Hänsel und Gretel

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HÄNSEL UND GRETEL

ENGELBERT HUMPER DINCK


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HÄNSEL UND GRETEL Märchenoper in drei Bildern von Engelbert Humperdinck (1854-1921)

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HANDLUNG Erstes Bild Hänsel und Gretel leben in ärmlichen Verhältnissen. Während die Eltern ihrem Beruf nachgehen, sollen sie zuhause arbeiten. Stattdessen albern sie herum und tanzen. In ihrer Wut über die beiden Faulpelze zerschlägt die Mutter den Topf mit dem letzten Essensrest. Sie schickt die Kinder aus dem Haus, damit sie Nahrung suchen. Der Vater kommt betrunken nach Hause. Doch sein Geschäft war erfolgreich, und er bringt einen Sack voller Lebensmittel mit. Als er erfährt, dass die Kinder alleine unterwegs sind, ist er besorgt: Er erzählt eine schaurige Geschichte von einer Hexe, die dort draussen Kinder bäckt und frisst. Die Eltern machen sich auf, um ihre Kinder zu suchen.

Zweites Bild Auf der Suche nach etwas Essbarem verlaufen sich Hänsel und Gretel. Ihr anfänglicher Übermut schlägt in Angst um, als plötzlich unheimliche Gestalten aus dem Dunkel erscheinen. Das Sandmännchen beruhigt sie. Die Geschwister beten den Abendsegen, schlafen ein und haben einen schönen Traum.

Drittes Bild Das Taumännchen weckt Hänsel und Gretel auf. Doch die beiden Kinder trauen ihren Augen kaum: Unvermittelt finden sie sich in einer prachtvollen Welt wieder, die sie so noch nie gesehen haben: Es duftet nach Essen, und lauter Köstlichkeiten verlocken die Kinder. Doch auf einmal werden sie von der Hexe Rosine Leckermaul überrascht. Sie will Hänsel mit Süssigkeiten mästen und die beiden Kinder anschliessend in ihrem riesigen Ofen backen und verspeisen. Doch Gretel überlistet die Hexe und stösst sie in den Ofen. Hänsel und Gretel erlösen eine Schar Kinder, die von der Hexe gefangen gehalten wurde, und finden ihre Eltern wieder.


ES GEHT UM DAS LEBEN IN SOZIALER NOT Robert Carsen versetzt Humperdincks Märchenoper in die Weihnachtszeit. Dem harten Alltag von Hänsel und Gretel setzt er eine gefährlich verlockende Traumwelt entgegen Herr Carsen, Hänsel und Gretel ist eines der bekanntesten Märchen über­haupt. Im deutschsprachigen Raum kennen es die meisten Kinder in der Fassung der Brüder Grimm. Sind auch Sie seit der Kindheit damit vertraut? Ja, die Märchen der Brüder Grimm sind in der gesamten westlichen Welt sehr verbreitet, auch in Kanada, wo ich auf­ge­wachsen bin. Die älteste Erinnerung, die ich an diese Geschichten habe, ist, dass sie mir jemand vorgelesen hat. Und da diese Zeit noch nicht vom Internet und Fernsehen geprägt war, mach­ten diese Texte und die damit verbundenen Vorstellungen grossen Eindruck auf mich. Humperdincks Hänsel und Gretel war übrigens das erste Stück, das ich je auf einer Bühne gesehen habe – und auch eines der ersten Werke, die ich in einem professionellen Rahmen inszeniert habe. Aber ich bin froh, dass ich das Stück, das ich sehr schätze, nun aus einer neuen Perspek­tive noch einmal auf die Bühne bringen darf. Ich hoffe sehr, dass ich mein Handwerk heute besser beherrsche als damals... Engelbert Humperdinck schuf mit Hänsel und Gretel die erste und gleichzeitig die erfolgreichste Mär­chen­oper überhaupt. Das Werk wird traditionellerweise von Kindern und Erwachsenen besucht. Welche be­sonderen Anforderungen stellt diese Gattung an den Regisseur? Die Gattung ist für mich nicht so entscheidend. Ich finde, dass man überhaupt für jedes Werk ein eigenes Universum kreieren muss. Bei Hänsel und Gretel ist es mir wichtig, die schwieri­ge Situation deutlich zu machen, in der sich die beiden Geschwister und ihre Eltern befinden. Sie besitzen nichts:

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keine richtige Wohnung, kein Geld und nichts zu essen. In der Fassung der Brüder Grimm hören Hänsel und Gretel nachts, wie die Mutter dem Vater den Plan unterbreitet, die Kinder im Wald auszusetzen und sie verhungern zu lassen. Aber auch in Humperdincks Oper ist diese Not sehr greifbar. Schon die ersten Worte, die die Geschwister wechseln, zeigen deutlich, in welchem Elend sie stecken. Es ist mir wichtig, diese Situation realistisch auf die Bühne zu bringen. Sie soll den grösstmöglichen Gegensatz zu der albtraumhaften Welt der Knusperhexe bilden. Ist dieser Gegensatz von krasser Armut und absolutem Überfluss das zentrale Thema dieser Oper? Eines der wichtigen Themen, würde ich sagen. Hänsel und Gretel ist aber auch eine Geschichte über die Entwicklung zweier Kinder – über das Er­wachsen­­ werden, wenn man so will: Am Anfang der Handlung machen die beiden Geschwister alles gemeinsam. Das zeigt auch die Musik von Humperdinck: die beiden Gesangslinien sind eng mit­einander verzahnt, die Kinder fallen sich gegenseitig ins Wort oder sprechen für den anderen weiter. Wenn die Mutter die Kinder wütend aus dem Haus jagt, werden sie auf eine Reise ins Un­­ bekannte geschickt und sind plötzlich auf sich allein gestellt. Und schliesslich werden sie sogar voneinander getrennt: Die Knusperhexe sperrt Hänsel ein, um ihn zu mästen. Um ihren Bruder zu befreien, muss Gretel eigen­ver­ant­ wort­­­lich handeln. In dieser Hinsicht erinnert mich das Stück an Mozarts Zauberflöte, die man auch als Märchenoper ver­stehen kann. Hier wie dort geht es um grundlegende Fragen der menschlichen Entwicklung, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. In der Zauberflöte geht es, meiner Meinung nach, darum, den Tod als etwas zu akzeptieren, was zum Leben gehört. In Hänsel und Gretel geht es hingegen um ganz existenzielle Ängste.

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Diese Grausamkeit ist in Humperdincks Oper etwas abgemildert. Adelheid Wette, die Schwester des Komponisten, die massgeblich an der Textfassung beteiligt war, wollte damit bewirken, dass sich das Werk auch für Kinder eignet. Wird der Stoff dadurch verharmlost? Ich glaube nicht, dass die Elemente des Naturverbundenen, des Beschützen-

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den und des Fantasievollen, die in der Oper stärker hervorgehoben werden, grundsätzlich darüber hinwegtäuschen können, dass die Handlung eigentlich grausam ist. Auch deshalb ist es mir wichtig, die Geschichte nicht von Anfang an als eine Fantasiewelt zu er­­zäh­­len, sondern zunächst eine Situation zu finden, die mit der Welt zusammenhängt, in der wir leben. Ein Detail der Inszenierung dürfen wir hier vielleicht schon verraten: Das Zuhause von Hänsel und Gretel ist bei uns nicht eine Stube, sondern ein Wohnwagen. Wie ist das zu verstehen? Der Wohnwagen bedeutet nicht etwa, dass es sich um Fahrende handelt. Wir wollen damit zeigen, dass diese Familie tatsächlich nicht einmal das Geld besitzt, um eine normale Miete zu zahlen. Stattdessen besetzt sie temporär einen Wohnraum, den sie so vorgefunden hat. Es geht uns nicht darum, einen genau definierten Handlungsort nachzubilden, sondern einen allge­meinen Eindruck von einer Welt zu geben, in der ein Leben in Armut Realität ist. Es ist das Milieu der Vorstädte, und wir alle wissen, dass ärmliche Ver­hältnisse, vernachlässigte Kinder, Gewalt, Drogen und Alkoholismus – alles Themen, die bei Humperdinck vorkommen – Probleme sind, mit denen man dort all­­ täglich zu kämpfen hat. Ich finde es wichtig, diese Tatsachen in einem heutigen Kontext zu zeigen. Ein folkloris­tisches Spiel auf die Bühne zu bringen, wäre für mich nicht der richtige Weg.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Wie ist diese Vorstadtästhetik denn mit dem weiteren Verlauf der Handlung zu vereinbaren? Mit der unheim­lichen Waldszene zum Beispiel, die tief in der Tradition der Romantik wurzelt? Die Geschichte ist bei Humperdinck so angelegt, dass sie sich immer mehr in eine fantastische Erzählung verwandelt, in der die Erlebnisse, Ängste und Hoffnungen der beiden Kinder – verständlicherweise – übergross und un­­rea­ listisch werden. Es geht darum, diese Empfindungen erlebbar zu machen. Zwei Kinder, die sich draussen verlaufen haben, Hunger leiden und den Heim­ weg nicht mehr finden, werden immer vom Gefühl des Unheimlichen be­­ fallen, egal an welchem Ort. Das roman­ti­sche Gedankengut manifestiert sich in diesem Bild ausserdem in über­natür­­lichen Wesen wie dem Sand- und dem

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Taumännchen, die ja nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind. Sie er­ scheinen den Kindern in der gröss­ten Verlorenheit und Einsamkeit. Ich mag diese poetischen Einfälle, die in Hum­per­dincks Version des Märchens da­­zu­gekommen sind. Sie erweitern unseren Horizont: denn wer weiss, ob da nicht jemand ist, wenn wir einschlafen und aufwachen… Im dritten Bild der Oper stossen Hänsel und Gretel auf die Hexe Rosi­ne Leckermaul, die sie mit Köst­lichkeiten zu verlocken versucht… Am Knusperhäuschen der Hexe finden die Kinder eine Welt vor, die genau dem Gegenteil dessen entspricht, das sie von zuhause kennen: Die leckersten Süssigkeiten sind hier in allem Überfluss vorhanden. Eine wichtige Referenz für unsere Inszenierung sind in diesem Zusammenhang das Weihnachtsfest und vor allem der ganze kommerzielle Rummel, der heute um dieses Fest herum betrieben wird. Humperdincks Hänsel und Gretel wird ohnehin oft mit Weihnachten in Verbindung gebracht und steht häufig zur Weih­ nachts­zeit auf den Spielplänen. Ich denke, das hat damit zu tun, dass man sich in dieser Zeit besonders viele Gedanken über Armut und Reichtum macht – für die einen ist es ein Fest des Konsums, für andere ein sehr trauriger und ein­samer Anlass. Hänsel und Gretel geraten in dieser Szene vom einen Extrem ins andere. Was für die Kinder zunächst verlockend erscheint, birgt also auch eine Gefahr in sich? Ja, ich denke, Märchen haben oft eine warnende Funktion. Sie zeigen, dass es im Leben viele Fallen gibt, in die man hineintreten kann. Wenn arme Kinder plötzlich alle Verlockungen der Welt vor sich haben und sich frei be­die­nen dürfen, wenn plötzlich alle Wünsche wahr werden, ist das natürlich mit einer Gefahr verbunden. Nicht umsonst hat Oscar Wilde gesagt: «Sei vorsichtig was du dir wünschst, du könntest es bekommen!»… Hänsel und Gretel verfallen den Verlockungen der Hexe, die sich da­rauf­ hin als kinderfressendes Monster zu erkennen gibt. Diese Hexe hat in Humperdincks Oper die gleiche Stimmlage wie die Mutter und wird in

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unserer Inszenierung von der gleichen Sängerin gesungen. Gibt es zwischen den beiden Figuren auch einen inhaltlichen Zusammenhang? Die Hexe wird manchmal auch von einem Mann gesungen. Ich habe mich aber bewusst für die originale Stimmversion von Humperdinck entschieden, und zwar, weil ich glaube, dass die Kinder die bösen Eigenschaften ihrer Mutter in diese Kreatur projizieren. Aber die Kinder widerstehen den bösen Absichten der Hexe und können sich retten. Das hat wiederum mit ihrer inne­ren Entwicklung zu tun, über die ich bereits gesprochen habe: Gerade in dem Moment, in dem Hänsel und Gretel völlig auf sich allein gestellt sind, haben sie die Fähigkeit, das Böse aus eigenem Antrieb zu überwinden. Das Böse wird vernichtet, und das Märchen kann gut ausgehen. Aber über die Doppelexistenz der Mutter und der Hexe haben schon viele Interpreten gerätselt… Mich würde interessieren, wie die Kinder das sehen, die in die Oper kommen… Wir sollten sie fragen!

Das komplette Programmbuch können Sie auf Glauben Sie, dass Kinder, die in Zürich in einem wohlhabenden Milieu www.opernhaus.ch/shop aufgewachsen sind, sich em­pa­thisch in diese Geschichte über eine mausarme Familie einfühlen können oder ist ihnen das womöglich fremd? oder Vorstellungsabend Wennam man in einer Welt wie der unseren nicht in der Lage ist, einim GefühlFoyer dafür zu entwickeln, wie schlecht es anderen Menschen geht, dann fände ich das des äusserst unsensibel. Gibt es denn in der Schweiz keine Armut? Opernhauses erwerben Doch. Aber gerade in Zürich ist sie nicht an jeder Ecke wahrzunehmen. Aber das bedeutet ja nicht, dass sie nicht in der Welt ist. Die Märchen der Brüder Grimm – die im 19. Jahrhundert auch in gutbürgerlichen Milieus ge­ lesen wurden – sind ja gerade deshalb so wichtig, weil sie immer wieder grausa­­me Themen wie Armut, Angst, Gewalt oder Mord behandeln und es dadurch schaffen, ein Bewusstsein für Themen zu schaffen, die man eigentlich lieber verschweigen und verdrängen würde. Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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eisst du was, Mann, wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist: da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.»




WO DIE HÄUSER MIT GRAFFITI ÜBERSÄT SIND Die soziale Ungleichheit ist heute grösser denn je. Unweit der urbanen Zentren leben Menschen, die es gewohnt sind, wenig zu besitzen und wenig zu erwarten

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hat sich das Gesicht der Ungleichheit in un­serer Gesellschaft gewandelt. Wenn von der Hauptschule als «Restschule», von einer sich abkapselnden Unterschicht oder von einem abgehängten Prekariat die Rede ist, dann ist von der sozialen Spaltung unserer Gesellschaft die Rede. Das hängt nicht allein damit zusammen, dass sich die Schere zwischen Armen und Reichen weiter öffnet. Es ist zwar ärgerlich, dass die Einkommen der grossen Geldvermögensbesitzer verglichen mit denen der erwerbstätigen Masse in den letzten Jahren gewaltig gestiegen sind, das wäre aber hinnehmbar, wenn nicht gleichzeitig bestimmte Gruppen den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft verlieren würden. Sie laufen mit, aber sie haben keine Adresse in der kollektiven Selbstauffassung unseres Gemeinwesens. Diese Menschen trifft man in Gegenden, die gar nicht weit entfernt sind von den Zentren der Initiative, der Innovation und des Individualismus. Es reicht vom Wall in Hamburg, von der Königstrasse in Stuttgart oder vom Hacke­schen Markt in Berlin eine Fahrt von einer halbe Stunde mit der U-Bahn, oder man nimmt nach 20 Uhr einen Bus vom schmucken Rathausplatz in ein bestimmtes Neubaugebiet des sozialen Wohnungsbaus am Rande Celles, Aachens oder Reutlingens: Jedes Mal gerät man in eine soziale Zone mit hoher Arbeitslosigkeit oder massiver Unterbeschäftigung, wo die Strassen dreckig, die Bushaltestellen demoliert, die Häuser mit Graffiti übersät und die Schulen marode sind. Hier treffen ökonomische Marginalisierung, ziviler Verfall und räumliche Abschottung zusammen. Die Menschen, die man in den Billigmärkten für Lebens-

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mittel trifft, wirken abgekämpft vom täglichen Leben, ohne Kraft, sich umeinan­ der zu kümmern oder aufeinander zu achten, und lassen gleichwohl keine An­zeichen von Beschwerdeführung oder Aufbegehren erkennen. Die Jugendlichen hängen herum und warten darauf, dass etwas passiert, die Männer mittleren Alters haben sich ins Innere der Häuserblocks zurückgezogen, und die Frauen mit den kleinen Kindern sehen mit Mitte zwanzig schon so aus, als hätten sie vom Leben nichts mehr zu erwarten. Es herrscht eine Atmosphäre abgestumpfter Gleichförmigkeit. Hier leben Menschen, die sich daran gewöhnt haben, wenig zu besitzen, wenig zu tun und wenig zu erwarten. Sie kommen selten in andere Gegenden, lernen kaum ande­ re als Ihresgleichen kennen und misstrauen den Angeboten, die ihnen von Stadt­ teilinitiativen oder Beschäftigungsprojekten nahegelegt werden. Nur aus den Blicken der herausgeputzten männlichen Heranwachsenden mit den schneeweissen Kapuzensweaters, die an der Ecke herumlungern, blitzt eine Energie, die zu allem fähig scheint.

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WARUM MÄRCHEN GRAUSAM SIND Der Germanist Michael Maar spekuliert über den historischen Hintergrund des Märchens «Hänsel und Gretel» und stellt es in den Kontext eines tabuträchtigen Themas Herr Maar, in Ihrem Buch Hexengewisper werfen Sie einen erhellenden Blick auf altbekannte Märchen. Wie kam es zu dieser Beschäftigung? Eigentlich rein zufällig. Der mir befreundete Maler Nikolaus Heidelbach hat die Grimmschen Märchen auf geniale Weise illustriert. Anhand dieser Aus­ gabe habe ich die Märchen zum ersten Mal der Reihe nach gründlich gelesen. Dabei habe ich mich über die Rätselhaftigkeit dieser Texte gewundert und mich gefragt, was sie uns eigentlich erzählen wollen. Die Märchenforschung ist schon seit Jahrhunderten mit dieser Frage beschäftigt, und ich glaube nicht, dass man sie abschliessend beant­worten kann. Trotzdem habe ich den Versuch unternommen, diese so vertrauten Texte neu zu befragen. Warum ist das Märchen von Hänsel und Gretel so prominent vertreten? Dieses Märchen hat mich besonders interessiert, weil mir aufgefallen ist, dass seine erzählerischen Wurzeln in eine bestimmte historische Epoche zu­­ rückgehen könnten: in die Zeit des Dreissigjährigen Kriegs, der im 17. Jahrhundert stattge­funden hat und zu den grauenvollsten Kapiteln der euro­ päischen Geschichte gehört. Diese These stimmt nicht unbedingt mit anderen Interpretationen überein: Das kürzlich erschienene, hervorragende Buch über Märchen von Michael Köhlmeier beginnt zum Beispiel mit dem Satz: «Märchen sind die Primzahlen der Literatur» – das heisst, sie sind nicht weiter ableitbar, sind in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit einfach da. Damit hat er natürlich Recht. Trotzdem hat es mich damals interessiert, die ganz schlichten Fragen zu stellen. Und die Frage, warum die Hexe eigentlich Hänsel mästen und essen will, hat mich in die Zeit des 17. Jahrhunderts geführt.

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Richtig bekannt geworden ist das Märchen Hänsel und Gretel erst im 19. Jahr­hundert, durch die Sammlung der Brüder Grimm... In der Romantik begann man sich verstärkt für das Mittelalter und das Volksgut zu interessieren. Eines der ersten literarischen Zeugnisse dieser Be­ schäftigung ist die Sammlung Des Knaben Wunderhorn, in der Achim von Arnim und Clemens Brenta­no Volkslieder vom Mittelalter bis ins 18. Jahr­hundert herausgaben. Auf die Anregung von Brentano hin haben Jacob und Wilhelm Grimm dann auch be­gonnen, sich mit den Märchen zu beschäftigen. Bis heute hält sich der Mythos – nicht in der Wissenschaft, aber zumindest landläufig – dass die Brüder Grimm ihre Märchen dem Volk abgelauscht und bloss aufgeschrieben hätten. Das stimmt so natürlich nicht. Ihre direkten Quellen sind heute teilweise bekannt, oft waren diese schon literarisch ge­we­ sen. In Frankreich gab es bereits die berühmte Märchen­samm­lung von Charles Perrault, die durch Ludwig Tiecks Übersetzung auch in Deutschland gelesen wurde. Vor allem aber ist die Sprache der Brüder Grimm kom­plett erfunden: Die Formen, Floskeln und die rhetorischen Figuren, die uns aus ihren Märchen so vertraut sind, hat ihnen mit Sicherheit nicht das Dorfmädchen aufgesagt. Vielmehr gehören die beiden Brüder zu den grössten und wirkungsmächtigsten Sprachschöpfern der Romantik. Abgesehen von E. T. A. Hoffmann sind sie die einzigen deutschen Dichter dieser Epoche, die bis heute weltweit bekannt sind.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Und dennoch verstecken sich hinter dieser erfundenen Sprache Erzählungen, die historisch weit zurückführen... Eine faszinierende Eigenschaft der Märchen ist ihre Wandlungsfähigkeit. Nicht nur bei den Grimms, sondern auch in späteren Jahrhunderten haben die Märchenstoffe zu literarischer Produktion angeregt. In meinem Buch habe ich unter anderem anhand der romantischen Kunstmärchen gezeigt, wie die Märchenstoffe jeweils den individuellen Bedürfnissen ihrer Autoren angepasst werden. Dem bedeutenden dänischen Märchenschöpfer Hans Christian Andersen hat zum Beispiel der Stoff der kleinen Meerjungfrau dazu gedient, über persönliche Lebensprobleme zu schreiben, die damals noch ein Tabu dargestellt haben. Die chiffrierte Form des Märchens hat es ihm erlaubt,

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Geheimnisse zu übermitteln, die sich aber nur dem Leser zeigten, der danach sucht. Alle anderen weinen einfach über das tragische Schicksal der kleinen Meerjungfrau. Aber auch in den grossen Romanen von Thomas Mann oder Marcel Proust und in vielen Filmen der letzten Jahrzehnte findet man Mär­chen­­motive, die Rätselhaftes oder Geheimnisvolles in sich bergen. Das zeigt, dass diese Motive uralt und trotzdem unverwüstlich sind. Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, dass sich in Hänsel und Gretel Motive aus dem Dreissigjährigen Krieg verstecken könnten? Ich hatte mich damals gerade mit dieser Epoche der Geschichte beschäftigt. Be­kannt­lich war dieser unendlich lange, religiös motivierte Krieg einer der blut­­rün­stigs­ten und grausamsten Konflikte, der in Europa je stattgefunden hat. Besonders zu erwähnen sind in unserem Kontext die Hexenverbren­ nungen und die qualvollen Hungersnöte, zu denen es damals gekommen ist. Wenn man diese Gedanken im Hinterkopf hat, liest man das Märchen von Hänsel und Gretel mit einem scharfen Blick auf die Frage: warum sollte die Hexe eigentlich Hänsel essen wollen? Das Vorbild für die Hexe in Hänsel und Gretel wäre demnach ein Schicksal aus der Zeit der Hexenverbrennungen? Der zeitliche Kontext würde das nahelegen. Wenn man meine Fragestellung wei­ter­verfolgt, könnte man natürlich zu verschiedenen Theorien kommen. Man könnte auch sagen: Hexen schlachten Kinder, weil sie grausam sind. Man könnte dieses schreckliche Ansinnen der Hexe als böses satanisches Ritual verstehen, wie sie in der damaligen Zeit dem verbreiteten Irrglauben nach vorgekommen sind. Vermeint­liche Hexen wurden ja deshalb verbrannt, weil man glaubte, dass sie mit dem Teufel paktieren und schwarze Messen ab­ halten, bei denen es auch zu Kinds­opfern kam. Thomas Mann erzählt noch in seinem Zauberberg von solchen Ritualen: Mitten in einem Schneesturm, den Kältetod im Nacken, hat Hans Castorp dort eine Vision. Es erscheint ihm ein Tempel, in dem er zwei grässlichen Weibern dabei zusieht, wie sie ein kleines Kind zerreissen und verschlingen, dass die Knochen knacken und das Blut spritzt. Dann schreckt er aus seiner Vision auf.

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Verbirgt sich ein Hexenritual hinter der Handlung von Hänsel und Gretel? Wie das Beispiel von Thomas Mann zeigt, sind an solchen Ritualen ja meistens mehrere Hexen beteiligt. Ausserdem bleibt die grosse Frage bestehen, warum Hänsel denn überhaupt gemästet werden soll? Es scheint also nicht nur um ein Kinds­opfer zu gehen. Mit dem schönen Erzähltrick, dass die Hexe immer wieder Hänsels Finger anfassen will, um zu sehen, ob er bereits ordentlich dick geworden sei, er ihr aber immer ein Knöchelchen hinhält, wird ja in diesem Märchen ausdrücklich da­rauf hingewiesen, dass Hänsel zunächst ge­ mästet werden muss. Es geht also offensichtlich doch um die Kalorien! Die Hexe lebt aber doch im Überfluss und leidet gar nicht an Hunger … Aber die Problematik des Hungers ist das grosse Thema am Beginn des Märchens: Die Mutter von Hänsel und Gretel spielt dort mit dem Gedanken, die Kinder im Wald auszusetzen, denn sonst müssten sie «alle vor Hunger sterben». Es sei denn … Und hier kommt ein schrecklicher Gedanke ins Spiel: Nämlich dass die Mutter den Kindern das antun könnte, was ihnen später von der Hexe droht. In diesem Moment setzt in dem Märchen eine Art Tarngeschichte ein, weil die wirkliche Geschich­te zu grausam wäre. Das Schicksal, dem die Kinder bei der Hexe gerade noch entgehen können, hat in Wirk­ lichkeit mit einer unaussprechlichen traumatischen Scheusslichkeit zu tun, die sich in der Zeit des Dreissigjährigen Kriegs tatsächlich zugetragen haben wird, nämlich Kindskannibalismus aus Hungersnot.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das würde bedeuten, dass die Mutter der wahren Geschichte und die Hexe der Tarngeschichte die gleichen Absichten haben, also in gewisser Hinsicht identisch sind? Es liegt für mich nahe, diese beiden Figuren als spiegelidentisch zu sehen. Es gibt in der Version der Brüder Grimm ein kleines sprachliches Indiz, das meine These stützt: Die Mutter weckt ihre Kinder am Anfang des Märchens mit dem Ruf «Wacht auf, ihr Faulenzer», und mit dem selben Wort wird Gretel auch von der Hexe geweckt. Ein weiteres kleines Detail, das oft überlesen wird, steht ganz am Ende des Märchens. Dort heisst es in einem Neben­satz, als Hänsel und Gretel glücklich zu ihrem Vater zurückkehren:

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«Aber die Mutter war gestorben». Meine Vermutung wäre, dass die Mutter genau in dem Moment gestorben ist, als die Hexe in den Ofen geschoben wurde… Wenn die beiden Figuren symbolisch identisch sind, dann kappt der Tod die beiden Lebensfäden mit einem einzigen Scherenschnitt. In Humperdincks Oper erscheint Hänsel und Gretel das Hexen­häus­chen unmittelbar nach einer grossen Engelsvision; sie glauben, noch zu träumen. Könnte dahinter auch der Gedanke einer «Tarnge­schich­te» stehen? Wäre die Hexenszene dann nur eine Traumvision der Kinder? Auf diesen Gedanken bin ich beim Märchen der Brüder Grimm nie gekommen. Aber die Frage nach verschiedenen Fiktionsebenen stellt sich bei den Märchen ei­ gentlich nicht, weil sie sehr flächenhaft und grundsätzlich oft unlogisch sind. In dieser Hinsicht trifft wieder Michael Köhlmeiers schöner Vergleich zu, dass Märchen aus logischer Sicht gleich schwer zu greifen sind wie Primzahlen. In der Theaterpraxis sind solche Fiktionsebenen natürlich von Bedeutung, aber das Märchen schert sich nicht darum.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Sie stellen Hänsel und Gretel in den Kontext eines tabuträchtigen Themas. oder amvon Vorstellungsabend Foyer Die Oper Humperdinck verschleiert diese Grausamkeit –im und doch ist sie nicht wegzudiskutieren. Warum müssen Märchen so grausam sein? Dassdes viele Märchen so grausam sind, hat sicher miterwerben ihrer Entstehungszeit Opernhauses zu tun. Das ist für mich ein weiteres Indiz, dass Hänsel und Gretel mit der Zeit des Dreissig­jährigen Kriegs verbunden sein könnte. Grausamkeit hinterlässt immer Spuren in der Literatur, das wissen wir bereits aus den antiken Mythen. Jeder weiss: Am Schlimmsten ist das, worüber man nicht sprechen kann. Das ist die Definition des Tabus. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass wir Formen brauchen, in denen man auf verschlüsselte Weise über das Schlimmste sprechen kann. In der Literatur sind diese Formen der Mythos und das Märchen. Die Tatsache, dass fast alle Märchen glücklich enden, ist ein wesent­ licher Bestandteil dieser Chiffrierung. Am Ende ist dann alles gut: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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änsel sagte zu Gretel: «Wir werden den Weg schon finden», aber sie fanden ihn nicht. Sie gingen die ganze Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auf der Erde standen. Und weil sie so müde waren, dass die Beine sie nicht mehr tragen wollten, so legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein.



UND DANN TRÄUMEN SIE DIE GANZE NACHT Gegen Abend, wenn die Kinder so nett am Tisch sitzen, oder auf ihrem Schemel, dann kommt Ole Augenzu; er kommt so stille die Treppe herauf; denn er geht auf Strickstrümpfen, ganz sachte macht er die Türe auf und schwipp! spritzt er den Kindern süsse Milch in die Augen, so fein, so fein, aber doch immer genug, dass sie die Augen nicht mehr offen halten können und ihn also nicht sehen; er schleicht sich dicht hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und dann wird ihnen der Kopf so schwer, o ja! aber das tut gar nicht weh, denn Ole Augenzu meint es ganz gut mit den Kindern, er will nur, dass sie ruhiger werden, und das werden sie am besten, wenn man sie ins Bett bekommt, die sollen ganz stille sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann. – Wenn die Kinder nun schlafen, setzt Ole Augenzu sich aufs Bett; er ist fein angezogen, sein Mantel ist aus Seidenzeug, aber es ist unmöglich zu sagen, welche Farbe er hat, denn er schimmert grün, rot und blau, ganz als ob er sich immerfort drehen würde; unter jedem Arm trägt er einen Schirm: einen mit Bildern darauf, und den spannt er über den guten Kindern auf, und dann träumen sie die ganze Nacht die schönsten Geschichten, und einen Schirm hat er, auf dem ist gar nichts drauf, und den spannt er über den ungezogenen Kindern auf, dann schlafen sie so dumm und haben am Morgen, wenn sie aufwachen, nicht das Allergeringste geträumt. Hans Christian Andersen: Ole Augenzu

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DIE POESIE DES EINFACHEN Richard Wagner war für Engelbert Humperdinck ein unerreichbares Vorbild. Trotzdem lässt er in «Hänsel und Gretel» eine eigenständige kompositorische Position erkennen Fabio Dietsche

Mit zwanzig Jahren erlebte Engelbert Humperdinck zum ersten Mal Richard Wagner. Der angehende Komponist hatte gerade sein Musikstudium in Köln auf­­genommen und hörte, wie Wagner Ausschnitte aus Tannhäuser, Lohengrin, der Walküre und den Meistersingern dirigierte. Den Programmzettel des Konzerts rahmte sich Humperdinck ein und bewahrte ihn bis ans Ende seines Lebens auf. Die erste Begegnung mit Wagner und seiner Musik wurde zu einem Urerlebnis: Von da an verfolgte Humperdinck das Schaffen Wagners mit gros­sem En­thusiasmus, besuchte die Münchner Erstaufführung des Rings des Nibelungen und nahm sich schliesslich 1880 während eines Italienaufenthalts die «unerhörte Keckheit» heraus, Wagner in Neapel ohne Voranmeldung aufzusuchen. Der «Meister» lud Humperdinck als Assistent nach Bayreuth ein, wo dieser als Kopist die Parsifal-Partitur kennenlernte, die Knabenchöre für dieses Werk einstudierte und schliesslich sogar einige Überleitungstakte für den Ersten Aufzug kompo­ nierte. Die zusätzlichen Takte wurden von Wagner gutgeheissen und bei der Uraufführung und einigen Folgevorstellungen in das Werk eingeschoben. Für Humperdinck war das die höchste Auszeichnung. Der plötzliche Tod Wagners, nur ein halbes Jahr später, beendete die für Humperdinck so bedeutende künstlerische Beziehung abrupt. Humperdincks eigene Zukunft, die er sich «in so engem zusammenhange mit der künstlerischen und menschlichen persönlichkeit Wagners» vorgestellt hatte, erschien ihm plötzlich höchst ungewiss. Bis er 1890 die Arbeit am Hänsel und Gretel-Stoff aufnahm, vergingen mühevolle, oft unproduktive und orientierungslose Jahre.

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Humperdincks tiefe Verehrung für den Bayreuther «Meister» prägte sein künstlerisches Schaffen, und die Rezeption seiner Werke steht seit jeher im Schatten Wagners. Schon der einflussreiche Musikkritiker Eduard Hanslick attestierte anlässlich der Wiener Erstaufführung von Hänsel und Gretel, dass die «melodische Essenz» dieser Oper aus «nicht von Humperdinck komponierten Kinderliedern» bestehe, alles Übrige sei «geschickte Nachbildung Wagner’scher Dekla­ mation und Instrumentierung». Noch heute stossen Musikwissenschaftler gerne mit abschätzigem Ton in das gleiche Horn: «in der Märchenoper [wird] der Kunst­anspruch der Wagner’schen Musikdramen erheblich gemindert [...], bis er so gut wie verschwindet, um musikalisch-kompositorisch umso distanzloser einem verharmlosten Wagner’schen Duktus zu folgen», so Giselher Schubert im Wagner-Handbuch (2012). Diese Bewertung mag auf einige Märchenopern des späten 19. Jahrhunderts zutreffen; die meisten Werke dieser Gattung sind heute unbekannt und haben nie den Weg ins Repertoire gefunden. Dass auch Humperdincks Hänsel und Gretel-Oper «musikalisch-kompositorisch» von Wagners Duktus inspiriert ist, steht ausser Frage. Aber gerade dieses Werk nur unter dem Aspekt epigonaler Distanzlosigkeit zu Wagner zu beschreiben, greift entschieden zu kurz. Immerhin beschreibt Humperdinck die neun Jahre zwischen Wagners Tod und der Komposition von Hänsel und Gretel als eine Zeit, in der er sich «entfremdet» gewesen sei. Hänsel und Gretel wurde am 23. Dezember 1893 in Weimar uraufgeführt. Am Dirigentenpult stand Richard Strauss, damals 29 Jahre alt und selbst darum bemüht, eine künstlerische Distanz zu Wagner zu finden: davon zeugt seine 1894 ebenfalls in Weimar uraufgeführte, heute aber kaum mehr gespielte Oper Guntram. Humperdincks Hänsel und Gretel bezeichnete Strauss als «Meisterwerk erster Güte» – auch wenn ihm das Orchester «etwas dick» erschien und er anbot, «zu Gunsten der Deutlichkeit einiges aus der Partitur herauszustreichen». Ein Jahr nach der ausserordentlich erfolgreichen Uraufführung wurde Hänsel und Gretel bereits an 50 andere Theater übernommen; heute zählt die Oper fest zum Repertoire. Zu den ersten Dirigenten des Werks gehörte neben Richard Strauss auch Gustav Mahler, der Humperdincks Oper ebenfalls als «Meisterwerk» bewertete. Waren so bedeutende wie kritische Zeitgenossen wie Strauss und Mahler tatsächlich so begeistert, weil Humperdinck eine säuberliche

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Stilkopie im «Wagner’schen Duktus» gelungen war? Oder hat die bis heute an­ haltende Erfolgsgeschichte von Hänsel und Gretel doch mit einer eigenständigen Leistung des Komponisten zu tun? Aufschlussreich ist eine Würdigung des Musikkritikers Paul Bekker, die dieser 1921 anlässlich von Humperdincks Tod verfasst hat. Bekker war kein re­aktionärer Geist, vielmehr gehörte er nicht nur zu den ersten wegweisenden Rezipienten der Mahlerschen Sinfonik, sondern auch zu den Verfechtern der Neuen Musik und setzte sich für Komponisten wie Franz Schreker und Arnold Schönberg ein. Anders als frühere Kritiker weist er darauf hin, dass es Humperdinck gerade nicht darum gegangen sei, Wagners Ideen zu kopieren: «Der Ge­danke einer Nachahmung Wagners lag ihm fern, der ‹Meister› stand ihm in unerreichbarer Weite». Stattdessen würdigt Bekker Humperdincks Hänsel und Gretel als «ein Weckruf zur Besinnung auf die eigene Natur, als Mahn­wort zur Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, zur Freimachung von Ver­schro­ben­heit und künstlerischer Überbelastung». Mit einem gewissen Abstand und in Kenntnis der musikgeschichtlichen Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts, sieht Bekker, dass Humperdinck tatsächlich um eine künstlerische Distanz zu Wagner gerungen hat und damit einer Notwendigkeit seiner Zeit nachgekommen ist. Dass diese Aufgabe für Humperdinck, so kurz nach Wagners Tod, keinesfalls leicht war, lässt sich erahnen, wenn man die übermächtige Bedeutung Wagners insbesondere für die nachfolgende deutsche Komponistengeneration noch einmal verdeutlicht: «Die gesamte moderne Musik», so formulierte es Theodor W. Adorno 1952, «hat sich entwickelt im Widerstand gegen [Wagners] Vormacht – und doch sind alle ihre Elemente in ihm selbst angelegt.» Das erklärt auch, warum nach Wagners Tod – von Hänsel und Gretel abgesehen – vorerst keine deutsche Oper mehr mit nachhaltigem Erfolg auf die Bühne gekommen ist. Während in Italien Verdis Werke allmählich vom Verismus Mas­cagnis und Leoncavallos abgelöst wurden und in Frankreich mit Bizets Carmen und Debussys Pelléas et Mélisande wegweisende Richtungen eingeschlagen wurden, befand sich das Musiktheater in Deutschland in der Krise. Ein Vierteljahrhundert verging nach Wagners Parsifal, bis sich mit den Uraufführungen von Richard Strauss’ Salome (1905) und Elektra (1909) in Dresden ein neuer Weg für die Entwicklung der deutschen Oper abzeichnete.

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Eine radikale Fortschrittlichkeit war unter den gegebenen Umständen von Engelbert Humperdincks Oper nicht zu erwarten – und darin besteht auch nicht seine Leistung. Dafür erklärt Paul Bekker in seiner Würdigung, dass es gerade die vielen «Diminutive des grossen Dramas» waren, die das Hänsel und GretelPublikum zu überzeugen vermochten: «Man war froh, dass sich hier ein Ausweg zeigte zwischen idealistisch gestelzter Erlösungsdramatik und brutaler Wirklichkeitsäffung, dass der Mut zum Kleinen, zur unproblematischen Naivetät des Schauens endlich gefunden war [...]» Der Begriff der Naivität, der hier zur Sprache kommt, scheint etwas Wesentliches zu benennen, denn er fällt in Zu­ sam­menhang mit Humperdincks Oper nicht nur bei Bekker: Richard Strauss bewunderte in einem Brief an Humperdinck «die köstlich naive Melodik» in Hänsel und Gretel, Humperdinck selbst war der Überzeugung, dass «nach dem brutalleidenschaftlichen Genre der Cavalleriaoper unbedingt der Umschlag ins Einfache, Naive, Volksthümliche folgen» musste, und Eduard Hanslick bemerkte in der bereits zitierten Kritik zur Wiener Hänsel und Gretel-Aufführung: «Die Naivität des Kindermärchens sträubt sich meines Erachtens gegen den durchaus reflektierten Wagner-Stil». Anders als im heutigen Sprachgebrauch, war der Begriff des Naiven im 19. Jahrhundert aber nicht abwertend gemeint. Angelehnt an Friedrich Schiller, der schon 1795 die naive von der modernen Dichtungsweise unterschieden hatte, beschäftigte sich vor allem die Generation der Frühromantiker mit dem Begriff: Die Empfindung des Naiven manifestierte sich für sie in einer Sehnsucht nach einem verloren geglaubten goldenen Zeitalter der hohen Einfachheit, von dem besonders in den Volksmärchen und -liedern noch etwas zu spüren war. Wenn Engelbert Humperdinck in Hänsel und Gretel auf zahlreiche Volkslieder zurückgreift und diese unmittelbar in seine Komposition einfliessen lässt, so zeugt das eben nicht von künstlerischer Einfalt. Vielmehr zeigt sich daran, dass der Komponist der ästhetischen Beschaffenheit des Märchenstoffs auch musikalisch gerecht werden wollte und der Opernform einen Ton zurückgab, der ihr in Wagners Musikdrama abhandengekommen war. Während die musikalische Sprache, die Humperdinck in seiner Oper für die erwachsenen Figuren – den Vater, die Mutter und die Hexe – geschaffen hat, am reflektiert durchdra­ matisierten Stil Wagners ausgerichtet ist, so hat er um die beiden Hauptfiguren,

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Hänsel und Gretel, doch eine gänzlich andere Atmosphäre geschaffen: das Volksliedhafte umgibt die beiden Kinder auch musikalisch mit einer Aura des unverstellt Poetischen und im frühromantischen Sinne Naiven. «Sollte nicht», lässt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen sagen, «jene kindliche unbefangene Einfalt sicherer den richtigen Weg durch das Labyrinth der hiesigen Begebenheiten treffen als die […] irregeleitete und gehemmte, von der unerschöpflichen Zahl neuer Zufälle und Verwicklungen geblendete Klugheit?» Es ist genau dieser Glaube ans Kindliche, den auch Humperdinck in den Fokus seiner Oper rückt. Die «kindlich unbefangene Einfalt» manifestiert sich hier nicht nur in den Volksliedern, sondern auch im naiv-verspielten Text von Adelheid Wette, in den Figuren des Sand- und des Taumännchens, die eng mit der kindlichen Fantasie verbunden sind, und nicht zuletzt in der Szene, in der Hänsel und Gretel die Hexe in den Ofen stossen und damit – in ihrer ganzen Naivität – das Böse überwinden. Während Richard Wagner die Ideale der Frühromantiker bis ins hypertrophe Gesamtkunstwerk entgrenzte, hat Humperdinck seine künstlerische Distanz zu seinem grossen Vorbild gerade im Rückgriff auf das Naive gefunden. «Das Naive», schreibt Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795), «ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird». Und das verdeutlicht vielleicht, warum Humperdincks Oper nach Wagner als «ein Weckruf zur Besinnung auf die eigene Natur» empfunden wurde und von Anfang an so er­folg­ reich war. Was von der prägenden Begegnung Humperdincks mit Wagner als Entscheidendes geblieben ist, fasste Paul Bekker in seiner Würdigung in Worte: Nicht im künstlerischen Nacheifern lag seiner Meinung nach die Aufgabe Humperdincks, sondern darin, «das Bildnerische, geistig Kräftigende der Erscheinung Wagners auszuspüren und zu menschlich fruchtbringender Entwicklung zu führen.»

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VOLKSLIEDTON UND KLANGGEMÄLDE Der musikalische Kosmos von Humperdincks Oper umfasst einprägsame Volkslieder, prächtige Klanggemälde und einen kontrapunktisch raffinierten Knusperwalzer Daniela Goebel

«Vergangenen Sonntag habe ich nun auch die Ouvertüre niedergeschrieben, die ein ziemlich ausgedehntes Musikstück geworden ist, eine Art symphonischer Prolog, den man ‹Kinderleben› betiteln könnte. Er beginnt mit dem Schutzengelchoral, von Hörnern vorgetragen, geht dann über in das ‹Hokus pokus›, welches wiederum der Melodie ‹Die Englein haben’s uns im Traume gesagt› weichen muss, woran sich nun lustig ‹Die Hexerei ist nun vorbei› in fröhlichem E-dur anschliesst. Dann klingt wieder der Choral hinein, der sich nun mit der Melodie ‹Die Englein habens etc› organisch verbindet und mit dem triumphirenden ‹Die Hokus-Pokus-Hexerei ist nun vorbei› glanzvoll in C-dur abschliesst. Es geht etwas lärmend darin zu, aber ‹sunt pueri pueri, pueri puerilia tractant› und für die derbe Knabenstimme passt eben nur die Trompete», schrieb Engelbert Humperdinck an Hermann Wette in einem Brief vom 16. Dezember 1891. Dem in der Ouvertüre am Anfang exponierten Choral-Thema «Abends, will ich schlafen gehen» fällt in der Oper eine überaus zentrale Bedeutung zu. Nicht nur, dass es in die Handlung von Hänsel und Gretel einstimmt: Wie eine dramaturgische Klammer umschliesst und durchzieht dieses weihevolle, in seiner Motivik stets präsente Thema das gesamte Werk, erscheint wieder als Abendsegen der betenden Kinder und erfährt in der Traumpantomime eine glanzvolle Durchführung. Bereits zu Beginn der ersten Szene des ersten Bilds erklingt die zweite textliche Variante des Choral-Themas, wenn Gretel singt: «Wenn die Not auf’s Höchste steigt, Gott, der Herr, die Hand euch reicht». Mit dieser Botschaft, dass auch in der grössten Not Hoffnung besteht und das Gute über

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das Böse – verkörpert durch das dunkle Reich der Hexe – letztlich siegt, schliesst dann auch die Märchenoper. Humperdincks kompositorisches Prinzip basiert vor allem auf der Einbeziehung einprägsamer wie einheitsstiftender Volks- und Kinderlieder, die in Kontrast zu dramatischen Passagen stehen. Auch wenn dem Lied «Suse, liebe Suse» ein fröhlich-tänzerischer Gestus im 6/8-Takt zugrunde liegt, täuscht dieser nicht darüber hinweg, dass der Text von Hunger und Essen handelt. Die Szenerie im armseligen Zuhause erinnert an ein naturalistisches Drama und kommt darin der Intention der Märchenvorlage Ludwig Bechsteins, auf die sich Humperdinck bezog, relativ nahe, indem sie auf Wirklichkeitsnähe zielt und die Protagonisten mit ihren Gefühlen, Sorgen und Ängsten zu skizzieren versucht. Die Musik spricht dagegen eine andere, eine fröhliche Sprache, denn in Tanz und Gesang finden die Geschwister ihre eigene und heile Welt, über die sie in ihrer Zweisamkeit noch verfügen können. Diese wird jedoch mit dem Eintreten der Mutter jäh zerstört, wenn diese ihre Frustration an ihren Kindern auslässt. Überfordert und hilflos schickt sie ihre Kinder aus dem Haus mit dem Auftrag, für das Abendessen zu sorgen: «Und bringt ihr den Korb nicht voll bis zum Rand, so hau’ ich euch, dass ihr fliegt an die Wand!» Der Vater hat sich in seinem traurigen Dasein dem Alkohol zugewendet. Mit dem ihn charakterisierenden Motiv «Ral-la-la-la, Hunger ist der beste Koch», kehrt der Besenbinder mit reichlichen Lebensmitteln und damit fröhlicher als sonst nach Hause. Heute war er erfolgreich gewesen, denn er hat viele Besen verkauft: Jenes Instrument, das einerseits Schmutz und Unrat beseitigt, andererseits aber auch das Hexenfahrzeug ist. Der Vater als Schmied seines eigenen Schicksals? Wohl kaum, dennoch kündigt er am Ende des ersten Bilds das Böse an, wenn er Tiraden über die Hexe verlauten lässt. Das hier erstmals zu hörende kurze auftaktig-prägnante Besenmotiv («Kauft Besen! kauft Besen!»), das sich in alarmierenden Quartsprüngen Bedeutung verschafft, ist ein Signum des Bösen, das der Komponist auch im weiteren Handlungsverlauf kontrapunktisch einzusetzen versteht («Der Besen! der Besen! was macht man damit, was macht man damit?»). So auch in den ersten Takten des Vorspiels zum zweiten Bild, dem Hexenritt, der mit viel Chromatik und raffinierten rhythmischen Schichtungen tonmalerisch in das unheimliche Hexenreich einführt,

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um dann sanft auszuklingen. Das sich anschliessende Lied «Ein Männlein steht im Walde», das Humperdinck neben «Suse, liehe Suse» in textlicher wie in musikalischer Vollständigkeit aus dem Volksliedschatz entlehnt und im Gegensatz zu allen anderen, in der Oper im Volksliedton neu geschaffenen Kinderliedern kompositorisch weiter entwickelt und variiert, führt auf zauberhafte Weise in die Waldstimmung ein. Hier fühlen sich die Kinder geborgen, hier sind sie, zusammen mit dem tönenden Ruf des Kuckucks, eins mit der Natur. Doch mit der hereinbrechenden Dunkelheit wird jeder friedliche Wald zu einem unheimlichen Ort und lehrt die Kinder das Fürchten, was sich in der Musik in schnellen Sechzehntel-Noten, staccato und punktierten Rhythmen widerspiegelt. Ein Harfen-Glissando nimmt die Unruhe aus der Musik und kündigt das Sandmännchen an, das seinen Schlafsand in die Augen der Kinder streut und ihnen holde Träume prophezeit. Dass der Sand als Droge wirkt und im Traum Visionen, mitunter durch den Hunger ausgelöste Halluzinationen evoziert, ist ein naheliegender Gedanke. Mit der Traumpantomime führt Humperdinck eine andere und damit neue transzendente Sphäre innerhalb des Geschehens ein. Der Traum lässt das Unterdrückte zu und verarbeitet es. Gutes wie Schlechtes. In der Traumpantomime, die musikalisch weniger als atmosphärisch-transzendente Traummusik, sondern vielmehr als prächtiges Klanggemälde angelegt ist, offenbart sich Hänsel und Gretels gemeinsamer Traum, der Wunsch nach Geborgenheit, Liebe und die Sehnsucht nach einer heilen glücklichen Welt. Das schöne Traumbild entschwindet rasch, wenn sich zu Beginn des dritten Bilds das Knusperhäuschen-Motiv meldet und wieder zurück in die Realität des Walds, dann in das Reich der Hexe führt. Eigentlich sind die Kinder am Ziel ihrer Träume angelangt, wenn sie am Knusperhäuschen nach Herzenslust endlich Lebkuchen und Süssigkeiten naschen können, musikalisch unterlegt mit einem fröhlichen 6/8-Tanz. Doch der Genuss hat seinen Preis: Das Knuspern am Hexenhäuschen erinnert an die Versuchung von Adam und Eva durch die Schlange. Der Biss macht unfrei, abhängig und löst einen Prozess der Erkenntnis und Entwicklung aus. Hänsel und Gretel durchschauen das auf Kinderfleisch gerichtete Lustverhalten der Hexe mit dem bezeichnenden Namen Rosine Leckermaul. Sie befreien sich durch den Mord an ihr und tanzen und singen im Duett vor lauter Freude darüber den Knusperwalzer, in dem Humperdinck vier

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Themen kontrapunktisch übereinandergeschichtet hat. Hänsel und Gretel haben sich im Lauf der Handlung zu reifen und belastbaren Persönlichkeiten entwickelt und nicht nur ihr eigenes, sondern auch das Leben der Kuchenkinder gerettet: «Die Hexerei ist nun vorbei». Doch was erwartet sie? Das «Ral-la-la-la» des Vaters ist eine Reminiszenz an die Ausgangssituation im Haus des Besenbinders, bis mit dem Choral «Wenn die Not auf’s Höchste steigt, Gott, der Herr, die Hand uns reicht!» feierlich-erhaben die Oper glückselig endet.

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D

umme Gans», sagte die Alte, «die Öffnung ist gross genug, siehst du wohl, ich könnte selbst hinein», krappelte heran und steckte den Kopf in den Backofen. Da gab ihr Gretel einen Stoss, dass sie weit hineinfuhr, machte die eiser­ne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! Da fing sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Gretel lief fort, und die gottlose Hexe musste elendig­lich verbrennen. Brüder Grimm: Hänsel und Gretel



HÄNSEL UND GRETEL Märchenoper in drei Bildern von Engelbert Humperdinck (1854-1921) nach der Dichtung von Adelheid Wette

Personen

Peter, Besenbinder Gertrud, sein Weib Hänsel

Mezzosopran

Mezzosopran

Gretel

Sopran

Die Knusperhexe

Mezzosopran

Sandmännchen Taumännchen Kinder

Bariton

Sopran

Sopran

Sopran/Alt


VORSPIEL

ERSTES BILD DAHEIM ERSTE SZENE Kleine, dürftige Stube. Im Hintergrund eine niedrige Tür, daneben ein kleines Fenster mit Aussicht in den Wald. Links ein Herd mit einem Rauchfang darüber. An den Wänden hängen Besen in verschiedenen Grössen. Hänsel, an der Tür mit Besenbinden, Gretel, am Herde

GRETEL

Still, Hänsel, denk daran, was Vater sagt, wenn Mutter manchmal so verzagt: «Wenn die Not auf’s Höchste steigt, Gott, der Herr, die Hand euch reicht!» HÄNSEL

Jawohl, das klingt recht schön und glatt, aber leider wird man davon nicht satt. Ach Gretel, wie lang ist’s doch schon her, dass wir nichts Gut’s geschmauset mehr? Eierfladen und Butterwecken, kaum weiss ich noch, wie die tun schmecken. Ach Gretel, ich wollt…

mit Strumpfstricken beschäftigt, sitzen einander gegenüber. GRETEL

Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh? Die Gänse gehen barfuss und haben kein’ Schuh! Der Schuster hat’s Leder, kein’ Leisten dazu, drum kann er den Gänslein auch machen kein… HÄNSEL unterbrechend

Ei, so gehn sie halt barfuss! GRETEL fortfahrend

…Schuh! HÄNSEL

Eia popeia, das ist eine Not! Wer schenkt mir einen Dreier für Zucker und Brot? Verkauf’ ich mein Bettlein und leg’ mich aufs Stroh, sticht mich keine Feder und beisst mich kein…

GRETEL hält ihm den Mund zu

Still, nicht verdriesslich sein! Gedulde dich fein, sieh freundlich drein! Dies lange Gesicht – Hu, welcher Graus! Siehst ja wie der leibhaftige Griesgram aus! Sie nimmt einen Besen zur Hand.

Griesgram hinaus, fort aus dem Haus! Ich will dich lehren, Herz zu beschweren, Sorgen zu mehren, Freuden zu wehren! Griesgram, Griesgram, greulicher Wicht, griesiges, grämiges Galgengesicht, packe dich, trolle dich, schäbiger Wicht! HÄNSEL fasst mit an den Besen

Griesgram hinaus! GRETEL

GRETEL unterbrechend

Ei, wie beisst mich der Hunger!

Griesgram hinaus! HÄNSEL

HÄNSEL fortfahrend

…Floh!

Halt’s nicht mehr aus!

wirft seine Arbeit fort und steht auf

GRETEL

Ach, käm’ doch die Mutter nun endlich nach Haus!

Fort aus dem Haus!

GRETEL erhebt sich

HÄNSEL

Ach ja, auch ich halt’s kaum noch vor Hunger aus!

Immer mich plagen. Hungertuch benagen! Muss ja verzagen, kann’s nicht vertragen! Griesgram…

HÄNSEL

Seit Wochen nichts als trocken Brot; ist das ein Elend, potz, schwere Not!


GRETEL

HÄNSEL

Knurrt auch der Magen, werd nicht verzagen, nicht darnach fragen, schnell dich verjagen!

Arbeiten? Wo denkst du hin? Danach steht mir nicht der Sinn. Immer mich plagen, fällt mir nicht ein, jetzt lass uns tanzen und fröhlich sein.

BEIDE

GRETEL

…Griesgram, Griesgram, greulicher Wicht, griesiges, grämiges Galgengesicht, packe dich, trolle dich…

Tanzen! Tanzen! Das wär’ auch mir eine Lust! Dazu ein Liedchen aus voller Brust! Was uns die Muhme gelehrt zu singen: Tanzliedchen soll jetzt lustig erklingen!

GRETEL

klatscht in die Hände

…schäbiger Wicht!

…du Wicht!

Brüderchen, komm tanz mit mir, beide Händchen reich’ ich dir, einmal hin, einmal her, rund herum, es ist nicht schwer!

GRETEL

Hänsel versucht’s, jedoch ungeschickt.

HÄNSEL

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben So recht! Und willst du nicht mehr klagen, so will ich dir auch ein Geheimnis sagen! HÄNSEL

Ein Geheimnis! Wird wohl was rechtes sein!

HÄNSEL

Tanzen soll ich armer Wicht, Schwesterchen, und kann es nicht. Darum zeig mir, wie es Brauch, dass ich tanzen lerne auch!

GRETEL

Ja, hör nur, Brüderchen, darfst dich schon freu’n! Guck her in den Topf: Milch ist darin, die schenkte uns heute die Nachbarin. Die Mutter kocht uns, kehrt sie nach Haus, gewiss einen leckeren Reisbrei daraus.

GRETEL

Mit den Füsschen tapp, tapp, tapp, mit den Händchen klapp, klapp, klapp, einmal hin, einmal her, rund herum, es ist nicht schwer!

HÄNSEL jubelnd

HÄNSEL

Reisbrei! Hei!

Mit den Füsschen… usw.

tanzt im Zimmer umher GRETEL Reisbrei, Reisbrei, herrlicher Brei! Ei, das hast du gut gemacht! Gibt’s Reisbrei, da ist Hänsel dabei! Wie dick ist der Rahm auf der Milch, lass schmecken! Ei, das hätt’ ich nicht gedacht! Seht mir doch den Hänsel an, Er leckt den Rahm vom Finger. wie der tanzen lernen kann! Herrjemine! den möcht’ ich ganz verschlecken! klatscht fröhlich in die Hände GRETEL

Wie, Hänsel, naschen? Schämst du dich nicht? gibt ihm eins auf die Finger

Fort mit den Fingern, du naschhafter Wicht! Und jetzt an die Arbeit zurück, geschwind! Dass wir beizeiten fertig sind! Kommt Mutter heim und wir taten nicht recht, dann, weisst du, geht’s den Faulpelzen schlecht!

Mit dem Köpfchen nick, nick, nick, mit dem Fingerchen tick, tick, tick, einmal hin, einmal her, rund herum, es ist nicht schwer! HÄNSEL

Mit dem Köpfchen… usw.


Programmheft HÄNSEL UND GRETEL Märchenoper in drei Bildern von Engelbert Humperdinck (1854-1921) Premiere am 18. November 2018, Spielzeit 2018/19

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Textnachweise: Die Handlung, die Gespräche mit Robert Carsen und Michael Maar sowie der Essay von Fabio Dietsche sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Der Text von Daniela Goebel ist ein Ausschnitt aus einem Beitrag, der für die Bayerische Staatsoper München entstanden ist, und wird mit freundlicher Genehmigung der Autorin abgedruckt. Weitere Quellen: «Hänsel und Gretel» in: Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Reclam, Stuttgart 1980/2010; Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen, Carl Hanser Verlag,

Studio Geissbühler Fineprint AG

München 2008; «Ole Augenzu» in: Hans Christian Andersen, Märchen und Geschichten, Reclam, Stuttgart 2012. Bildnachweise: T + T Fotografie / Tanja Dorendorf fotografierte die Klavier­ ­hauptprobe am 9. November 2018. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


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