauses erwerben Tito Ceccherini:

Jetske Mijnssen:

Diese Figuren haben ja tatsächlich gelebt: Es sind die Karmeliterinnen von Compiègne, die während der Französischen Revolution wegen ihres Glaubens hingerichtet wurden. Nur Blanche ist eine freie Erfindung von Gertrud von Le Fort. Poulenc hat sich sehr mit dieser Figur identifiziert. Jetske Mijnssen: An ihr wird das Thema der Angst, das zentral für diese Oper ist, in ihrer vielfältigsten Erscheinungsform aufgezeigt. Blanche leidet unter einer extremen Lebensangst, unter ständigen Panikattacken. Sie ist immer die Aussen­seiterin, zuhause in der Familie, aber auch im Kloster. Sie erwartet vom Kloster im Grunde die Erlösung von ihrer Angst, Sicherheit und Geborgenheit. Aber bereits bei ihrem Eintrittsgespräch nimmt ihr die alte Priorin alle Illusionen. Wie das im Leben eben so ist: Man geht auf

15


eine Reise, um vor seinen Problemen zu fliehen, kommt nach Hause, und die Probleme liegen noch immer auf dem Tisch. Tito Ceccherini: Ich sehe Blanche ein wenig als Traumwandlerin. Ihr Instinkt führt sie auf diesen Weg … Jetske Mijnssen: Dabei trifft sie auf Frauen, die ihren Weg sehr prägen. Die alte Priorin ruft Blanche kurz vor ihrem Tod als Einzige zu sich. Sie will, dass Blanche es besser macht als sie selbst. Durch ihren furchtbaren Tod und ihre Angst vor dem Tod nimmt sie es gewissermassen auf sich, dass Blanche am Ende ohne Angst und Schmerzen sterben kann. Dann gibt es diese Begegnungen von Blanche mit Sœur Constance, die in ihrer Frische und Leichtigkeit eine sehr anziehende Figur ist. Gleichzeitig hat Constance eine tiefe Reife, sie weiss über Leben und Tod Bescheid und hat vor nichts Angst. Constance lässt sich von Blanches Strenge und Härte ihr gegenüber nie abschrecken. Selbst wenn Blanche die Gemeinschaft plötzlich verlässt, hält Constance zu ihr. Um auf den zentralen Aspekt der Angst zurückzukommen: Wie transportiert die Musik dieses Gefühl, diese permanente Spannung? Tito Ceccherini: Da reicht eine überraschende, innerhalb von Poulencs musikalischer Sprache weniger selbstverständliche Dissonanz, um das anzudeuten. Plötzlich tauchen musikalische Schatten auf, die völlig quer zur vorgängig etablierten Musiksprache stehen: ganz andere Akkorde, oder Töne in anderen Registern, tiefe Bässe mit Pauken zum Beispiel. Das ist überraschend in Poulencs tonaler, mit klassischen Mitteln gestalteten Sprache. Poulenc gliedert die Oper in dreimal vier Bilder, also insgesamt 12 Bilder, die jeweils durch musikalische Zwischenspiele voneinander abgetrennt werden. Wie schafft er diesen Bogen, ohne dass das Werk in Einzelteile zerfällt? Jetske Mijnssen: Die Dramaturgie ist wirklich bemerkenswert. Auffällig ist, dass die Szenen bereits am Laufen sind, wenn sich der Vorhang erneut hebt. Sie sind nie die Fortsetzung der vorherigen Szene ist. Manchmal kann man sich, sobald der Vorhang zugeht, sogar vorstellen, dass die Szenen weiter-

16


laufen. Das ist Suspense. Man merkt, dass Bernanos’ Stück ursprünglich ein Filmskript war. Tito Ceccherini: In der Musik gibt es dieses fliessende, schreitende Tempo, das durch die ganze Oper geht und nie aufhört. Es mündet schliesslich in die letzte Szene: dem Schreiten zum Schafott. Wie ist diese berühmte Schlussszene musikalisch gestaltet? Tito Ceccherini: Im Grunde unterliegt ihr ein ganz einfaches musikalisches Konzept, aber die Elemente, die dazu kommen, wirken überraschend. Die schneidenden Guillotinenschläge erklingen zum Beispiel an völlig uner­warteten Stellen, in un­regelmässigem Abstand. Auch die dynamischen Nuancen sind in dieser Szene nicht vorhersehbar. Natürlich beginnt die Szene leise, sie wird lauter und endet leise. Aber dazwischen gibt es überraschende, dynamische Stufen. Nach den vielen Dialo­gen gibt es hier keine Gespräche mehr, nur noch das Murmeln des Chores und den Hymnus Salve Regina. Mit jedem Schlag erstirbt eine Stimme. Durch das Ende der Gespräche ist die Individualität der Schwestern ausgelöscht, das Ende des menschlichen Dialogs überhaupt.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Wie ergeht es dir mit der Schlussszene, Jetske? 16 Frauen sterben hintereinander Schafott, und wir müssen dabei zusehen … desauf dem Opernhauses erwerben Jetske Mijnssen: Ich bin jedes Mal entsetzt, wenn diese Szene kommt. Auch unseren Sängerinnen fällt es schwer, das zu singen und zu spielen. Der Gang zum Schafott wird radikal durchgeführt. Der grausame Tod von Madame de Croissy im ersten Teil der Oper ist eine Vorbereitung auf dieses Ende, doch sie stöhnt und schreit – das fehlt am Schluss, da schreit es in uns. Szenisch suche ich dafür natürlich alles andere als eine platt realistische oder gar blutrünstige Lösung, denn es geht ganz allgemein um das brutale Auslöschen von Individuen. Die Nonnen sterben zwar für ihren Glauben, aber dieser freiwillige Tod ist unter enormem Druck der re­volutionären Kräfte zustande gekommen, durch äussere Gewalt. Und die Nonnen haben Angst! Das Martyriumsgelübde haben die Schwestern auch nur deshalb abgelegt, weil Mère Marie so radikal, fast ideologisch darauf beharrte und

17


diese Abstimmung ganz bewusst in dem Moment durchführte, als die neue Priorin, Madame Lidoine, abwesend war. Madame Lidoine sagt dann später, dass sie ein solches Versprechen niemals von ihren Mitschwestern verlangt hätte. Zum Zeitpunkt der Komposition war der Tod im Leben von Francis Poulenc allgegenwärtig. Er war während der Komposition der Car ­mé­ lites in einer tiefen persönlichen Krise, litt unter Todesängsten und bildete sich eine Krankheit ein. Gestorben ist dann aber während der Fertigstellung der Partitur Poulencs ehemaliger Partner. Jetske Mijnssen: Dass sich Poulenc in diesem Stück mit den letzten Dingen auseinandersetzt, ist klar. Die Dialoge sind fast immer ein Austausch über den Tod. «Gott, warum hast du mich verlassen?» – Das ist die zentrale Frage, die immer wieder im Stück auftaucht. Bei der sterbenden und Gott ver­ fluchenden alten Priorin Madame de Croissy, aber auch bei Madame Lidoine, die in der Gefängnis­szene die verängstigten Nonnen darauf hinweist, dass Jesus im Garten Gethsemane auch Angst hatte. Und Blanche nennt sich im Kloster Blanche de l’Agonie du Christ, also von Christi Todesangst – ein Name, den auch die alte Priorin trug. Poulenc verbindet seine Figuren mit unseren eigenen tiefen Fragen und Ängsten. Tito Ceccherini: Und auf all diese Fragen gibt es in diesem Stück keine Antworten. Diese Oper spielt ausschliesslich in geschlossenen Räumen – sei es die Zelle einer Krankenstation, die Klosterkapelle oder die Gefängniszelle. Es sind alles Innenwelten, quasi als Puffer zur bedrohlichen Aussenwelt. Was bedeutet dieser «Huis clos» für die Inszenierung? Jetske Mijnssen: Zunächst einmal sind die vielen Schauplätze dieses Stücks durchaus eine Herausforderung. Es stellt sich die Frage: Wie kann man diese Geschichte aus einem Guss erzählen, so dass wir diese Welt und die Figuren verstehen? Wir haben uns im Team dann entschieden, das Stück aus dem subjektiven Erleben von Blanche zu erzählen. Sie erlebt eine Art Flashback kurz vor ihrem Tod, wie das ja oft Menschen berichten, die dem

18


Tode nahe waren und ihr Leben in komprimierter Form vor ihrem inneren Auge gesehen haben. Wie empfindest du den Katholizismus in diesem Stück? Wie ist er dargestellt? Jetske Mijnssen: Im Stück ist Religiosität spürbar, aber nicht explizit Katholizismus. Auch wenn Poulenc selbst bekennender Katholik war, waren ihm allzu strenge Glaubensvertreter suspekt, das weiss man. Er suchte immer das Lebendige. In Carmélites ist nichts manifest, sondern es wird gezweifelt und diskutiert. Noch ein komplette letztes Wort zu Poulenc alsProgrammbuch Komponisten, dessen musikalische Das Sprache für ein Werk der 1950er-Jahre überraschend tonal ist, vergleicht man sie mit anderen musikalischen Strömungen in dieser Zeit. können Sie auf Serialismus oder Zwölftonmusik interessierte Poulenc kaum. Dafür wird er im deutschsprachigen Raum gerne belächelt … www.opernhaus.ch/shop Ich bin ein Enthusiast der Neuen Musik, das muss ich voraus­schicken. Aber ich habe in meinem Leben immer mehr Abstand von oder am Vorstellungsabend im der Frage genommen, wie man sich legitimieren soll. Dass die Vier letztenFoyer Lieder von Richard Strauss oder sein Oboenkonzert zeitgleich wie die Erste Klaviersonate von Pierre Boulez entstanden sind, ist zwar erstaunlich, aber des Opernhauses erwerben Tito Ceccherini:

muss ich das auch be­werten? Es gibt so viele unterschiedliche Arten, neu zu sein, und das hat nicht unbedingt damit zu tun, ob man nun tonal oder atonal komponiert. Letztlich geht es darum, was und nicht wie man etwas mit seiner musikalischen Sprache erzählt. Auch wenn Poulencs Oper nichts mit der Darmstädter Schule zu tun hat, hätte sie kein Jahr früher komponiert werden können. Das Gespräch führte Kathrin Brunner

19



Als ich meine Oper schrieb, versenkte ich mich so tief in diesen bewundernswerten Text, dass er durch den Prozess der Osmose beinahe zu meinem eigenen wurde, wie es auch bei jeder vom Herzen kommenden Zusammen­ arbeit geschieht. Es war nicht so sehr die historische Geschichte der Karmeliterinnen, so wahr sie auch ist, die mich zur Entscheidung brachte, mich diesem Werk zuzuwenden, als die grossartige Prosa von Bernanos in ihrer gesamten Ernsthaftigkeit und geistlichen Dimension... Was für mich genauso wichtig war wie Blanches Furcht, war die ganz und gar Bernanos’sche ldee der «Communio sanctorum» und der Übertragung von Gnade. Darum mass ich der Szene soviel Gewicht bei, in der Constance, diese liebenswerte Dienerin Gottes, erklärt: «Wir sterben nicht jeder für sich, sondern die einen für die anderen, oder sogar die einen anstelle der anderen.» Natürlich drehen sich meine Gedanken oft um Lucien*, und, obwohl ich mich mit der Erinnerung an ihn zur Gänze abgefunden habe, beschäftigt mich die Vorstellung zutiefst, dass er an meiner Stelle und woran ich selber zu leiden glaubte, gestorben sei. Francis Poulenc

* Lucien Roubert, mit dem Poulenc sechs Jahre lang liiert war. Er erkrankte während der Komposition der «Dialogues» an Krebs und starb schliesslich im Alter von 47 Jahren.



Die Angst, die wirkliche Angst ist ein rasender Wahnsinn. Von allen Tollheiten, zu denen wir fähig sind, ist sie die grausamste.

Georges Bernanos, 1938






Die «Carmélites» sind begonnen und ich schlafe nicht mehr (im wörtlichen Sinne). Ich arbeite wie ein Verrückter, gehe nicht aus, sehe niemanden... Ich mache eine Szene pro Woche. Ich erkenne mich nicht wieder. Ich habe das Gefühl, die Damen gekannt zu haben. Francis Poulenc an Stéphane Audel, 31. August 1953


EINDEUTIG MEHRDEUTIG Zur Oper «Dialogues des Carmélites» Marco Frei

Kunst ist bekanntlich ein weites Feld. Eine Redewendung besagt, dass Kunst von Können komme. Für andere ist Kunst immer auch Interpretation. Erst dadurch werde sie lebendig – zum Leben erweckt. «Alle Bedeutungen, die wir kennen, müssen notgedrungen mit dem Schlüssel der Interpretation aufge­ schlossen werden», betont etwa die 1880 verstorbene englische Schriftstellerin George Eliot. In strenger, prüder viktorianischer Zeit ist sie eine moderne Auf­ klärerin. Was Eliot sagt, findet sich auch woanders wieder: beispielsweise im Denken von Friedrich Nietzsche. «Es gibt keine Fakten, nur Interpretationen», schreibt der deutsche Philo­ soph, Schöpfer des «Übermenschen», in einem Eintrag in seinem Notizbuch, das zwischen Sommer 1886 und Herbst 1887 datiert. Und Nietzsche geht noch weiter: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeinhin als Interpretation vor­ herrsche, sei demnach eine Frage der Macht und nicht der Wahrheit. Das macht die Sache nicht gerade einfacher: weder für Ausübende, Interpretierende noch für Rezipierende, das Publikum. Selbst Kunstwerke, die ziemlich eindeutig scheinen, können sich – bei näherer Betrachtung ihrer Voraussetzungen und Genese, der Motivationen und Intentionen, ihres Seins und Wollens – als ausgesprochen vielschichtig und mehrdeutig entpuppen. Dafür steht auch exemplarisch die Oper Dialogues des Carmélites, die Francis Poulenc für die Mailänder Scala geschaffen hat und die dort 1957 uraufgeführt wurde. Ihre Handlung scheint klar, noch dazu im Grun­ de linear erzählt. Dennoch geriert sich schon allein die Genese und Rezeption des Stoffes der Karmeliterinnen wie auch der Figur der Blanche ausgesprochen weit ver­ zweigt. Das Libretto zur Oper hat Poulenc selbst verfasst, auf Grundlage des

29


gleichnamigen Stücks von Georges Bernanos. Ursprünglich als Drehbuch kon­ zipiert, wird der Film erst 1959, also rund zehn Jahre nach Bernanos’ Tod, reali­siert: unter dem deutschen Titel Opfergang einer Nonne, mit Jeanne Moreau und Pascale Audret. Über das Erscheinen und die Uraufführung des Theater­ stücks kursieren unterschiedliche Angaben. So gibt die Literaturwissenschaftlerin Judith H. Kaufmann an, dass das Stück bereits 1948 erschienen sei. Die Uraufführung datiert sie auf den 6. Juni 1952 am Théâtre Hébertot in Paris. Dagegen bemerkt der Musikpublizist Ro­ bert Maschka, dass erst nach dem Tod Bernanos’ dessen Freund Albert Béguin aus dem Manuskript ein Bühnenstück gemacht habe. Es sei 1951 in Zürich herausgekommen, unter dem Titel Die begnadete Angst. Wie auch immer: Was Film und Bühnenstück eint, ist die betonte Schlichtheit frei von jedweder Sentimentalität und Larmoyanz. Die nicht verschnörkelte Sprache im Theaterstück Bernanos’ findet im Film ihre Entsprechung in Gestalt einer Stille und Strenge. Sie prägen gleichermassen sowohl den Darstellungsstil als auch die Bildregie. Dabei geht das Stück von Bernanos seinerseits auf eine Novelle zurück, die die süddeutsche Autorin Ger­ trud von le Fort 1931 geschaffen hat: unter dem deutschen Titel Die Letzte am Schafott. Aus dieser Vorlage hat Bernanos nicht wenige Elemente übernommen. Das berührt einerseits den wahren historischen Kontext, also das Martyrium von sechzehn Karmeliterinnen. In den Wirren der Französischen Revolution und im Zuge der Säkulari­ sierung Frankreichs enden die Nonnen am 17. Juli 1794 unter dem Fallbeil. Andererseits stammt die Figur der Blanche de la Force aus der Vorlage von le Fort. Schon von den Dienstboten wird sie «petit lièvre», Angsthäschen, genannt, weil sie beim leisesten Geräusch erschrickt. Mit dem Eintritt in das Kloster des Karmeliter-Ordens hofft sie auf Befriedung im und durch den Glauben. Am Ende überwindet sie selbst ihre Todesangst und folgt den Schwestern auf das Schafott. Was le Fort und Bernanos eint, ist ihr katholischer Glaube und das tiefe Gottvertrauen. Diese Haltung bestimmt gleichermassen ihre Kunst. So avanciert Bernanos mit seinem Theaterstück – gemeinsam mit François Mauriac oder Julien Green – zum Hauptvertreter des «Nouveau théâtre catholique» in Frankreich. Dagegen

30


gilt le Fort gemeinhin als deutsche Hauptvertreterin der «Renouveau catholi­ que». Diese «Katholische Erneuerung», eine seit dem 19. Jahrhundert von Frank­ reich ausgehende philosophische, sozialkritische und literarische Bewegung, propagiert die Hinwendung zu den Werten eines ursprünglichen Katholizismus. Während der Nazi-Zeit beeinflusst diese Bewegung auch Teile des literarischen Widerstands in Deutschland. Auch le Fort selbst gerät in Konflikt mit der nationalsozialistischen Ideo­ logie. Ihre Vision von einem «Christlichen Heiligen Deutschen Reich» ist mit dem totalitären NS-Führerstaat nicht zu vereinbaren. Dennoch darf sie 1938 den Roman Die Magdeburgische Hochzeit veröffentlichen. In ihrer Novelle Die Letzte am Schafott stellt le Fort indessen faktisch eine Verbindung zwischen dem jakobinischen Schreckens- und Terrorregime während der Französischen Revo­lution und dem Nazi-Staat her. Der furchtlose Märtyrer-Tod der bis dahin von Angst gebeutelten Blanche soll Mut machen in finsterer Zeit: im Gestern und im Heute. Wie die Komparatistin Ulrike Backofen zurecht feststellt, reflektiert le Fort mit der Gestalt der Blanche indessen auch zentrale Aspekte der Philosophie von Søren Kierkegaard. Wenn nämlich Kierkegaard «die Angst als treibende Kraft der Existenz zu bestimmen versuchte, stellt le Fort ihre Heldin Blanche de la Force als ‹Verkörperung der Todesangst einer ganzen zu Ende gehenden Epoche› dar», so Backofen. Doch damit allein ist es nicht getan, denn: Die Blanche von de la Fort wirkt über weite Strecken fast schon wie eine Persönlichkeitsstudie von Kierkegaard. In seiner Geschichte der Philosophie bricht Johannes Hirschberger das Leitmotiv im Denken von Kierkegaard auf eine griffige Formel herunter. «Nicht Theorie und blosses Wissen, sondern Tun und Leben, nicht teil­ nahmslose, neutrale Objektivität, sondern Einsatz und Entscheidung der Per­ son!», skizziert Hirschberger. Er verweist zudem auf eine bezeichnende Tage­ buchnotiz Kierkegaards vom 1. August 1835. «Was mir eigentlich fehlt, ist, ins Reine mit mir selbst zu kommen – darüber, was ich tun soll, nicht was ich er­ kennen soll», bekennt Kierkegaard. «Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was Gott eigentlich will, was ich tun soll; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit ist für mich, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will.»

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

31


In der Lesart von le Fort scheint es fast so, als ob Blanche schlussendlich findet, was sie selbst bis dahin vergeblich sucht – und was Kierkegaard zeitlebens offen­ bar nicht vergönnt war. Bei le Fort klart sich das Gesicht der vormals total Verängstigten buchstäblich auf. Im Angesicht des Todes sieht Blanche plötzlich «völlig furchtlos» aus. Bei Bernanos wird die «Tochter der Angst» durch Gnade von ihrer Angst befreit. «Selbst die Angst ist ein Geschöpf Gottes, das am Kar­ freitag erlöst worden ist», heisst es in dem Theaterstück. Wie schon bei le Fort spielt auch bei Bernanos der zeithistorische Kontext eine zentrale Rolle. Die Erfahrungen eines von Nazi-Deutschland besetzten Frankreichs sind bei Entstehung des Manuskripts noch allzu präsent. Ähnlich wie le Fort lehnt auch Bernanos jedweden Totalitarismus ab: ob nun nationalsozialistisch oder stalinistisch. Das defensive Auftreten Frankreichs gegenüber Adolf Hitler em­ pört ihn genauso wie die Unterstützung der katholischen Kirche in Spanien für den Franco-Faschismus. Im Juli 1938 verlässt Bernanos Frankreich, um bis 1945 von Brasilien aus gegen das NS-treue Vichy-Regime anzuschreiben und die Résistance unter Charles de Gaulle zu unterstützen. Was nun Bernanos und Poulenc wiederum eint, ist ebendieser zeitaktuelle Kontext. Er prägt die Motivation für Die Dialoge der Karmeliterinnen entschie­ den mit. Während der deutschen Okkupation Frankreichs empfängt Poulenc anonyme Texte aus dem Untergrund, vermutlich zumal von seinem Lieblings­ dichter Paul Éluard. Ein solches Gedicht, die berühmte Ode à la liberté, bildet den Schluss der Kantate Figure humaine von 1943. Ähnlich wie le Fort begreift auch Poulenc sein Schaffen als Ausdruck des Glaubens und der Zuversicht. Gleichzeitig drückt sich in Blanche von le Fort, Bernanos und Poulenc nicht nur ein Glaubensbekenntnis aus, sondern auch eine deutliche System- und Ge­ sellschaftskritik. Was wiederum Bernanos und Poulenc überdies eint, sind per­ sönliche Erlebnisse und Erfahrungen, die zum Glauben geführt oder ihn be­ stärkt haben. So arbeitet Bernanos an seinem Theaterstück, als er selbst bereits – schwer erkrankt – dem Tod geweiht ist. «Angesichts des eigenen Todes fand er in diesem Drama zu einer Ausgeglichenheit, einer massvollen Konzentration, wie er sie in seinen Romanen und Essays kaum je erreichte», urteilt Judith H. Kaufmann. Und Poulenc? Er findet in den 1930er Jahren wieder zum katholi­ schen Glauben, als sein Leben tief in der Krise steckt.

32


Es beginnt mit einem Heiratsantrag an Raymonde Linossier, den diese Ende Januar 1930 ablehnt. Sie ist die einzige Frau, der Poulenc einen solchen Antrag gestellt hat. Die Geburt seiner unehelichen Tochter 1946 hält Poulenc genau­ so geheim wie seine Homosexualität. Das gilt auch für die jahrzehnte­lange Beziehung zu dem Bariton Pierre Bernac. Für seine Stimme hat Poulenc sämt­ liche Klavierlieder zugeschnitten. Ihre Beziehung ist der von Benjamin Britten und dem Tenor Peter Pears vergleichbar: mit dem Unterschied, dass Letztere für alle offensichtlich ein gemeinsames Leben unter einem Dach führten. Auch mit dem Maler und Designer Richard Chanlaire hatte Poulenc eine Beziehung, aber: Wenn Mario Champagne 2002 Poulenc zu den ersten Kom­ ponisten zählt, die offen zu ihren Neigungen gestanden hätten, so erscheint diese Darstellung reichlich verkürzt. Im Gegenteil: Es scheint vielmehr, dass das Changieren zwischen tiefen Depressionen, verzehrenden Selbstzweifeln und totaler Selbstisolation einerseits und Phasen schrillster Euphorie und besessenen Enthusiasmus’ andererseits, das sich durch sein Leben zieht, auch diesem exis­ tenziellen Versteckspiel geschuldet ist. Es lässt ihn zugleich zeitlebens wiederholt an der eigenen Glaubensfähigkeit zweifeln – ähnlich wie bei Blanche. Der tiefe Einschnitt folgt 1936, als ein enger Freund bei einem Autounfall tödlich verunglückt: der Komponist und Kritiker Pierre Octave Ferroud. Ein Besuch der Schwarzen Madonna von Rocamadour, ein bedeutender Wallfahrts­ ort in Südfrankreich, bestärkt Poulenc in seiner Annäherung an den katholischen Glauben. Wenn le Fort mit ihrer Blanche ein Stück weit auch Kierkegaard einfängt, so wirkt die Blanche von Poulenc mit ihrem Hadern, den Ängsten und Selbstzweifeln in mancher Hinsicht wie ein Selbstportrait. Die – vermeint­ lichen – Widersprüche im Leben Poulencs scheinen sich dabei auch in seiner Musik generell widerzuspiegeln. Es ist der französische Musikpublizist Claude Rostands, der das schöpferi­ sche Profil von Poulenc psychologisch genau einfängt. In jedem Takt seiner Musik steckten, so Rostands, im Grunde Wesenszüge eines «moine» und «vo­ you»: also eines Mönchen und Schurken. Für Jens Rosteck meint dieses «Sowohl-­ als-auch-Diktum» das «Janusköpfige, Ambivalente von Poulencs kompositori­ scher Persönlichkeit». Ob E- oder U-Musik, antiromantischer Neoklassizismus und Neobarock oder religiös-spirituelles Versenkungspathos, Jazz-Anleihen,

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

33


Vaudeville und Varieté oder Dadaismus und Surrealismus, Ästhetik der Groupe des Six oder Vokalpolyphonie der Renaissance: Die Musik von Poulenc kennt keine Schubladen oder Widersprüche. Sie lässt kaum etwas aus, um scheinbar Gegensätzliches zusammenzufüh­ ren. Mit der Hinwendung zum katholischen Glauben in den 1930er Jahren kommt zudem ein dezidiert geistliches Profil hinzu. Wenn le Fort als Vertreterin einer «Renouveau catholique» gilt und Bernanos dem «Nouveau théâtre catho­ lique» zugeordnet wird, so liesse sich dieser Teil von Poulencs Schaffen als «Nouvelle musique catholique» bezeichnen. Hierzu müsste auch ein Komponist wie Olivier Messiaen gerechnet werden. Mag sein, dass Poulenc der Mystizismus eines Messiaen in dieser spezifisch ausgeprägten Form fremd ist, aber: Ähnlich wie Poulenc verbindet sich auch im Schaffen von Messiaen das katholische Glaubensbekenntnis mit persönlichen, auch zeithistorischen Kontexten. So hat Messiaen sein bedeutendes Quatuor pour la fin du Temps 1940/41 samt den «Lobpreisungen an die Ewigkeit und Unsterblichkeit Jesu» als Kriegsgefangener in einem deutschen Lager in Görlitz komponiert und dort mit Mithäftlingen uraufgeführt. «Niemals wieder wurde mir mit solcher Aufmerksamkeit und solchem Verständnis zugehört», wird Mes­ siaen später berichten. Schon allein mit dem geistlich-geistigen Profil seiner Oper Saint François d’Assise von 1983 nimmt Messiaen zudem im westlichen Musiktheater des fort­ geschrittenen 20. Jahrhunderts eine ähnlich singuläre Position ein wie Poulenc mit Dialogues des Carmélites. Von der schöpferischen Synthese scheinbarer Gegensätze, die das Schaffen Poulencs generell bestimmt, ist diese Oper ganz besonders geprägt. Allein die Werkwidmung spricht für sich. Die Oper hat Poulenc nicht nur seiner Mutter zugeeignet, sondern auch vier Komponisten: Claude Debussy, Claudio Monteverdi, Giuseppe Verdi und Modest Mussorgsky. Im Fall Debussys ist diese Widmung besonders irritierend, da sich die Groupe des Six, der auch Poulenc angehörte, einst auch vom Impressionismus distanzierte. Gleichwohl verweist in der Oper von Poulenc das spezifische, zwi­ schen Rezitativischem und Ariosem changierende Melos im Gesang durchaus auf Debussy. Mit Verdi hat Poulenc hingegen die Betonung des Gesangs gegen­ ­über dem Orchester gemein, was zugleich die Frage nach dem generellen Wort-

34


Musik-Ton-Verhältnis berührt. Dieses Verhältnis hatte einst Monteverdi neu definiert. Auf Mussorgsky verweist hingegen der Realismus der Glockenmotivik, wie dieser etwa in Boris Godunow eine zentrale Rolle spielt. Diese mehr oder weniger direkten Einflüsse reichen indessen nicht aus, um die Partitur der Karmeliterinnen ganz zu erfassen. Selbst Richard Wagner oder Hector Berlioz haben durchaus ihre Spuren hinterlassen, obwohl ihre Roman­ tik eigentlich nichts mit Poulenc gemein hat. Gleichwohl wirkt allein der Gang aufs Schafott wie ein Pedant zum «Gang zum Richtplatz» des vierten Satzes aus der Symphonie fantastique von Berlioz – ganz zu schweigen von der kondukthaft aufmarschierenden Starre wie auch dem hämmernden Glockengeläut. Sie ziehen sich durch die Oper wie eine unheilvolle «Idée fixe» oder ein Leitmotiv. Was bleibt, ist der Eindruck, dass diese Oper ein ausgesprochen persönliches Werk im Schaffen Poulencs ist – vielleicht gar sein persönlichstes. Sie ist nicht zuletzt reich an dem, was der Musikwissenschaftler Constantin Floros «eminent anthropologische Bezüge» nennt. Damit meint er ein Werk, das bedeutsame historische, biografische, soziale, geistige, religiöse, philoso­phische, psychologi­ sche, ästhetische Dimensionen verlebendigt. Dieses schöpferische Profil eröffnet zugleich viele, auch differierende Perspektiven in der Deutung und lässt diese auch zu. Die Oper von Poulenc gewährt Freiheit. Auch deswegen ist sie ein veritables Meisterwerk des modernen Musiktheaters.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

35


ZEITTAFEL Zum Hintergrund von «Dialogues des Carmélites» 1641

1792

Gründung des Karmel von Compiègne.

20. März: Die Guillotine wird zur exklusiven

Standes erklären den Dritten Stand zur französischen Nationalversammlung. 14. Juli: Sturm auf die Bastille. 28. Oktober: Verbot des Ablegens von Ordensgelübden.

Hinrichtungsart in Frankreich bestimmt. Zwischen Juni und September: Unter dem Einfluss der Priorin legen die Karmeliterinnen von Compiègne einen Märtyrereid ab. 21. September: Aufhebung der Monarchie und Ausrufung der Republik. 14. September: Die Karmeliterinnen von Compiègne werden gezwungen, ihr Kloster zu verlassen und bürgerliche Kleidung anzu­legen. Die Schwestern tauchen in verschie­ denen Haushalten unter und praktizieren ihren Glauben heimlich weiter. 21. September: Aufhebung der Monarchie – Frankreich wird Republik.

1790

1793

13. Februar: Aufhebung der Klöster

21. Januar: König Ludwig XVI. wird hinge­

12. Juli: Die Mitglieder des Klerus werden

rich­tet.

zu Staatsbeamten erklärt. 27. November: Alle Geistlichen müssen einen Zivileid ablegen. Wer ihn nicht ablegt, wird als Staatsfeind verfolgt.

17. September: Das «Gesetz über die Ver­

1786 Mére Thérèse de Saint-Augustin (Lidoine) wird zur Priorin gewählt, ihre Vorgängerin, Mère Henriette de Jésus (de Croissy), wird Novizenmeisterin.

1789 17. Juni: Die Abgeordneten des Dritten

dächtigen» wird beschlossen, das willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen erlaubt. Die Schreckensherrschaft (Grande Terreur) der Jakobiner beginnt.

1791 3. September: Frankreich wird konstitutionelle

1794

Monarchie.

Ende März: Sœur Marie de l’Incarnation geht

36


1906

nach Paris, um Erbschaftsfragen zu klären. Sie überlebt als einzige der Ordensschwestern das Terrorregime und schreibt ihre Erinne­ rungen an die Ereignisse später nieder. 23. Juni: Die 16 Karmeliterinnen werden ver­haftet und am 10. Juli nach Paris ausgeliefert. Zwischen 6. und 26. Juli: In Orange werden 32 Schwestern aus verschiedenen anderen Orden hingerichtet. 16. Juli: Die Karmeliterinnen feiern im Gefängnis der Conciergerie in Paris das Fest zur Lieben Frau. 17. Juli: Die Karmeliterinnen werden vom Revolutionstribunal wegen «konterrevolutio­ nären Versammlungen», «fanatischen Briefwechseln» und «freiheitsbedrohlichen Schriften» verurteilt und hingerichtet. Die Novizin Sœur Constance besteigt das Schafott zuerst und stimmt den Psalm 117 «Laudate Dominum» an. Mère Thérèse de Saint-Augustin wird auf ihren eigenen Wunsch hin zuletzt hingerichtet. 27. Juli: Sturz Robespierres – Ende der Schreckensherrschaft.

Seligsprechung der Karmelitinnen von Compiègne durch Papst Pius X.

1931 Die Novelle «Die Letzte am Schafott» von Gertrud von le Fort erscheint.

1947 Georges Bernanons schreibt die Dialoge zu einem Drehbuch nach le Forts Novelle.

1949 Ein Jahr nach Bernanos’ Tod werden die Dialoge unter dem Titel «Dialogues des Carmélites» herausgegeben.

1951 Die Dialoge werden als Stück unter dem deutschen Titel «Die begnadete Angst» am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt.

1953 Francis Poulenc erhält vom Teatro alle Scala in Mailand den Auftrag, eine Oper nach Bernanos’ Dialogen zu schreiben.

1799 9. / 10. November: Napoleon kommt an die

1957

Macht – Ende der Revolution.

Uraufführung der italienischen Fassung «Dialoghi delle Carmelitane» an der Scala und der französischen Fassung «Dialogues des Carmélites» an der Opéra National in Paris.

1836 «L’Historie des Religieuses Carmélites de Compiègne» von Sœur Marie de l’In­car­ nation wird nach ihrem Tod veröffentlicht.

37



Uff! mein Kleiner Pierre, «sie» (die Priorin) tat ihren letzten Seufzer gestern Abend um 7 Uhr – nach welch entsetzlicher Agonie! Mère Marie, ehrgeizig wie nie, war von unglaublicher Härte. Die arme Blanche ist völlig durchgedreht. Was mich betrifft, ich bin todmüde, aber sehr erleichtert, dass ich dieses Bild fertig habe. Das ist mit Sicherheit das schönste. Sie werden sehen, das Orchester ist packend, und die Stimmen können alles geben. Francis Poulenc an Pierre Bernac, 19. Dezember 1953




DER KARMEL Anja Eisner

Karmeliten gehen auf eine Glaubensgemeinschaft zurück, die um 1150 im Kar­ melgebirge bei Haifa im heutigen Israel von Kreuzfahrern in der Tradition des asketischen Eremitentums gegründet wurde. Ihre Karmelordnung haben sich die Mönche selbst gegeben, vom Jerusalemer Patriarchen Albertus liessen sie sich diese um 1210 lediglich beglaubigen. Diese Ordnung besagte u.a., dass jeder für Gebet und Arbeit über seine eigene Zelle verfügen kann, dass man Haustiere halten darf, und dass die Mönche einmal die Woche zusammenkom­ men, um Austausch zu halten. Zudem wurde es erlaubt, auf Reisen Fleisch zu essen. Diese Regel diente dazu, Gastgeber nicht zu sehr zu belasten, sondern sich durch Jagd selbst verpflegen zu können. Das Vorrücken der Muslime er­ zwang 1238 die Auswanderung der Karmeliten nach Europa. Papst Innozenz IV. änderte 1247/53 die Regel, indem er den Karmel zu einem Bettelorden (der nach wie vor das Eremitentum pflegte) umwidmete. Dadurch durften die Karmeliten in Europa wissenschaftliche Studien betreiben und sich als Seelsor­ ger betätigen. Schnell verbreiteten sie sich von Süden über ganz Europa. Schon im 13. Jahrhundert schlossen sich erste Frauen den Karmeliten an. Entweder lebten sie in den männlich dominierten Klöstern oder sie zogen in Beginenhö­ fe, wo christliche Gemeinschaften ehelos und ohne Gelübde miteinander lebten. Der Orden spaltete sich im 16. Jahrhundert. Teresa von Avila (nach ihr benannt: der «Teresianische Karmel») lehnte den alten Rigorismus mit seinen Selbstgei­ sselungen, Extremfasten und Abstinenz, die die Gunst Gottes erwerben sollten, ab. Sie predigte geschwisterlichen Lebensstil ohne Standesunterschiede, Frei­ werden vom Ego und die Pflege intensiver Freundschaft mit Gott. Grundlage ist ständiges Bemühen um Selbsterkenntnis – Demut. In einem ihrer Haupt­ werke schrieb sie: «Womit ich schliesse, ist, dass wir keine Türme ohne Funda­ ment bauen sollen, denn der Herr schaut nicht so sehr auf die Grösse der

42


Werke, als vielmehr auf die Liebe, mit der sie getan werden. Und wenn wir tun, was wir können, wird Seine Majestät dazutun, dass wir jeden Tag mehr und mehr vermögen, sofern wir nicht gleich müde werden, sondern für die kurze Dauer dieses Lebens – und vielleicht ist es kürzer als die einzelne denkt – in­ nerlich und äusserlich dem Herrn das Opfer anbieten, das wir fertig bringen. Seine Majestät wird es mit dem verbinden, was er am Kreuz für uns dem Vater darbrachte, damit es den Wert erhält, den unser Wollen verdient hätte, seien die Werke auch klein.»

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

43




Als ich mich 1936, dem Schicksalsjahr meines Lebens und meiner Karriere, zu einem Arbeitsaufenthalt mit Yvonne Gouverné und Pierre Bernac in Uzerche befand, bat ich letzteren, mich mit dem Auto nach Rocama­ dour zu chauffieren. Dieser Wallfahrtsort, von dem ich meinen Vater oft hatte sprechen hören, ist ganz in der Nähe des Flusses Aveyron. Einige Tage zuvor hatte ich vom tragischen Unfalltod meines Komponisten­ kollegen Pierre-Octave Ferroud erfahren. Die entsetzliche Enthauptung dieses so kraft­vollen Musikers hatte mich erschüttert. In dem Gedanken, wie wenig Gewicht unsere menschliche Hülle hat, fühlte ich mich von neuem zum spirituellen Leben hinge­ zogen. Durch Rocamadour wurde ich zurückgeführt zum Glauben meiner Kindheit. Dieses Heiligtum, sicher eines der ältesten von Frankreich – der Hl. Ludwig hat hier Station gemacht, als er zum Kreuzzug auf­brach –, besass alles, um mich zu über­­­ wältigen. In praller Sonne in die Nische eines schwindelerregenden Felsens geschmiegt, ist Rocamadour ein Ort von aussergewöhn­li­ chem Frieden, was von der sehr bescheidenen Anzahl an Touristen noch unterstrichen wird. Nachdem man durch einen Hof mit rosa­ farbenem Oleander in Kästen gegangen ist, gelangt man in eine bescheidene Kapelle, die zur Hälfte in den Fels gehauen ist; sie beher­bergt eine wundertätige Figur der Heiligen Jungfrau, nach der Tradition aus schwarzem

Holz geschnitzt vom Hl. Amadour, dem kleinen Zachäus des Evangeliums, der auf einen Baum klettern musste, um Christus sehen zu können. Noch am Abend meines Besuchs in Rocamadour begann ich mit der Komposition meiner Litaneien an die Schwarze Madonna für Frauenstimme und Orgel. In diesem Werk versuche ich die «bäuerliche Frömmigkeit» wiederzugeben, die mich an diesem besonderen Ort so sehr berührt hatte... Seit diesem Tag bin ich oft nach Rocamadour zurückgekehrt und habe die Schwarze Madonna um schützenden Beistand für verschiedene Werke gebeten: für Figure humaine, für das Stabat mater zum Gedenken an meinen geliebten Christian Bérard und jüngst für die von mir in Angriff genommene Oper nach den Dialogues des Carmélites von Georges Bernanos. Nun kennen Sie die wahre Quelle der In­spiration für meine religiösen Werke. Francis Poulenc, 1951

46


Das Buch entstand bei mir unter der Stimmung der letztvergangenen Jahre, als wir in Deutschland und auch sonst in der Welt plötzlich innewurden, dass die Erde unter unseren Füssen zu beben begann. Ich erinnere mich noch ganz deutlich, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass wir nicht nur in unserer Kultur, sondern auch an der Wurzel unserer religiösen Existenz bedroht wurden. Gertrud von le Fort, 1951

Ausgangspunkt meiner eigenen Dichtung war nicht in erster Linie das Schicksal der 16 Karmeliterinnen von Compiègne, sondern die Gestalt der kleinen Blanche. Sie hat im historischen Sinn niemals gelebt, sondern sie empfing den Atem ihres zitternden Daseins ausschliesslich aus meinem eigenen Inneren und kann niemals von dieser Herkunft gelöst werden. Geboren aus dem tiefen Grauen einer Zeit, die in Deutschland überschattet wurde von den vorauseilenden Ahnungen kommender Geschicke, stieg diese Gestalt vor mir auf, gleichsam als Verkörperung der Todesangst einer ganzen zu Ende gehenden Epoche. Gertrud von le Fort, 1951

47







Lass dich nicht ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles geht vorüber.

Teresa von Avila, Ordensheilige der Karmeliterinnen



DIALOGUES DES CARMÉLITES FRANCIS POULENC (1899-1963) Oper in 3 Akten Libretto vom Komponisten nach dem Drama von Georges Bernanos, für die Oper verwendet mit Genehmigung von Emmet Lavery, angeregt durch eine Novelle von Gertrud von le Fort und einem Szenarium von P. Raymond Bruckberger und Philippe Agostini Uraufführung in italienischer Sprache: 26. Februar 1957, Teatro alla Scala, Mailand Uraufführung der französischen Originalfassung: 21. Juni 1957, Théâtre National de l’Opéra, Paris


Personen

Le Marquis de la Force

Bariton

Blanche, seine Tochter (Sœur Blanche de l’Agonie-du-Christ) Le Chevalier, sein Sohn

Sopran

Tenor

Madame de Croissy, Priorin (Mère Henriette de Jésus) Alt Madame Lidoine, die neue Priorin (Mère Thérèse de St. Augustin) Sopran Mère Marie de L’Incarnation, Subpriorin

Mezzosopran

Sœur Constance de St.-Denis, Novizin Mère Jeanne de L’Enfant-Jésus Sœur Mathilde

Sopran

Alt

Mezzosopran

Mère Gérald, Sœur Claire, Sœur Antoine (ältere Nonnen) Choristinnen Sœur Catherine, Sœur Félicité, Sœur Gertrude, Sœur Alice, Sœur Valentine, Sœur Anne de la Croix, Sœur Marthe, Sœur Saint-Charles Choristinnen L’Aumônier du Carmel 1er Commissaire 2e Commissaire Le Geôlier Officier

Tenor Bariton

Bariton

Bariton

Thierry, Diener Javelinot, ein Arzt

Tenor

Bariton

Bariton (in der Zürcher Aufführung gestrichen)

Ort und Zeit: Paris, 1789-1794


PREMIER ACTE

ERSTER AKT

PREMIER TABLEAU

ERSTES BILD

La bibliothèque du Marquis de la Force. Avril 1789. Porte à deux battants, sur la gauche. Petite porte sur la droite. Vaste cheminée. Fenêtre dans le fond. Mobilier très somptueux et élégant. Au lever du rideau, Le Marquis somnole dans une vaste bergère. Le Chevalier entrant brusquement par la grande porte qu’il laisse ouverte derrière lui.

Die Bibliothek des Marquis de la Force. April 1789. Links eine Flügeltür, rechts eine kleine Tür. Ein grosser Kaminofen, im Hintergrund ein Fenster. Prachtvolle, elegante Möbel. Als der Vorhang sich hebt, döst der Marquis in einem grossen Lehnstuhl. Der Chevalier tritt unvermittelt ein, ohne die grosse Tür hinter sich zu schliessen.

LE CHEVALIER

DER CHEVALIER

Où est Blanche?

Wo ist Blanche?

LE MARQUIS sursautant

DER MARQUIS hochfahrend

Ma foi, je n’en sais rien, pourquoi diable ne le demandez-vous pas à ses femm’s au lieu d’entrer chez moi sans crier gare, comme un turc?

Bei Gott, ich weiss es nicht! Aber warum, zum Teufel, fragen Sie nicht ihre Frauen danach und kommen unangemeldet hier herein, wie ein Türke?

LE CHEVALIER

DER CHEVALIER

Je vous demande mille pardons.

Ich bitte tausendmal um Entschuldigung.

LE MARQUIS

DER MARQUIS

À votre âge, il n’y a pas grand mal à être un peu vif, comme il est naturel au mien de tenir à ses habitudes. La visite de Monsieur votre oncle m’a fait manquer ma méridienne, et je m’étais tout à l’heure un peu assoupi, s’il faut tout dire… Mais que voulez-vous à Blanche?

In Ihrem Alter mag man schon ein wenig stürmisch sein, in meinem hält man naturgemäss an seinen Gewohnheiten fest. Der Besuch Ihres Herrn Onkels hat mich um meinen Mittagsschlaf gebracht, und wenn man schon alles erzählen muss: Ich war eben ein wenig eingenickt… Doch was wollen Sie von Blanche?

LE CHEVALIER

DER CHEVALIER

Roger de Damas, qui sort d’ici, a dû rebrousser chemin, deux fois, pour ne pas se trouver pris dans une grande masse de peuple. Le bruit court qu’ils vont brûler l’effigie de Réveillon en place de Grève.

Als Roger de Damas von uns fortging, musste er zweimal kehrt machen, um nicht in einen grossen Volkshaufen eingekeilt zu werden. Das Gerücht geht um, sie wollten auf dem Grève-Platz das Bildnis Réveillons verbrennen.

LE MARQUIS

DER CHEVALIER

Hé bien, qu’ils la brûlent! Lorsque le vin est à deux sous, on doit bien s’attendre à ce que le printemps échauffe un peu les têtes. Tout cela passera.

Sollen sie es verbrennen! Wenn der Wein zwei Groschen kostet, muss man hinnehmen, dass der Frühling die Köpfe erhitzt. Das geht vorbei.

LE CHEVALIER

DER CHEVALIER

Si j’osais me permettre en votre présence de faire le mauvais plaisant, je répondrais qu’en ce qui concerne le carrosse de ma sœur, vous risquez de n’être pas trop bon prophète. Damas l’a vu, arrêté par la foule, au carrefour Bucy.

Wenn ich es wagte, in Ihrer Gegenwart abge­ schmackte Witze zu machen, müsste ich antworten: Was die Karosse meiner Schwester betrifft, laufen Sie Gefahr, kein allzu guter Prophet zu sein. Damas hat gesehen, wie sie an der Strassenkreuzung von Bucy von der Menge angehalten wurde.


LE MARQUIS

DER MARQUIS

Le carross’… la foule… pardonnez-moi, ce sont là des images qui ont trop souvent hanté mes nuits. On parle volontiers aujourd’hui d’émeute ou même de révolution, mais qui n’a pas vu la multitude en panique n’a rien vu… Tous ces visages à la bouche tordue, ces milliers et ces milliers d’yeux! C’était le soir du mariage du Dauphin. Le feu d’artifice commence, mais soudain des caisses de fusées s’enflamment. Voilà la panique qui s’empare de la foule, votre mère pousse le verrou de son carrosse. Le cocher fouette les chevaux qui s’em­ballent. On arrête le carrosse, une vitre vole en éclats.

Die Karosse… die Menge… Verzeihen Sie, doch das sind Vorstellungen, die mich in meinen Nächten zu oft verfolgt haben. Man redet heute gern von Aufstand oder gar von Umsturz, aber wer die von Panik ergriffene Masse nicht gesehen hat, der hat gar nichts gesehen… Alle diese Gesichter mit den verzerrten Mäulern, diese Tausende und aber Tausende von Augen! Es geschah am Abend der Hochzeit des Dauphin. Das Feuerwerk beginnt. Aber plötzlich fangen einige mit Raketen gefüllte Kisten Feuer. Panischer Schrecken bemächtigt sich der Menge, Eure Mutter verriegelt ihre Kutsche. Der Kutscher peitscht auf die Pferde ein, die scheuen. Man hält die Kutsche an, eine Scheibe zerbricht klirrend.

Le Marquis se cache la tête dans les mains.

Der Marquis vergräbt den Kopf in seinen Händen.

Les soldats surviennent à temps pour dégager le carrosse. Quelques heures plus tard, revenue en cet hôtel, votre mère mourut, donnant le jour à Blanche.

Soldaten greifen rechtzeitig ein, um die Kutsche zu befreien. Einige Stunden später, zurück in diesem Palais, verschied Ihre Mutter und brachte Blanche zur Welt.

LE CHEVALIER

DER CHEVALIER

Monsieur, pardonnez-moi, j’aurais dû me douter… Une fois de plus, j’ai parlé comme un étourdi.

Verzeihen Sie, ich hätte mich erinnern sollen… Wieder einmal habe ich unbesonnen dahergeredet.

LE MARQUIS

DER MARQUIS

Bah! c’est ma vieille tête qui s’échauffe, elle aussi, un peu vite.

Nun ja, auch mein alter Kopf erhitzt sich eben ein wenig zu rasch.

Le Marquis reste songeur

Der Marquis bleibt nachdenklich.

Mon carrosse est solide, les vieux chevaux ne s’étonnent de rien, Antoine nous sert depuis vingt ans. Il ne peut arriver à votre sœur rien de fâcheux.

Meine Karosse ist solide, die alten Rösser wundern sich über nichts, Anton dient uns seit zwanzig Jahren. Ihrer Schwester kann nichts zustossen.

LE CHEVALIER

DER CHEVALIER

Oh! ce n’est pas pour sa sécurité que je crains, vous le savez, mais pour son imagination malade.

Oh, Sie wissen, ich fürchte nicht für ihre Sicherheit. Aber ich fürchte ihre krankhafte Einbildungskraft.

LE MARQUIS

DER MARQUIS

Blanche n’est que trop impressionnable, en effet. Un bon mariage arrangera tout cela. Allons! Allons! Une jolie fille a bien le droit d’être un peu craintive. Patience! Vous aurez des neveux qui feront les cent mille diables.

Gewiss, Blanche lässt sich nur allzu leicht beein­ drucken. Eine rechte Ehe wird das alles in Ordnung bringen. Lassen wir es gut sein, ein hübsches junges Mädchen darf schon ein wenig ängstlich sein. Geduld! Und Sie werden Teufelskerle von Neffen bekommen.

LE CHEVALIER

DER CHEVALIER

Croyez-moi: ce qui met la santé de Blanche en péril, ou peut-être sa vie, ne saurait être seulement la crainte: c’est le gel au cœur de l’arbre…

Glauben Sie mir, was Blanches Gesundheit, ja vielleicht ihr Leben gefährdet, kann nicht allein die Ängstlichkeit sein. Es ist der Frost im Mark des Baumes…


Programmheft DIALOGUES DES CARMÉLITES Oper in drei Akten (zwölf Bildern) von Francis Poulenc (1899-1963)

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Premiere am 13. Februar 2022, Spielzeit 2021/22 Herausgeber

Intendant

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

Titelseite Visual

Anzeigenverkauf

Opernhaus Zürich Andreas Homoki Kathrin Brunner

Carole Bolli

François Berthoud

Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch Schriftkonzept

Druck

Textnachweise: Die Handlung schrieb Kathrin Brunner. Der Artikel von Marco Frei sowie das Gespräch mit Jetske Mijnssen und Tito Ceccherini sind für dieses Programmbuch entstanden. Zusammenstellung der Zeittafel: Sophia Gustorff. – Anja Eisner, «Karmel», Programmheft des Theaters Nordhausen, 2018. – Zitate Poulenc: «Entretiens avec Claude Rostand, Paris 1954 sowie «Francis Poulenc, Correspondance: 19101963», Ed. Myriam Chimènes, Paris 1994. – Zitate von Teresa von Avila, Gertrud von le Fort und Georges Bernanos: Pro-

Studio Geissbühler

Fineprint AG

grammheft «Dialogues des Carmélites» des Opernhauses Zürich 2004. – Jeannette Fischer: «Angst, vor ihr müssen wir uns fürchten», Basel 2018. Bildnachweis: Herwig Prammer fotografierte die Klavierhauptptobe am 3. Februar 2022. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


JETZT KULTUR QUICKIE IN BEWEGUNG PULS RAST 1’612+ VERANSTALTUNGEN UND AUSSTELLUNGEN AUF DEINEN KLICK.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

PRODUKTIONSSPONSOREN AMAG Clariant Foundation

Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

PROJEKTSPONSOREN Baugarten Stiftung René und Susanne Braginsky-Stiftung Freunde des Balletts Zürich

Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung

Ernst Göhner Stiftung

Swiss Life

Hans Imholz-Stiftung

Swiss Re

Kühne-Stiftung

Zürcher Kantonalbank

GÖNNERINNEN UND GÖNNER Josef und Pirkko Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Familie Thomas Bär Bergos Privatbank Margot Bodmer Elektro Compagnoni AG Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich Fritz Gerber Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG

Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen Die Mobiliar Fondation Les Mûrons Mutschler Ventures AG Neue Zürcher Zeitung AG Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung StockArt – Stiftung für Musik Else von Sick Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Elisabeth Weber-Stiftung Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung

Landis & Gyr Stiftung FÖRDERINNEN UND FÖRDERER CORAL STUDIO SA Theodor und Constantin Davidoff Stiftung Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Garmin Switzerland

Horego AG Richards Foundation Luzius R. Sprüngli Madlen und Thomas von Stockar



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.