Götterdämmerung

Page 1

GÖTTERDÄMMERUNG

R ICHAR D WAGNER


Charged for new adventures. Mit vielfältigen Ladeoptionen wie Home Charging. Der rein elektrische Audi SQ8 Sportback e-tron. Vorsprung fühlen. Future is an attitude

Mehr unter audi.ch Audi SQ8 Sportback e-tron, 503 PS, 25,5 kWh/100 km, 0 g CO₂/km, Kat. C.

A B C D E F G

C


GÖTTERDÄMMERUNG RICHARD WAGNER (1813-1883) Dritter Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen» Dichtung vom Komponisten

Mit freundlicher Unterstützung der Freunde der Oper Zürich




HANDLUNG Vorgeschichte Wotan hat der Welt eine auf Verträgen basierende Ordnung gegeben und sich so zu ihrem obersten Herrscher gemacht. Von den Riesen Fasolt und Fafner liess er sich eine prachtvolle Burg bauen, die er mit einem dem Nibelungen Alberich entwendeten Goldschatz bezahlte. Aber er stahl Alberich nicht nur den Schatz, sondern auch den aus dem Rheingold geschmiedeten Ring, der seinem Besitzer masslose Macht verleiht. Der Preis für diese Macht war hoch: der ewige Verzicht auf Liebe. Auch Wotans Raub hatte bedeutsame Folgen, denn Alberich verfluchte den Ring: Er soll jedem seiner künftigen Träger den Tod bringen. Von der Urmutter Erda vor diesem Fluch gewarnt, war Wotan bereit, den Ring den Riesen zu überlassen. Im Streit um das verhängnisvolle Kleinod erschlug Fafner seinen Bruder Fasolt – das erste Opfer des Fluchs. Aber Wotan konnte sich mit dem Verlust des Ringes nicht einfach abfinden, denn nach wie vor lauerte Alberich darauf, ihn zurückzugewinnen. Wotan selbst konnte ihn sich nicht aneignen, ohne als oberster Hüter der Gesetze gegen sei­ne eigene Weltordnung zu verstossen. Also zeugte er ein menschliches Zwil­ lings­paar, Sieglinde und Siegmund, die an seiner Stelle agieren sollten. Er ver­ schaffte Siegmund das göttliche Schwert «Nothung», mit dem dieser vermeint­ lich von Wotans Willen freie Held Fafner erlegen und den Ring für Wotan er­­ringen sollte. Aber Wotans Gattin Fricka machte ihm klar, dass er Siegmund nicht in seinem Sinne handeln lassen konnte, ohne seine eigene Machtposition zu unter­ graben. Mehr noch: Er hatte dafür zu sorgen, dass Siegmund zur Wahrung der Gesetze im Zweikampf mit Sieglindes betrogenem Ehemann Hunding fiel. Wotans Lieblingstochter jedoch, die Walküre Brünnhilde, versuchte Sieg­ mund entgegen Wotans Befehl zu retten. Wotan zerstörte Nothung, der wehr­ lose Siegmund fiel, aber Brünnhilde verhalf seiner Schwester und Braut Sieglinde, die bereits Siegfried im Schoss trug, zur Flucht. Als Strafe für ihren Ungehorsam

4


sah sich Wotan gezwungen, Brünnhilde auf dem Walkürenfelsen in einen tiefen Schlaf zu versetzen, der ihr den göttlichen Status nahm und aus dem sie jeder zufällig des Weges kommende Mann wecken könne, dem sie als einfache Men­ schenfrau zu folgen hätte. Auf Bitten Brünnhildes umgab Wotan den Felsen je­doch mit einem Feuerring, den nur ein furchtlos freier Held durchschreiten kann: Siegfried. Sieglinde gelangte auf ihrer Flucht zu Mimes Höhle und starb dort bei der Geburt ihres Sohnes. Mime zog den Knaben auf, in der Hoffnung, dass dieser Fafner – der sich in Gestalt eines Lindwurms mit Alberichs Schatz in eine Höh­ le zurückgezogen hatte – erschlagen und ihm den Ring überlassen würde. Aus den Trümmern Nothungs, die Mime nicht reparieren konnte, schuf sich Sieg­ fried ein Schwert, mit dem er Fafner erschlug. Ein Waldvogel warnte Siegfried vor Mime, der ihn ermorden wollte. Siegfried tötete Mime und folgte dann dem Rat des Vögleins, aus dem in der Höhle liegenden Hort einen Tarnhelm und den Ring an sich zu nehmen. Der Vogel tröstete den Einsamen, indem er ihm von der schlafenden Brünnhilde erzählte. Als Siegfried sich dorthin aufmachte, vertrat ihm Wotan den Weg. Doch der kühne Recke war nicht aufzuhalten: Mit dem Schwert Nothung zerschlug er den göttlichen Speer, erstieg den Walküren­ felsen und gewann Wotans Tochter.

Vorspiel Die drei Nornen, Erdas Töchter, spinnen das Seil des Schicksals und singen vom Weltgeschehen: Wie Wotan einen Ast von der Weltesche brach, um den Speer daraus zu fertigen, in den die Runen der die Welt ordnenden Verträge gegraben wurden; wie die Weltesche an der ihr von Wotan beigebrachten Wunde zugrun­ de ging und der Quell der Weisheit versiegte; wie Wotan sie fällen und das Holz um die Götterburg aufschichten liess, in der er nun sein Ende erwartet. Als die Nornen die Frage nach der Zukunft stellen, reisst das Seil, und sie kehren in den Schoss ihrer Mutter zurück. Siegfried fühlt den Drang nach neuen Heldentaten. Brünnhilde kann und will ihn nicht zurückhalten, auch wenn sie fürchtet, dass er für die Begegnung

5


mit der Menschenwelt ungenügend vorbereitet ist. Als Zeichen seiner Liebe überlässt Siegfried ihr den Ring, und sie schenkt ihm dafür ihr Pferd Grane. Während Siegfried den Rhein entlang nach Abenteuern sucht, bleibt Brünnhil­ de allein zurück.

Erster Aufzug Gunther ist sehr stolz auf den Glanz seiner Herrschaft am Rhein und auf das grosse Ansehen, das er und sein Stamm der Gibichungen geniessen. Sein Halb­ bruder Hagen dämpft den Überschwang: Der Ruhm der Gibichungen ist un­ voll­ständig, solange Gunther und dessen Schwester Gutrune unverheiratet sind. Doch er weiss Rat: Er erzählt von der herrlichsten Frau der Welt, die auf einem von Feuer umgebenen Felsen wohnt. Da niemand ausser dem stärksten Helden Siegfried das Feuer durchdringen kann, muss dieser dafür gewonnen werden, die Felsenfrau an Gunthers Stelle zu freien. Als Siegfried tatsächlich bei den Gibichungen eintrifft, reicht Gutrune ihm einen von Hagen beschafften Zaubertrank: Siegfried vergisst Brünnhilde und verliebt sich auf der Stelle in Gutrune. Gunther eröffnet Siegfried, dass auch er eine Frau begehrt, die jedoch für ihn unerreichbar ist. Als Gegenleistung für Gutrunes Hand bietet Siegfried an, mit Hilfe seines Tarnhelms Gunthers Gestalt anzunehmen und die Felsenfrau an seiner statt zu entführen. Gunther und Siegfried schwören Blutsbrüderschaft und brechen sofort auf. Hagen schaut ihnen höhnisch nach: Sein Plan geht auf. Siegfried wird Gunther seine eigene Frau zuführen und mit ihr den magischen Ring holen. Diesen will Hagen in seinen Besitz bringen – im Auftrag seines Vaters, der ihn einst geschmiedet hat: des Nibelungen Alberich. In der Zwischenzeit sucht Waltraute ihre Schwester Brünnhilde auf. Brünn­ hildes Hoffnung, Wotan habe ihr verziehen, verfliegt schnell, als Waltraute ihr den zerrütteten Zustand der Götter und Helden in Walhall schildert. Sie glaubt, dass es nur noch eine Rettung gibt: Brünnhilde muss den Rhein­töchtern den Ring übergeben. Aber Brünnhilde ist nicht bereit, auf Siegfrieds Liebespfand zu verzichten, und bricht endgültig mit der Götterwelt, aus der sie stammt.

6


Kaum ist Waltraute verzweifelt davongestürmt, ertönt Siegfrieds Hornruf. Aber zu Brünnhildes Entsetzen scheint es ein Fremder zu sein, der den Weg zu ihr gefunden hat: Siegfried, in Gunthers Gestalt und nicht ahnend, wie er mit der anscheinend fremden Frau verbunden ist. Er entreisst ihr den Ring und teilt mit ihr das Bett, legt aber sein Schwert zwischen sich und die Frau.

Zweiter Aufzug In der Nacht erscheint Alberich seinem Sohn Hagen und erinnert ihn eindring­ lich an den Sinn seiner Existenz: Der Nibelung hat ihn einzig zu dem Zweck gezeugt, den Ring zu erobern und ihn seinem Vater zu übergeben. Hagen beruhigt ihn: Siegfried ist ihm schon ins Netz gegangen. Im Morgengrauen taucht Siegfried auf und kündigt die baldige Ankunft von Gunther und Brünnhilde an. Gutrune empfängt ihn erfreut, kann ihm je­ doch ihr Unbehagen bezüglich des genauen Hergangs der Entführung nicht verhehlen. Schliesslich werden die Mannen und Frauen des Hofes zum festlichen Empfang des Paars und zur anschliessenden Doppelhochzeit herbeigerufen. Als Brünnhilde mit Gunther eintrifft, erkennt sie zu ihrem Entsetzen Sieg­ fried an der Seite Gutrunes; dieser gibt jedoch vor, Brünnhilde nicht zu kennen. Als sie an Siegfrieds Hand den Ring entdeckt, den dieser ihr in Gunthers Gestalt entrissen hat, durchschaut Brünnhilde nach und nach den Betrug und erklärt öffentlich, dass nicht Gunther, sondern Siegfried sie überwältigt und zur Frau genommen habe. Siegfried beteuert seine Treue zu Gunther und wird von Hagen genötigt, seine Unschuld bei der Spitze von Hagens Speer zu beschwö­ ren. Brünnhilde schwört ihrerseits bei Hagens Speer, dass Siegfried des Meineids schuldig ist. Hagen bietet Brünnhilde an, den Verrat zu rächen, worauf sie ihn mit der Unmöglichkeit konfrontiert, Siegfried im Kampf zu besiegen. Er müsse ihn schon feige im Rücken treffen, dies sei die einzige verwundbare Stelle. Mit dieser neuen Erkenntnis fasst Hagen den Plan, am folgenden Tag eine Jagd zu veranstalten, bei der Siegfried getötet werden soll; sein Tod soll im Nachhinein als Jagdunfall dargestellt werden. Gunther stimmt dem Plan widerwillig zu.

7


Dritter Aufzug Siegfried hat sich auf der Jagd verirrt und trifft auf die Rheintöchter, die ihn um den Ring bitten, was er zunächst ablehnt. Als die Mädchen ihn daraufhin als geizig verspotten, besinnt er sich und ist bereit, den Ring herauszugeben. Doch nun warnen sie ihn vor dem Fluch, mit dem der Ring belegt ist. Er zieht sein Angebot trotzig zurück, denn einschüchtern lässt er sich nicht. Die Jagdgesellschaft hat Siegfried aufgespürt, und man lässt sich zur Mahl­ zeit nieder. Um den düster vor sich hinbrütenden Gunther aufzuheitern, erzählt ihm Siegfried aus seinem Leben. Hagen reicht Siegfried einen Zaubertrank, der ihm die Erinnerung an Brünnhilde zurückgibt. In dem Augenblick, da er von seiner Begegnung mit ihr auf dem Felsen berichtet, stösst ihm Hagen den Speer in den Rücken. Er erklärt gegenüber Gunther und den entsetzten Mannen den Mord zur Sühne für Siegfrieds Meineid. In der Nacht wird Gutrune von bösen Ahnungen verfolgt, die sich aufs schlimmste bestätigen, als die Jagdgesellschaft mit dem toten Siegfried zurück­ kehrt. Gutrune klagt ihren Bruder an, Siegfried ermordet zu haben, der wiede­ rum Hagen die Schuld gibt. Hagen rechtfertigt seine Tat erneut mit der Rache für Siegfrieds Meineid und fordert als die ihm rechtmässig zustehende Beute den Ring an Siegfrieds Hand. Als Gunther sich ihm entgegenstellt, streckt Hagen ihn nieder. Einzig Brünnhilde kann Hagen davon abhalten, den Ring und dessen Macht an sich zu reissen. Gutrune beschuldigt Hagen als Schöpfer der Intrige gegen Siegfried und bekennt ihre eigene Schuld, Siegfried den Ver­ gessens-Tank gereicht zu haben. Brünnhilde, die von den Rheintöchtern über die Hintergründe des Ge­ schehens und Siegfrieds Unschuld unterrichtet wurde, lässt einen Scheiterhaufen für Siegfrieds Leiche errichten und will selbst in dem Feuer sterben. Die Rhein­ töchter sollen den dann vom Fluch gereinigten Ring an sich nehmen. Hagen macht einen letzten verzweifelten Versuch, sie daran zu hindern, und wird von den drei Nixen in die Fluten gerissen. Aus der Ferne leuchten die Flammen der verbrennenden Götterburg.

8




EINE WELT OHNE LIEBE MUSS UNTERGEHEN Regisseur Andreas Homoki im Gespräch über seine Inszenierungskonzeption George Bernard Shaw hat in seinem epochemachenden «Wagner-Brevier» behauptet, mit der Götterdämmerung sei Wagner sich selbst untreu geworden und habe eine Grosse Oper komponiert, mit all den zugehörigen Ingredienzen wie Duetten, Terzetten, Chorszenen usw. Da dieses Buch die Wagner-Rezeption seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst hat, hört und liest man dieses Verdikt immer wieder. Würdest du dem mit deiner Erfahrung bei der Arbeit am Stück zustimmen? Shaw hat mit seinem Buch zweifellos eine überragende Leistung vollbracht, indem er erstmals Tiefenschichten des Werkes aufdeckte, die bis dahin nur sehr wenige bemerkt haben dürften. Und auch heute kann man es noch mit Gewinn – und Spass an seinem brillanten Witz – lesen. Ich finde dennoch, dass es sich hier um ein Fehlurteil und eine ab­sichts­volle Übertreibung handelt. Denn wenn man seine Behauptung überprüft, stellt man fest, dass die angeführten Beispiele in genau einer 20 Takte langen Duettpassage und einem 50 Takte langen Terzett und einer Chorszene bestehen. Das macht aus dem Stück keine Grande Opéra im Stil Meyerbeers. Vielmehr lässt sich nahezu an jedem Takt und jedem Vorgang zeigen, wie konsequent Wagner seinen Weg weitergeht und ganz eigene, originelle Lösungen findet, auch beim Einsatz des Opernchors. Bei allem Respekt für den wachen Blick des jungen Dichters – in diesem Punkt urteilt er reichlich oberflächlich und hat den entscheidenden Punkt weit verfehlt. Welcher Punkt ist das? Zweifellos ist das Auftreten des Opernchors ein deutlicher Bruch in der Dramaturgie der Tetralogie, aber dieser Bruch hat einen guten Grund: Die

11


ersten drei Stücke spielen in einer mythischen Welt der Götter, Zwerge, Riesen, Drachen usw., in der die grossen, kraftvoll gezeichneten Figuren durch ihr trotz aller Zwänge doch selbstbestimmtes Handeln den Gang der Ge­ schehnisse prägen. Die Erzählung von ihren individuellen Geschichten kann darum eine ganze Welt ab­bilden. Mit Siegfrieds Reise zu den Gibichungen verlassen wir diesen Bereich und geraten in die moderne menschliche Gesellschaft. Und hier spielt der Druck, den die Öffentlichkeit auf die Figuren ausübt, eine zentrale Rolle. Gleich im ersten Dialog zwischen Gunther und Hagen wird deutlich, dass die Motivation für Gunthers Handeln nur die Sorge um seine Reputation ist: Er sucht eine Gattin, die seinen Ruhm fördert, also seine gesellschaftliche Stellung verbessert. So ist es nur konsequent, diese Gesellschaft auch szenisch in Erscheinung treten zu lassen. Im zweiten Akt geschieht das, und wir er­leben unmittelbar, wie die Individuen in ihrem Handeln von dieser Öffentlichkeit bestimmt werden. Das ist ein ganz neues Element der Erzählung, und daraus erklärt sich der auffällige Unterschied zu den vorherigen Stücken. Man könnte jetzt einwenden, dass auch Hunding seine Leute zusammenruft, um Sieglinde und Siegmund zu verfolgen, dass in der Walküre aber keine entsprechende Chorszene vorkommt. Aber der entscheidende Unterschied wird bei näherer Betrachtung schnell deutlich: Hundings Leute haben in der Oper keine Stimme, weil er ihnen gegenüber vollkommen souverän ist und sie nur die Werkzeuge seiner Entschlüsse sind, so dass von ihnen kein Einfluss auf sein Handeln ausgeht. Hunding könnte Siegmund auch allein töten, wenn sich die Gelegenheit ergäbe, Gunthers Handeln aber ist ohne den gesellschaft­lichen Hintergrund nicht zu erklären. Übrigens wollen wir Shaw ein wenig Gerechtigkeit wider­fahren lassen: Die Götterdämmerung macht tatsächlich den Eindruck einer grossen Chor­ oper, obwohl der Chor fast nur in einer Szene singend hervortritt und der Frauenchor kaum drei Sätze zu singen hat. Das liegt an Wagners Kunst des ökonomischen Einsatzes der Mittel, der starken Konzentration von Inhalt und Ausdruck, für die wir gerade im Ring allent­halben Beispiele finden, wenn wir uns nicht von der pompösen Fassade in die Irre führen lassen. Das bedeutet übrigens auch, dass sich das Stück in einem Punkt nicht von den anderen drei unterscheidet: Es handelt sich auch hier um ein Kammerspiel,

12


ein Drama der subtilen Gesten, nur eben um ein Kammerspiel vor dem Hintergrund der Massengesellschaft. Eine auffallende Besonderheit dieses Stücks ist, dass die Liebe, die in den ersten drei Stücken das wichtigste handlungsbewegende Element war, hier anscheinend kaum vorkommt… Tatsächlich scheint es Liebe nur in der sehr kurzen Szene zwischen Brünn­ hilde und Siegfried im Prolog zu geben. Wenn Siegfried sich von Brünnhilde trennt, verschwindet sie aus dem Geschehen. Die Welt der Gibichungen, in die Siegfried gerät, ist liebelos. Gunther und Gutrune streben nach gesell­schaftlichem Renommee, ausschliesslich diesem soll die Ehe mit einer berühmten Frau oder einem berühmten Mann dienen. Bei Gutrune ist vielleicht ein bisschen spät­pubertäre Schwärmerei für den berühmten Helden im Spiel. Aber mit Liebe, wie wir sie bisher bei Siegmund und Sieglinde oder Siegfried und Brünnhilde gesehen haben und wie sie Loge im Rheingold als weltbe­ wegende Urkraft besungen hat, hat das nichts zu tun. Die erste Szene in der Gibichungenhalle zeigt: Die Welt, die Wotan einst eingerichtet hat, ist in einem armseligen Zustand. Von seinem Wunsch, Liebe und Macht auf einen Nenner zu bringen, ist nur das kalte Macht­streben geblieben. Erst als der sterbende Siegfried versteht, was geschehen ist, und erkennt, was er Brünnhilde angetan hat, kehrt seine Liebe und seine Zärtlichkeit zurück, die nicht mehr sichtbar war, seit er den Brünnhilde-Felsen verlassen hatte. Brünnhilde erfährt von den Rheintöchtern, was vorgefallen ist, und gewinnt so die Fähigkeit zur Liebe zurück: Sie kann Siegfried verzeihen, und so aus Liebe – nicht nur zu ihm, auch zu Wotan und allen Leidenden und Verlassenen – Hagens Machtübernahme verhindern und die Welt vom Fluch des Ringes reinigen. Das ist Wagners grosse Hoffnung: Dass die Politik, dass das Streben nach Macht besiegt werden kann, indem die triumphierende Liebe das Politische einfach auflöst.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Ist Siegfried ein Held? Das kommt darauf an, wie man den Begriff «Held» definiert. Es gibt in der Götterdämmerung zwei grosse Orchesterzwischenspiele, die von Siegfried

13


erzählen. Siegfrieds Rheinfahrt bildet den Übergang vom Prolog zum ersten Akt, hat also zunächst einmal den rein praktischen Zweck, die Zeit, die für den Umbau gebraucht wird, zu überbrücken. Aber Wagner nutzt die Gelegenheit, ein Porträt Siegfrieds als eines «unbedarften» Helden zu zeichnen, also eines jungen Menschen, der voller Vertrauen frohgemut in die Welt hinausgeht. Es ist eines der hellsten und heitersten Musikstücke in Wagners Werk und sicher deshalb so überaus beliebt. Die Musik beschreibt sehr plastisch und sehr witzig, wie Siegfried voll froher Erwartungen den Felsen hinabsteigt, bis er staunend den majestätisch dahinfliessenden Rhein be­ trachtet, wie er bei seiner Reise den Rheintöchtern begegnet, die ihm zujubeln, weil er die Rückkehr des Rheingolds ermöglichen wird, und man hört schliesslich, wie sich das Bild verdüstert, wenn die Reise in der Menschenwelt endet, an der Siegfried zugrundegehen wird. Die Frage, ob das eigentlich ein Held ist, liegt insofern nahe, als sich die Figur, die in diesem Zwischen­ spiel geschildert wird, ganz erheblich vom Idealbild des blonden, blauäugigen Kraftmenschen unterscheidet, das im 19. Jahrhundert im Schwange war und uns z. B. noch in Fritz Langs Nibelungen-Film entgegentritt. Wenn man Siegfried und sein Schicksal genauer betrachtet, kommt man nicht um die Feststellung herum, dass er gar nichts Heldenhaftes tut... Und schon gar nicht kann davon die Rede sein, dass er die Welt erlöst. Er tut gar nichts für die Auflösung des Konflikts, der den Ring bestimmt. Vielmehr ist es Brünnhilde, die das Ende von Wotans System herbeiführt, und wenn man es ganz genau nimmt, befördert Brünnhilde damit nur den natürlichen Lauf der Dinge. Aber warum wird sein Tod in der berühmt-berüchtigten Trauermusik des dritten Akts – dem zweiten grossen Orchesterzwischenspiel – dann so ergreifend beklagt? Man kann vielleicht sagen, dass für Wagner das utopische Potenzial dieser Figur gerade darin liegt, dass er kein Held im herkömmlichen Sinne ist. Nicht seine Kraft und Mordbereitschaft machen ihn gross, sondern sein Vertrauen in das Leben, die Güte der Welt und der Menschen. Man kann ihn naiv nennen,

14


denn jeder, der ihn so in die Welt ziehen sieht, weiss sofort, dass er scheitern wird. Denn wir kennen die Welt, er aber nicht. Wie er sich die Welt vorstellt, ist sie nicht, aber – das ist der Punkt – sie sollte so sein. Die ideale Welt, deren Verwirklichung sich Wagner von der Revolution erhoffte, müsste so be­ schaffen sein, dass ein Siegfried in ihr nicht zum Scheitern verurteilt ist. Und eigentlich scheitert nicht Siegfried an der gegenwärtigen Welt, sondern diese scheitert an ihm. Sein Untergang erweist die Nichts­würdigkeit der Verhältnisse. Die instrumentale Totenklage für Siegfried ist in ihrer monumen­ talen Wucht dem, was hier geschehen ist, angemessen: Ge­storben ist die grosse Hoffnung, dass ein anderes Leben, ein besseres Dasein in dieser Welt verwirklicht werden kann. Was Wagner komponiert hat, ist das Gegenteil von dem, was die Nazis daraus gemacht haben, wenn sie dieses Stück zur Trauermusik für die Beerdigung von Nazi­grössen pervertierten. Es handelt sich auch gar nicht um einen «Trauermarsch», sondern um eine echte Trauer­ musik, die zu mehr als der Hälfte nicht Siegfried, sondern seinen Eltern und ihrer rebellischen Liebe gewidmet ist. Die Musik beschreibt die unendliche Trauer über eine Welt, in der alles Gute und Liebevolle immer wieder unter den brutalen Schlägen der Wirklichkeit zusammenbricht. Am Ende, wenn auch Siegfried zu Fall gebracht ist, steht die Musik der trauernden Brünnhilde: eine sehr zarte, sehr menschliche, ganz und gar nicht heroische Musik.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Warum lässt sich Brünnhilde so vollständig auf die Gibichungen-Welt ein, dass sie sich von der liebenden Frau in die Rachefurie verwandelt, die nur ein Ziel kennt, den geliebten Mann zu vernichten? Eigentlich lässt sie sich nicht darauf ein, sondern wird durch Hagens Intrige hineingerissen, die alle Figuren der Men­schen­welt zu Werkzeugen im Kampf um den Ring macht. Aber auch Hagen ist nichts als Alberichs Werk­ zeug. Er ist überhaupt nur auf der Welt, um seinem Vater den Ring zu­ rückzugewinnen. Sein Schicksal ist vielleicht noch schlimmer als das Brünn­ hildes und Siegfrieds: Sie lernen immerhin das Glück der Liebe kennen, wenn es auch von kurzer Dauer ist, Hagen ist das vollständig versagt. Und er weiss das selbst sehr genau, wie die ergreifende Selbstbeschreibung in seinem gespenstischen Nachtgespräch mit Alberich zeigt. Hagen ist zwar

15


die Figur, die das Geschehen vorantreibt, aber er ist selbst ein Getriebener. In dieser dramaturgischen Eigenheit des Rings erkennen wir den Revolutionär Wagner: Das Drama wird nicht von den Figuren bewegt, sondern die Figuren von ihm. Sie alle sind getrieben von den Verhältnissen, gegen die sie nicht ankönnen. Es ist keine Lösung, Hagen zu be­seitigen, das Ganze, das auch ihn zum Opfer macht, muss verändert, abgeschafft werden. Wie sieht die Bühne für dieses letzte Drama der Tetralogie aus? Die Bühne hat dieselbe Grundstruktur wie die anderen Stücke auch. Es gibt also auf der Bühne diese Flucht von identischen Innenräumen einer vielleicht gründerzeitlichen Villa. Die Drehscheibe ermöglicht oft wechselnde Perspek­­tiven und Räume und, wenn man es streng nehmen will, viel mehr Bilder, als Wagner in seinem Libretto vorge­sehen hat, in denen sich die mitunter stark divergierenden Anforderungen der einzelnen Szenen auf eine einfache und einleuchten­de Weise umsetzen lassen. Dieses Prinzip haben wir nun schon dreimal erprobt, und es hat sich als tragfähig erwiesen. Natür­­lich auch deshalb, weil es ermöglicht, dass sich die Ausstattung dieser Räume von Stück zu Stück abhängig vom angestrebten Charakter der Erzählung unterscheidet. Das bedeutet ein Wiedersehen mit einigen bereits bekannten Elementen wie dem Walkürenfelsen, dem Grund des Rheins, Walhall, dem Baum aus Hundings Hütte. Eine neue Aufgabe war die Gestal­ tung der Gibichungen-Welt, die einerseits eine Metapher für uns heute sein soll, für die mein Bühnenbildner Christian Schmidt und ich andererseits einen gewissen archaischen Charakter beibehalten wollten, um in diesem letzten Teil der Tetralogie ästhetisch nicht zu sehr von den ersten drei Teilen abzu­weichen. Was besonders schön ist: Das Prinzip dieses Bühnen­bilds für die Tetralogie gibt uns die Möglichkeit, da zu enden, wo alles begonnen hat: mit leeren, langsam rotierenden Räumen als Metapher für das ewige Dahin­ fliessen der Zeit mit der Hoffnung auf einen Neuanfang – einer Hoffnung, wie sie uns aus den letzten Takten des Orchesters entgegenklingt.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Das Gespräch führte Werner Hintze

16





SO LANGE LEBEN IST, IST HOFFNUNG Dirigent Gianandrea Noseda im Gespräch über seine Arbeit an der «Götterdämmerung» Gianandrea Noseda, im April letzten Jahres war die Premiere von Rhein­ gold, nun sind wir in unserem neuen Zürcher Ring beim letzten Teil angekommen, der Götterdämmerung. Unterscheidet sich die Art und Weise, wie Sie sich als Dirigent der Götterdämmerung annähern, von Ihrer Arbeit an den ersten drei Teilen? Je länger ich mich mit dem Stück beschäftige, desto mehr wird mir klar, wie wenig ich es eigentlich kenne und wie viel es noch zu entdecken gibt. Es ist wie bei vielen grossen Kunstwerken: Je tiefer man in sie eindringt, desto mehr findet man, und desto klarer sieht man, welche immer noch uner­ forschten Tiefen sie enthalten. Die Götterdämmerung verlangt mir als Dirigent alles ab. Man muss sich in diese Welt vergraben, sich geradezu selbst in ihre verlieren. Ich bin voller Bewunderung für Wagner und das, was er hier geschaffen hat – das umzusetzen, ist eine grosse, aber auch zutiefst be­ glücken­de Herausforderung. Was empfinden Sie als besonders herausfordernd? Die Götterdämmerung ist das Ende einer grossen Reise, und Wagner hat alles in dieses Stück hineingepackt – alles, was in den drei vorangehenden Teilen geschrieben wurde, kulminiert hier. Tristan und Isolde ist zwar meiner Ansicht nach sowohl auf der kompositorischen als auch auf der gedanklichen Ebene noch komplexer. Andererseits haben wir es in der Götterdämmerung mit sehr viel mehr Figuren zu tun. Gunther, Gutrune und Hagen kommen zu den bereits bekannten Figuren noch hinzu, und alles ist miteinander verknüpft, hat Verbindungen, die weit in die Vergangenheit und teilweise auch in die Zukunft reichen. Diese Komplexität verlangt nach grosser Klarheit in der Dar-

20


bietung. Denn ohne diese Verbindungen kann das Ganze leicht kaleido­sko­ pisch zerfallen. Das ist schwierig, aber ist eine wunderbare Aufgabe! Worin genau besteht die Komplexität? Sie steckt in den vielen Schichten. Wenn es im Rheingold drei Schichten sind, dann sind es in der Götterdämmerung fünf. Das hat mit der viel grösseren Zahl an Leitmotiven und mit der ganz anderen Art zu tun, wie Wagner mit ihnen umgeht. Im Rheingold erleben wir, wie die Leitmotive entstehen, und sie werden relativ einfach eingesetzt, so dass es nicht schwer ist, ihren Sinn zu entschlüsseln. Allerdings gibt es die Gefahr, dass der grosse Fluss darüber aus dem Blick gerät. Das ist in der Götterdämmerung ganz anders, weil Wagner nun die Motive viel flexibler handhabt und in einen komplexen poly­phonen Orchestersatz einbindet. Die Harmonik ist viel komplizierter – und übrigens auch dissonanzenreicher – geworden. Hier sieht man die Erfahrung, die Wagner bei der Komposition des Tristan gesammelt hat. Auch in Walküre gibt es schon harmonisch sehr avancierte Stellen, die Götter­ dämmerung ist aber deutlich weiter entwickelt. Es kommt mir vor, als denke Wagner hier weniger vertikal, also in Harmonien, als eher horizontal, wie Bach und andere Komponisten jener Zeit. Hier haben die Meistersinger mit ihrem Rückgriff auf traditionelle Formen der kontrapunktischen Polyphonie deutliche Spuren hinterlassen. Während die Architektur in Rheingold und Walküre eher vertikal geprägt ist, scheint mir Wagner in der Götterdämmerung viel stärker an Melodie- und Spannungsbögen interessiert. Die Harmonien entstehen sozusagen sekundär aus der Linienführung.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Wagner hat ja insgesamt – mit einer langen Unterbrechung nach dem zweiten Akt des Siegfried – 25 Jahre am Ring des Nibelungen gearbeitet. Die Götterdämmerung, sein vorletztes Bühnenwerk, gehört deutlich zu seinem Spätwerk. Empfinden Sie den Ring trotzdem als eine Einheit, als ein grosses Ganzes? Ja, ich empfinde das trotzdem als ein grosses Ganzes – aber eher in der Art, in der ich auch die neun Sinfonien Beethovens als ein grosses Ganzes emp­ finde; dahinter steht für mich ein Gedanke, der in neun Kapiteln ausgearbeitet

21


wird. Aber natürlich gibt es in den vier Teilen des Rings Unterschiede, und natürlich haben auch die Erfahrungen, die Wagner bei der Komposition und in seinem persönlichen Leben gemacht hat, ihre Spuren hinterlassen. Ich empfinde Rheingold und Walküre als deutlich heller, hoffnungsvoller – was sicher auch mit dem Alter oder der Lebensphase zu tun hat, in der Wagner sich befand. Siegfried hat sogar noch viele Elemente der Opera buffa. In der Götterdämmerung spüre ich einen Menschen – Wagner –, der sein Leben lang für die Veränderung der Welt gekämpft hat und der schliesslich nur noch wenig Hoffnung hat, dass die Welt durch Kunst oder auf welche Weise auch immer verändert werden kann. Vielleicht ist es das, was die Götterdämmerung so düster macht. Hat denn die Götterdämmerung im Vergleich zu den anderen Teilen des Rings eine besondere musikalische Farbe? Die Götterdämmerung verbindet all die musikalischen Farben miteinander, die wir in den drei Stücken zuvor gehört haben. Wir begegnen den Rhein­ töchtern und ihrem Element des fliessenden Wassers wieder, wir hören wieder den Waldvogel und Klänge aus dem Waldweben, das Motiv der Erda erklingt, auch wenn sie selbst als Figur nicht mehr auftritt – und das Götter­ dämmerungs-Motiv ist ja die Umkehrung des Erda-Motivs! Und auch das Fluchmotiv ist sehr präsent, ebenso wie das Ring-Motiv und viele weitere Motive, die uns seit Rheingold in verschiedensten Formen begleitet haben. Und natürlich Siegfrieds Hornruf, der nun stark verbreitert in anderen Instrumenten wiederkehrt und den vielleicht etwas älteren Helden charakte­ risiert. Dabei erzählt das Stück in erster Linie von negativen Ereignissen und Affekten, von Verlust, Verrat, Demütigung, Angst, Machtgier usw. Aber es erzählt auch – vor allem am Schluss – von Verklärung. Die letzten Seiten dieser Partitur gehören für mich zum Schönsten, was überhaupt je kom­po­ niert wurde. Nicht nur, weil hier viele zuvor gehörte Leitmotive noch einmal kunstvoll miteinander verwoben werden. Sondern vor allem, weil neben dem Ende der Götter auch die Hoffnung auf etwas Neues aufscheint. Die Götter mögen die ganze Welt in ihren Untergang hineinreissen, aber die Hoffnung können sie nicht zerstören.

22


Sie haben die Figuren angesprochen, die in der Götterdämmerung neu hinzukommen – Gunther, Gutrune und Hagen, Alberichs Sohn. Für ihn hat Wagner sich besonders dunkle Farben aufgespart ... ... und das Intervall, das in der Musikgeschichte für das Böse schlechthin steht, den Tritonus, den «Diabolus in Musica». Die beiden Gibichungen sind sicherlich nicht besonders sympathische Zeitgenossen, aber immerhin haben sie eigentlich keine bösen Absichten und taumeln nahezu unschuldig in die Katastrophe. Hagen dagegen ist nicht einfach nur böse, sondern er versteht es auch, die Menschen in seiner Umgebung zu manipulieren, sie für seine Interessen zu missbrauchen. Das macht ihn so gefährlich. Die schaurigdüstere Aura, mit der seine Musik ihn umgibt, macht das sehr deutlich. Aber sie ist auch erfüllt vom Ausdruck tiefer Trauer und trostloser Einsamkeit. Das darf man nicht überhören: Hagen lebt nur, um seinem Vater den Ring zurückzuerobern. Er kennt keine Liebe und keine Freude. Sein Schicksal ist darum vielleicht noch schrecklicher als das der anderen Figuren. Auch er ist ein Opfer der zusammenbrechenden Welt, die Wotan gebaut hat.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Ein weiteres neues Element in der Götterdämmerung ist der Chor, der in oder am Vorstellungsabend im Foyer keinem der drei vorangehenden Teile vorkam ... Ja, Wagner führt hier eine Öffentlichkeit ein, die es so vorher nicht gab, was sicher auch mitOpernhauses Anlässen wie Hochzeit und Begräbnis zu tun hat, die ja des erwerben meist in irgendeiner Art von Öffentlichkeit stattfinden. Alle Figuren – insbe­ sondere Gunther, der in dieser Gesellschaft die politisch verantwortliche Figur ist – geraten dadurch unter einen starken Druck, der die Katastrophe zusätzlich befördert. Wichtiges Element von Hagens Intrige und Manipulation ist der Ver­gessenstrank, der Siegfried verabreicht wird, damit er Brünnhilde vergisst, die er ja für Gunther rauben soll; später dann bekommt er einen weiteren Trank, der seine Erinnerung zurückbringt. Wie ist diese zurückkehrende Erinnerung musikalisch gestaltet? Wagner ist Meister darin, mit Musik innerhalb weniger Takte, ja weniger Noten eine Atmosphäre, eine Situation zu schaffen. Hier erzählt nun die

23


Musik sehr präzise, wie Siegfried seine Erinnerung wiederfindet. Zunächst – noch vor dem Trank, der die Erinnerung vollständig zurückbringen wird – hören wir das Waldvöglein: Siegfried denkt daran, wie er den Drachen getötet und dessen Blut gekostet hat, das ihn den Gesang der Vögel ver­ stehen liess. Dann hilft Hagen nach, und mithilfe des neuen Tranks erinnert sich Siegfried dann auch an Brünnhilde. Schon kurz vorher erklingt im Orchester zart Brünnhildes Motiv. Durch verschiedene, äusserst instabile Tonarten – es scheint, als würde der Boden unter Siegfried wanken – landen wir schliesslich bei strahlendem A-Dur und den Klängen von Wotans Abschied aus dem Finale der Walküre: Der Nebel in Siegfrieds Kopf hat sich verzogen, die Erinnerung an Brünnhilde ist wieder vollkommen klar. In der Götterdämmerung gibt es zwei grosse Orchesterzwischenspiele, Siegfrieds Rheinfahrt und die Trauermusik... Wenn man diese beiden Zwischenspiele hört, fragt man sich wirklich, warum Wagner nie eine Sinfonie komponiert hat! Er hat die Imaginationskraft, nur durch seine Musik grosse Geschichten zu erzählen. Die Tondichtungen von Richard Strauss wären ohne Wagners Orchesterzwischenspiele nicht denkbar. Ist Siegfried Ihrer Meinung nach ein Held? Wie zeichnet ihn die Musik? Siegfried ist eine grösstenteils positive Gestalt, aber ein Held? Ich glaube nicht, dass man ihn so nennen kann. Zum Helden wird einer, wenn er sich für etwas aufopfert, was grösser ist als er selbst. Siegfried tut, genau betrachtet, gar nichts, was über seine persönlichen Interessen hinausgeht. Er ist sich nicht einmal der Macht des Rings bewusst; für ihn ist der Ring nur ein Liebes­ pfand, das er Brünnhilde übergibt. Siegfried hat keine Angst, aber auch kein Bewusstsein für das, was er tut. Es passiert ihm. Er ist zu naiv für die Welt, in die er am Hof der Gibichungen hineingerät, und kann deshalb von Hagen benutzt werden. Wenn er gar nicht der grosse Held ist, den es zu betrauern gilt – warum klingt dann die Trauermusik stellenweise so heroisch?

24


Sie klingt heroisch, weil sie eine verlorene Hoffnung betrauert – die Hoffnung, dass Siegfried derjenige sein wird, der die Dinge wieder ins Lot bringt, die seit dem Beginn des Rheingolds aus den Fugen sind. Das tut er nicht, und er ist für eine solche Aufgabe auch gar nicht geeignet. Aber seine fröhliche Naivität lässt die Hoffnung auf eine Welt aufkommen, in der so ein Vertrauen in das Gute nicht in den Untergang führt. Das ist nicht die Welt, wie sie gegenwärtig ist, und das betrauert diese Musik. Der letzte grosse Monolog gehört Brünnhilde – sie stürzt sich in die Flammen, und die Rheintöchter erhalten so den Ring zurück. Brünnhilde übernimmt – im Gegensatz zu Siegfried – Verantwortung. Schon in der Walküre hat sie ihrem Vater Wotan nicht gehorcht, sondern ist ihren eigenen Weg gegangen, ohne Wotans Strafe zu fürchten; nun opfert sie sich selbst, um den Ring zurückzugeben. Damit ist sie es, die das kaputte System zum Einsturz bringt. Und die Musik macht – wie gesagt – Hoffnung darauf, dass Brünnhildes Opfer nicht vergebens sein wird. Wagner hat sich ein Motiv, das gemeinhin Erlösungsmotiv genannt wird und zum ersten Mal in der Walküre erklingt, bis ganz zum Schluss aufgespart; im Siegfried erklingt es nie, und in der Götterdämmerung erst ganz am Schluss. Es taucht zum ersten Mal auf, wenn Sieglinde erfährt, dass sie schwanger ist; das weit ausschwingende, alles überstrahlende Motiv erklingt zu Sieglindes Worten «O hehrstes Wunder», drückt also das Glück der künftigen Mutterschaft aus. Dass es nun, am Schluss der Götterdämmerung, wieder erklingt, während Walhall brennt und der Rhein über die Ufer tritt, weist darauf hin, dass zwar die Götter untergehen, also das System kollabiert – aber etwas Neues kann beginnen: Die Musik spricht von Mutterschaft, mithin von Liebe und neuem Leben. Wie das Neue aussehen wird, erfahren wird nicht, aber in einem Punkt ist der Schluss eindeutig: Das Leben geht weiter, und so lange Leben ist, ist Hoffnung. Der Zusammenbruch der Götterherrschaft ist nicht das Ende.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Das Gespräch fürte Beate Breidenbach

25




UNTERGANG UND NEUBEGINN Torsten Meiwald

Walhalls Götter sind vergänglich; und anders als im ursprünglichen Entwurf des Nibelungenmythus, in dem ihre Vernichtung zwar droht, aber abgewendet werden kann, zeigt Wagner in der Endfassung tatsächlich ihren Untergang. Er nähert sich also in diesem entscheidenden Punkt seinen skandinavischen Quellen an, denn auch die Asen der Edda vergehen. Sie vergehen jedoch in ganz anderer Weise als die Ring-Götter. Ragnarök, der Untergang der Asen, wie die Snorra-Edda ihn zeigt, ist keine «Götterdäm­ merung», keine passive, widerstandslose Ergebung in das Unvermeidliche, son­ dern eine apokalyptische Endschlacht: Unter der Führung des Feuerriesen Surtur ziehen die Riesen, die alten Feinde der Götter, heran, unterstützt von der weltumspannenden Midgard­ schlange und anderen Monstern; vor ihrem Ansturm erbebt die Weltesche. Die Götter eilen mit den Einheriern (Walhalls untoten Kriegern) auf das Schlacht­ feld: «Voran reitet Odin; mit seinem Goldhelm, dem schönen Harnisch und dem Spiess Gungnir geht er Fenrers Wolf entgegen.» Die Schlacht wird in einer Reihe von Einzelkämpfen geschildert: Odin wird vom Fenriswolf verschlungen, aber von seinem Sohn Widar an der Bestie gerächt; der Kriegsgott Tyr und der Höllen­hund Garm töten einander, ebenso Thor und die Midgardschlange. Freyr, dem sein Schwert fehlt, unterliegt Surtur; und dieser setzt schliesslich die ganze Erde in Brand. Diese Schlacht spielt in der eddischen Mythologie eine zentrale Rolle. Viele Eddalieder handeln entweder direkt von ihr oder stellen Bezüge zu ihr her: Die Asen werden untergehen, und sie werden kämpfend untergehen, daran erinnert die Edda auf Schritt und Tritt. Wagners Götter dagegen gehen nicht kämpfend unter. Die Möglichkeit, den Konflikt mit Alberich militärisch auszutragen, scheint zwar zwischenzeitlich

28


auf – sie liegt Wotans Aufrüstungsplan zugrunde –, nimmt aber niemals reale Gestalt an, da dies der inneren Logik der Tetralogie widerspräche. Niemals wird Alberich Walhalls Höhen mit Hellas Heer erstürmen oder dies auch nur versu­ chen. Wotans Herrschaft zerbricht nicht an der Übermacht der Feinde, sondern an ihren inneren Widersprüchen, und daher wäre es ein irreführendes Bild, wenn feindliche Heerscharen – seien es nun Riesen oder Zwerge – die Götterburg erobern würden. Besiegt, im Kampf besiegt, ist Wotan ja ohnehin längst, und zwar nicht von äusseren Feinden, von Riesen oder Zwergen, sondern vom ei­ genen Enkel: «Vom eignen Geschlechte ward er geschlagen.» Speer und Macht sind dahin, wofür – und womit? – sollte Wotan noch kämpfen? Auch die Asen der Edda wissen, dass sie dem Untergang geweiht sind: Ihre Vernichtung wurde längst vorausgesagt, und der Verlauf der Schlacht steht seit Urzeiten fest. Sie kämpfen nicht, weil sie zu siegen hoffen. Der Unterschied zwi­schen dem eddischen Odin und Wagners Wotan liegt also nicht in ihrem Wissen, sondern in ihrem Wollen. Beide wissen, dass es mit ihnen zu Ende geht. Doch während Odin bis zuletzt um Leben und Macht kämpft, will Wotan schliesslich den eigenen Untergang. Was er in der Walküre noch im «wilden Schmerz der Verzweiflung» ausgerufen hat: «Nur eines will ich noch: das Ende – das Ende!»; was im Siegfried noch etwas fragwürdig euphorisch daherkommt: «Um der Götter Ende grämt mich die Angst nicht, seit mein Wunsch es – will!»; das ist zuletzt zu wirklicher Ergebung geworden. Wotan nimmt den Untergang nicht nur hin, sondern trägt selbst dazu bei: Er selbst lässt die Weltesche fällen und die Scheite in Walhalls Saal aufschichten, in die er den zehrenden Brand werfen wird. Die Vernichtung ist ihm Erlösung. Er hofft nicht mehr auf Restau­ ration seiner Macht, sondern wartet nur noch auf die Nachricht, dass der Ring vernichtet ist: Für den Gott bedeutet Erlösung, sich beruhigt aus der erlösten Welt zurückziehen zu dürfen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

«Götterdämmerung» – ein Missverständnis Auch wenn die Ring-Götter auf ganz andere Art untergehen, als die bis zuletzt kämpferischen Asen der Edda, ist auch ihr widerstandsloses Verdämmern nicht

29


ganz ohne eddische Bezüge. Diese schöpfte Wagner allerdings nicht aus dem Hauptstrom der Tradition, sondern aus einigen trüben Nebenarmen. Der Begriff «Götterdämmerung» verdankt sich einem Missverständnis. Das altnordische Wort für den Untergang der Asen, ragnarök, bedeutet «Götter­ schicksal». Schon in den alten Handschriften, namentlich der Snorra Edda, kommt daneben auch die Schreibweise ragnarökr vor. Dies aber bedeutet «Göt­ terfinsternis» oder «Götterdämmerung» (von anord. rökr, «Dunkelheit»). Der ältere und richtige Begriff, der auch viel besser zu den Umständen des Unter­ gangs der Asen passt, ist mit Sicherheit ragnarök; die Lesart ragnarökr geht vermutlich einfach auf Abschreibefehler zurück. Jacob Grimm jedoch, Wagners Hauptgewährsmann in mythologischen Dingen, sah zwischen den beiden Schreibweisen überhaupt keinen Bedeutungsunterschied und übersetzte nicht nur rökr, sondern – irrtümlich – auch rök mit «dunkelheit»: «Was die edda von Surtr und seinem kampf mit den Asen meldet ist schluss einer ausführlicheren vorstellung von dem ende der welt, dessen eintritt aldar rök gewöhnlich aber ragna rök oder ragna rökr heisst, d. i. dämmerung, verfinsterung der zeit und der waltenden götter. rök und rökr bedeutet dunkelheit […] ragnarök ist also götternacht, welche über alle, auch die höchsten wesen herannaht.» Hier fand Wagner also seine Götterdämmerung, und zwar als angeblich authentisch eddische Vorstellung. Er folgte diesem Irrtum Grimms umso lieber, als eine solche «verfinsterung» für seine Götter, die ja viel konsequenter als ihre eddischen Vorbilder als Wesen des Lichts gezeichnet sind, als die einzig passen­ de Art des Untergangs erscheinen musste.

Von der Restauration zum Untergang der Götterherrschaft Noch ein zweiter pseudoeddischer Einfluss auf die Idee der Götterdämmerung ist zu erwägen, diesmal nicht auf den Begriff, sondern auf die Vorstellung der passiv ihrem Ende entgegensehenden Götter selbst. Es gibt ein apokryphes Eddalied, Odins Rabenzauber, das nur in späten Papierhandschriften erhalten ist und von den meisten Experten als auf das 17. Jahrhundert zu datierende

30


Nachahmung der echten Eddalieder angesehen wird. Zu Wagners Zeit wurde das Lied jedoch noch überwiegend für echt angesehen und hoch geschätzt; und Wolfgang Golther nimmt an, dass es Wagners Darstellung des Götteruntergangs beeinflusst hat: «Ein inzwischen als unecht erkanntes Eddalied, das ein Isländer im 17. Jahr­hundert dichtete, hat wohl Wagner beeinflusst. Idun, das frische Grün, ist von der Esche in nächtige Täler gesunken. Im Laubfall ahnen die Götter ihr Ende. So sendet Odin seinen Raben aus und harrt sorgend seiner Rückkehr. Hier waltet dieselbe Stimmung, jenes herbstliche Niederschauern, das im musi­ kalischen Motiv der Götterdämmerung so sprechenden Ausdruck fand.» Liest man den Rabenzauber, so erscheint Golthers Annahme zwar nicht unbedingt zwingend, aber doch immerhin nachvollziehbar. Gekannt hat Wag­ ner das Lied wahrscheinlich, da es in der Tat in der Edda-Ausgabe Karl Simrocks enthalten ist. Simrocks Übersetzung erschien 1851 und machte schnell Furore. Wagner könnte den Rabenzauber also kennen gelernt haben, bevor er sich daran machte, sein ursprünglich ja mit der Restaurierung der Göttermacht schliessendes Drama zur mit ihrem Untergang endenden Tetralogie umzuge­ stalten, oder auch gerade während dieser kritischen Phase der Umarbeitung, was eine Beeinflussung noch wahrscheinlicher machen würde. – Inhaltlich ist ein solcher Einfluss, wie gesagt, kaum zwingend nachzuweisen, zumal Golther ja auch weniger auf konkretes Geschehen als auf die Stimmung abhebt, «jenes herbstliche Niederschauern». Jedenfalls erleben wir die Asen hier so resigniert und passiv wie sonst nie in der Edda; die rüstige Tatkraft, die sie sonst auszeich­ net, fehlt ganz. Auch wenn ein wirklicher Nachweis fehlt, ist es doch gut möglich, dass Wagner sein Bild der Götter, die, von Furcht und Sorge erfüllt, ihr Ende erwarten («Staunen und Bangen binden starr die Götter», wie Waltraute be­ richtet), in diesem apokryphen, aber stimmungsvollen Eddalied fand:

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Die Kräfte ermatten, ermüden die Arme, Schwindelnd wankt der weisse Schwertgott. Ohnmacht befällt sie in der eisigen Nachtluft, Die Sinne schwanken der ganzen Versammlung.

31


Paris in Flammen Wenn die Idee der Götterdämmerung, des passiven Vergehens der Götter, auch auf Missverständnisse und apokryphe Überlieferungen zurückgeht, heisst dies doch nicht, dass es zwischen Wagners Darstellung des Götterendes und der eigent­lichen eddischen Tradition keine Übereinstimmungen gäbe. Vielmehr berühren sich die beiden Schilderungen in einem wichtigen Punkt: Das Ende der Götter kommt durch das Feuer. Surtur, der Anführer des feindlichen Heeres, ist ein Feuerriese. Seine Ge­ folgsleute werden als «Muspels Söhne» bezeichnet. Muspel oder Muspelheim ist das Feuerreich am südlichen Ende der Welt, von dem es in der Snorra Edda heisst, es sei «hell und heiss, so flammend und brennend, dass kein Fremder, der dort keine Wohnung hat, es aushalten kann.» Surturs feuriges Wesen wird deutlich herausgestellt, bevor der Kampf mit den Asen geschildert wird: «Mus­ pels Söhne kommen reitend unter Surturs Anführung, der von Feuerflammen umgeben wird und dessen vortreffliches Schwert heller scheint als die Sonne.» Nachdem er Freyr besiegt hat, setzt Surtur die Erde in Brand, und das Feuer greift sogar auf den Himmel über: Es wütet die Glut gegen der Zeiten Ende, Es leckt die hohe Flamme gegen den Himmel selbst. So übersetzt Ettmüller die entsprechende Stelle der Völuspá; und diese Verse passen sehr gut zur «düstre[n] Glutwolke» über dem Scheiterhaufen und zum Bild des Himmelsbrandes am Schluss der Götterdämmerung. Simrocks Über­ setzung, die Wagner vermutlich ebenfalls kennen lernte, bevor er seine Götter­ dämmerung gestaltete, zeigt neben dem Himmel auch die Weltesche in Flammen: Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum, Die heisse Lohe beleckt den Himmel. Dieser Anregung ist Wagner ebenfalls gefolgt; auch im Ring verbrennt der Welt­ baum mit den Göttern, freilich in Form von Scheiten, in die er auf Wotans

32


Geheiss von Walhalls Helden geschlagen wurde, wie die zweite Norn berichtet. Die Ring-Götter vergehen also im Feuer, wie ihre eddischen Vorbilder. Doch auch diesmal ist im Irrtum, wer in der Übereinstimmung Quellentreue als Selbstzweck sehen möchte, als den Versuch, sich zumindest äusserlich an das eddische Geschehen anzulehnen oder den alten Mythus möglichst unverfälscht wiederzubeleben. Die Vorstellung vom Untergang der bestehenden Ordnung in einem verzehrenden Brand war vielmehr ein fester Bestandteil von Wagners utopisch-politischem Denken; das Ende des verhassten Systems erträumte er sich so: «wie wird es uns aber erscheinen, wenn das ungeheure Paris in schutt gebrannt ist, wenn der brandt von stadt zu stadt hinzieht, wir selbst endlich in wilder begeisterung diese unausmistbaren Augeasställe anzünden, um gesunde luft zu gewinnen? – Mit völligster besonnenheit und ohne allen schwindel ver­ sichere ich Dir, dass ich an keine andere revolution mehr glaube, als an die, die mit dem Niederbrande von Paris beginnt […] Sieh, wie einer wasserkur – um unsre leiber gesund zu machen, haben wir einer feuerkur nötig, um die uns umgebenden bedingungen unsrer krankheit zu heilen, d. h. zu vernichten.» – Das schrieb Wagner am 22. Oktober 1850, also mitten in der Ring-Zeit, an seinen Dresdner Freund Theodor Uhlig. Der grosse Brand am Ende einer überholten Ordnung gehörte also für den Revolutionär Wagner dazu – dass die Edda dieser Vorstellung entgegenkam, war ein grosser und in gewisser Weise unverdienter Glücksfall; denn als Wagner sich für seinen Stoff entschied, wollte er die Herrschaft der Götter ja nicht ver­ nichten, sondern restaurieren, war also auf ein vollständig anderes, zur eddischen Erzählung konträres Ende aus. Nachdem er sich aber darüber klar geworden war, dass Wotans Ordnung weder gerettet werden konnte noch durfte, konnte er sich des eddischen Bildes bedienen und gleichzeitig eine eigene Lieblingsidee gestalten.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Eine neue Welt Die Götterdämmerung steht am Ende von Wagners grosser Tetralogie, und sie bedeutet, wie der Name andeutet, das Ende der Götter. Aber sie ist nicht das Ende der Welt. Erda, die Erde, existiert weiter, und mit ihr die Nornen. Die

33


Rheintöchter überleben, und vielleicht sogar Alberich. Vor allem aber überleben Menschen: Gutrune, und die Männer und Frauen, die in höchster Ergriffenheit dem Brand Walhalls zuschauen. Viele Leben enden, aber das Leben geht weiter. Ähnlich ist es, im Grossen und Ganzen, auch in der Edda. Zwar ist hier im Zusammenhang mit Ragnarök gelegentlich vom Ende der Welt oder vom Ende der Zeit die Rede, und die Katastrophe erscheint viel umfassender. So sagt die Völuspá: Sonne wird schwarz, die Erde stürzt ins Meer, Es fallen vom Himmel die heitern Sterne. Dennoch bedeutet der grosse Brand auch hier nicht die endgültige Vernichtung der Welt und des Lebens – die Welt entsteht aufs Neue, wie es die Seherin er­ schaut: Da sieht sie auftauchen hinwiederum Die Erde aus dem Meere über und über grün. Es fallen die Gewässer, es fliegt der Adler über (ihnen), Der auf den Felsen Fische jagt. Sogar die Asen leben wieder, zumindest einige: Es finden sich die Asen in Idawellir, Und über den grossen Weltkampf sprechen sie. Ein goldenes Zeitalter beginnt, alte Schuld und alter Streit sind überwunden; der viel betrauerte Balder wird zu neuem Leben erweckt, versöhnt mit seinem Mörder: Es werden unbesäet die Fluren tragen, Alles Böse wird aufhören, Balldr wird kommen. Bewohnen werden Hauthr und Balldr Othins Wohnungen, Die durch Trug gefallenen Götter.

34


Die Götter kehren wieder – aber nicht alle. Hödur und Balder werden Odins Wohnungen bewohnen, nicht aber Odin selbst. Auch Thor, der Mächtigste nach Odin, kehrt nicht zurück, sondern nur seine Söhne, Modi und Magni. Jacob Grimm kommentiert dies so: «Unverkennbar zeigt diese darstellung, dass Ođinn und Thôrr, die hauptgötter des alten Asgarđ, nicht wieder erscheinen, sondern in ihren söhnen verjüngt werden.» Auch hier also geht die alte Ordnung unter, und Grimm interpretiert dies als sittlichen Fortschritt: «sie [die Söhne Muspels] und Surtr bewirken durch ihren kampf eine höhere weltordnung.» Auch im Ring erscheint der Untergang der Ordnung Wotans als richtig und notwendig. Was auf sie folgen wird, bleibt offen, und es spielt auch keine grosse Rolle – wichtig ist allein, dass der grosse Kreislauf des Werdens und Vergehens nicht endet. Sicher ist jedoch, dass es weiterhin Menschen geben wird. Das versichert uns auch die Snorra Edda, wo allerdings zunächst nur ein einziges Menschenpaar dem Weltbrand entgeht: «An einer Stelle Hominersholt verbargen sich unter dem Surtursbrand zwei Menschen, namens Lif und Lif­ thrasir, die sich statt der Speise vom Morgentau ernährten. Von ihnen stammt ein so grosses Geschlecht, dass der ganze Erdkreis bewohnt wird.» Für die Menschen geht es also weiter, in der Edda wie im Ring; doch während die Nachkommen Lifs und Lifthrasirs weiterhin zu Göttern aufschauen können, bleiben Wagners Menschen ohne Götter auf der Erde zurück. Die Zukunft liegt in ihren eigenen Händen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

35






BRÜNNHILDE BRINGT DAS PATRIARCHAT ZUM EINSTURZ Ein Gespräch mit Elisabeth Bronfen

Frau Bronfen, wir haben uns anlässlich der Walküre schon einmal über die Frauenfiguren in Richard Wagners Ring des Nibelungen unterhalten ... ... ja, und schon damals war ich sehr begeistert von Brünnhilde ... ... und nun möchte ich dieses Gespräch vor dem Hintergrund der Götter­ dämmerung fortsetzen. Brünnhilde ist ja von Siegfried aus dem Feuerring, in den ihr Vater Wotan sie verbannt hatte, befreit worden, und die beiden haben sich ineinander verliebt; sie könnten also eigentlich ein schönes Leben haben. Jetzt aber muss Siegfried zu neuen Taten auf­ brechen und lässt Brünnhilde allein zurück, drängt also die ehemalige Kriegerin in eine traditionelle, ganz im 19. Jahrhundert verankerte Frauenrolle ... Entscheidend ist: Wotan hat seine Lieblingstochter zur Strafe für ihre Rebellion nicht nur in den Feuerring verbannt, wo sie schlafend auf den Mann warten musste, der sie aufweckt; er hat ihr ausserdem noch ihre Göttlichkeit ge­­ nommen und sie aus dem Kreis der Göttinnen und Götter verstossen. Siegfried weckt die schlafende Frau auf – ein bekannter Topos, den wir zum Beispiel auch aus Dornröschen kennen –, und sie ist jetzt weder Kriegerin noch Göttin, sondern eine menschliche Frau. Und das einzige, was ihr geblieben ist, ist die Macht der Liebe. Auch dies ist ein bekannter Topos: Die Ver­ menschlichung einer Göttin hat durchaus etwas Positives, denn nur so kann sie die Liebe erfahren. Das wäre Brünnhildes Position. Siegfried hingegen ist einerseits Held, andererseits Tor. Er versteht vieles einfach nicht. Und er sieht Brünnhilde noch immer mit den Augen des Helden. Siegfried hat

40


diese Heldentat vollbracht, er hat diese besondere Frau erbeutet, er hat Ruhm erlangt, von dem die Gibichungen ja auch gehört haben. Aber für den Helden ist es nicht möglich, dauerhaft zuhause zu bleiben. In Hegels Notizen zum Krieg heisst es: Die Frauen kämpfen für das Partikulare, die Männer für das Allgemeine, Universelle. Ein Held zu sein, bedeutet: eine klare Zielposition zu haben. Siegfried hat sein Leben lang gehört: Du bist der Held, du wirst grosse Taten vollbringen. Etwas anderes kennt er nicht. Deshalb muss er wieder losziehen, und deshalb kann die Liebe zu Brünnhilde nicht von Dauer sein. Meiner Ansicht nach kann man Wagner so lesen, dass er den männlichen Helden desavouiert oder entzaubert, weil er zeigt: Er ist zur Realpolitik nicht fähig.

Das komplette Programmbuch Brünnhilde dagegen ist vollkommen von der Liebe zu Siegfried erfüllt... Ja, das ist das Traurige, aber auch das Grossartige an dieser Figur. Als ihre können Sie auf Schwester Waltraute sie anfleht, den Ring zurückzugegeben, weigert sich Brünnhilde, weil sie in diesem Ring einzig und allein Siegfrieds Liebespfand www.opernhaus.ch/shop sieht. Sie glaubt, Siegfried werde sich an seinen Schwur halten, und miss­ versteht ihn in gewisser Weise, weil sie den menschlichen und männlichen oder am Vorstellungsabend Helden nicht verstehen kann; das ist nicht Teil ihres Denkens. im Foyer Brünnhilde ja in der Abschiedsszene von Siegfried davon, dass sie des spricht Opernhauses erwerben ihm all ihr Wissen gegeben hat – aber er scheint dadurch nicht viel klüger geworden zu sein ... Nein, er kann damit nichts anfangen, er ist nicht lernfähig. Er bleibt genau so naiv und kindlich wie zuvor. Daraus können wir eigentlich nur schliessen: Diese Heldenkonzeption und gleichzeitig «wissend» zu sein – das schliesst sich in Wagners Denken aus. Was für ein Held ist denn Siegfried dann? Jedenfalls kein intellektueller, von innerer Motivation gesteuerter Held, sondern eher ein fremdgesteuerter Held, eben einer, der einer Weissagung folgt, und das tut er verhältnismässig treu, wenn wir an die Geschichte mit dem Schwert denken, das er schmiedet, und den Wurm, den er erlegt.

41


Am Hof der Gibichungen hat Hagen leichtes Spiel mit Siegfried – die Intrige geht auf. Man muss den Vergessenstrank, der Siegfried verabreicht wird, nicht wörtlich nehmen; man kann ihn auch verstehen als eine Form der Indoktrination. Siegfried ist so leicht verführbar, weil er so wenig eigenständiges Denken in sich hat. Bei anderen Leuten würde dieser Trank vielleicht gar nicht funk­ tionieren. In der Szene mit den Rheintöchtern sehen wir, dass Siegfried – obwohl er inzwischen Gutrune Treue geschworen hat – nicht so abgeneigt wäre, sich eine dieser Nymphen zu «zähmen» ... Genau. Möglicherweise hätte Siegfried auch ohne den Trank Brünnhilde vergessen. Das finde ich dramaturgisch sehr interessant: Siegfried vergisst, während Brünnhilde erinnert, sie hält an der Erinnerung – symbolisiert durch den Ring – ganz stark fest. Mir scheint das für diese spezifische Heldenkon­ zeption, die den Helden als Toren zeigt, wichtig zu sein, dass er Treue nicht kennt, dass er vergessen kann, dass seine Liebesobjekte willkürlich sind, weil sie alle durch die Brille des Kriegerischen gesehen werden. Dahinter steckt eine alte Idee: Der Mann muss die Frau erbeuten, und hat er sie dann erbeutet, ist sie uninteressant. Hagen geht also den genau richtigen Weg, indem er Siegfried mit seiner Halbschwester Gutrune verführt. Hagen ist der Politiker, der alle zu manipulieren versteht. Er ist zwar am Hof der Gibichungen der Aussenseiter, aber er hat das Wissen, das Siegfried fehlt. An Aussenseiterfiguren ist interessant, dass sie meistens zwei Sprachen sprechen – ihre eigene und die der anderen. So haben sie oft den besseren Blick. Gunther und Gutrune hingegen sprechen nur ihre eigene Sprache, sie sind völlig in ihrem Habitus gefangen. Hagen erkennt den Habitus als Habitus und kann sie verführen und manipulieren. Hagen ist sicher die interessantere, weil intellektuellere Figur als Siegfried. Seine Halbschwester Gutrune hat hingegen wenig Interessantes – sie ist eine eher dümmliche, sexuell gesteuerte Frau. Dazu kann man nur sagen: Das Patriarchat wird ja

42


nicht nur von Männern und Söhnen gestützt, sondern auch von Frauen wie Gutrune. Ist denn Siegfried immer noch Wotans Werkzeug? Ist er nicht der freie Held? Immerhin liegt nun eine Generation zwischen ihm und seinem Grossvater, nämlich Siegmund, und Siegfried ist es, der Wotans Speer zerstört ... Trotzdem ist Siegfried ein vom Göttersystem produzierter Held. Deshalb passt er auch – wenn man ihn nicht entzaubert, sondern veredelt – so gut in eine totalitäre Ideologie. Er ist ein leicht zu manipulierendes Werkzeug. Da ist keine Eigeninitiative, kein eigenes Interesse; er ist kein erwachsenes, mündiges Subjekt. Seine Eltern waren Zwillinge, Kinder Wotans – Siegfried ist nicht so frei, wie man meinen könnte, auch wenn er es ist, der Wotans Speer zerschlagen und Wotan zum Abtreten gezwungen hat.

Das komplette Programmbuch können Sie auf In der Götterdämmerung gibt es ein berühmtes Musikstück, den sogewww.opernhaus.ch/shop nannten Trauermarsch, der nach Siegfrieds Tod erklingt und von den Nazis missbraucht wurde – zum Beispiel, um die Soldaten, die in oder am beiVorstellungsabend der Schlacht Stalingrad gestorben waren, zu heroisieren; im auch Foyer als im Radio Hitlers Tod verkündet wurde, erklang dazu dieser Trauermarsch. Warum eignete Siegfried sich so sehr als Projektionsfigur für des Opernhauses erwerben den Totalitarismus? Weil er – aus der Distanz betrachtet – gehorsam, ohne eigenen Willen, einer Sache folgt. Er agiert wie eine fremdgesteuerte Maschine und ist extrem leicht zu manipulieren. Das ist, wie totalitäre Regierungen ihre Bevölkerung wollen: Sie sollen dem folgen, was ihnen erzählt wird, ohne selbst darüber nachzudenken. Im «Dritten Reich» hiess das dann eben auch: den Opfertod für diese Ideologie zu sterben. Siegfried wird geopfert, weil er das ausgeführt hat, was Wotan wollte; aus dieser Perspektive ist er einen Heldentod gestorben, der heroisiert werden kann. Aus der Perspektive von Brünnhilde ist sein Tod jedoch kein Opfertod, sondern ihre Vergeltung, die Strafe dafür, dass er sie betrogen hat. Man könnte es auch so sehen: Nachdem Siegfried Brünnhilde ausgebeutet und zum Objekt gemacht hat, dreht sie den Spiess

43


um und macht ihn zu dem Objekt, über dessen Leiche sie zu Wissen gelangt, was ihr dann erlaubt, diese grosse Geste zu vollführen, die aus einer absoluten Selbsterkenntnis kommt und aus der Notwendigkeit, zu handeln, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Damit sind wir wieder bei Brünnhilde ... Bevor sie am Schluss die Gerech­ tigkeit wieder herstellen kann, wird sie furchtbar erniedrigt. Sie kommt an den Hof der Gibichungen und sieht dort Siegfried wieder, der sie nicht mehr erkennt, weil er jetzt eine bessere Frau hat. Man denkt zwangsläufig an Geschichten mit Frauen aus anderen Ethnien – die sind schön, solange man in der Wüste ist, aber dann geht man in die Stadt, und dann heiratet man doch die Gräfin. Ein Narrativ des 19. Jahrhunderts. Brünnhilde steht ja zwischen Mensch und Göttin, sie hat etwas Monströses. Sie merkt, dass sie verschachert wurde, und noch dazu von Siegfried betrogen – er hat sie in der Gestalt eines anderen entführt. Das ist die Reduktion der Frau auf ein Tauschobjekt, ihre vollkommene Verdinglichung. Für sie, die Göttin und Kriegerin war, ein Absturz, wie er kaum tiefer sein könnte. Brünnhilde hält lange an der Liebe zu Siegfried fest, auch als er schon längst gegangen ist; erst als sie wirklich begreift, was gespielt wird, kippt ihre Liebe in Hass, ebenfalls ein typisches Narrativ des 19. Jahrhunderts. Das ist die gleiche Energie, die entweder Eros sein kann oder Thanatos. Ihre Rache bezieht sich sowohl auf den Ehemann als auch auf den Vater, denn sie setzt sich dafür ein, dass nicht nur Siegfried umgebracht werden kann, sondern dass auch Walhall zusammenstürzt. Brünnhilde ist – wie auch schon in der Walküre – die Figur des Widerstandes gegen das Patriarchat. Und das ist eine grosse Opfergeste als Antwort auf ihre Demütigung. Dieser Widerstand kann dann aber doch nur durch das Frauenopfer gelingen... Genau. Was sich Wagner nicht vorstellen kann, ist eine Transformation. In seinem Denken gibt es diesen Widerstand nur als eine grosse Katastrophe, als eine Auslöschung des Sytems. Es ist aber dennoch ein Unterschied, ob ich mich opfern lasse, wie das Siegfried tut, oder ob ich selbst das Opfer

44


annehme, mich also aktiv dafür entscheide. Im Denken des 19. Jahrhunderts ist es eine grosse Freiheitsgeste, sich – wie beispielsweise Antigone – um eines ethischen Aktes willen jenseits des Gesetzes zu positionieren. Brünnhilde begreift, dass sie den Rheintöchtern den Ring zurückgeben muss, denn der Raub des Rheingolds war der Ursprung des Elends, und das kann nur aufhören, wenn sie den Ring zurückgibt. Zuvor muss der Ring noch durch das Feuer vom Fluch gereinigt werden. Und das ist nur möglich, wenn auch Brünnhilde ins Feuer geht. Was wäre denn eine mögliche Transformation? Der Übergang in ein matriarchales System, ohne dass Brünnhilde sterben muss? Zum Beispiel. Aber dass Wagner sich das nicht vorstellen kann, sollten wir ihm als einem Menschen des 19. Jahrhunderts nicht zum Vorwurf machen. Immerhin stellt er sich den Untergang des Patriarchats vor. Im Grunde geht es uns heute gar nicht viel anders. Wir merken zwar: Unser kapitalistisches System ist kein gutes System. Das haben wir spätestens in der Pandemie gemerkt – was globale Vernetzung für unser Leben wirklich bedeutet, wie die globalen Verkehrswege zusammenhängen. Das wäre ein Moment gewesen, wo man den Kapitalismus hätte zurückfahren können. Aber das ist nicht passiert. Im Gegenteil. Das andere, was uns erschüttern müsste: Das Patriar­ chat, von dem ich gedacht hätte, wir wären es Endes des 20. Jahrhunderts losgeworden, übernimmt gerade wieder. Die ultrakonservativen Leute sind alte Männer, und wir werden auch nur durch alte Männer gerettet – Biden ist ein alter Mann. Wir sind also nicht viel weiter. Deshalb ist es so wichtig, sich mit Texten wie Wagner auseinanderzusetzen, anstatt zu sagen: Das ist alles veraltet, das brauchen wir nicht mehr. Es ist wichtig, sich daran abzuarbeiten, weil wir daher kommen, weil das ein Denken ist, das uns beeinflusst hat. Dann begreifen wir, wie nahe unsere Kultur diesem Denken noch immer ist.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Das Gespräch führte Beate Breidenbach

45






WAGNERS WEG ZUR EIGENEN SPRACHE Torsten Meiwald

Als Richard Wagner im Herbst 1848 begann, die Nibelungensage dramatisch zu bearbeiten, wusste er, dass er sich auf ein gewaltiges Unternehmen einliess. Der in jeder Hinsicht riesenhafte Stoff würde – das hatten frühere Versuche anderer Autoren gezeigt – nicht leicht für die Bühne zu formen sein, zumal für die Opernbühne. Andererseits konnte Wagner sich dieser Herausforderung selbstbewusst stellen; schliesslich verfügte er zu diesem Zeitpunkt als Librettist über einige Erfahrung und hatte bewiesen, dass er sich auf eine bühnenwirksa­ me Gestaltung komplexer Stoffe verstand. Von seinen eigenen Vertonungen selbst verfasster Texte hatten namentlich Rienzi und Tannhäuser grossen An­ klang gefunden, ebenso wie Bianca und Giuseppe, mit Wagners Text und der Musik von Johann Friedrich Kittl. Diese Erfolge des Librettisten Wagner sind gut nachvollziehbar, wenn man die Texte bis zum Lohengrin vor allem mit Blick auf ihren Inhalt und ihre szenische Struktur liest, denn sie zeichnen sich durch dramatische Schlagkraft, interessante Charaktere und vor allem durch klare, sorgfältig konstruierte Handlungsführung aus. Bezeichnenderweise kaufte die Pariser Oper Wagner 1841 für 500 Francs seinen kurz gefassten Prosaentwurf zum Fliegenden Holländer ab, also ein noch gar nicht in konkrete Reden und Verse gefasstes Szenarium, dessen Qualität einzig in der dramatischen Gliede­ rung des Geschehens lag. (Die Ausführung des Entwurfs übernahmen zwei französi­schen Librettisten, die Komposition Pierre-Louis Dietsch. Eine Einspie­ lung die­ses musikgeschichtlichen Kuriosums ist vor einigen Jahren auf CD er­ schienen.) Wagner war also mit fünfunddreissig Jahren ein bewährter, versierter Büh­ nenautor mit sicherem Blick für das dramatische Potenzial eines Sujets. Durch eine besonders poetische oder kunstvolle Sprache zeichneten sich seine bishe­ rigen Versuche allerdings nicht aus. Das war auch gar nicht beabsichtigt. Wie

50


Wagner selbst mit Bezug auf den Rienzi schreibt, verwandte er dort «durchaus noch keine grössere Sorgfalt auf Sprache und Vers, als es mir nötig schien, um einen guten, nicht trivialen Operntext zu liefern». Vor «sogenannten ‹schönen Versen und zierlichen Reimen›» empfand er einen regelrechten «Abscheu». So sind seine Verse (teils gereimt, teils reimlos) dann auch geraten, nämlich bestenfalls sprachlich unauffällig, allzu oft aber befremdlich. Das gilt nicht nur für den Rienzi (auch wenn dessen grossmäulige Rhetorik und hohles Pathos – «Oh, hör der Ehre Hochgebot!» – besonders schwer aufs Ohr fallen), sondern auch für Holländer und Tannhäuser, und noch im Lohengrin kann von «schönen Versen» kaum die Rede sein: «Oh, komplette habe Dank für so viel Güte!»Programmbuch Das «Der morgen nun mein Gatte heisst, anfleh’ ich sein liebreich Gemüte, können Sie auf dass Friedrich auch er Gnad’ erweist.» www.opernhaus.ch/shop Als einziges Stilprinzip ist das Bemühen erkennbar, sich von einer banalen All­ tagssprache abzusetzen, was jedoch zu einem eher verschrobenen als gehobenen oder imeinerseits Foyer Ton am führt. DieVorstellungsabend Einhaltung des Metrums wird oft durch Füllwörter («nun», «auch» etc.) und das Beschneiden der Endungen andererseits erreicht («anfleh’», trotzdem unterlaufen dem Autor rhythmisch fragwürdige des«Gnad’»); Opernhauses erwerben Verse («anfleh’ ich sein liebreich Gemüte»). Besonders wenig Glück hat Wagner mit seinen Reimen: nicht selten unrein («Tag» – «Schmach»), oft abgedroschen (immer wieder reimt sich «Lust» auf «Brust» und «Herz» auf «Schmerz»), und regelmässig durch unnatürlichen Satzbau oder skurrile Wortbildungen erzwun­ gen («… einst könne zeigen» – «… bliebe treueigen»). Bestenfalls lässt sich die sprachliche Form dieser Stücke als konventionell bezeichnen, was in Anbetracht des beklagenswerten Niveaus der meisten deutschsprachigen Operntexte im frühen 19. Jahrhundert (auch bei Gipfelwer­ ken wie Fidelio und Freischütz) freilich kein Kompliment ist. Mit der Ansicht, ein «tüchtiges Theaterstück», zumal ein zur Vertonung bestimmtes, bedürfe keiner besonders poetischen Sprache, stand Wagner ja keineswegs allein. Aus dieser allgemeinen Misere hätte ihm einzig ein intuitives Sprachgefühl heraus­

51


helfen können. Das war ihm jedoch nicht gegeben, wovon sich jeder durch einige Minuten Lektüre in den theoretischen Schriften des Meisters überzeugen kann. Deren überhitzte Rhetorik mit ihren inflationär gebrauchten Superlativen verrät regelmässig viel Enthusiasmus für den jeweiligen Gegenstand, aber wenig natürliches Sprachempfinden. Wagners Verse blieben also bis hierhin ganz konventionell – «die dichte­ri­ sche Sprache und der Vers oft noch des individuellen Gepräges bar», wie er es für den Holländer selbst eingestehen musste. Darüber hinaus sind sie oft er­ staun­lich unsanglich. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Warum setzt ein Dich­ ter-Komponist, der «alle Töne, alle charakteristischen Motive» stets von vorn­ herein «im Kopfe» hatte, ein solches Konsonanten-Ungetüm wie Dalands «Fast fürcht ich, wenn unentschlossen ich bleib» nicht nur überhaupt in die Welt, sondern auch noch auf so kleine Noten, dass nur die zungenfertigsten Bassisten nicht ins Schleudern geraten? Warum stellt der Autor, noch dazu an besonders prominenter Stelle («Nie sollst du mich befragen»), den Sänger des Lohengrin vor die unerfreuliche Alternative, die Worte «sollst du» entweder pedantisch voneinander abzusetzen oder aber zu «sollsdu» (oder «sollstu») einzuebnen, und präsentiert ihm gleich im nächsten Vers noch ein ganz ähnliches Problem («Wissens Sorge»)? Man kann also noch nicht einmal sagen, dass Wagners Operntexte bis zum Lohengrin durch besondere Sanglichkeit wettmachen, was ihnen an sprachlicher Qualität abgeht. Doch die Erlösung war nahe, und sie kam aus einer unerwarteten Richtung: nicht aus dem Süden, dem Italien der grossen Librettisten Metastasio und da Ponte, auch nicht aus dem Westen, dem Frank­ reich Eugène Scribes – sondern aus dem hohen Norden. Als Wagner sein Nibelungen-Drama in Angriff nahm, stand schnell fest, dass nicht das höfisch-hochmittelalterliche Nibelungenlied den Bezugsrahmen ab­ geben würde. Zugleich fühlte er die «Unmöglichkeit oder mindestens die voll­ ständige Ungeeignetheit davon, diese Dichtung im modernen Verse aus­zu­füh­ ren», wie er in der Mitteilung an meine Freunde schreibt. Zum Glück musste er nach einem besser passenden Vers nicht weit suchen. Er fand ihn dort, wo er auch seinen «jugendlich schönen Siegfriedmenschen» antraf, nämlich in der Edda. «Es war dies der nach dem wirklichen Sprachakzente zur natürlichsten und lebendigsten Rhythmik sich fügende, zur unendlich mannigfaltigsten Kund­

52


gebung jederzeit leicht sich befähigende stabgereimte Vers, in welchem einst das Volk selbst dichtete, als es eben noch Dichter und Mythenschöpfer war.» (Dieser Satz mag hier übrigens als instruktives Beispiel für Wagners oben er­ wähnten Prosastil gelten.) Nun ist der Stabreim in der Tat die typische Reimform der Edda und der altgermanischen Versdichtung überhaupt; dem modernen deutschen Publikum war und ist er jedoch kaum vertraut. Wenn wir «Reim» sagen, meinen wir den Endreim. Lediglich das Prinzip der Alliteration ist in zahlreichen Redewendun­ gen, vor allem den sogenannten «Zwillingsformeln», in unserer Alltagssprache nach wie vor lebendig: Mann und Maus, klipp und klar, Kind und Kegel. Wirk­ liche Stabreimdichtung jedoch, bei der die Alliterationen systematisch und nach festen Regeln den gesamten Text strukturieren, indem die am stärksten beton­ ten Silben der Verse durch gleiche Anlaute verbunden werden, spielt in der deutschen Literatur seit über tausend Jahren so gut wie keine Rolle mehr. Wer im 19. Jahrhundert einen Dramentext in Stabreimen verfasste und diesen dann auch noch singen liess, mutete dem Publikum also etwas ganz Fremdartiges zu. Wagner entschloss sich dennoch, Siegfrieds Tod in Stabreimen auszuführen; und zwar ausschliesslich und nicht nur teilweise wie Friedrich de la Motte Fou­ qués Sigurd (vgl. meinen Aufsatz im Programmheft zum Rheingold). Dieser Entschluss war – trotz allem Spott und allen Parodien, die er dem Ring-Dich­ ter eingetragen hat – einer der glücklichsten in einem an glücklichen Entschlüs­ sen reichen Künstlerleben. Er machte aus einem Verfasser praktikabler Opern­ texte den dramatischen Dichter Richard Wagner. Zunächst einmal zwang die Entscheidung für den Stabreim Wagner, sich überhaupt einmal bewusst mit der (deutschen) Sprache auseinanderzusetzen, mit ihrer Struktur und ihren Regeln, aber auch mit ihrem Klang, ihren Lauten, ihrem Rhythmus, kurz ihrer sinnlichen Seite. Allein das war schon viel wert, und Wagner besorgte diese Auseinandersetzung sehr gründlich, wie seine Schrift Oper und Drama bezeugt. Das durch diese gründliche Reflexion erworbene neue Sprachbewusstsein zeigt sich in der Ring-Dichtung auf Schritt und Tritt: durch eine viel grössere Rücksicht auf den inneren Rhythmus der Wörter und Sätze (etwa bei der rhythmischen Auflösung von dreisilbigen Komposita wie «Riesenheim» einerseits und «Brünnhilde» andererseits), aber auch durch ein

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

53


ganz anderes Gespür für den Klang der Vokale. Man beachte etwa, wie Wagner die betonten Vokale in den Namen «Siegmund» und «Hunding», das strahlen­ de I und das dumpfe U, zur klanglichen Charakterisierung nutzt, oder wie Siegfrieds und Brünnhildes Speereid («Helle Wehr») durch die vielen hellen Vokale besondere Schärfe bekommt. Ferner war der Stabreimvers, jedenfalls für das Nibelungen-Drama, wirklich die passende Wahl, denn die Argumente, mit denen Wagner sie in der Mitteilung sowie in Oper und Drama begründet, sind klug und richtig. Es stimmt, dass der Stabreim die in den germanischen Sprachen ursprüngliche Reimform ist, und zwar nicht zufällig, sondern weil er das Verständnis des Gesagten unterstützt, indem er die Aufmerksamkeit auf die Stammsilben der wichtigsten Wörter (die «Sprachwurzeln», wie Wagner sie nennt) lenkt. Die im Deutschen so dicht gesäten Konsonanten und Konsonantenballungen werden dann nicht mehr als Hindernisse und Stolpersteine wahrgenommen, sondern als Sinn-Träger. Der Stabreim ist zudem geeignet, Verwandtschaft zwischen Wörtern aufzudecken (z. B. «brünstig» und «brennen»). Der «phantastische Trug der Endreime» fällt dagegen oft auf unbedeutende Silben und verbindet zudem leicht, was ausser dem zufälligen Gleichklang der Endsilben nichts gemein hat. Damit schafft er dem Humoristen tausend goldene Möglichkeiten, dem ernsthaften Dichter aber tausend Fallstricke, in die auch Wagner immer wieder geraten war (nicht nur mit dem berüchtigten Spott-Vers am Ende des Tannhäuser: «Hoch über aller Welt ist Gott, und sein Erbarmen ist kein Spott!»). Der Stabreimvers unterstützt also den Sinn; und ausserdem ist er – jeden­ falls in der Form, in der Wagner ihn kennen lernte – äusserst flexibel. Es gibt in der altnordischen Literatur zwar auch sehr rigide Vers- und Strophenformen, aber die beiden Versmasse der Edda, Fornyrðislag und Ljóðaháttr, schreiben, bei freier Silbenfüllung, nur die Zahl der Akzente pro Zeile und die Position der «Stäbe» vor. Wagner legte im Laufe der Arbeit am Ring diese ohnehin schon lockeren Regeln (von denen auch in den Quellen gelegentlich Abweichungen vorkommen) immer weiter aus, kombinierte zweihebige und dreihebige Verse («Kurzzeilen» und «Vollzeilen») frei und setzte die «Stäbe», also die alliterieren­ den Anlaute, mal lockerer, mal dichter, so dass ihm am Ende geradezu die Qua­ ­dratur des Kreises gelang: eine rhythmisch vollkommen freie und gleichzeitig

54


durch eine in jedem Moment spürbare Struktur gebundene Sprache. Sie bildete das perfekte Pendant zur (nicht von Wagner selbst) sogenannten «Leitmotiv­ technik», auf die zu sich Wagner als Komponist vom Holländer bis zum Lohen­ grin stetig entwickelt hatte. Auch diese Technik ermöglicht ja rhythmische Freiheit, ohne dass die Musik formlos erschiene, da sie nicht durch Phrasen genormter Länge (z. B. vier- oder achttaktig), sondern durch das Gewebe der Leitmotive strukturiert wird, dem auf der Ebene der Sprache das Gewebe der Stabreime ideal entspricht. Wagner gewann also ein neues Sprachbewusstsein und seine charakteristi­ sche «Wort-Tonsprache», die es ihm ermöglichte, dem natürlichen Sprachrhyth­ mus zu folgen. Manche Verse übernahm er praktisch wörtlich aus den Quellen (z. B. Fafners «Du helläugiger Knabe»), aber vielfach illustrieren seine Stabreime Situationen und Charaktere in einer Weise, welche die Dichter der Eddalieder sich kaum hätten träumen lassen. So braucht etwa der Sänger des Alberich die vielen N-Anlaute seiner ersten Rede («He he! Ihr Nicker …») nur minimal zu stauen, um den Eindruck eines unbeholfenen Stammelns zu erzeugen, im Ge­ gensatz zu den geschmeidig strömenden Gesängen der Rheintöchter. (Übrigens ist es natürlich kein Zufall, dass in der ersten Rheingold-Szene die Stabreime so auffällig dicht gesetzt sind: Der Autor muss dem Publikum zunächst einmal so deutlich wie möglich demonstrieren, und tatsächlich bewusst machen, nach welchem Prinzip hier gereimt wird.) Noch etwas konnte Wagner aus der Edda und anderen altnordischen Tex­ ten lernen. In vielen dieser Texte dominiert eine knappe, gedrängte Ausdrucks­ weise, begünstigt durch die altnordische Sprache selbst, die kaum Vor- und Nachsilben kennt, Pronomen in Verbformen integriert und generell denselben Sachverhalt fast immer kürzer ausdrückt als das Deutsche. Diese Eigenschaft macht eine poetische Übertragung der Eddalieder ins Deutsche schwierig (man braucht einfach mehr Silben als im Original), war aber ein heilsames Mittel gegen Wagners Vorliebe für lange Wörter und komplizierte Sätze. Natürlich gibt es auch im Ring lange und sehr lange Reden, aber kaum noch aus dem Ruder laufende Sätze. Nun verfügt Wagner auch über das Mittel der lakonischen Kürze, sehr effektiv eingesetzt etwa zur Charakterisierung des Drachen Fafner («Was ist da?» … «Hast du Übermut?» etc.).

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

55


Die Ring-Sprache hebt sich also in vielerlei Hinsicht positiv von der Sprache der früheren Werke ab. Sie ist kräftig und prägnant, voll rhetorischer Schlagkraft und dabei bis ins kleinste Detail sorgfältig gestaltet. Sie verrät eine stupende Vertrautheit des Autors mit der altnordischen Dichtung und konstituiert ein kohärentes Milieu. Ihr Klang dient stets dem Sinn. Sie gibt dem Komponisten volle Freiheit und verbindet sich in bislang unerhörter Weise mit der Musik. Die Gleichgültigkeit des Rienzi-Textautors ist einem umfassenden Gestaltungs­ willen gewichen. Von Wagners neuem Sprach-Bewusstsein profitierten auch seine nach dem Ring-Text entstandenen Dichtungen: der Tristan, in dem der Stabreim nur noch ein Mittel von mehreren ist; die Meistersinger, in denen der Autor das komische Potential des Endreims nun bewusst ausbeutet; und schliesslich der Parsifal, in dem kaum noch ein formales Prinzip spürbar ist und doch eine bemerkens­ werte Einheit des Tons herrscht. Das «individuelle Gepräge» von Sprache und Vers, das Wagner selbst an der Holländer-Dichtung noch vermisste, ist nun überall präsent. Als letzter unerfüllter Rest bleibt an Wagners späten Dramentexten einzig zu kritisieren, dass sie sich kaum einmal zu natürlicher, selbstverständlicher Schönheit aufschwingen, zu wirklicher, inspirierter Poesie. Wagners Errungen­ schaften als Wort-Künstler sind enorm, aber sie bleiben eben Errungenschaften, Früchte der Reflexion, nicht der Inspiration. Nun ist Genie zwar, nach Thomas Edison, nur ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration, aber dieses eine Prozent musste auch bei den späten Werken der Ton-Künstler Richard Wagner beisteuern. Das schmälert jedoch nicht den Wert der Texte, die mit ihrer rhythmischen Flexibilität der Musik erst den Weg zur letzten Freiheit eröffneten.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

56










GÖTTERDÄMMERUNG RICHARD WAGNER (1813-1883) Dritter Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen» Dichtung von Richard Wagner

Siegfried Tenor Gunther hoher Bass Hagen tiefer Bass Alberich hoher Bass Brünnhilde Sopran Gutrune Sopran Waltraute tiefer Sopran Erste Norn Alt Zweite Norn tiefer Sopran Dritte Norn Sopran Woglinde Sopran Wellgunde tiefer Sopran Flosshilde Alt Vorspiel: Auf dem Walkürenfelsen Erster Aufzug: Halle der Gibichungen am Rhein – Die Felsenhöhle (wie im Vorspiel) Zweiter Aufzug: Uferraum vor der Halle der Gibichungen Dritter Aufzug: Wildes Wald- und Felsental am Rhein – Die Halle der Gibichungen


VORSPIEL Auf dem Walkürenfelsen. Die Szene ist dieselbe wie am Schlusse des zweiten Tages. Nacht. Aus der Tiefe des Hintergrundes leuchtet Feuerschein. Die drei Nornen, hohe Frauengestalten in langen, dunklen und schleierartigen Faltengewändern. Die erste (älteste) lagert im Vordergrunde rechts unter der breitästigen Tanne; die zweite (jüngere) ist an einer Steinbank vor dem Felsengemache hingestreckt; die dritte (jüngste) sitzt in der Mitte des Hintergrundes auf einem Felssteine des Höhensaumes. Eine Zeitlang herrscht düsteres Schweigen. DIE ERSTE NORN ohne sich zu bewegen

Welch Licht leuchtet dort? DIE ZWEITE NORN

Dämmert der Tag schon auf? DIE DRITTE NORN

Loges Heer lodert feurig um den Fels. Noch ist’s Nacht. Was spinnen und singen wir nicht? DIE ZWEITE NORN zu der ersten

Wollen wir spinnen und singen, woran spannst du das Seil? DIE ERSTE NORN erhebt sich, während sie ein goldenes Seil von sich löst und mit dem einen Ende es an einen Ast der Tanne knüpft

So gut und schlimm es geh’, schling’ ich das Seil und singe. An der Weltesche wob ich einst, da gross und stark dem Stamm entgrünte weihlicher Äste Wald. Im kühlen Schatten rauscht’ ein Quell, Weisheit raunend rann sein Gewell’; da sang ich heil’gen Sinn. Ein kühner Gott trat zum Trunk an den Quell; seiner Augen eines zahlt’ er als ewigen Zoll. Von der Weltesche brach da Wotan einen Ast; eines Speeres Schaft entschnitt der Starke dem Stamm.

In langer Zeiten Lauf zehrte die Wunde den Wald; falb fielen die Blätter, dürr darbte der Baum, traurig versiegte des Quelles Trank: trüben Sinnes ward mein Gesang. Doch, web’ ich heut’ an der Weltesche nicht mehr, muss mir die Tanne taugen zu fesseln das Seil: singe, Schwester, – dir werf’ ich’s zu. Weisst du, wie das wird? DIE ZWEITE NORN windet das zugeworfene Seil um einen hervorspringenden Felsstein am Eingange des Gemaches

Treu beratner Verträge Runen schnitt Wotan in des Speeres Schaft: den hielt er als Haft der Welt. Ein kühner Held zerhieb im Kampfe den Speer; in Trümmer sprang der Verträge heiliger Haft. Da hiess Wotan Walhalls Helden der Weltesche welkes Geäst mit dem Stamm in Stücke zu fällen. Die Esche sank; ewig versiegte der Quell! Fessle ich heut’ an den scharfen Fels das Seil: singe, Schwester, – dir werf’ ich’s zu. Weisst du, wie das wird? DIE DRITTE NORN das Seil auffangend und dessen Ende hinter sich werfend

Es ragt die Burg, von Riesen gebaut: mit der Götter und Helden heiliger Sippe sitzt dort Wotan im Saal. Gehau’ner Scheite hohe Schicht ragt zuhauf rings um die Halle: die Weltesche war dies einst! Brennt das Holz heilig brünstig und hell, sengt die Glut sehrend den glänzenden Saal: der ewigen Götter Ende dämmert ewig da auf. Wisset ihr noch, so windet von neuem das Seil; von Norden wieder werf’ ich’s dir nach. Sie wirft das Seil der zweiten Norn zu.


DIE ZWEITE NORN schwingt das Seil der ersten hin, die es vom Zweige löst und es an einen andern Ast wieder anknüpft

das Rheingold raubte Alberich einst: weisst du, was aus ihm ward?

Spinne, Schwester, und singe!

DIE ZWEITE NORN mit mühevoller Hand das Seil um den zackigen Stein des Gemaches windend

DIE ERSTE NORN nach hinten blickend

Dämmert der Tag? Oder leuchtet die Lohe? Getrübt trügt sich mein Blick; nicht hell eracht’ ich das heilig Alte, da Loge einst entbrannte in lichter Brunst. Weisst du, was aus ihm ward? DIE ZWEITE NORN das zugeworfene Seil wieder um den Stein windend

Des Steines Schärfe schnitt in das Seil; nicht fest spannt mehr der Fäden Gespinst; verwirrt ist das Geweb’. Aus Not und Neid ragt mir des Niblungen Ring: ein rächender Fluch nagt meiner Fäden Geflecht. Weisst du, was daraus wird? DIE DRITTE NORN das zugeworfene Seil hastig fassend

Durch des Speeres Zauber zähmte ihn Wotan; Räte raunt’ er dem Gott. An des Schaftes Runen, frei sich zu raten, nagte zehrend sein Zahn: da, mit des Speeres zwingender Spitze bannte ihn Wotan, Brünnhildes Fels zu umbrennen. Weisst du, was aus ihm wird?

Zu locker das Seil, mir langt es nicht. Soll ich nach Norden neigen das Ende, straffer sei es gestreckt!

DIE DRITTE NORN das zugeschwungene Seil wieder hinter sich werfend

Erschreckt sind die drei Nornen aufgefahren und nach der Mitte der Bühne zusammengetreten: sie fassen die Stücke des zerrissenen Seiles und binden damit ihre Leiber aneinander.

Sie zieht gewaltsam das Seil an: dieses reisst in der Mitte.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Des zerschlagnen Speeres stechende Splitter taucht einst Wotan dem Brünstigen tief in die Brust: zehrender Brand zündet da auf; den wirft der Gott in der Weltesche zuhauf geschichtete Scheite.

Sie wirft das Seil zurück, die zweite Norn windet es auf und wirft es der ersten wieder zu. DIE ZWEITE NORN

Wollt ihr wissen, wann das wird? Schwinget, Schwestern, das Seil! DIE ERSTE NORN das Seil von neuem anknüpfend

Die Nacht weicht, nichts mehr gewahr’ ich: des Seiles Fäden find’ ich nicht mehr; verflochten ist das Geflecht. Ein wüstes Gesicht wirrt mir wütend den Sinn:

Es riss!

DIE ZWEITE NORN

Es riss!

DIE ERSTE NORN

Es riss!

DIE DREI NORNEN

Zu End’ ewiges Wissen! Der Welt melden Weise nichts mehr. Hinab! Zur Mutter! Hinab! Sie verschwinden. Tagesgrauen. Wachsende Morgenröte, immer schwächeres Leuchten des Feuerscheines aus der Tiefe. – Sonnenaufgang – Heller Tag. Siegfried und Brünnhilde treten aus dem Steingemache auf. Siegfried ist in vollen Waffen, Brünnhilde führt ihr Ross am Zaume. BRÜNNHILDE

Zu neuen Taten, teurer Helde, wie liebt’ ich dich, liess ich dich nicht? Ein einzig’ Sorgen lässt mich säumen: dass dir zu wenig mein Wert gewann!


Programmheft GÖTTERDÄMMERUNG

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Richard Wagner (1813-1883)

Dritter Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen» Premiere am 5. November 2023, Spielzeit 2023 / 24 Herausgeber

Opernhaus Zürich

Intendant

Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

Beate Breidenbach, Werner Hintze Carole Bolli

Titelseite Visual

François Berthoud

Anzeigenverkauf

Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch Schriftkonzept und Logo Druck

Textnachweise: Die Handlung, die Gespräche mit Andreas Homoki, Gianandrea Noseda und Elisabeth Bronfen sowie der Beitrag «Wagners Weg zur eigenen Sprache» sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Torsten Meiwald, Untergang und Neubeginn, in: ders., Randbemerkungen zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen». Westerstede 2015. Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 24. und 25. Oktober 2023. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.

Studio Geissbühler Fineprint AG


RING-ZIRKEL Ein spezieller Dank gilt den Mitgliedern des Ring-Zirkels, die den Entstehungsprozess der Neuproduktion «Götterdämmerung» begleitet haben und grosszügig unterstützen. Marianne und Peter Angehrn Brigitta Blangey Michael Blank Prof. Dr. Mario Colombo-Benkmann Barbara Custer Rückl Marcela Flores Heusler und Dr. Andreas Heusler Frédéric Gastaldo Andreas Guldin Malcolm Herring Dr. Petra Jantzer und Dr. Siegfried Borelli Dr. Alexander Konviz Agneta und Clemens Lansing Heidi Mattes und Thomas Held Heidi Müller Madeleine Müller Brian Muirhead Janina Nitsch und Prof. Roger Nitsch Dr. Martin Petry Martina Porten-Dengg Elisabeth Schaller Dr. Isa Scheunpflug-Hubmann und Michael J. Hubmann Christine Spörri Bühler und Peter Bühler Andreas Thies Madlen und Thomas von Stockar Jacqueline Weder und Prof. Walter Weder


Ich fühle mich als Teil der Opernfamilie. Direkt nach der Arbeit zur Opernprobe, den ganzen Tag habe ich mich darauf gefreut!

Claire Rochat, seit 12 Jahren dabei

? m u r a w um! r a d

Reto Luginbühl, seit 6 Jahren dabei, zur Bühnenprobe «Il trovatore»

Welch ein Privileg! Fabienne Bläsli, seit 3 Jahren dabei

Nach seinem Bühnentod gemeinsam mit ihm anzustossen, war witzig! Ingrid Bödeli, Seit 9 Jahren dabei, zum Treffen mit Jochanaan nach der Bühnenprobe «Salome»

Der Besuch der Generalproben ist ein fester Bestandteil meiner Agenda. Ich sehe die neuen Produktionen vor allen anderen. Markus Bertold, seit 12 Jahren dabei

www.opernfreunde.ch


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden, Obwalden und Schwyz. PARTNER

PRODUKTIONSSPONSOREN AMAG Atto primo

Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

Clariant Foundation PROJEKTSPONSOREN René und Susanne Braginsky-Stiftung Freunde des Balletts Zürich

Georg und Bertha Schwyzer-Winiker Stiftung Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung

Ernst Göhner Stiftung

Swiss Life

Hans Imholz-Stiftung

Swiss Re

Max Kohler Stiftung

Zürcher Kantonalbank

Kühne-Stiftung GÖNNERINNEN UND GÖNNER Art Mentor Foundation Lucerne Josef und Pirkko Ackermann Alfons’ Blumenmarkt

Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG Landis & Gyr Stiftung

Familie Thomas Bär

Die Mobiliar

Bergos Privatbank

Fondation Les Mûrons

Margot Bodmer Elektro Compagnoni AG Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung

Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung StockArt – Stiftung für Musik Else von Sick Stiftung Ernst von Siemens Musikstiftung Elisabeth Weber-Stiftung

FÖRDERINNEN UND FÖRDERER CORAL STUDIO SA Theodor und Constantin Davidoff Stiftung Dr. Samuel Ehrhardt Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Garmin Switzerland Elisabeth K. Gates Foundation

Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen Irith Rappaport Luzius R. Sprüngli Madlen und Thomas von Stockar


CHANEL .COM

SOME ENCOUNTERS YOU WEAR FOREVER. RINGE, OHRRINGE UND COCO ARMBÄNDER IN BEIGEGOLD, WEISSGOLD UND MIT DIAMANTEN.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.