Fidelio

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FIDELIO LUDWIG VAN BEETHOVEN 1


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FIDELIO LUDWIG VAN BEETHOVEN (1770-1827)


Hoffen soll der Mensch, er frage nicht. Ludwig van Beethoven



DIE HANDLUNG Leonore ist auf der Suche nach ihrem Mann Florestan. Sie vermutet, dass er in einem Staatsgefängnis versteckt gehalten wird. Dessen Gouverneur ist Don Pizarro, der Todfeind ihres Mannes. Als Mann verkleidet und unter dem Namen Fidelio erschleicht sie sich das Vertrauen des Kerkermeisters Rocco. Der stellt den «jungen Mann» als Gehilfen an und nimmt ihn in seine Familie auf. Seine Tochter Marzelline träumt schon von der Ehe mit Fidelio. Don Pizarro will seinen Todfeind langsam und qualvoll verhungern lassen. Als aber eine Revision des Gefängnisses angekündigt wird, beschliesst er eilig, den Beweis seines Machtmissbrauchs verschwinden zu lassen. Leonore verhindert im letzten Moment den Mord. Ein Trompetensignal verkündet die Ankunft des Ministers, der die Freiheit bringt.





VERSTÖRENDE RADIKALITÄT Andreas Homoki im Gespräch über seine Inszenierungskonzeption

Herr Homoki, Sie erzählten kürzlich von einer Begegnung mit einem Journalisten, der Sie nach Ihren künftigen Plänen fragte. Als Sie erwähnten, dass Sie Fidelio inszenieren werden, fragte dieser höchst erstaunt: «Freiwillig?» Können Sie diese Frage nachvollziehen? Ja, weil es eine Zeit gegeben hat, wo ich vermutlich genauso reagiert hätte. Das war allerdings vor einer intensiven Beschäftigung mit dem Gegenstand, als ich das Stück nur aus eher unbefriedigenden traditionellen Aufführungen kannte. Das begann sich zu ändern, als ich während meiner Assistenzzeit mit Studenten einen Teil des ersten Akts inszenieren sollte. Ich habe mich da entsprechend etwas schwer getan, etwa mit der Biederkeit dieses Sing­­- spiels oder den sperrigen Dialogtexten. Dieses kleinbürgerliche Milieu des Kerkermeisters und seiner Familie, das gar nicht recht passen wollte zu dem be­sonders im zweiten Teil immer stärker artikulierten politischen und ethischen Anspruch Beethovens. Erst später wurde mir bewusst, dass die formalen Schroffheiten – das was viele Opernbesucher immer noch als Zeichen für Beethovens mangelndes Theatergespür halten – durchaus keine Mängel, sondern Stärken sein können. Dass Beethoven schlicht gar nicht die Absicht hatte, die Konventionen der Oper zu erfüllen, sondern rücksichts­ los das gemacht hat, was ihm richtig schien, und dass gerade diese ver­stö­ rende Radikalität das Grosse an diesem Stück ist. In meiner Aufführung mit den Studenten konnte ich diese Gedanken noch nicht berücksichtigen, weil das ein ganz neues und gründlich ausgearbeitetes Konzept erfordert hätte, nicht eine eher geradlinige Nacherzählung des Librettos, wie sie von mir gefordert war. Aber seitdem hat mich die Frage nicht mehr losgelassen, auf welche Weise ich als Regisseur die spezifischen Qualitäten des Stücks auf der Bühne besser hervortreten lassen könnte.

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Das heisst also, dass Sie das Stück jedenfalls freiwillig inszenieren? Nicht nur freiwillig, sondern ich habe mir sogar schon seit längerem eine Gelegenheit gewünscht, mit diesem Nachdenken zu einem Ergebnis zu kommen und es in der praktischen Arbeit zu erproben. Ich freue mich sehr, dass es nun endlich so weit ist. Die Biederkeit der Dialoge und das kleinbürgerliche Milieu schrecken Sie nun nicht mehr? Das Milieu nicht, denn es steht natürlich in einem bewussten Gegensatz zu dem ansonsten hohen moralisch-ethischen Anspruch des Werks. Ein Gegensatz, der allerdings gewaltig ist, und an dem viele Aufführungen des Werks immer wieder scheitern. Man muss sich also genau überlegen, an was für einem Ort dieses Stück in der Aufführung angesiedelt werden kann. Aber wo liegt da das Problem? Die Frage beantwortet doch das Libretto: «Ein Staatsgefängnis in der Nähe von Sevilla». Das ist eine scheinbar sehr klare Aussage, aber sie hilft uns nicht weiter. Jeder kann ja für sich einmal die Frage durchspielen, wie denn ein solches Gefängnis auf der Bühne aussehen könnte. Eine historische Dekoration eines Kerkers läuft immer Gefahr, entweder unglaubwürdig oder verharmlosend zu wirken. Ein deutlich heutiges Setting, etwa in einem modernen Hochsicherheit­strakt oder in Guantánamo wiederum muss unweigerlich an dem singspielhaften Gestus des Werkes scheitern. Ich bin daher überzeugt, dass der Weg gerade in die entgegengesetzte Richtung gehen muss: Weg von einer naturalistischen Gestaltung des Milieus, hin zur Abstraktion und zur Überhöhung, zu den philosophisch-politischen Inhalten, die Beethoven vermitteln wollte, und uns daher ungleich mehr interessieren sollten. Wobei diese Inhalte auf eine durchaus problematische Weise vermittelt werden. Denn selbst wenn wir von der ästhetischen Frage absehen, wie man mit dem Spielort umgehen kann, hat das Stück aber auch noch andere Schwierigkeiten, für die es berüchtigt ist… Ja, dazu gehören in erster Linie die schon angedeuteten formalen Unstimmig-

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keiten. Fidelio beginnt wie ein deutsches Singspiel, als Liebes- und Verwechslungskomödie im kleinbürgerlichen Milieu, dann finden wir uns unversehens im Bereich der grossen tragischen Oper und schliesslich mündet das Geschehen in eine monumentale Kantate, die eigentlich nichts mehr mit Theater zu tun hat. Und dieses Konglomerat widersprüchlichster stilistischer Strukturen soll auch noch zusammengehalten werden durch Dialoge, deren sprachlicher Duktus uns heute doch allzu betulich und verstaubt vorkommt, um dem inhaltlichen Anspruch des Werks gerecht zu werden. Wenn man es mit einem so brüchigen Gebilde zu tun hat, kann man entweder den Versuch unternehmen, die Brüche zu kitten und so tun als handele es sich trotz allem um ein rundes, in sich geschlossenes Werk oder man muss versuchen, gerade aus dieser Brüchigkeit eine Konzeption zu entwickeln, die dem Werk dann hoffentlich eher entspricht. Die dritte Möglichkeit wäre, das Stück einfach zu den Akten zu legen… Als Regisseur und Künstler kann ich mich um eine Stellungnahme zu Fidelio nicht herummogeln. Das Werk liegt wie ein wuchtiger Felsbrocken auf der Strasse, da muss man ran. Diese Wucht speist sich natürlich aus Beethovens Musik, die in ihrem Höhenflug das Libretto weit unter sich zurücklässt. Von diesem gewaltigen Unterschied der Dimensionen von Musik und Libretto ausgehend, haben wir in den Gesprächen mit meinem Inszenierungsteam irgendwann den Gedanken durchgespielt, was eigentlich geschieht, wenn man die Dialoge ganz weglässt. Beethovens Stück ist radikal, da braucht es radi­kale Lösungen. Die Idee hat mir schnell gefallen, und inzwischen können wir auf den Proben erleben, dass sie tatsächlich funktioniert. Aber versteht man die Handlung, wenn die Dialoge fehlen, in denen sie sich doch vornehmlich entfaltet? Die Handlung der Oper ist doch eigentlich recht simpel und baut auf Si­tua­tio­nen auf, die leicht darstellbar und für jeden ebenso leicht nachvollzieh­ bar sind: Ein Mädchen hat sich in einen jungen Mann verliebt, und ihr Freund ist deshalb eifersüchtig. Der vermeintliche Nebenbuhler ist aber eine Frau, die sich ins Gefängnis eingeschlichen hat, um ihren verschwundenen

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Mann zu suchen. Der Vater und die beiden jungen Leute merken das nicht, und so entfaltet sich erst einmal eine Komödienhandlung – die allerdings nicht besonders lustig ist, weil es ihr an den nötigen Verwicklungen mangelt. Aber dann bleibt die Handlung zum ersten Mal richtig stehen, und es kommt ein ganz aussergewöhnliches Musikstück: das Kanon-Quartett «Mir ist so wunderbar». Hier beherrscht plötzlich die Musik die Szene und transzendiert augenblicklich die kleinlichen Vorgänge in der Familie des Kerkermeisters. Die Musik spricht nur noch von der Innenwelt der Figuren, ihrer Sehnsucht, ihrer Liebesfähigkeit, ihren Träumen vom Glück. Solche Momente gibt es in dem Stück immer wieder, auf solche dramaturgischen Brüche kam es Beethoven offenbar an, nicht auf die Details von Rechnungen, Rabatten, Kettenreparaturen usw. Und das ist es, was eine Aufführung erlebbar machen muss. Wenn das gelingt, wird niemand eine Schilderung des Milieus in allen Einzelheiten vermissen. Immerhin setzt Ihre Inszenierung einen drastischen Eingriff in die Struktur des Werkes voraus. Ist das nicht riskant? Theater ist immer riskant, und auch wenn man alles brav an seinem Platz lässt, ist das Gelingen keineswegs garantiert – im Gegenteil!. Allerdings begibt man sich mit einem solchen Eingriff natürlich auf dünnes Eis und lädt sich einen zusätzlichen Legitimationsdruck auf. Wir sehen aber auf den Proben, dass sich die neue Struktur zum Glück ganz natürlich entfaltet und man nicht das Gefühl hat, dass etwas fehlt. Um ganz ehrlich zu sein: Es funktioniert besser, als ich gehofft habe. Wenn ich mir ansehe, was auf der Probebühne entsteht, habe ich sogar oft ein Gefühl, als habe das Stück geradezu darauf gewartet, dass man so damit umgeht. Allein indem die Kontraste zwischen den Musiknummern viel stärker hervortreten, wenn sie direkt aufeinander treffen, entsteht eine verblüffend kraftvolle theatralische Wirkung. Natürlich muss die Inszenierung dafür sorgen, dass sich trotzdem eine neue Kontinuität der Fabelerzählung ergibt, jedoch ohne die Lücken und Schroffheiten unnötig zu glätten. Das Weglassen der Dialoge ist übrigens nicht der einzige starke Eingriff in die Struktur des Werkes, den wir vorgenommen haben.

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Darauf werden wir später noch zurückkommen. Zunächst erhebt sich erst einmal die Frage, ob sich auf diese Weise noch die bekannte Geschich­te erzählen lässt, wie das Libretto sie vorgibt, oder wird es eine andere, neue? Ich glaube, dass schon Beethoven eine andere Geschichte erzählt hat als seine Librettisten. Im Grunde sprengt seine Komposition ja fortwährend die Form der Oper, an der das Libretto noch ängstlich klebt. Und darin liegt der Grund, warum viele Zuschauer und Theatermacher das Stück als unbefrie­ digend empfinden. Es ist, als würde es seinem eigenen Anspruch nicht gerecht werden, weil es sich nicht zu einem Ganzen fügt, keine «richtige Oper» geworden ist. Von hier ist es nicht weit zum beliebten Topos der Foyergespräche: dass Beethoven eben nicht für das Theater komponieren konnte usw. Ich halte das für Unsinn. Bei jeder einzelnen Probe erweist es sich, dass Beet­hoven sehr wohl in der Lage war, genau für die Szene zu komponieren, den Sprachoder Bewegungsgestus eines bestimmten Vorgangs sehr präzise in Musik zu übertragen und die Szenen musikalisch zu organisieren. Wenn sich sein Stück nicht widerstandslos mit den Rezeptionsgewohnheiten versöhnen lässt, dann also offenbar nicht, weil er das nicht gekonnt hätte, sondern weil er es wahrscheinlich nicht wollte, weil es ihn, für das was er zu sagen hatte, schlicht nicht interessierte. Ich möchte zu einer Bemerkung vom Anfang zurückkehren: Warum kann man ein Gefängnis nicht auf die Bühne bringen? Ich habe in vielen Aufführungen gesehen, wie der Chor als ausgemergelte Häftlinge geschminkt auf die Bühne kommt und uns unaussprechliches Elend vorspielen soll, und ich habe das immer als unglaubwürdig empfunden. Stellen wir uns vor, gesunde Chorsänger, die von einem virtuos spielenden Orchester begleitet perfekt singen, kommen als KZ-Häftlinge verkleidet auf die Bühne und singen das Fidelio-Finale. Ich fände das obszön. Egal, wel­che guten Absichten dahinter stecken mögen. Ich glaube, dass die hoch­artifizielle Form der Oper hier tatsächlich an die Grenzen ihrer Darstellungsfähigkeit stösst. Das bedeutet nicht, dass der Inhalt nicht vermittelbar wäre, aber man muss einen anderen Weg suchen, der dieser speziellen Künstlichkeit der

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Gattung entspricht und folglich nicht über eine oberflächliche Nachbildung der Wirklichkeit gehen kann. Ist das ein opernspezifisches Problem? Ich denke schon. Der Film beispielsweise verfügt da über ganz andere Mög­ lich­keiten. Selbst das Schauspiel hat es nicht ganz so schwer. Aber die Rezeptions-Situation in einem Opernhaus ist eine sehr besondere. Und dem müssen wir eben Rechnung tragen. Also kein Gefängnis, weder naturalistisch abgemalt mit sorgfältig ka­schier­ten Backsteinen, Ketten usw., noch eine abstrahierte Version davon. Da erhebt sich noch einmal die Frage: Wie lässt sich dann das Stück erzählen? Setzt die Handlung für ihr Verständnis nicht voraus, dass da ein Gefängnis ist, in dem Florestan versteckt gehalten wird, und in das sich Leonore einschleicht? Der Bühnenraum muss den Ort der Handlung nicht unbedingt nachbilden, damit er in der Aufführung vorhanden ist. Er kann sich auch aus der Aktion und Interaktion der Darsteller ergeben. In diesem Sinne haben wir uns zu einer radikal experimentellen Lösung entschlossen: Die Darsteller agieren praktisch ohne Requisiten auf einer leeren Bühne, so dass sich das Geschehen ausschliesslich aus der Konfrontation der Figuren und ihrem Zusammenspiel entwickelt. Letztendlich tritt so noch viel deutlicher her­vor, wie die äusseren Verhältnisse das Handeln der Personen bestimmen. Neh­men wir Leonore in ihrer Beziehung zu Marzelline und Rocco. Wenn sie ihr Ziel erreichen und ihren Mann retten will, muss sie nicht nur das Vertrauen dieser beiden Menschen sondern auch die Liebe, die Marzelline für sie empfindet, für ihre Zwecke missbrauchen. Dieser moralische Konflikt, der Leonore sehr belastet, kann in einer naturalistischen Detailmalerei leicht un­tergehen, wohingegen er in der reduzierten Spielweise, wie wir sie anstreben, mit grosser Klarheit schmerzhaft in Erscheinung tritt. Damit tritt aber auch die Zwangssituation, auf der die ganze Konstruktion basiert, viel stärker ins Bewusstsein, und das Gefängnis als Ort, der allen die dort leben müssen, Gewalt antut, ist vielleicht sogar stärker präsent als in einer

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herkömmlichen Darstellungsweise. Hinzu fügen wir immer wieder Text-­ Projektionen, die den originalen Regieanweisungen der Partitur entnommen sind. Auf diese Weise ist das Gefängnis – wenn auch unsichtbar – dann doch immer gegenwärtig. Aber was bleibt vom Stück übrig, wenn man es von den Einzelheiten der Handlungsvorgänge und der Milieuschilderung des Bühnenraums beschneidet? Es bleibt der die ganze Menschheit umfassende und betreffende Appell, den Beethoven gestaltet hat und der diese Oper so einzigartig macht. Es bleibt das grosse und beeindruckende, weil wirklich aus tiefer Überzeugung kommende, Pathos, mit dem Menschlichkeit, Solidarität, Liebe und Ver­ antwortungsbewusstsein aufgerufen werden, das grosse Pathos, mit dem vom Freiheitswillen der Menschen gesprochen wird, von ihrem Glücksanspruch – letztendlich von Beethovens grossem Traum von einer Welt, in der sich all dies verwirklicht und das Leben der Menschen durchdringt und bestimmt. Und das Stück wagt die ungeheuerliche Aussage, dass so eine Welt möglich ist, dass wir sie erreichen können. Und zwar durch Solidarität und Nächstenliebe. Sie erwähnten vorhin einen weiteren gravierenden Eingriff in die Struktur des Werkes. Worum handelt es sich da? Wir haben uns entschlossen, eine Art Rahmenhandlung für das Stück zu er­ finden. Dies soll uns ermöglichen, die zahlreichen Probleme zu lösen, die uns Beethoven aufgeladen hat: Wir beginnen die Aufführung mit einer Art Prolog, in dem wir den dramatischen Höhepunkt des Stückes vorwegnehmen. Das ist die Szene im zweiten Akt, in der Pizarro den Florestan endgültig beiseite schaffen will. Leonore, die als Gehilfe des Kerkermeisters mit in das unterirdische Gewölbe hinabgestiegen ist, gibt sich als seine Frau zu erkennen und bedroht Pizarro mit einer Pistole. Es kommt zum Hand­gemenge. In diesem Moment ertönt ein Trompetensignal, das die An­kunft des Ministers ankündigt, der alles zum Guten wendet. So verläuft die Handlung normalerweise. In unserem Prolog löst sich jedoch ein Schuss, Leonore ist tödlich getroffen und das Trompetensignal kommt somit zu spät.

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Damit ist die Titelfigur der Oper gleich am Anfang tot und aus dem Spiel. Wie kann es dann weitergehen? Leonore ist tot, aber nicht aus dem Spiel. Das Schöne an der Kunst ist ja, dass man durchaus Irreales zeigen kann. Zum Beispiel, dass auch die Toten wieder mitspielen können. Das geht bei uns so: Das Trompetensignal am Ende dieser Szene mündet musikalisch in die entsprechende Stelle im letzten Drittel der dritten Leonoren-Ouvertüre, dann wird diese bis zum Ende gespielt, wozu sich eine eindeutig irreale Szene abspielt: Die Rückwand der Bühne öffnet sich, Leonore steht wieder auf, es kommen Menschen, die sie begrüssen, es breitet sich eine allgemeine Freude aus. Es ist wie ein Traum, vielleicht auch wie im Himmel, das lassen wir bewusst offen. Dann ist Leonore plötzlich wieder allein, die Wand schliesst sich und Leonore wird in die enge Kiste zurückgeworfen, aus der sie eben für einen Moment heraus­ getreten war. Sie tritt also zu Beginn des Stückes sozusagen von aussen und nicht zum ersten Mal in die Handlung ein, die sie nun noch einmal durch­ leben muss, als eine Art Rückblende. Es kommt wieder zu der Situation im Kerker, aber diesmal geht es gut, die Rettung kommt rechtzeitig, die Menschen werden befreit. Und wenn dann der Jubel der Menge verklungen ist, schliesst sich der Rahmen und wir sehen Leonore wie am Anfang tot auf der Bühne liegen. Heisst das, dass die ganze Oper – einschliesslich des glücklichen Endes – nur die Vision der sterbenden Leonore ist? Wird damit der Appell, von dem Sie sprachen, nicht entwertet, indem die Hoffnung auf Besserung als illusorisch entlarvt wird? Ich denke, unsere Aufführung ist durchaus offen für mehrere Deutungsmöglichkeiten und ich würde mich da nicht festlegen. Was die Utopie betrifft, so wird diese doch nicht weniger bedeutsam und wirkungsvoll, nur weil sie als irreal gezeigt wird. Dass sie ein Traum und nicht die Wirklichkeit ist, gerade das macht ihr Wesen ja aus. Es liegt mir fern, diesen Appell und diese Hoffnung zu relativieren, denn sie gehören zum innersten Wesenskern der ganzen Oper. Auch wenn es uns in Europa heute sehr viel besser geht als vor 200 Jahren zur Entstehungszeit des Fidelio, so ist doch klar, dass wir

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im globalen Massstab von einer wirklich gerechten und freien Welt nach wie vor weit entfernt sind. Im Gegenteil – seit dem Ende des Kalten Krieges sind wir mit überaus zahlreichen und höchst brisanten Problemen und Konflikten ökonomischer, ethnischer, religiöser, politischer Art konfrontiert, für die wir keine Lösungsansätze werden geben können, wenn wir nicht über das Bestehende und Mögliche hinaus und in das scheinbar Unmögliche – also Utopische – hinein denken. Und dazu kann uns ein Künstler wie Beethoven, der so vehement darauf bestand, die Traditionen der Aufklärung und die Errungenschaften der Französischen Revolution weiterzutragen, sehr viel geben. Weil Beethoven die ganze Menschheit sieht und uns klarmacht, dass es uns eben nicht genügen darf, dass wir auf der Sonnenseite geboren sind und zum Beispiel nicht befürchten müssen, vor Lampedusa zu ertrinken, nur weil wir ein wenig besser leben wollen. Und natürlich genügt es ebenfalls nicht, irgendwelchen Schlepperbanden die Schuld dafür zu geben, sondern wir sind aufgefordert, die Probleme grundsätzlicher anzugehen, im Fall der Flüchtlinge, für gerechtere Lebensbedingungen auf unserem Planeten insgesamt zu sorgen. Das ist nur möglich, wenn wir uns nicht scheuen, das Unmögliche zu denken. Einer der solche Forderungen stellt, ist natürlich unbequem. Beethoven war es immer, und sein Fidelio stand auch schon damals quer zu allen Erwartungshaltungen. Das ist bis heute so geblieben, und das ist das Verstörende und das Beein­druckende an diesem Werk. Das Gespräch führte Werner Hintze

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Freiheit Ăźber alles lieben! Ludwig van Beethoven





EIN WERK DES ÜBERGANGS Fabio Luisi im Gespräch über seine Sicht auf «Fidelio» Beethovens Fidelio ist ein Stück, das in zahllosen exemplarischen Interpretationen vorliegt, über das unzählige philosophische, politische, religiöse, kritische und apologetische Texte geschrieben worden sind. Ist es angesichts dieser Situation noch interessant, sich dem Werk zu nähern? Kann man da noch Neues entdecken? An einem grossen Werk kann man immer etwas Neues entdecken, weil es in der jeweiligen historischen Situation immer wieder neue Facetten enthüllt. Fidelio ist immer eine grosse Herausforderung für alle Künstler, die an einer Produktion beteiligt sind. Die Schwierigkeit ist allerdings, sich vom Ballast der Vergangenheit zu befreien und unbelastet, wenn man so will, naiv an das Stück heranzugehen. Wir kennen natürlich viele grossartige Interpretationen des Stücks, stilistisch grundverschieden und trotzdem jede auf ihre Art über­zeugend. Das kann einen erdrücken und die eigene Kreativität einschränken. Nun kann und will ich die grossen Vorgänger nicht ignorieren, aber trotzdem muss ich mich von diesem Druck befreien, um meinen ganz eigenen Weg zu einer ebenso stringenten Darstellung zu finden. In welche Richtung geht Ihr Weg? Mein Weg ist der der Zeit. Fidelio entstand zwischen 1804 und 1814. Es ist ein Stück des Übergangs, in dem schon viel auf den späten Beethoven vor­ ausdeutet, aber noch nicht voll entwickelt ist. Der Geist des Werkes ist schon romantisch, gleichzeitig wird aber auch schon das Biedermeier hörbar, und auf der anderen Seite die Zeit der Aufklärung, das 18. Jahrhundert. Das bedeutet, dass man das Stück von der Zukunft her lesen, es aber auch in die Vergangenheit projizieren kann. Ich denke, der Sinn des Stückes macht es zwingend notwendig, es in die Zukunft zu projizieren, denn Beethoven

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will hier eine allgemeingültige Botschaft vermitteln, die an die kommenden Ge­ne­rationen gerichtet ist. Die Musiksprache ist noch nicht die des reifen Beethoven, wie wir ihn z.B. in den letzten drei Sinfonien, der Missa solemnis und den späten Streichquartetten vor uns haben. Noch ist der Komponist auf der Suche, aber hin und wieder wirft das Kommende schon seine Schatten voraus, wie zum Beispiel im Quartett des ersten Akts «Mir ist so wunderbar». Das ist ein ganz aussergewöhnliches Meisterwerk, das die Vergeistigung und das Miteinander von strenger polyphoner Durcharbeitung und hoher Emotionalität des späten Beethoven vorwegnimmt. Ansonsten ist die Musik­ sprache des Fidelio oft eher karg. Das betrifft vor allem die Behandlung des Orchesters. Hier sind die Farben sehr stark, fast grell aufgetragen. Wenn wir Fidelio musikalisch von der Spätromantik her verstehen, wie es oft ge­schehen ist, und zum Beispiel dieses Grelle der Farben mildern, werden wir seiner Spezifik nicht gerecht. Ich glaube, das Stück verträgt dieses späte Pathos und diesen schweren, öltriefenden Farbauftrag nicht.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Es hatwww.opernhaus.ch/shop sicher mit dieser von Ihnen apostrophierten Kargheit zu tun, wenn man öfter hört, Beethovens melodische Erfindungskraft sei oder Vorstellungsabend immatten Foyer zwaram gering, aber es sei doch erstaunlich, was er aus seinen eher Einfällen zu machen verstand. Wie stehen Sie zu dieser Auffassung? Dassdes Beethoven hinreissende Melodien zu erfinden in der Lage war, sehen Opernhauses erwerben wir in vielen seiner Stücke. Ich würde dem, der so etwas behauptet, emp­ fehlen, sich einfach mal die 6. Sinfonie oder das Adagio der 9. oder auch das Sanctus aus der Missa solemnis anzuhören. Im Fidelio ist das eben erwähnte Quartett ein Beispiel für eine nicht enden wollende Melodie von grosser Schönheit und emotionaler Kraft, an der man sich gar nicht satthören kann. Es ist aber richtig, dass Beethoven oft extrem ökonomisch mit dem Material umgeht. Vielleicht hat er hin und wieder einfach das Bedürfnis gehabt, zu zeigen, dass er der Beste ist, indem er vorführte, was er aus winzigen Bausteinen machen kann. Das Scherzo der 9. Sinfonie ist so ein Beispiel, wo er aus einer einzigen Idee einen Sinfoniesatz von über 15 Minuten aufbaut. Das soll ihm erst einmal einer nachmachen! Das ist wirklich eine bewunderungswür­ dige Leistung, aber ein wenig kann einem das Stück bei aller Verehrung, auch

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auf die Nerven gehen. Es ist also richtig, dass er aus wenig viel machen konnte. Aber es stimmt einfach nicht, dass er keine grossen Einfälle hatte. Eine der schönsten Stellen im Fidelio und ein schlagendes Beispiel für Beethovens geniale Erfindungskraft ist das Oboen-Solo im zweiten Teil der FlorestanArie. Wie sich da völlig unerwartet und doch sofort überzeugend diese lange Melodie entwickelt, die als Sinnbild der halluzinierten Befreiung ganz ungebunden und frei über dem Orchestersatz zu tanzen scheint, das ist ein einzigartiger melodischer Einfall. Es mag schon sein, dass diese Melodie nicht so ins Ohr geht, dass man das Bedürfnis hat, sie auf der Strasse oder in der Badewanne vor sich hinzupfeifen. Aber darauf kommt es ja wohl auch nicht an. Die Stelle ist spannend, packend und emotional bewegend und der Einfall so originell, wie ihn nur Beethoven haben konnte.

Das komplette Programmbuch Hängt es mit seiner Position zwischen den Zeiten zusammen, dass das können Sie auf Stück stilistisch so heterogen ist? Diese seltsame Mischung aus Singspiel, grosser tragischer Oper und Kantate www.opernhaus.ch/shop ist natürlich vor allem durch das Libretto bedingt. Mit dieser Heterogenität muss man umgehen, man kann die Brüche nicht verwischen oder weg­ oder amManVorstellungsabend imdieserFoyer schummeln. muss also die Farben finden, mit denen man jeder stilistischen Ebenen gerecht wird. Diese Evolution, die im Stück sichtbar wird, spiegelt übrigens auch die Evolution des Stücks. Die ersten beiden Fassundes Opernhauses erwerben gen von 1805 und 1806 (die man zur Unterscheidung von der letzten gern als Leonore betitelt, obwohl das Stück – zu Beethovens Leidwesen – immer unter dem Titel Fidelio gespielt worden ist) zeigen noch viel deutlicher die Charakteristika des Singspiels, besser gesagt einer deutschen Opéra comique, als die Version von 1814. Im Prozess der letzten Umarbeitung haben Beethoven und seine Librettisten die Farben im Sinne einer tragischen Oper etwas anders gemischt, einige Nummern einschneidend bearbeitet, ganze Handlungskomplexe weggelassen, die Abfolge einiger Handlungsmomente umgestellt usw. Das tat dem Stück insgesamt gut. Die erste Fassung ist keineswegs schlecht, man kann sie durchaus spielen, was ja auch getan wird, aber sie hat nicht die Grösse und Wucht der letzten Version. Freilich hat der komplizierte Entstehungsprozess seine Spuren im Werk hinterlassen. Was

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entstanden ist, ist weit entfernt von einem klassisch abgerundeten, in sich ge­schlossenen Drama. Das Stück bleibt brüchig und disparat, aber gerade darin liegt ein Teil seiner Grösse, und es ist eine künstlerisch überaus reizvolle Herausforderung, damit umzugehen. Luigi Cherubini soll Beethoven nach der Uraufführung des Fidelio ein Buch über die Gesangsstimme geschenkt haben. Wohl damit er lernt, wie man für Singstimmen komponiert. Für solche Geschichten gilt immer das berühmte Wort: «Se non è vero, è ben trovato.» (Wenn sie nicht wahr ist, ist sie gut erfunden.) Wenn Cherubini das wirklich gemacht hat, hat er jedenfalls etwas Richtiges getroffen: Beet­ hoven hat die Singstimme immer instrumental behandelt. Er war anscheinend kein guter Kenner der menschlichen Stimme. Zumindest hat er auf die Be­sonderheiten der Stimme und die Schwierigkeiten der Sänger keine Rücksicht genommen. Er hatte das Glück, dass die noch sehr junge Wilhelmine Schrö­der-Devrient die schwierige Partie der Leonore singen konnte und dem Fidelio mit ihrer fulminanten Darstellung der Rolle zum Durchbruch verholfen hat. Aber für dieses Stück – und vor allem für seinen Titelpartie – braucht man auch heute noch Ausnahmesänger. Man kann als Dirigent ein wenig helfen, aber die Tessitura bleibt so, wie sie ist, wir können die Stimmen ja nicht umkomponieren. Und das wäre auch Unsinn, denn das Stück ist so, wie es nun einmal ist, schon ganz richtig. Und es hat auch einen speziellen Reiz, dass die Singstimmen so instrumental geführt sind. Dadurch wird das Stück in seiner Gesamtwirkung sehr sinfonisch und damit vielleicht weni­ger opernhaft im konventionellen Sinne. Fidelio ist eben ein ganz be­sonderes, einmaliges Stück in der Opernlandschaft, das keinem anderen gleicht. Tatsächlich wird oft behauptet, dass Beethoven kein Opernkomponist war und den Erfordernissen der Gattung nicht gerecht werden konnte. Das glaube ich nicht. Beethoven zeigt nicht nur in seiner Oper, sondern auch in vielen anderen Werken, dass er ausgesprochen theatralisch denkt. Nehmen wir die Missa solemnis, und darin zum Beispiel das Credo oder das Benedictus, das sind Theaterszenen, auch wenn man die Vorgänge, die da komponiert

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sind, natürlich nicht auf einer realen Bühne spielen könnte. Ganz ähnlich ist das auch in der 9. Sinfonie, und nicht nur im Finale. Natürlich kann ich nicht erzählen, was das für eine Geschichte ist, die da theatralisch gespielt wird. Es geht auch nicht darum, mit musikalischen Mitteln etwas zu erzählen, was man anders auch erzählen könnte, dann könnte man die Komposition ja weglassen. Es ist eine spezielle Art Geschichte, die nur mit musikalischen Mitteln erzählt werden kann, und es ist eine spezielle Form von theatralischer Wirkung, derer sich Beethoven dabei bedient. Die praktischen Erfordernisse der Opernbühne haben ihn dabei anscheinend ebenso wenig interessiert wie die physiologischen Besonderheiten der Singstimme. Sein Theater war wohl eher ein imaginäres, aber er hat offensichtlich die Wirkung dramatischer Abläufe in seine Konzeptionen mit einbezogen. Am deutlichsten wird dieser theatralische Bezug seiner Kompositionen natürlich in der 6. Sinfonie, in der die Bewegungen der Figuren und Gruppen durch die Musik geradezu suggestiv gezeichnet werden. Diese Theatralisierung sprengt schliesslich die Grenzen des Sinfonischen, wie es im Finale der 9. Sinfonie geradezu demonstrativ geschieht, und auf der anderen Seite sprengt das Sinfonische das Theatralische, wie wir es im Fidelio allenthalben erleben. Also ist der Fidelio sicherlich kein Stück, das die Opernkonventionen erfüllt oder sie nur vor­ sichtig und wohlkalkuliert übertritt, was den Eindruck erwecken mag, das Stück sei nicht recht gelungen. Aber das ist eben der falsche Massstab, weil Beethovens Vorstellungen die übliche Opernform weit hinter sich liessen. Ich bedaure sehr, dass es bei dieser einen Beethoven-Oper geblieben ist. Aber sicherlich hat das auch damit zu tun, dass die Opernform, die ihm vor­schwebte, so weit über das zu seiner Zeit Denkbare hinausging, dass er keinen Librettisten finden konnte, der ihm das hätte liefern können.

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Andreas Homokis Inszenierungskonzept erfordert ziemlich starke Eingriffe in die Struktur der Komposition: Die Ouvertüre wird wegge­lassen, den Anfang bildet stattdessen die Hälfte des Quartetts aus dem 2. Akt, auf die ein Stück der dritten Leonoren-Ouvertüre folgt; die Dialoge sind ersatzlos gestrichen; eine Arie ist an einen anderen Platz gerückt usw. Halten Sie solche Veränderungen für legitim?

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Der Fall der Ouvertüre ist schon mal ein besonderer. Die heute bekannte Fidelio-Ouvertüre wurde nämlich bei der Uraufführung gar nicht gespielt. Da gab man die sogenannte dritte Leonoren-Ouvertüre. Erst danach hat Beet­ hoven, vermutlich auf den Rat wohlmeinender Freunde hin, die diese Ou­ver­tü­re zu lang und zu gewichtig fanden, die sehr viel kürzere geschrieben, die zwar als Vorspiel geeigneter ist, aber dafür so gut wie nichts mit dem Stück zu tun hat. Natürlich ist auch diese Ouvertüre ein grossartiges Stück Musik, aber für diese spezielle Inszenierungskonzeption finde ich die Lösung, die wir für den Anfang gefunden haben, sehr passend und überzeugend. Und in gewisser Weise ist sie ja auch dadurch legitimiert, dass wir wenigstens einen grossen Teil der Ouvertüre spielen, die zur Uraufführung tatsächlich erklungen ist. Was das Weglassen der Dialoge betrifft, muss ich zugeben, dass es mich freut. Diese Texte sind in ihrer Betulichkeit heute ja nicht zu ertragen. Man müsste sie also sowieso umschreiben. Ausserdem müsste man sie stark kürzen, denn sie ziehen sich oft viel zu lange hin und halten den Fluss der Aufführung unnötig auf. Anscheinend hatten die Librettisten nicht das nötige Geschick, um die erforderlichen Informationen knapper zu vermitteln. Vor allem um die Peinlichkeit dieser Texte zu mildern, werden sie in vielen Aufführungen massiv zusammengestrichen, in anderen durch neue Texte ersetzt, die von einem Erzähler vorgetragen werden usw. Ich finde, dass die radikale Lösung, die wir hier gefunden haben, der Radikalität von Beethovens Komposition viel angemessener ist als all diese kosmetischen Operationen. Ausserdem bin ich sicher, dass es der Wirkung der Musik sehr hilft, wenn sie nicht durch eine andere Ebene unterbrochen wird und die einzelnen Musiknummern sehr dicht zusammenrücken. Denn es ist die Musik, die das Stück zu dem macht, was es ist, und die dem Libretto, das als Dichtung betrachtet nicht gerade bedeutend ist, eine Oper von ge­waltiger Grösse abtrotzt. Und darum scheint mir die Konzentration auf die Musik auch ganz folgerichtig, wenn man die Essenz des Werkes, seine utopische Kraft herausarbeiten will. Und das ist doch der Sinn einer Aufführung dieses Werkes.

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Das Gespräch führte Werner Hintze

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Wohltun, wo man kann! Ludwig van Beethoven





WO BLEIBEN DIE UTOPIEN? Claus Spahn

«O Gott! Welch ein Augenblick!» singt Leonore im Finale des Fidelio, wenn sie ihrem Gatten Florestan die Ketten der Gefangenschaft endlich löst, und der Chor bricht einige Takte später in strahlendem C-Dur in einen nicht enden wollenden Jubel aus. So gewaltig und triumphal klingt der Fidelio-Schlusschor, dass man sich in jeder Aufführung aufs Neue fragt: Was ist das eigentlich für ein Augenblick, den Beethoven da pathetisch beschwört? Was motiviert den eminenten musikalischen Aufwand? Die Geschichte ist doch schon viel früher an ihr gutes Ende gekommen: Die couragierte Leonore, die sich als Mann verkleidet in die kleinbürgerliche Welt des Kerkermeisters Rocco eingeschlichen hat, um ihren inhaftierten Gatten Florestan zu befreien, hat ihr Ziel längst erreicht: Das Unrecht ist aufgedeckt, das Kerkerdunkel, in dem der zweite Akt beginnt, ist dem Licht der Befreiung gewichen. Und plötzlich bricht dieser unbeschreibliche Freudentaumel aus, der viel mehr meint als die glückliche Vereinigung eines Ehepaares. Die Musik sprengt hier den Formrahmen der Oper. Die Zeit scheint stillzustehen. Die Handlung erstarrt zum Oratorium. Und die Liebe wird nicht allein als privates Glück gefeiert, sondern wächst ins Überpersönliche: Beethoven zelebriert das finale Loblied auf die Gattenliebe als Apotheose der Freiheit, in der die Ideale der französischen Revolution mitklingen und Menschheitsverbrüderung schlechthin zum Thema wird. Viel ist über diesen Fidelio-Schluss reflektiert worden. Beethoven sei der erste Komponist der Geschichte, der die Musik als moralische Instanz aufrichte, schrieb der Musik­essayist Dietmar Holland, und im Fidelio-Finale spreche er «ex cathedra». Seine Botschaft sei, Mut zu machen, dass um Freiheit zu kämpfen sich lohne. Der Philosoph Ernst Bloch nannte das Finale ein «Wunschbild des

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erfüllten Augenblicks» mit Betonung auf «Wunsch». Und Theodor W. Adorno konstatierte: «Freiheit ist real bei Beethoven nur als Hoffnung.» «Vielleicht ist das Nicht-Veralten Beethovens», so der deutsche Philosoph, «nichts anderes, als dass seine Musik noch nicht von der Wirklichkeit eingeholt ist.» Das bedeutet: Das Glück der Freiheit, das Leonore durch ihre Rettungstat herbeigeführt hat, wird zwar in der Oper als erreicht gefeiert, bleibt aber über das Werk hinaus eine uneingelöste Forderung. Beethovens gleissende C-Dur-Vision von der Lösung aller Ketten erklingt als Utopie. Spricht ein Werk so eindringlich zur Welt wie Beet­hovens Fidelio, drängt sich natürlich die Frage nach der Verfasstheit der Welt auf, an deren Ohr dieser Menschheitsappell dringt. Ist die Moderne der Gegenwart überhaupt empfänglich für Beethovens pathetische Grundsatzansprache? Utopie – der Begriff erscheint seit langem nur noch wie das ferne Wetterleuchten aus einer anderen Zeit. Die Vision von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen – da fällt man­chem aktuell vor allem der Satz des deutschen Altbundeskanzlers und Erzrealisten Helmut Schmidt ein, der politischen Träumern zu entgegnen pflegt: «Wer Visio­ nen hat, soll zum Arzt gehen.» Utopien, so scheint es, stehen im 21. Jahr­hundert nicht sehr hoch im Kurs. Als Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts der eiserne Vorhang gefallen und der sogenannte real existierende Sozialismus zusammengebrochen war, lautete eine weit verbreitete These, dass nun grundsätzlich Schluss sein müsse mit den politischen Menschheitsbeglückungsutopien, die – verwirklicht – am Ende alle in Unfreiheit und Knechtschaft endeten. Joachim Fest, der Heraus­ geber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, rief damals in einer Streitschrift das «Ende des utopischen Zeitalters» aus. Im endgültigen Verschwinden grosspolitischer Heilspläne sah man einen Segen für die Menschheit, und mit der Kritik am Staats-Sozialismus wurden auch gleich allen anderen linken Träumereien von einer besseren Welt die Absage erteilt. Der Kapitalismus wurde alternativlos, und sein Versprechen war der Liberalismus des Marktes, der auf lange Sicht Wohlstand und sozialen Ausgleich schaffe und die Menschheit in die beste und gerechteste aller denkbaren Welten führe. Die Optimisten sahen ein Leben ohne Utopien und fiebrige Zukunftsvisionen heraufdämmern, unideologisch arrangiert im Pragmatismus der Gegenwart, in sich ruhend auf den weichen Kissen

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von Konsum und individueller Freiheit, unter der nie untergehenden Sonne einer florierenden Ökonomie. Aber es ist dann doch anders gekommen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs sind neue geostrategische Konflikte aufgebrochen und haben die Illusion einer friedlich geeinten Weltgesellschaft schnell wieder platzen lassen. Die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Energieressourcen und Klimawandel stellen sich dringlicher denn je. Die Stürme der Globalisierung kippen Volkswirtschaften aus der Balance. Der Finanzkapitalismus ist an seiner Gier irre geworden. Die Freiheitsversprechen des Internets erweisen sich als trügerisch usw. Über Politiker, Wirtschaftsführer und Intellektuelle rollt eine Herausforderung nach der anderen hinweg, atemlos kommen sie im Bearbeiten der Konflikte und Krisenszenarios kaum nach. Für den weiten Blick in die Zukunft, für die geöffnete Perspektive, für visionär utopisches Denken scheint ihnen die Zeit, der Überblick und die Unabhängigkeit des Handelns zu fehlen. Der Utopieverlust der Gegenwart hat nicht zuletzt mit Überforderung zu tun. Die Komplexität der Moderne verstellt den Blick über die Gegenwart hinaus in die Zukunft. Die Welt, so weit sie überhaupt steuerbar ist, kann nur noch auf Sicht gefahren werden. Früher, so hat der Zeit-Journalist und Gegenwartsdia­gnostiker Thomas Assheuer vor einiger Zeit geschrieben, seien soziale Utopien aus einem Stillstand der Verhältnisse heraus entstanden und hätten sich gegen den Mangel an Zukunft gerichtet. Heute verhalte es sich umgekehrt: Es gebe zu viel an Zukunft. Unablässig bedränge sie die Gegenwart, nehme von ihr Besitz und lasse die Grenze zwischen heute und morgen verschwinden. Während das alte Bewusstsein, in einem stabilen Zeit-Raum zu leben, verschwinde, verwandele sich die Gegenwart in den Durchlauferhitzer der Zukunft und die Permanenz des Übergangs: «Die Zukunft stirbt, weil sie immer schon da ist.» Aus diesem Zeitgefühl entstehe eine auf Abwehr gepolte Haltung, die die politische Fantasie ersticke. Natürlich hat sich inzwischen längst eine Gegenbewegung wider den Utopieverlust formiert. Der Mensch kann nicht leben, ohne über seine Gegenwart hinaus zu träumen. Das zarte Pflänzchen wird wieder bewässert. Aber es sind weniger die grossen Gesellschaftsentwürfe, über die nachgedacht wird, sondern eher kleine Projekte und punktuelle Fantasien von einem besseren, gerechteren und zukunftssichernden Leben, denen sich neue Utopisten wie der Soziologe

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Harald Welzer verschrieben haben. Die von ihm gegründete Stiftung mit dem passenden Titel FUTURZWEI etwa forscht über alternative Lebensstile und Wirtschaftsformen jenseits von Wachstumsideologie und ökologischem Raubbau. An der grundsätzlichen Visionsarmut der Gegenwart ändern solche Initiativen vorerst freilich wenig. Was bleibt, ist die Kunst. Sie bewahrt, was der Gesellschaft abhanden zu kommen droht: Sie öffnet den Horizont für die grossen Träume von Freiheit, beschwört die Macht der Liebe, nährt die Sehnsucht nach Menschlichkeit und gibt der Möglichkeitsform einen Raum. In seinem Fidelio hat Beethoven dem Glauben Ausdruck verliehen, dass der Mensch zur weltrettenden Tat fähig ist, wenn er nur wie die mutige Frau und grosse Liebende Leonore das Äusserste zu wagen bereit ist an Courage, Selbstlosigkeit und Verantwortungsbewusstsein. «Wer du auch seist, ich will dich retten!» singt sie und löst die Ketten des Mannes, der zwar ihr Gatte ist, aber auch jedes andere Opfer von Unmenschlichkeit sein könnte. Der Philosoph Ernst Bloch vernahm im Fidelio den Nachhall des Sturms auf die Bastille und fand, die Oper habe «die Revolution schlechthin als Handlungsraum». Eine solche Wahrnehmung mag uns heute wie der Blick durch ein umgedrehtes Fernglas vorkommen – alles ganz weit weg. Aber sie offenbart die Grösse des Themas, an dem Beethoven sich an seiner einzigen Oper abgearbeitet hat. Mehrmals hat er sie umgearbeitet, ohne je zu einer einheitlichen Werkgestalt zu gelangen. Der Versuch, eine deutsche Spieloper und ein Ideendrama, einen problematischen Text und hochfliegende Musik zusammenzuzwingen, der gewagte szenische Dreischritt von der «Ruhe stiller Häuslichkeit» hinein in ein apokalyptisches Weltdunkel, hinauf zum Licht der Freiheit, die Rätselhaftigkeit des Spielorts zwischen einem hermetischen Innen und einem unbestimmten Aussen – das alles will sich zu keiner Einheitlichkeit fügen und verleiht der Oper eine Querständigkeit, die nicht zuletzt in ihrem Fragmentcharakter und an ihren Bruchkanten Beethovens utopischen Anspruch markiert. Der Augenblick, der im Fidelio-Finale besungen wird, ist eben ein ganz besonderer Moment.

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Wahrheit nie, auch sogar am Throne nicht, verleugnen! Ludwig van Beethoven







DIE ALS MANN VERKLEIDETE KÄMPFERIN Elisabeth Bronfen

Dreh- und Angelpunkte des Librettos zu Beethovens Fidelio sind zwei Szenen des Crossdressings. Die erste ist komödienhaft und ruft eine Liebesverwechslung hervor. Marzelline, die Tochter des Gefängniswärters Rocco, ist in Leonore, die Gattin des versteckten Gefangenen Florestan verliebt. Was für die eine Frau eine wunderbare Veränderung ihrer Umstände bedeutet, weil sie den schönen Fremden zu heiraten hofft und in Gedanken die «unaussprechlich süsse Lust» dieser Verbindung bereits geniesst, ist für die andere eine «namenlose Pein». Leonore ist sich des Verlangens Marzellines durchaus bewusst, darf aber das Missverständnis nicht aufklären. Nur dank ihrer Verstellung kann sie die Hoffnung hegen, zu ihrem Gatten vorzudringen. Die Männlichkeit, die sie sich mit ihrem Kleidertausch angeeignet hat, zeigt sich nicht nur in ihrer Fähig­ keit, harte physische Arbeit zu verrichten. Als Mann verkleidet schlüpft sie auch in die Rolle der treuen Ehegattin, die kaltblütig gegen Tyrannei kämpft. So lange ihr die Verstellung ihres wahren Geschlechts dienlich ist, hält Leonore diese auf Kosten der verblendeten Marzelline aufrecht. Diese wird sich ihres Irrtums erst nach der Auflösung der Intrige schmerzlich bewusst. Leonore, gestärkt durch die «Pflicht der treuen Gattenliebe», ist es jedoch gelungen, den Mordplan Pizarros zu vereiteln. Darin entfaltet sich ein weiterer Aspekt jener Männlichkeit, die sie sich mit ihrer Verkleidung angelegt hat. Tatkräftig besteht sie darauf, mit in den Kerker hinabzusteigen, um Florestan noch einmal zu sehen und koste es das eigene Leben. So beinhaltet die zweite Szene des Crossdressings, die sich fernab von jeglichen alltäglichen Liebesverwirrungen im unterirdischen Kerker abspielt, eine von tragischem Pathos gezeichnete Transformation. Zuerst erhellt nur der Gedanke an seine mit einem Engel verglichene Gattin dem Gefangenen seine scheinbar tödliche Lage. Dann betritt Leonore tatsächlich das dunkle Gewölbe, steht als Retterin leiblich vor ihm,

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nicht, um ihn «zur Freiheit ins himmlische Reich» zu führen, sondern um seine irdischen Ketten zu lösen. Jedoch erst in dem Augenblick, in dem der vermummte Don Pizarro ebenfalls eingetreten ist und bereits seinen Dolch gezückt hat, gibt sie sich zu erkennen. Die Pistole auf den Schurken gerichtet, bietet Leonore einen ganz und gar nicht komödienhaften Zug der Hosenrolle auf: Die Frau als Kämpferin für Gerechtigkeit, die die ihr zugeschriebene Pflicht als Gattin eben darin vollzieht, dass sie die Geschlechtergrenze überschreitet. Entscheidend für die starke dramatische Wirkung der Szene ist dabei sowohl, dass sie in eben dem Moment, in dem sie den Feind zu töten bereit ist, ihr wahres Geschlecht enthüllt, als auch, dass sie dabei einen Mut an den Tag legt, der im Europa des 19. Jahrhunderts als allein männliche Tugend gesehen wurde. Mit der Umarmung des Paares in «namenloser Freude» wird zugleich Frevel und politische Korruption überwunden. Die Enthüllung des weiblichen Geschlechts der Titelfigur führt somit zugleich zur Enthüllung jener Wahrheit, die eine gerechtere Herrschaft sicherstellen soll. Vor dem Minister, dem Rocco die mörderische Intrige des Don Pizarro enthüllt hat, darf Leonore ihrem Mann die Ketten endgültig lösen. Die von allen Anwesenden heraufbeschworene Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts wird zugleich an der als Mann verkleideten Frau verhandelt. Die Annahme des anderen Geschlechts ist für die dramatische Auflösung deshalb entscheidend, weil sie die Retterin des Gesetzes als hybride Gestalt inszeniert. Selbstlose Liebe und Kampflust halten sich im Bild der Frau, die die Pistole auf einen tyrannischen Gegner richtet, und damit jene Gefangenen rettet, die zu Unrecht eingesperrt wurden, die Waage. Eine verblüffende Parallele zu Beethovens bewaffneter Leonore, findet sich in einem fast vergessenen Kapitel der europäischen Militärgeschichte, welches von als Mann verkleideten Frauen berichtet, die zur Waffe gegriffen haben, um gegen politische Tyrannei zu kämpfen. Eine von ihnen, die im Deutschland des 19. Jahrhunderts fast legendären Ruhm genoss, war Eleonore Prochaska, die ihre Brüste abband und als Mann verkleidet unter dem Namen August Renz im Lützowschen Freikorps gegen das Napoleonische Heer kämpfte. (Beethoven schrieb zu einem Schauspiel, das ihre Taten verherrlichte, eine Bühnenmusik, von der allerdings nur wenige Bruchstücke erhalten sind.) In einem Brief an ihren Bruder beschreibt die Tochter eines verarmten preussischen Unteroffiziers und

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Militärmusikers, wie sie sich dem Enthusiasmus, in den Kampf für die Befreiung des Vaterlandes zu ziehen, nicht entziehen konnte: «Du weisst, dass der Entschluss dazu schon seit Anfang des Krieges meine Brust beherrschte. Schon zwei Briefe von Freundinnen erhielt ich, welche mir vorwarfen, ich sei feige, da alles um mich her entschlossen ist, in diesem ehrenvollen Kriege mitzukämpfen. Da wurde mein Entschluss unumstösslich fest; ich war im Innern meiner Seele überzeugt, keine schlechte oder leichtsinnige Tat zu begehen.» In einem zweiten Brief an den Bruder gesteht sie, wenige Tage bevor sie an die Front zieht: «Es ist mir noch immer geglückt, ganz unerkannt zu bleiben», und fügt hinzu, «kann ich nicht ein Quartierbillet für mich allein bekommen, so ist gewöhnlich der kleine Arnold von fünfzehn Jahren mein Kamerad. Wegen meiner Stimme necken sie mich; da habe ich mich für einen Schneider ausgegeben, die können auch eine feine Stimme haben.» Die Überlieferung der dramatischen Enthüllungsszene ihres wahren Geschlechts, die an die Kerkerszene in Beethovens Fidelio erinnert, verdanken wir dem Augenzeugenbericht Friedrich Christoph Försters, der als Oberjäger bei den Lützowern diente und seine Kriegserinnerungen in einer zweibändigen Studie über die Befreiungs-Kriege verarbeitete. Seine Beschreibung ihres Einsatzes während des Gefechtes an der Göhrde beginnt mit einer fröhlichen musikalischen Szene. Selbst von einem Schuss in den rechten Oberarm verletzt, versucht Förster, nachdem seine Wunde von einem Kameraden verbunden wurde, die Trommel eines toten französischen Soldaten zu schlagen. Da ihm dies nicht gelingen will, nimmt ihm «der Jäger Renz die Trommel aus der Hand und wirbelte mit grossem Geschick darauf herum. ‹Du verstehst Dich doch auf alles›, rief ein anderer ihm zu ‹du schneiderst, kochst, wäschst, singst und schiesst wie keiner es besser versteht, und nun bist du auch noch Tambour.›» Mit dem Hinweis, ein Potsdamer Soldatenkind müsse sich auf alles verstehen, soll die ver­kleidete Soldatin so fröhlich weiter getrommelt und gesungen haben, dass die Schar, die ihr über die Heide bis zur Hügelkette folgte, den Eindruck hatte, sie würden nur Soldat spielen. Das heitere Vorspiel dient dramaturgisch als Kontrast zu jener tragischen Wende, die wenig später in der Hitze des Gefechts eintritt. Zuerst schlägt der ver­meintliche Jäger Renz einen Sturmmarsch an, drängt forsch mit den Kame-

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raden in die Schlacht und schreitet auch dann, auf die Trommel einschlagend, weiter vorwärts, als eine Kartätschenladung die Soldatentruppe trifft. Erst nachdem eine zweite Ladung ihren zerschmetternden Hagel in die Reihen der preus­ sischen Infanteristen geworfen hatte, bemerkte Förster: «Unser tapferer Trommelschläger stürzte neben mir, krampfhaft hielt er den Zipfel meines Überrocks fest und rief mit jammernder Stimme: ‹Herr Lieutenant, ich bin ein Mädchen!› Ohne darauf zu achten, riss ich mich los; nur noch wenige Schritte und wir standen in der Schanze. Dieses letzte und entscheidende Wagnis gelang.» Mit anderen Worten: Auf jenen Ausruf, der anschliessend legendär werden würde, reagierte Förster zuerst nicht. Erst beim Jubeltanz seiner Kameraden kommt ihm der Hilferuf des Trommelschlägers wieder ins Gedächtnis, «und nur dunkel schwebte mir vor, dass Renz mich mit den Worten festgehalten: ‹Herr Lieutenant, ich bin ein Mädchen!›» Erst dann stürzte Förster zu der Stelle zurück, wo er den Trommler zurückgelassen hatte, und erhielt dort jenen optischen Beweis, der ihn von der Täuschung, der er aufgesessen war, überzeugte: «Um Renz fand ich einen unserer Ärzte beschäftigt, eine Kartätschenkugel hatte ihm den Schenkel zerschmettert, man hatte ihm den beklemmenden Waffenrock geöffnet: der schneeweisse Busen verriet in pochenden Schlägen das jungfräuliche Heldenherz. Kein Laut der Klage kam über ihre Lippen, um die noch sterbend ein beseligtes Lächeln schwebte.» Bemerkenswert ist nicht nur, dass Förster nachträglich zugibt, im Taumel der Schlacht Prochaskas Ausruf nicht recht verstanden zu haben, sondern auch, dass er bis zum Anblick ihres nackten Oberkörpers, der hohen Stimme des trom­melnden Jägers ungeachtet, an seiner Männlichkeit keinen Zweifel gehabt hatte. Die Glaubwürdigkeit der Haltung der Verkleideten ist das Entscheidende, nicht der Widerspruch, der sich zwischen Stimme und Aussehen ergibt. Und eben darin besteht die Verbindung zu Beethovens Fidelio, setzt die Oper doch ebenfalls darauf, dass man der Sopransängerin ihren männlichen Auftritt abnimmt. Der Mut beider Kämpferinnen wird durch die Enthüllung des weiblichen Geschlechts zudem regelrecht aufgewertet; die entdeckte Überschreitung dient als eindrucksvoller Beweis für ein unzähmbares Pflichtbewusstsein und eine Entrüstung gegenüber der Tyrannei, die sich über jegliche Geschlechtergrenzen hinwegsetzen muss.

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Eine Zeitungsmeldung, die am 7. Oktober 1813 von Prochaskas Beerdigung berichtet, hält die militärischen Ehren, unter denen sie beigesetzt wird, fest und verkündet: «Gleich einer Jeanne d’Arc hatte sie mutvoll gekämpft den Kampf für König und Vaterland. Trauernd folgten dem Sarge, der von ihren Waffenbrüdern getragen wurde, das hannoverische und russisch-deutsche Jägerkorps und der Oberst Graf Kielmannsegge nebst sämtlichen Offizieren. Eine dreimalige Gewehrsalve rief der vom Sturm des Krieges geknickten Lilie den letzten Gruss nach in das Grab.» Auf der Gedenktafel an ihrem Grab auf dem St.-AnnenFriedhof in Dannenberg wird, mit direktem Hinweis auf Försters Geschichte der Freiheitskriege, die dramatische Enthüllung ihres wahren Geschlechts verewigt. Die Breitseite trägt eine Inschrift, die ihr Crossdressing festschreibt, indem der Toten mit ihren beiden Namen gedacht wird: «Eleonore Prochaska, freiwilliger Lützower Jäger, genannt August Renz, geboren in Potsdam den 11. März 1785, tödlich verwundet in der Schlacht bei der Görde am 16. Sep­ tem­ber 1813». Auf der Rückseite wird nochmals die Szene der Enthüllung komemoriert: «Sie fiel verwundet im Schlachtgewühle mit dem Ausrufe Herr Lieutenant ich bin ein Mädchen». Erstaunlich an dieser Anekdote ist nicht nur die Art, wie der Mythos dieser Gestalt sich von der Täuschung des Geschlechts nährt. Ebenso bemerkenswert ist, dass Eleonore Prochaska kein Einzelfall war. Vom allgemeinen Kriegsenthusiasmus ergriffen haben während der Napoleonischen Kriege zwischen 1806 und 1815 auf beiden Seiten verkleidete Frauensoldaten gekämpft. Vielmehr noch, dieses Phänomen hat eine lange Tradition, auch wenn – mit der Ausnahme von Jeanne d’Arc – diese Kämpferinnen bislang meist eine marginale Rolle in der Militärgeschichte spielen. Genau können Historikerinnen zudem die Anzahl jener Frauen, die manchmal jahrelang als Männer getarnt von der frühen Neuzeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts im Militär dienten, nicht angeben. Meist wurden nur jene Fälle bekannt, die aufgrund einer Verwundung auf dem Schlachtfeld (oder anderen ungewöhnlichen Ereignissen), zur Enttarnung der Betroffenen führten. Denn in dieser Zeit bestimmte die Bekleidung nicht nur, wer als Mann galt; die Jugend und Bartlosigkeit der Soldaten, sowie ein grosszügiger Uniformschnitt förderten ebenfalls die Camouflage. Zudem taten sich diese Soldatinnen oft mit besonderer Tapferkeit hervor, so dass die Kameraden

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ihren Einsatz schätzten und ihr Geheimnis, wenn sie es zufällig erfuhren, nicht verrieten. Obwohl viele sich aus patriotischem Furor der Armee anschlossen, taten andere dies aus sozialer Not, Armut, oder der einfachen Notwendigkeit, ihren Besitz zu verteidigen. Im Militär fanden Frauen der Arbeiterklasse zudem eine ihnen sonst unbekannte soziale Sicherheit. Und während einige schlicht das Abenteuer suchten oder im Militär die Gelegenheit sahen, den Beschränkungen der weiblichen Lebenswelt zu entkommen, folgten andere aus Liebesbeziehungen oder Pflichtgefühl den Männern ihrer Familie in den Krieg, um gemeinsam mit ihnen zu dienen. Manchmal brauchten sie auch gar keine Verkleidung, um ihren Heldenmut auszuleben. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges kämpfte Molly Pitcher in Frauenkleidern an der Seite ihres Mannes und nahm, als dieser tödlich verwundet zu Boden stürzte, seine Stelle neben der Kanone ein. Viele verkleidete Frauensoldaten wurden als Heldinnen gefeiert, einige sogar zu Medienstars. So Hanna Snell, eine britische Marinesoldatin, die nach mehrjährigem Kampfeinsatz in Indien zwischen 1748 und 1750, wo sie trotz zwölf Verwundungen unentdeckt blieb, ihre Lebensgeschichte unter dem Titel The Female Soldier veröffentlichte und dann in England und Amerika in Uniform auf Bühnen auftrat, militärische Exerzierübungen vortrug und Soldatenlieder sang. Der Entscheidungswille, den diese Kämpferinnen mit der Wahl der Geschlechtercamouflage an den Tag legten, weist auf ein verändertes Verhältnis zwischen Individuum und Staat im Zuge der Aufklärung hin. Deshalb lässt sich vor allem in Geschichten aus den Unabhängigkeitskriegen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein Hintergrund für Beethovens freiheitliebende Leonore entdecken. Auch diese Frauen glaubten so entschieden an die politische Causa, dass sie sich von ihrer Weiblichkeit nicht beeinträchtigen lassen wollten. Für die singende Soldatin, deren weibliche Stimme nicht als Gegensatz zur Uniform empfunden wurde, sondern durch diese in ihrer Wirkungsmacht gefördert wurde, soll noch eine letzte Anekdote aus den Annalen der Militärgeschichte herangezogen werden. In Josef von Sternbergs Morocco (1930) tritt Marlene Dietrich mit Frack und Zylinder als Sängerin in einem Nachtclub auf. Noch während sie singt, begibt sie sich ins Publikum, schreitet von einem Tisch

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zum nächsten, und küsst schliesslich – zum erstaunten Beifall der anderen Zuschauer – eine elegante Frau auf den Mund. Ein Jahr später spielt sie eine österreichische Geheimagentin, dann legt sie in der Scharlachroten Kaiserin (1934) nochmals Männerkleider an, um dem Militärputsch Katharinas II. von Russland den verführerischen Charme des Hollywood-Glamourstar zu verleihen. Nach dem Blitzkrieg in Polen wird allerdings nicht mehr die Leinwand, sondern die reale Kriegsfront zu ihrer Bühne. Auch die Dietrich schliesst sich als einfache Soldatin dem Heer der Alliierten an. Drei Jahre lang setzt sie ihre berühmte Stimme ein, um ihre entschiedene Ablehnung der nationalsozialistischen Tyrannei zum Ausdruck zu bringen und gegen sie zu kämpfen. Zwar greift sie nicht zur Waffe, nimmt dafür aber die Uniform der U.S. Army an und wird – wie einige der verkleideten Soldatinnen vor ihr – für ihre Tapferkeit an der Front nach Kriegsende von der amerikanischen wie der französischen Regie­ rung geehrt. In vielen Fotos, die ihre Kameraden auf diversen Schauplätzen des Krieges von ihr machten, finden wir nochmals jenen Charme festgehalten, der von einer Verdoppelung des Geschlechts im Crossdressing ausgeht: Uniform und Erscheinung bilden ein faszinierendes Ganzes. Marlene Dietrich ist ein einfacher Soldat und zugleich eine Ikone weiblicher Verführungskraft. In ihrer eigenwilligen Darbietung der entschlossen für Gerechtigkeit kämpfenden Frau finden sowohl Leonores unerhörter Mut wie auch der der historischen Soldatinnen ein dem Stil des 20. Jahrhunderts angepasstes kulturelles Nachleben.

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Wohltun, wo man kann! Freiheit Ăźber alles lieben! Wahrheit nie, auch sogar am Throne nicht, verleugnen! Ludwig van Beethovens Eintrag in das Stammbuch von A. Vocke am 22. Mai 1793


FIDELIO LUDWIG VAN BEETHOVEN (1770-1827) Oper in zwei Aufzügen Libretto von Joseph Sonnleithner und Friedrich Treitschke Uraufführung 23. Mai 1814, Wien

Personen

Der Minister

Bariton

Don Pizarro

Bariton

Florestan Leonore Rocco

Sopran Bass

Marzelline Jaquino

Tenor

Sopran Tenor


Programmheft FIDELIO Oper in zwei Aufzügen von Ludwig van Beethoven Premiere am 8. Dezember 2013, Spielzeit 2013/14 Wiederaufnahme am 26. November 2017, Spielzeit 2017/18

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Werner Hintze, Fabio Dietsche Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli

Titelseite Visual François Berthoud

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Inhaltsangabe und alle weiteren Texte entstanden für dieses Programmheft. Die Beethoven-Zitate entnahmen wir dem Band Gustav Eernest: Beethoven – Persönlichkeit, Leben und Schaffen. Berlin, Georg Bondi 1920. Bildnachweise: T + T Fotografie / Toni Suter fotografierte die Klavier­ hauptprobe am 28. November 2013.

Studio Geissbühler Fineprint AG


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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