HIPPOLYTE ET ARICIE
JEAN-PHILIPPE R AMEAU
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HIPPOLYTE ET ARICIE JEAN-PHILIPPE RAMEAU (1683–1764)
HANDLUNG Erster Akt Aricie lebt als Fremde am Hof von König Thésée. Sie liebt dessen Sohn Hippo lyte aus erster Ehe. Hippolyte wiederum wird heimlich von seiner Stiefmutter Phèdre begehrt. Aricie wird in ein Ritual der Diana gezwungen, das die Liebe zu Hippolyte unmöglich macht. Hippolyte versucht Aricie von ihrem fremdbestimmten Weg abzuhalten. Die beiden gestehen sich ihre Liebe. Phèdre überwacht die Zeremonie. Als sich Aricie weigert, ihr Herz unter Zwang zu opfern und auf Hippolyte zu verzichten, rast Phèdre vor Wut und schwört Rache. Diana erscheint, verurteilt Phèdre und bekennt sich zu Hippolyte und Aricie. Den Hof erreicht die Nachricht, dass Thésée, der schon seit längerer Zeit abwesend ist, seinem Freund Perithous ins Höllenreich gefolgt sei. Oenone, Phèdres Vertraute, bestärkt ihre Herrin in der Hoffnung, Hippolytes Liebe zu gewinnen. Nun, da der König tot sei, könne sie Hippolyte die Krone anbieten, und ihre Liebe zu ihm werde dadurch rechtmässig. Phèdre fasst neue Hoffnung.
Zweiter Akt Thésée sucht seinen Freund Peritheus im Höllenreich. Er bittet den Unterwelt gott Pluto um die Freigabe von Perithous, der grausame Qualen erdulden muss. Pluto lehnt ab. Thésée fordert für sich den Tod, doch die Parzen, die Schicksals götter, verweigern ihm seinen Wunsch – über seine eigene Zukunft könne er nicht bestimmen. Thésée erfleht die Hilfe seines Vaters Neptun, der ihm einst drei Wünsche freigestellt hatte. Den ersten erfüllte er, als er Thésée Zugang in den Hades gewährte. Nun bittet ihn Thésée, wenigstens wieder zu den Leben
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den zurückkehren zu dürfen. Pluto entlässt ihn schliesslich, fordert aber die Parzen auf, Thésées weiteres Schicksal zu verkündigen: Sie prophezeien ihm, dass Thésée zwar der Hölle entkommen, diese aber im eigenen Haus wiederfinden werde.
Dritter Akt Phèdre wendet sich an Venus, um Hippolyte für ihre Liebe empfänglich zu machen. Sie ist machtlos in ihrem Verlangen nach ihm. Als Hippolyte erscheint, bietet ihm Phèdre die Krone des verstorbenen Königs an, doch Hippolyte lehnt ab. Er weist auf Aricie: Nur ihr gelte seine Liebe, die Macht bedeute ihm nichts. Phèdre verflucht ihre Rivalin. In ihrer Verzweiflung gesteht sie Hippolyte ihre ganze Liebe. Als sie Hippolytes Ent setzen erkennt, bittet sie ihn, dass er sie mit dem Messer töte – Hippolyte ver sucht es ihr zu entwinden. In diesem Augenblick kommt Thésée zurück und sieht Hippolyte in den Armen von Phèdre. Er glaubt, damit habe sich die Prophezeiung der Parzen erfüllt. Doch weder Hippolyte noch Phèdre sind in der Lage, ihm die Wahrheit zu gestehen. Um die Ehre von Phèdre zu retten, deutet Oenone Thésée gegen über an, Hippolyte habe Phèdre Gewalt angetan. Das Volk strömt herbei, um dem Meeresgott für Thésées glückliche Heim kehr zu danken. Alleingelassen, ist Thésée hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seinem Sohn und Rachegefühlen. Schliesslich bittet er seinen Vater Neptun um die Erfüllung des dritten und letzten Wunsches. Hippolyte soll sterben.
Vierter Akt Hippolyte bereitet sich darauf vor, ins Exil zu gehen. Aricie begreift Hippolytes Verzweiflung nicht, da er es nicht wagt, sie über Phèdres Liebesgeständnis auf zuklären. Hippolyte bekräftigt gegenüber Aricie seine unverbrüchliche Liebe zu ihr. Er bittet sie schliesslich, gemeinsam mit ihm zu fliehen. Sie schwören einander ewige Treue.
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Eine Jagdgesellschaft verspottet die Macht der Liebe. Aricie muss mitansehen, wie Hippolyte von einem Ungeheuer verschlun gen wird. Verzweifelt und voller Schuldgefühle über Hippolytes Tod, will Phèdre ihrem Leben ein Ende bereiten.
Fünfter Akt Phèdre hat Thésée im Sterben ihre Liebe zu Hippolyte gestanden. Thésée muss erkennen, dass er einen unschuldigen Sohn geopfert hat. Er will sich das Leben nehmen. Neptun hindert ihn daran und erzählt ihm, dass Hippolyte im letzten Augenblick von Diana gerettet worden sei. Als Strafe untersagt er Thésée jedoch, seinen Sohn Hippolyte jemals wiederzusehen. Aricie erwacht aus ihrer Ohnmacht und beklagt Hippolytes Tod. Diana erscheint und führt Hippolyte und Aricie zusammen. Sie werden dem Volk als neue Regenten präsentiert.
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DIESE OPER IST EIN DIAMANT Regisseurin Jetske Mijnssen über ihre Lesart von Jean-Philippe Rameaus «Hippolyte et Aricie»
Jetske, du hast bereits einige italienische Barockopern inszeniert, nun folgt mit Rameaus Hippolyte et Aricie deine erste französische Barock oper. Findest du dich in einer ähnlichen Welt wieder? Überhaupt nicht! Die französische Barockoper ist ein vollkommen anderer Kosmos. Oft hört man das Vorurteil, die französische barocke Oper sei aufgrund der Textlastigkeit und des Fehlens virtuoser Arien langweiliger als die italienische. Das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Bevor die Anfrage aus Zürich kam, hatte ich mich noch nie mit Rameau beschäftigt, er ist für mich als Holländerin komplettes Neuland. Doch jetzt ist mir eine Welt aufgegangen, und ich fühle mich wie ein Kind im Schlaraffenland. Ich kann es kaum erwarten, auch seine anderen Werke kennenzulernen. Hippolyte et Aricie ist Rameaus Opernerstling, eine Tatsache, die man angesichts der Komplexität dieses Werks doch eigentlich kaum glauben mag. Wie geht es dir damit? Dieses Werk ist ein französischer Diamant. Es ist eine riesige Oper mit zahlreichen Mosaiksteinchen, wo jedes einzelne für sich schillert und ein wunderbares Ganzes ergibt. Rameau hat in seinem Erstling ein enorm reiches und musikalisch tiefgründiges Universum erschaffen, das eine ungeheure Sog wirkung hat. Was ich zuhause bei den Vorbereitungen noch nicht einmal in Ansätzen erahnen konnte, ist die tiefe menschliche und direkte Emotionalität der Figuren. Sie sind absolut heutig und in ihrer Unverstelltheit ganz nah an unserer Gefühlswelt. So richtig bewusst geworden ist mir das erst, als wir
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vor der ersten szenischen Probe mit Emmanuelle Haïm einige Tage musikalisch vorgeprobt haben. Als die Sängerinnen und Sänger angefangen haben zu singen, ist für mich ein Wunder passiert – ein Eindruck, der einem keine CDAufnahme vermitteln kann. Wir sind in der musikalischen Arbeit tief zu den jeweiligen Charakteren vorgedrungen, und mir wurde klar, dass es vor allem die musikalische Präzision und Differenziertheit ist, die diese grosse Emotionalität hervorruft. Das Vorurteil, Rameau sei manieriert oder gar spröde und lasse einen irgendwie draussen, ist jedenfalls kompletter Unsinn. Die Geschichte von Rameaus erster Tragédie en musique geht zurück auf einen antiken Sagenstoff, den wir von Euripides, Seneca oder Ovid kennen, im 17. Jahrhundert dann von Jean Racine und seinem Klassiker Phèdre. Da könnte man nun befürchten, dass wir es hier mit einem musealen Stoff zu tun haben... Überhaupt nicht! Die Geschichte spricht einen unmittelbar an, denn es werden in dieser Oper archaische, existenzielle Themen ganz vorurteilslos verhandelt: die Liebe in all ihren Spielarten – ihr manchmal allzu grosses Feuer, ihr Erkalten – die Entfremdung zwischen den Menschen oder der Generationen konflikt. Modern an diesem Werk finde ich zudem, dass trotz der Götter, die hier vorkommen, sämtliche Handlungen der Figuren selbstgestrickt sind. Die Figuren sind verantwortlich für ihr Tun, auch wenn das Schicksal über allem waltet. Hier spürt man mit Sicherheit die Epoche der Aufklärung, in der die drei Fassungen von Hippolyte et Aricie entstanden sind.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Phädra ist ja die zweite Gattin von Theseus, die sich in ihren Stiefsohn Hippolytos verliebt. Worum geht es bei Rameau genau? Im Kern haben wir es mit einer königlichen Familie und drei Generationen zu tun. Es geht um ein älteres Paar – Phèdre und Thésée – und um ein jünge res: Hippolyte und Aricie. Dazu kommt die älteste Generation mit Thésées Vater Neptun und der Göttin Diana, unter deren speziellem Schutz Hippolyte und Aricie stehen. Diana, die den grössten Einfluss auf alle in dieser Oper hat, übernimmt in unserer Lesart die Rolle der Grossmutter, beziehungsweise der Schwiegermutter Phèdres, eine Art Queen Mum. Der Herrscher Thésée
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und seine zweite Frau Phèdre führen eine Ehe, die man als gescheitert bezeichnen muss. Ganz anders dazu das junge Liebespaar, Hippolyte und Aricie, die eine tiefe Liebe zueinander empfinden, aber ihre pure, naive Liebe durch die familieninternen und politischen Umstände gefährdet sehen. Sie werden mit den Unwägbarkeiten des Erwachsenwerdens konfrontiert und durch die Verhaltensweisen von Phèdre und Thésée in Mitleidenschaft gezogen. Die privaten Gefühle und Wünsche der Figuren stehen zudem immer im Spannungsfeld zur öffentlichen Rolle, die sie spielen müssen. Nehmen wir die Figur der Phädra einmal genauer unter die Lupe. In der Antike wurde sie vornehmlich negativ gesehen: sei es als bösartige Ver leumderin ihres Stiefsohnes, nachdem sie ihn aus Wut über die fehlende Gegenliebe bei seinem Vater verunglimpft hat, oder als lüsterne Ehe brecherin. Welche Schattierungen hat sie bei Rameau? Rameau verrät sie nie, sondern zeigt sie uns in jedem Moment menschlich. Wir können immer mit ihr mitfühlen und erleben sie als ein Opfer ihrer eigenen Emotionen. Dem jugendlichen Hippolyte ist sie schutzlos ausgeliefert. Sie ist geradezu krank vor Liebe, was sich auch in ihrem erotisch aufgeladenen Gesangspart gegenüber Hippolyte bemerkbar macht. Phèdre kann sich in ihrem Liebeswahn kaum vorstellen, dass Hippolyte sie nicht liebt, auch wenn sie durchaus merkt, dass Hippolyte Aricie zugeneigt ist. Doch das lässt sie ganz einfach nicht zu. Nur allzu gerne lässt sie sich von ihrer Vertrauten Oenone falsch beraten, mit Argumenten, die völlig absurd sind: Oenone flüstert ihr ein, dass Phèdre Hippolyte mit der Krone verführen könne. Als ob man Liebe durch Geld oder Macht kaufen könnte! Als sie Hippolyte die Krone über das Land anbietet und er ihr deutlich macht, dass ihn das nicht interessiert, ist das ein furchtbarer Schlag für Phèdre. Ihre Wut fällt aber nicht auf ihn, sondern auf ihre Rivalin Aricie. In Phèdre steckt letztlich ein gefährlich-giftiger Cocktail aus Liebe, Scham, Schuld und Hass. Dass sich Phèdre ausgerechnet in ihren Stiefsohn verliebt, ist auch ein Stück weit naheliegend: Vom eigenen Ehepartner vernachlässigt, der nie zuhause ist, ist Hippolyte für sie vielleicht auch eine Art Ersatz.
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Theseus ist einer der ganz grossen Helden des altgriechischen Sagenkos mos. Er ist ein Krieger, ein Abenteurer und ein berüchtigter Weiberheld. Wie «heldenhaft» wird er bei Rameau präsentiert? In dieser Oper ist er hochemotional, verletzlich und steht gebrochen vor uns. Rameau hat ihm einen eigenen Akt gewidmet, der seinen Gang in die Unterwelt beschreibt, wo Thésée seinen Freund Perithous zu befreien versucht. Natürlich fragt man sich, was diese Liebe zu diesem Freund, der in der Oper selbst nie zu Wort kommt, bedeutet. Wenn man sich hier die Musik anhört, kommt man unweigerlich zum Schluss, dass dieser zweite Akt eine einzige verzweifelte Liebesarie sein muss. Thésée bittet die Gestalten der Unterwelt sogar, ihm den Tod zu geben, um mit Perithous vereint zu sein.
Das komplette Programmbuch Das wird ihm aber verwehrt. Thésée wendet sich dann an seinen Vater Neptun, bei dem er drei Wünsche offen hat, und bittet ihn, wenigstens können Sie auf wieder zu den Lebenden zurückkehren zu dürfen. Der Wunsch wird ihm gewährt, aber die Parzen, die Schicksalsgötter, prophezeien ihm, dass www.opernhaus.ch/shop er dafür zuhause die Hölle vorfinden werde... Er kommt in dem Augenblick nach Hause, als er Hippolyte mit Phèdre oder am Vorstellungsabend im Foyer in einer Situation sieht, die in ihm den Argwohn aufkommen lässt, Hippolyte habe sich an seiner Stiefmutter vergriffen – Oenone kippt hier zusätzliches Öl ins Feuer. Aber die Hölle in diesem Stück stehterwerben für mich grundsätzlich für des Opernhauses die dysfunktionale Familie, die vollkommen aus dem Gleichgewicht gefallen ist und unter den emotionalen Dynamiken leidet. Schuld daran haben sowohl Phèdre als auch Thésée. Und gleichzeitig sind sie beide tragische Figuren, da sie in ihren Gefühlen vollkommen isoliert sind. Die einzige Gemeinsam keit ist ihr tiefer Schmerz über den vermeintlichen Tod von Hippolyte: Thésée hat ja entschieden, dass sein Sohn sterben muss, nachdem er den Verleum dungen Oenones Glauben geschenkt hat. Diana rettet Hippolyte im letzten Moment, doch Phèdre weiss davon nichts und nimmt sich das Leben. Der Wunsch von Thésée, dass sein Kind aufgrund der Blutschande sterben möge, wird in sämtlichen Adaptionen des Mythos sehr deutlich artiku liert. Was steckt dahinter?
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Bestimmt geht es nicht allein um die Tatsache, dass Thésée seinen Sohn nur deshalb dem Tod zuführen möchte, weil er ihm eine Schändung Phèdres unterstellt. Unbewusst spielt hier sicher auch die eigene Wut und der Hass mit, dass mit Hippolyte eine neue Generation heranwachsen und ihn ent machten wird. Doch gleichzeitig macht Rameau sehr deutlich, dass Thésée seinen Wunsch und die anschliessende Tat sofort bereut. Diese in der Musik ausgedrückte Ambivalenz macht diese Figur ja auch so glaubwürdig. Wir erleben insgesamt also eine sehr tragische Geschichte, aber gleich zeitig gibt es in dieser Oper viele Divertissements, die in der Tragédie lyrique der Unterhaltung dienten. Wie gehst du damit um? Zunächst empfinde ich sie als grosse Bereicherung. Das Wunderbare an diesen instrumentalen Tanzsätzen ist, dass sie Rameau immer wieder anders einsetzt und musikalisch immer wieder neu strickt. Manchmal sind sie Teil der Handlung, manchmal nicht, manchmal sind sogar Solisten darin integriert. Das ist natürlich eine grosse Herausforderung für die Regie, aber ich habe mich entschieden, genau wie Rameau immer wieder anders damit umzugehen und sie oft zum Vertiefen der Charaktere zu benutzen. Die vielen Divertisse ments tragen naturgemäss zu einer gewissen Kleinteiligkeit im szenischen Ablauf bei, und damit wird auch die Psychologie der Charaktere wie in einem Kaleidoskop aufgefächert. Aber das wiederum hat seinen ganz eigenen Reiz.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Kathrin Brunner
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Zittere, erschaudere vor Entsetzen! Du verlässt das Reich der Hölle und findest die Hölle in deinem Haus vor! «Hippolyte et Aricie», Parzen, 2. Akt
PHÄDRA Jean Racine
Phädra: Genug sagt’ ich, die Augen dir zu öffnen. So sei es denn! So lerne Phädra kennen Und ihre ganze Raserei. Ich liebe. Und denke ja nicht, dass ich dies Gefühl Vor mir entschuld’ge und mir selbst vergebe, Dass ich mit feiger Schonung gegen mich Das Gift genährt, das mich wahnsinnig macht: Dem ganzen Zorn der Himmlischen ein Ziel, Hass ich mich selbst noch mehr, als du mich hassest – Zu Zeugen des ruf ich die Götter an, Sie, die das Feuer in meiner Brust entzündet, Das all den Meinen so verderblich war, Die sich ein grausam Spiel damit gemacht, Das schwache Herz der Sterblichen zu verführen. Ruf das Vergangne dir zurück: dich fliehen War mir zu wenig. Ich verbannte dich! Gehässig, grausam wollt’ ich dir erscheinen; Dir desto mehr zu widerstehn, warb ich Um deinen Hass – Was frommte mir’s! du hassest Mich desto mehr, ich – liebte dich nicht minder, Und neue Reize nur gab dir dein Unglück. In Glut, in Tränen hab ich mich verzehrt, Dies zeigte dir ein einz’ger Blick auf mich, Wenn du den einz’gen Blick nur wolltest wagen. Jean Racine, «Phädra», 2. Aufzug, 6. Auftritt, übertragen von Friedrich Schiller
MUSIKALISCHER REICHTUM Dirigentin Emmanuelle Haïm über den Ausnahmekomponisten Jean-Philippe Rameau Frau Haïm, Sie beschäftigen sich schon lange mit der Musik von JeanPhilippe Rameau. Vor kurzem haben Sie in Dijon dessen letztes Bühnen werk, Les Boréades, dirigiert, nun folgt in Zürich Hippolyte et Aricie, Rameaus Erstlingswerk für die Opernbühne, das dreissig Jahre früher entstanden ist. Was für eine Entwicklung vollzieht der Komponist in diesen Jahren? Als Rameau 1733 Hippolyte et Aricie komponierte, war er bereits 50 Jahre alt, und obwohl es sein «erster Versuch» für die grosse Opernbühne war, ist ihm damit gleich ein Meisterwerk gelungen. Entscheidend zum sofortigen Erfolg dieser Tragédie en musique beigetragen hat sicher der klug gewählte Stoff: Die tragischen Ereignisse um Phädra, Theseus und Hippolytos, die von Schuld, Verbrechen und Vernichtung erzählen, mussten zwangsläufig zu einer wilden und zuweilen verstörenden Musik führen. Die Figuren, die der griechischen Mythologie entstammen, und ihre tragischen Schicksalsver strickungen sind wie dafür geschaffen, Rameaus neuartige, harmonisch kühne, reiche und komplexe Musiksprache auf der Opernbühne zu etablieren. Es ist ein erstaunlich perfektes, geradezu vollendetes Erstlingswerk. Trotzdem versuchte Rameau aber konsequent, sich weiterzuentwickeln und am Puls der Zeit zu bleiben: Es gibt nicht eine, sondern drei Versionen von Hippolyte: Als das Werk 1742 und 1757 in Paris wiederaufgenommen wurde, arbeitete Rameau es jedes Mal um. Das Gleiche gilt für Opern wie Castor et Pollux, von der es mehrere Versionen gibt, oder Dardanus, wo die beiden Fassungen von 1739 und 1744 eigentlich völlig unterschiedliche Stücke sind. Als Rameau im Alter von 80 Jahren Les Boréades komponierte, hat er dann genau das gemacht, was er wollte, ohne auf Meinungen oder Urteile anderer zu
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hören. Er konnte dieses Werk selbst nicht mehr erleben oder umarbeiten – aber ich glaube, in diesem Fall hätte er das auch nicht getan. Es gibt bei Rameau keine Entwicklung der Form; diese hat er von seinen Vorgängern übernommen und weitestgehend unangetastet gelassen. Die Entwicklung besteht darin, dass Rameau sich selber immer wieder revidierte und dabei die wechselnden Moden, die geistigen Strömungen seiner Zeit, aber auch den Geschmack des Publikums berücksichtigte. Für mich ist deshalb jede einzelne Fassung seiner Opern ein Meisterwerk. Äusserlich betrachtet, könnte man meinen, Rameau sei im Alter von 50 Jahren urplötzlich von der Muse geküsst worden. Briefe des Kompo nisten zeigen aber, dass er lange bevor er überhaupt eine Oper geschrieben hatte, schon sehr von seiner Sonderstellung als Komponist überzeugt war. Sind Rameaus Bühnenwerke also von langer Hand vorbereitet? Ich denke schon. Die Cembalostücke, die Rameau einige Jahre vor Hippolyte et Aricie geschrieben hat, sind beispielsweise genauso sorgfältig konstruiert und durchdacht wie später seine Bühnenwerke. Und der Traité de l’harmonie, Rameaus 1722 veröffentlichte Harmonielehre, in die er viel Zeit investierte und die er immer wieder erweiterte, zeigt, wie intensiv und detailliert er sich mit den Gesetzen der Musik beschäftigt hat. Natürlich wären seine Bühnen werke ohne diese Theorie undenkbar. Aber für mich sind die Cembalostücke oder der Traité nicht nur Vorübungen, sondern ebenfalls in sich geschlossene und perfekte Werke. Es ist ein Glück, dass Rameau in Paris mit den richtigen Menschen zusammengekommen ist, und sich die Möglichkeit ergab, Hippolyte et Aricie auf die Bühne zu bringen, sonst hätte seine Opernkarriere vielleicht auch früher begonnen oder gar nie stattgefunden. Rameau hatte es wohl lange nicht leicht, einen Textdichter zu finden, der seinen Ansprüchen genügte. Sein Vorgänger Jean-Baptiste Lully hatte mit Philippe Quinault stets einen talentierten Librettisten zur Seite, der ihm alle Wünsche erfüllen konnte. Rameau benötigte aber Texte von einer anderen Qualität: Sie sollten sich nicht mehr so eng an der gesprochenen Tragödie orientieren, sondern einen Raum öffnen, in dem sich die Musik entfalten konnte. Er brauchte eher Umrisse, eine Hülle, die er dann ausfüllen konnte. In Hippolyte et Aricie
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erfahren wir beispielsweise nur partiell, was mit Phèdre passiert. Diese Zurücknahme der konkreten Handlung zugunsten einer differenzierteren musi kalischen Ausgestaltung ist von Rameau aber durchaus so gewollt. Voltaire meinte, Rameau habe aus der Musik «eine neue Kunst» gemacht, André Campra befand, dass in diesem einen Werk genügend Musik für zehn Opern stecke. Was war an dieser Musik so überraschend? Der allgemeine Reichtum seiner Partitur, die Komplexität der Harmonien, die Gewagtheit aber auch die Subtilität von Rameaus Dissonanzen müssen auf seine Zeitgenossen starken Eindruck gemacht haben. Es geht dabei nicht nur um einzelne Stellen, dieser Reichtum ist überall zu finden: Schon die Ouvertüre ist aussergewöhnlich – lyrisch und sehr tragisch zugleich, mit einer komplexen fugierten Struktur im Mittelteil. Aber auch die Schilderung einzelner Charaktere ist bei Rameau äusserst differenziert, beispielsweise zu Beginn des dritten Akts, wo er alle Mittel nutzt, um die Charakterzüge von Phèdre zu zeichnen: Ihre Fragilität, aber auch ihre Verzweiflung kommen hier sehr deutlich zum Ausdruck. Man könnte Rameaus musikalischen Reichtum aber auch anhand der Chöre aufzeigen, sie weisen aussergewöhnlich komplex geführte Mittelstimmen und ausgefeilte harmonische Wendungen auf, ohne dass dabei der natürliche Fluss und die Vitalität verloren geht – oder anhand der Zusammensetzung des Orchesters: auch hier gibt es bei Rameau eine unglaubliche Vielfalt an Möglichkeiten und Klangmischungen: Die Fagotte beispielsweise werden nicht mehr nur in der Bass- sondern auch in der Tenorlage eingesetzt, was eine deutlich hörbare Farbe ist. Mit vier Flöten und Oboen bekommen die Bläser mehr Bedeutung; aber auch der Streicherkörper mit einer gemischten Bassgruppe aus Celli, Violen und Kontrabässen erlaubte Rameau, mit den Klängen wie mit Farben zu malen. Für die Zeitgenossen von Rameau, die noch an Lullys Stil gewohnt waren, kam das einer Revolution gleich. Für den durchschnittlichen Hörer von heute, der sich an den «Lärm» des 21. Jahrhunderts gewöhnt hat, unterscheiden sich die musikalischen Sprachen von Lully und Rameau nur vage voneinander. Finden Sie das ein Problem?
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Man kann solche Unterschiede natürlich nur hören, wenn diese Musik oft genug gespielt wird. Das ist ausserhalb von Frankreich nicht überall der Fall. Ich versuche sehr viel Musik von Rameau zu dirigieren und sie den Musikern schmackhaft zu machen. Nur wenn die Musiker selbst von der Qualität dieser Kompositionen überzeugt sind und dafür einstehen, kann die Begeiste rung auch auf das Publikum überspringen. Wenn aber die Möglichkeit besteht, aufmerksam den Tragédies en musique von Lully, Charpentier, Campra und Rameau zuzuhören, wird selbstverständlich auch der heutige Hörer deutliche Unterschiede feststellen. Schlecht steht es um die Verbreitung von Rameaus Musik allerdings nicht, wenn man bedenkt, dass sie über ein Jahrhundert lang überhaupt nicht mehr zu hören war. Claude Debussy bedauerte das beispielsweise sehr und war begeistert, als Hippolyte et Aricie 1908 zum ersten Mal wieder auf die Bühne kam… Wenn man die kritischen Editionen von Rameaus Werken aus der Zeit um 1900 studiert, ist man erstaunt, was für ein umfassendes Wissen damals vorhanden war. Musiker wie Claude Debussy oder Vincent d’Indy schätzten Rameaus Werke sehr, erforschten die verschiedenen Fassungen und halfen, dieses Repertoire wieder zu entdecken. Die Realisierung von Rameaus Opern war damals sicher noch sehr schwierig, allein deshalb, weil die Instrumente um 1900 viel höher gestimmt wurden als zu Rameaus Zeiten, und deshalb die Gesangsstimmen kaum singbar waren. Dass wir heute wieder regelmässig Rameau hören können, hat aber nicht nur mit der historisch informierten Aufführungspraxis der jüngst vergangenen Jahrzehnte zu tun, sondern auch damit, dass sich gewisse Musiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark für seine Kompositionen interessierten. D’Indy oder Debussy sind für die Wiederentdeckung von Rameaus Musik ähnlich bedeutend wie Mendelssohn im 19. Jahrhundert für die Bach-Renaissance.
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Debussy schrieb etwas scherzhaft, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn Rameau zuerst seine Opern und erst danach seine theoretischen Ab handlungen geschrieben hätte. Einige Zeitgenossen hielten Rameau näm
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lich eher für einen musizierenden Philosophen als für einen praktischen Theatermusiker, was zu grossen Streitereien zwischen den Anhängern Lullys und denjenigen Rameaus und später auch zwischen den Verfechtern der französischen und der italienischen Oper führte. Aber so war Rameau. Die Gesetzmässigkeiten und Regeln der Musik spielten für seine Auffassung eine grosse Rolle. Es war im 18. Jahrhundert ausserdem allgemein üblich, seine theoretischen Überzeugungen aufs Papier zu bringen. Auch die Flötenschule von Quantz oder die Klavierschule von C. P. E. Bach – heute unverzichtbare Quellen für die historische Aufführungspraxis – stammen aus dieser Zeit. Es ist das Zeitalter der Aufklärung, viele Dinge werden neu organisiert und definiert – und das schlägt sich eben auch in grossen Abhandlungen nieder. Debussy scheint das aus einer anderen Perspektive zu sehen: Er glaubte vielleicht, dass die intellektuellen Züge Rameaus Ansehen geschadet haben, und dass seine Musik im 19. Jahrhundert deshalb vergessen ging. Aber die Debatten und Streitereien über Rameaus Musik hatten ja durchaus auch etwas Gutes – jedenfalls haben sie den Komponisten immer wieder dazu motiviert, sein Werk zu revidieren und weiterzuentwickeln. Sie haben es schon angesprochen: Rameau benötigte für seine Kompo sitionen Texte von einer besonderen Qualität. Gemessen an Jean Racines sehr berühmter Tragödie Phèdre aus dem Jahr 1677 ist das Narrativ in Rameaus Oper fragmentarisch, flach und dramaturgisch etwas sonderbar: Im zweiten Akt der Oper wird sogar eine nebensächliche Erzählung über Theseus in der Unterwelt ausgebreitet, die bei Racine nur am Rand erwähnt wird. Warum das? Die Antwort ist ganz einfach: Weil dieser Akt Rameau die Möglichkeit bietet, eine unglaubliche Musik zu schreiben! Im zweiten Akt wird tatsächlich eine zusätzliche Geschichte erzählt; es geht darum, wie Thésée in die Unterwelt steigt, um die Freigabe seines Freundes Pirithous zu bewirken. Rameau nutzt diesen Akt, um die Figur des Thésée einzuführen und ihn musikalisch zu charakterisieren. Besonders interessant ist der zweite Akt aber im Vergleich mit dem ersten: Während der erste mit den Priesterinnen, Diana und Aricie vorwiegend weiblich besetzt ist, bildet der zweite Akt einen grossen Kontrast da-
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zu: Nicht nur Thésée und Pluto sind Männerstimmen, sogar die – eigentlich weiblichen – Figuren der Parzen und der Tisiphone werden hier ausschliesslich von Tenor- und Bassstimmen gesungen. Dieser Höllenakt hat also eine ganz eigene musikalische Farbe, nicht nur was die Stimmen angeht, sondern auch im Orchester: In der Hölle gibt es natürlich keine Flöten. Schliesslich hören wir im zweiten Akt die beiden Trios des Parques, die zu den harmonisch gewagtesten Stücken von Rameau zählen. Bei der Uraufführung weigerten sich die Musiker, das zweite dieser Trios, das den Akt beschliesst, zu spielen. Für die «höllischen» Dissonanzen und unerwarteten Modulationen dieser Passagen hatten sie kein Verständnis. Eine Besonderheit im Aufbau der Tragédies en musique sind die soge Das komplette Programmbuch nannten Divertissements: Jeder Akt ist von Chören, Tanzmusiken und orchestralen Zwischenspielen durchsetzt, die nur lose mit der Handlung können Sie auf verbunden sind… Diese Form hat einen ganz bestimmten Grund. Die Zusammenführung von Tanz, www.opernhaus.ch/shop Musik und Theater war der Traum von Lully. Louis XIV., bei dem Lully als Musiker angestellt war, war selbst ein begnadeter Tänzer und von der oder amgeradezu Vorstellungsabend Tanzkunst besessen. Und Lully hatte die Genialität, dieim damals Foyer in Frankreich sehr beliebte Sprechtragödie zu musikalisieren und sie mit prächtigendes Balletten und Chören zu verbinden. Die Tragédie en musique war eine Opernhauses erwerben Machtdemonstration der Regentschaft von Louis XIV. Es ist eine typisch französische Form: Das Barbarische der griechischen Tragödie und das Prunkvoll- Elegante der Tanzkunst hat die Franzosen damals gleichermassen begeistert. Für die deutsche Mentalität ist die Verbindung so unterschiedlicher Elemente seit jeher problematisch, die Divertissements stören geradezu die Stringenz der Tragödie. Muss man dieser besonderen Kunstform also vielleicht mit einer weniger intellektuellen Haltung begegnen? Paul Valéry gab 1934 beispielsweise Schauspielern, die eine Tragödie von Racine aufführten, den Rat, sich nicht um den Sinn, sondern um die Musikalität der Worte zu kümmern. Müsste die Tragédie en musique demnach nicht in ganz besonderem Masse erlebt statt verstanden werden?
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Es wäre auf jeden Fall falsch, die Divertissements als Störfaktoren aufzufassen, die die Handlung unterbrechen – insbesondere bei Rameau, der diese Zwischenspiele sehr subtil und wirkungsvoll einsetzt. In Hippolyte et Aricie tragen die Divertissements viel dazu bei, dass die verschiedenen Akte ganz unter schiedliche musikalische Färbungen haben. Das Divertissement der Jagd im vierten Akt beispielsweise ist wild, lebensfroh und sehr energiegeladen. Und das hat natürlich auch eine dramaturgische Bedeutung: Es versetzt das Publikum nämlich in eine Stimmung, die den unmittelbar danach folgenden (vermeintlichen) Tod Hippolytes besonders tragisch erscheinen lässt. Ähn liches lässt sich im dritten Akt beobachten: Thésée ist soeben zurückgekehrt und findet seine Frau Phèdre zusammen mit seinem Sohn Hippolyte vor, ohne zu wissen, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Thésée ist also innerlich völlig aufgewühlt. Und genau hier fügt Rameau das Divertissement der Matrosinnen und Matrosen ein, die die Heimkehr des Helden feiern. Für Thésée sind diese Feierlichkeiten aber unerträglich. Als Publikum fühlt man mit ihm mit und spürt, dass er sich denkt: Wann wird das endlich aufhören? Je schöner der Matrosenchor singt, desto mehr kann man mit Thésée mitfühlen, der von einer schrecklichen Ungewissheit gequält wird. Für die gesamte Konstruktion, aber auch zur Steuerung der Empfindungen des Publikums sind die Divertissements also absolut notwendig. Sie haben Hippolyte et Aricie 2012 bereits an der Pariser Oper dirigiert. Inwiefern unterscheidet sich die Fassung, die Sie jetzt in Zürich spielen, von der damaligen? Wir spielen hier eine völlig andere Fassung. Wie gesagt, ich gebe keiner der drei Fassungen der Oper den Vorzug. Es sind alle gleich gut. Und ich bin der Meinung, dass man die verschiedenen Versionen in einem pragmatischen Sinn verwenden darf, weil auch Rameau das so gemacht hat: Man darf sie den musikalischen Möglichkeiten und szenischen Anforderungen entsprechend mischen. Wir spielen hier eine Mischfassung, die zu grossen Teilen aus der ersten Version von 1733 besteht, mit Einschüben aus den beiden Partituren von 1742 und 1757. Den Prolog des Werks, der in diesem Fall nicht nur eine Huldigung an den König ist, sondern eine eigene Geschichte erzählt, lassen
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wir weg. Er würde nicht in das Regiekonzept von Jetske Mijnssen passen, und es ist mir sehr wichtig, ihre Vorstellungen musikalisch zu unterstützen. Auch Rameau hat den Prolog in der letzten Fassung von Hippolyte et Aricie weggelassen, und seine späten Opern haben ebenfalls keinen Prolog mehr. Das gibt uns heute die Freiheit, ganz theaterpraktisch zu denken und das Material so einzurichten, dass wir es möglichst stimmig und wirkungsvoll auf die Bühne bringen können. Das Gespräch führte Fabio Dietsche
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HADES Ovid
Von giftigen Eiben umdüstert senkt sich jäh ein Weg. Er führt durch dumpfes Schweigen hinab zur Wohnstatt der Toten. Die träge Styx haucht Nebel aus, und der jüngst Verstorbenen Schatten steigen dort hinunter, nur Schemen jen seits des Grabes. Fahle Dämmerung und Winter herrschen in dieser Öde, und die neu angekommenen Seelen wissen weder den Weg zur Stadt an der Styx noch zur schauervollen Burg des finsteren Pluto. Weitläufig ist die Stadt, tausend Zugänge hat sie und auf allen Seiten offene Tore. So wie das Meer die Ströme der ganzen Erde, so nimmt sie alle Seelen auf. Nirgendwann ist sie für ihre Bevölkerung zu klein, noch spürt sie das Wachsen der Menge. Blutleer, ohne Fleisch und Gebein, irren die Schatten umher. Die einen suchen den Markt auf, andere den Palast des Herrschers dort unten, andere treiben ein Gewerbe, ganz wie einst im Leben, wieder andere leiden gebührende Strafe. Metamorphosen IV, 432-446
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RAMEAUS HÖLLE Ulrich Schreiber
Der Gang des Theseus in die Unterwelt ist eine der ausdrucksreichsten Szenen in der französischen Oper überhaupt, durchaus mit Glucks Hades-Szene im Orfeo vergleichbar, wenngleich ungleich breiter ausgemalt. Von seinem Kampf mit der Erinnye Tisiphone über das Strafgericht des Pluto, seinen zweiten Wunsch an Neptun, auf die Erde zurück zu dürfen, bis hin zum Parzenspruch, der ihm prophezeit, die Hölle verlassen zu dürfen, aber im eigenen Hause die Hölle zu finden, reiht sich ein eindrucksvolles Tableau an das andere. Bemerkens wert neben der Charakterisierung des Theseus sind vor allem Rameaus orches tersprachliche Mittel. Die merkwürdigen Oktavgänge der Streicher zu Beginn der Hades-Szene, die Fagott-Klänge im Duett des Theseus mit Tisiphone, die jagenden Violinpassagen im zweiten Parzentrio oder auch der düstere Dämonen chor ragen ebenso aus der Zeit heraus wie die Zeichnung Tisiphones als seelen loses Wesen (mit grossen Intervallsprüngen) oder die beiden knappen Arien, in denen Theseus verlangt, mit seinem Freund vereint zu werden. Ähnliches gilt für Plutos gehämmerte Deklamation, deren Wut von den Dämonen übernom men wird, oder Theseus’ Bitte an Neptun, die sich über einer arpeggioartigen Begleitung erhebt (stilistisch der italienischen «Preghiera» vergleichbar). Über ragt wird das alles von dem Parzentrio, das in Halbtonschritten gespenstisch von g-Moll nach d-Moll moduliert. In der Szene hat Rameau ein Stück wahrer Zukunftsmusik geschrieben. Erst wenn man diese enharmonische Kühnheit im Zusammenhang mit tradierten Genreszenen sieht, scheint der ganze Reichtum seiner Musik auf.
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THESEUS Jean Racine
Theseus: Was muss ich sehen? Welch ein Schrecknis ist’s, Das ringsum sich verbreitend all die Meinen Zurück aus meiner Nähe schreckt? Kehr ich So ungewünscht und so gefürchtet wieder, Warum, ihr Götter, erbracht ihr mein Gefängnis? – Ich hatte einen einz’gen Freund. Die Gattin Wollt’ er dem Herrscher von Epirus rauben, Von blinder Liebeswut betört. Ungern Bot ich zum kühnen Frevel meinen Arm; Doch zürnend nahm ein Gott uns die Besinnung. Mich überraschte wehrlos der Tyrann, Den Waffenbruder aber, meinen Freund, Pirithous – o jammervoller Anblick! – Musst’ ich den Tigern vorgeworfen sehn, Die der Tyrann mit Menschenblute nährte. Mich selbst schloss er in eine finstre Gruft, Die, schwarz und tief, ans Reich der Schatten grenzte. Sechs Monde hatt’ ich hilflos hier geschmachtet, Da sahen mich die Götter gnädig an, (...) Und jetzo, da ich fröhlich heimgekehrt Und, was die Götter Teures mir gelassen, Mit Herzensfreude zu umfassen denke – Jetzt, da die Seele sich nach langem Durst An dem erwünschten Anblick laben will – Ist mein Empfang Entsetzen, alles flieht mich. Jean Racine, «Phädra», 3. Aufzug, 5. Auftritt, übertragen von Friedrich Schiller
MYTHOLOGISCHES RUND UM «HIPPOLYTE ET ARICIE» Aricie
derts Diana besonders häufig in der bildenden Kunst auftaucht, erklärt sich daraus, dass zwei Könige, Franz I. und sein Sohn Heinrich II., in eine Schöne namens Diane de Poitiers ver narrt waren, bis die Königinwitwe Katharina de’ Medici die Karriere der alternden Mätresse beendete.
Tochter des athenischen Königs Pallas aus dem Geschlecht der Pallantiden, die die Herrschaft von Theseus bedrohten. Theseus schlug einen ihrer Aufstände nieder und löschte Pallas’ fünf zig Söhne aus. Für die Zukunft war dadurch eine Heirat unter den Anhängern des Pallas und der Familie des Theseus strikt untersagt. Aricia lebte als feindliche Prinzessin am Hof des Theseus. Sie war, ebenso wie Hippolyte, Anhängerin des Kultes der Keuschheitsgöttin Diana. Mythologischer Überlieferung nach ver sinnbildlicht Aricia einen anmutigen Hain, der den Nymphen als Aufenthalt diente. Ihr Name symbolisiert Natur und Natürlichkeit.
Hippolyte Sohn des Königs Theseus von Athen und der Amazonenkönigin Antiope, oder ihrer Schwes ter Hippolyte. Seine Stiefmutter Phädra ver suchte ihn zu verführen. Als ihr das nicht ge lang, verleumdete sie ihn bei seinem Vater Theseus. Theseus verbannte Hippolyte und bat seinen Vater, den Meeresgott Neptun, Hippo lyte zu töten. Als Hippolyte in die Verbannung fuhr, liess ein aus dem Meer auftauchender Stier seine Pferde scheuen; Hippolyte wurde vom Wagen geschleudert und zu Tode ge schleift, aber von Diana und der Heilkunst des Gottes Asklepios wiederbelebt. Römischer Überlieferung nach verhüllte Diana Hippolyte in eine Wolke, verheiratete ihn mit einer Nym phe und gab ihm den Namen Virbius («zweimal
Diana Italienische Mond- und Fruchtbarkeitsgöttin; als Herrin der Jagd und des Waldes der griechi schen Artemis gleichgesetzt. Sie ist gekennzeich net durch ihre bewusst gewählte Jungfräulich keit, die sie auch von ihrer Gefolgschaft, zumeist Nymphen, erwartete. Sie beschützte ihre Anhänger gegen alle sterblichen Frauen und Männer. Dass im Frankreich des 16. Jahrhun
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ein Mann»). Euripides hat zwei Hippolytos- Tragödien geschrieben, von denen die erste, heute verlorene, das Missfallen des Athener Publikums erregte, wahrscheinlich, weil darin Phädra ihren Stiefsohn auf offener Bühne zu verführen suchte. In der zweiten wird Phädras verbotene Liebe mit der Rachsucht Aphrodi tes / Venus’ begründet, die Hippolytes allzu grosse Keuschheit ärgerte.
als Töchter des Zeus und der Themis: Klotho, Lachesis und Atropos. Die erste spinnt den Le bensfaden, die zweite bestimmt seine Länge, die dritte schneidet ihn ab.
Peritheus Sohn des Zeus und enger Freund von Theseus. Er war verwickelt in den Krieg mit den Kentau ren. Theseus stellte Peritheus auf die Probe und täuschte einen Viehraub vor. Statt zu kämpfen, schworen sich die beiden ewige Freundschaft, die sich besonders bewährte, als Theseus zu sammen mit Peritheus in die Unterwelt ging, um Persephone zu rauben. Ihr Gatte Hades/ Pluto bannte daraufhin die beiden in der Un terwelt fest. Herakles konnte Theseus befreien, Peritheus aber musste im Totenreich bleiben.
Neptun Römischer Gott der Gewässer, früh mit Posei don gleichgesetzt und, wegen der besonderen Beziehung dieses Gottes zum Pferd, als Be schützer der Rennbahn verehrt. Zu den weni gen Sterblichen, die ihn ihren Vater nennen durften, gehörte Theseus.
Oenone
Phädra
Die Vertraute Phädras, die in den antiken und klassischen Bearbeitungen des Phädra-Stoffes eine weit grössere Rolle spielt als in Hippolyte et Aricie. Dennoch bewirkt sie in der Oper zwei für die Handlung wesentliche Umschwünge: Sie bestärkt nach Theseus’ Gang in die Unter welt Phädras Willen, Hippolyte zu lieben, und versteht es, den Argwohn Theseus’ auf Hippo lyte zu verstärken.
Tochter des Minos und der Pasiphae, Schwes ter der Ariadne, zweite Frau des Theseus, die ihren Stiefsohn Hippolytos vergeblich zu ver führen suchte und sich erhängte, nachdem sie den jungen Mann bei seinem Vater verleumdet hatte. (Euripides, Ovid). Seneca folgte in der an grellen Effekten reichen Tragödie Phaedra (um 50 n. Chr.) einem verlorenen Stück des Euripides; an Seneca wiederum orientierte sich Jean Racine mit seiner Tragödie Phèdre (1677).
Parzen
Pluto
Römische Geburtsgöttinnen, später den grie chischen Moiren gleichgesetzt. Moira: Zuteile rin, Schicksalsgöttin. Hesiod nennt drei Moiren
Beiname des Hades: Sohn des Kronos und der Rheia, Bruder des Zeus und des Poseidon, dem
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bei der Teilung der Welt das Totenreich zufiel. Es wird darum, nach seinem Herrscher, auch «Hades» genannt. Seine Gemahlin ist Perse phone, die er in ein finsteres, vom Höllenhund Kerberos bewachtes Reich entführt hat.
feldzug ihrer Kriegerinnen wehrte er am Areo pag bei Athen ab; seine erste Frau, von der er seinen Sohn Hippolyte hatte, soll bei diesem Kampf ums Leben gekommen sein. Seine zwei te, Phädra, verliebte sich in ihren Stiefsohn und verleumdete ihn, als er nichts von ihr wissen wollte, beim Vater, der ihn verstiess und ver fluchte. Mit seinem Freund Peritheus schlug sich Theseus mit den Kentauren herum; mit ihm zusammen raubte er die schöne Helena und wollte gar Persephone aus der Unterwelt entführen. Bei diesem Unternehmen wurden die beiden von Hades festgebannt, und die Dioskuren konnten ohne Mühe ihre Schwester Helena aus Athen zurückholen. Als Theseus von Herakles aus seiner Haft befreit worden war, fand er seine Stadt in fremder Hand und floh nach Skyros zu Lykomedes, der ihn heim tückisch umbrachte.
Theseus Sohn des Poseidons (Neptuns) oder des Aigeus und Aithra, unter deren Obhut er in Troizen aufwuchs. Mit dem Schwert und den Schuhen des Aigeus, die ihm dieser als Erkennungszei chen hinterlassen hatte, machte er sich auf den Weg zu ihm und verrichtete viele Heldentaten: Er tötete Periphetes, Sinis, Skiron, Kerkyon und Prokrustes. In Athen trachtete ihm Medea, die damals mit Aigeus verheiratet war, nach dem Leben; erst schickte sie ihn gegen den Maratho nischen Stier, und als er den bezwungen hatte, versuchte sie ihn zu vergiften. In letzter Minute erkannte Aigeus sein Schwert, schlug seinem Sohn den Giftbecher aus der Hand und vertrieb Medea. Darauf befreite Theseus die Athener von dem schrecklichen Tribut, den sie König Minos zu leisten hatten, erschlug den Mino tauros und fand dank Ariadnes Faden auch den Weg aus dem Labyrinth. Auf der Heimfahrt musste er Ariadne Dionysos überlassen. The seus wurde König von Athen und räumte alle, die ihm vielleicht gefährlich werden konnten, aus dem Weg, darunter die fünfzig Söhne sei nes Onkels Pallas. Mit Herakles kämpfte er gegen die Amazonen und führte die Königin Hippolyte oder Antiope heim. Einen Rache
Tisiphone Eine der drei Rachegöttinnen, die auch als Erinnyen, Eumeniden oder bei den Römern als Furien bezeichnet werden. Sie stellen die per sonifizierten Gewissensbisse dar. Tisiphone verkörpert «die Vergeltung» oder «die den Mord Rächende». Sie wird auf griechischen Ampho ren häufig mit Hundekopf und Fledermaus schwingen dargestellt.
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Totenflüsse: Avernus, Tartaros, Kokytos, Phlegethon Pluto und die Höllengötter rufen im zweiten Akt von Hippolyte et Aricie die Totenflüsse und Totenseen, die zugleich Totengötter symboli sieren, zur Rache für den Frevel von Peritheus und Theseus auf. Avernus ist ein in der Nähe von Neapel gelegener See, den die Römer für den Eingang zur Unterwelt hielten. Tartaros heisst «dunkles Gebiet» unter der Erde und soll noch unterhalb des Hades liegen. Phlegethon bezeichnet einen brennenden Fluss in der Un terwelt, der eine der Grenzen des Hades bilde te. Kokytos heisst der Fluss des Jammers, eine weitere Begrenzung des Hades.
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EIN MEILENSTEIN DER OPERNGESCHICHTE Jean-Philippe Rameaus «Hippolyte et Aricie» Silke Leopold
Die neue Oper, die da am 1. Oktober 1733 in der Académie Royale de Musique, dem Pariser Opernhaus, aufgeführt wurde, liess das Publikum begeistert oder wütend, vor allem aber ratlos und gespalten zurück. Was er denn von Hippolyte et Aricie halten solle, fragte der junge Prince de Conti André Campra, den alten Kapellmeister seines verstorbenen Vaters, und Campra antwortete: «Monseig neur, in dieser Oper ist genug Musik, um zehn daraus zu machen.» Mit seiner knappen Bemerkung brachte Campra, der selbst mit Werken wie L’Europe galante (1697), Tancrède (1702) oder Idomenée (1712) der französischen Oper neue Impulse gegeben hatte, Jean-Philippe Rameaus Leistung auf den Punkt: Hippolyte et Aricie stellte nicht nur, was das Pariser Musikleben mit seinen zahlreichen Debatten um gesellschaftliche und politische Implikationen von Opern anging, sondern auch künstlerisch und insbesondere musikalisch einen Meilenstein der Operngeschichte insgesamt dar. Zum ersten Mal in der Geschichte der Oper betrat Phaidra, Ariadnes jün gere Schwester, die Opernbühne. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Oper griffen Librettist und Komponist einer Oper auf ein bekanntes Sprech drama zurück und stellten sich dem direkten Vergleich zwischen literarischem und musikalischem Theater. Das war, zumal in Frankreich, ein revolutionärer Schritt, denn in dem Land, das zu Recht auf seine literarische Theaterkultur, auf die klassizistischen Tragödien eines Pierre Corneille oder einen Jean Racine stolz sein durfte, hatte sich die Oper überhaupt nur dadurch etablieren können, dass sie sich als in jeder Hinsicht gänzlich verschieden von diesem Sprechtheater präsentierte. Keine der Opern Jean-Baptiste Lullys bewegte sich, was das Sujet anging, auch nur in der Nähe des Sprechdramas. Im Gegenteil: Die französische
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Oper bezog ihre Existenzberechtigung aus der Darstellung all dessen, was im Sprechdrama keinen Platz hatte. Regierte im Drama die «raison», der wortge waltige Dialog, das Ringen um vernunftbasierte Lösungen eines Konfliktes, so lebte die Oper vom «merveilleux», von all den wunderbaren, überraschenden Ereignissen, die sich da jenseits der Vernunft zwischen Himmel und Erde ab spielten, den Gottheiten und Allegorien, dem Elysium und der Unterwelt, den Nymphen und Tritonen, die mit ihren Liedern und Tänzen in den «Divertisse ments» genannten Ensembleszenen für musikalische Unterhaltung sorgten. Der Rückgriff auf Racines berühmte Phèdre, die seit ihrer Uraufführung 1677 zu den Klassikern des französischen Dramas gerechnet wurde, der Anspruch, dieses Drama in musikalischem Gewand völlig neu zu präsentieren, war nichts weniger als eine künstlerische Provokation. Hippolyte et Aricie könnte mit ei nigem Recht als die Geburtsstunde der Literaturoper bezeichnet werden.
Das komplette Programmbuch können Sie auf Der Phaidra-Stoff: ein Tabubruch in der Oper www.opernhaus.ch/shop Rameau war nach den Vorstellungen seiner eigenen Zeit mit 50 Jahren bereits oder am im Foyer ein alter Mann,Vorstellungsabend als er sich dem Pariser Publikum erstmals als Opernkomponist präsentierte. Allerdings hatte er sich schon seit längerem mit der Absicht getra gen,des eine OperOpernhauses zu schreiben, und nach einem geeigneten Librettisten gesucht. erwerben Seine Wahl war zunächst auf Antoine Houdar de la Motte gefallen, der schon das Libretto zu Campras L’Europe galante verfasst hatte. Dieser aber mochte sich für das Projekt so recht nicht erwärmen, worauf Rameau ihm in einem Brief vom 25. Oktober 1727 seine künstlerischen Ideen darlegte und darin wie neben bei sein musikdramatisches Credo formulierte: «Es wäre daher wünschenswert, für das Theater einen Musiker zu finden, der die Natur studierte, bevor er sie malte, und der mit diesem seinem Wissen die Wahl der Farben und Nuancen zu treffen wüsste, die, seinem Geist und seinem Geschmack entsprechend, mit dem notwendigen Ausdruck in Beziehung stünden.» In Simon-Joseph Pellegrin fand Rameau schliesslich einen Mitstreiter, der bereit war, den Tabubruch, den Hippolyte et Aricie darstellte, mitzutragen und mitzugestalten. Der Abbé, der das Pariser Opernpublikum und vor allem die
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Geistlichkeit schon im Jahr zuvor mit einem der Bibel entnommenen Libretto provoziert hatte, war sich der Grenzüberschreitung, die auch die Wahl des Phaidra-Stoffes bedeutete, sehr wohl bewusst. Im Vorwort des 1733 gedruckten Librettos begründete er die Wahl des Stoffes nicht etwa damit, sich mit Racine messen zu wollen, sondern mit der speziellen Eignung dieses Sujets auch für die Opernbühne, weil das «merveilleux» darin so eine grosse Rolle spiele. Tat sächlich bietet die antike Geschichte von Hippolytos, seinem Vater Theseus und seiner Stiefmutter Phaidra einiges an Möglichkeiten, dem Wunderbaren neben den menschlichen Leidenschaften musikalischen Ausdruck zu verleihen. Denn an der tragischen Konstellation zwischen dem athenischen König, seinem Sohn aus der Verbindung mit einer Amazone und seiner kretischen Gemahlin sind, wie in der griechischen Mythologie üblich, die Götter nicht unschuldig. Schon in der antiken Überlieferung ranken sich um Theseus und Hippolytos Geschich ten, in denen Diana, die keusche Jagdgöttin, und ihre rachsüchtige Rivalin Venus, die Göttin der Liebe, ebenso wichtige Rollen spielen wie die Götter der Unterwelt und der Meeresgott Neptun. Und Rameau, der so lange auf die Möglichkeit gewartet hatte, eine Oper zu schreiben, widmete beidem, sowohl den emotionalen Innenwelten seiner Protagonisten als auch den fantastischen Darstellungen der wunderbaren Zwischenwelten, ein Höchstmass an komposi torischer Hingabe.
Von der Dreiecksgeschichte zum Quartett Die Gestalt der Phaidra war erst durch eine kurze Erwähnung in Homers Odyssee, dann aber vor allem durch Euripides in die literarische Welt gekommen. Seine Tragödie Der bekränzte Hippolytos war 428 v. Chr. in Athen aufgeführt worden und handelte von dem Streit zwischen Artemis, der Hippolytos sein Leben weihte, und Aphrodite, die daraufhin Phaidra mit Liebe zu ihrem Stief sohn schlug, von Phaidras Amme, die Hippolytos Phaidras geheime Leiden schaft offenbarte, von Phaidra, die sich daraufhin umbrachte, nicht ohne einen Brief zu hinterlassen, in dem sie Hippolytos der Belästigung zieh, von Theseus, der daraufhin Poseidon bittet, Hippolytos zu bestrafen, von einem Meeresun
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geheuer, das Hippolytos zu Tode bringt, von Artemis, die Theseus über seinen Fehler aufklärt und dem Vater und dem sterbenden Sohn Gelegenheit gibt, sich doch noch zu versöhnen. Im Laufe der Jahrhunderte änderte sich wenig an dieser tragischen Dreiecksgeschichte. Ovid erzählte sie in seinen Heroides und in den Metamorphosen nach; Seneca verlegte in seiner an Euripides geschulten Tragödie Phaedra die Schuldfrage weg von den rivalisierenden Göttinnen und hin in das Innerste einer um ihre emotionale Selbstbeherrschung gebrachten Frau. Racine war es schliesslich, der die Dreicksgeschichte in seiner Phèdre um eine weitere Person ergänzte, indem er Hippolyte eine Geliebte Aricie zur Seite gab und damit eine Symmetrie zwischen Theseus und Phaidra einerseits, Hip polyte und Aricie andererseits herstellte, den Vertretern der alten und der neu en Generation; ausserdem wurde auf diese Weise aus dem familiären Konflikt noch ein politischer, denn mit der Verbindung von Hippolyte und Aricie liess sich eine alte kriegerische Auseinandersetzung zwischen Theseus und Aricies Vater Pallas, in deren Folge Theseus alle Nachkommen seines Gegners mit Aus nahme Aricies getötet hatte, in Frieden beilegen. Um eine Oper aus diesem Sujet zu machen, brachten Pellegrin und Rameau schliesslich, ganz anders als bei Racine, all die anderen Geschichten um Theseus’ Abwesenheit oder das Meeresungeheuer auf die Bühne, die ansonsten nur in den Dialogen oder Botenberichten angedeutet, verbal geschildert worden waren. Dazu gehört der gesamte II. Akt der Oper: Pellegrin erklärte Theseus Abwesenheit mit einer Geschichte, die auf eine andere Episode in der Theseus-Mythologie zurückgriff: Wie dieser versuchte, seinen Freund Peirithoos aus der Unterwelt zu befreien.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Klangfarben und die emotionale Verfassung der Protagonisten Was mag Rameau gemeint haben, als er sich in dem Brief an Houdar de la Mot te mit einem Maler verglich, der die Natur in allen ihren Farben und Nuancen abzubilden imstande sein müsse? Dass er, der sich zuvor als Musiktheoretiker, als Schöpfer einer bahnbrechenden Harmonielehre, als Organist und Orchester leiter einen Namen gemacht hatte, dabei zuallererst an Tonarten und Klang farben, an die instrumentalen Anteile des musikalischen Dramas dachte, dürfte
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wenig überraschen. Blickt man etwa auf die Tonartendisposition von Hippolyte et Aricie, so stellt man einen sorgfältigen Plan fest, der sich beim ersten Hören sicherlich nicht erschliesst, die Wahrnehmung der dramatischen Ereignisse aber dennoch lenkt und prägt. Dass Phèdre die heimliche Hauptperson in diesem Stück ist, obwohl es einen anderen Titel trägt, macht schon die Ouvertüre deutlich: Sie steht in d-Moll, jener Tonart, die seit dem Ende des 17. Jahrhun derts als ernst und schwermütig beschrieben wurde, und die Rameau Phèdre zuordnet. Gleich in ihrem ersten Auftritt im I. Akt verdunkelt ihr d-Moll die lichte D-Dur-Atmosphäre, die die Göttin Diana umgibt: Von Anbeginn an bis in die letzten Szenen des V. Aktes ist Diana von strahlendem, herrscherlichem D-Dur umgeben. Phèdre dagegen verliert sich immer tiefer in düsteren Moll tonarten; ihre grosse Szene zu Beginn des III. Aktes steht in h-Moll, ihre Klage szene am Ende des IV. Aktes in g-Moll. Den II., in der Unterwelt spielenden Akt umgibt Rameau mit Tonarten wie B-Dur, c-Moll und sogar As-Dur, die ansonsten in der Oper eine geringe Rolle spielen; der Komponist malt die Unterwelt mit anderen Klangfarben als die Welt der Lebenden. Darüber hinaus wird das Reich Plutos und seiner Untertanen mit enharmonischen Fortschrei tungen buchstäblich «verunklart», so dass sich das Dunkel dieser Welt auch in der Musik mitteilt. Das zweite Trio der Parzen im II. Akt «Quelle soudaine horreur ton destin nous inspire!» erwies sich in der ersten Fassung als harmo nisch derart komplex, dass Rameau es umarbeiten musste, damit es überhaupt aufgeführt werden konnte. Mit Klangfarben malt Rameau auch im Orchester. Das «merveilleux», die Welt der Götter und der Ungeheuer, kündigt sich in Hippolyte et Aricie immer wieder auch mit einem so genannten «Tonnerre» an, das heisst mit so etwas wie einem auskomponierten Theaterdonner. Dianas Erscheinen im I. Akt etwa wird begleitet von einem «Tonnere» genannten, mehr als vierzig Takte langen, har monisch eher ereignislosen Wirbel von 32stel-Figurationen der Streicher, die den Auftritt der Göttin begleiten. Ähnliche, diesmal «Bruit de mer et vents» genannte Figurationen begleiten das Erscheinen des Meeresungeheuers im IV. Akt und auch Phèdres Klage, die nach dem Verschwinden Hippolytes den Donner und das Beben der Erde zu hören vermeint. Hier bildet Rameau freilich nicht mehr nur die aufgewühlte Natur ab, sondern auch den Nachhall dieses
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Sturms in der aufgewühlten Seele der von Schuld gepeinigten Phèdre. Es sind solche kompositorischen Finessen, mit denen Rameau weit über Lully und sei ne Nachfolger hinauswächst. «Die Natur studieren» und «Malen» bedeutete für Rameau freilich nicht nur die musikalische Darstellung äusserer Ereignisse, sondern auch das musikalische Portraitieren seiner Charaktere. Seit Lully der französischen Oper ein eigenes, von der italienischen zunehmend unabhängiges Gesicht gegeben hatte, lebte diese von einem der pathetischen Theaterdeklamation abgelauschten, «Récit» genannten Vortrag. Und während die italienische Oper zunehmend auf vokale Virtuosität gesetzt und Arienformen entwickelt hatte, die kaum noch in die Handlung integriert waren und statt dessen so etwas wie musikalische Kommen tare zu der emotionalen Verfassung der handelnden Personen darstellten, hatte die «Air» in der französischen Oper ihren schlichten melodischen Charakter und auch ihre im Drama eher untergeordnete Rolle bewahrt. Airs gehörten eher in den Bereich der Divertissements als zur musikalischen Ausstattung der Protagonisten. Rameau aber gab der Arie, der geschlossenen musikalischen Form in Hippolyte et Aricie grösseren Raum; er orientierte sich dabei an dem italienischen Modell der Da-capo-Arie mit ihrer zyklischen A-B-A-Form, die eine solche Arie aus dem Fluss der Handlung heraushob, ohne freilich der italie nischen Virtuosität zu huldigen. Auch für Rameau stand das Récit im Zentrum seiner musikalischen Erfindung. Aber er gab jedem seiner Protagonisten zu Beginn der fünf Akte Gelegenheit, sich dem Publikum mit einer grossen Solo szene zu präsentieren. Den I. Akt eröffnete Aricie; ihre Arie «Temple sacré, séjour tranquille» ist formal eine Da-capo-Arie mit einem ausgedehnten Eingangsritornell und einem Mittelteil in der parallelen Molltonart; dennoch präsentiert sie sich in ihrem musikalischen Charakter als französisch, verzichtet auf jegliche Virtuosität und steht in einem gemessenen Dreiertakt, der an französische Tanzrhythmen ge mahnt. Ähnlich ist Phèdres Gebet an Venus «Cruelle mère des amours» zu Be ginn des III. Aktes gestaltet, auch dieses eine Da-capo-Form und in gemessenem Dreiertakt komponiert. Wie aber Rameau mit einem kleinen Septvorhalt auf dem Wort «mère» den schmerzlichen Charakter dieser Bitte, die Verzweiflung der Liebenden hörbar macht, ist ein Meisterstück musikalischer Portraitierkunst.
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Gerade die vermeintliche Beiläufigkeit dieser Dissonanz belässt Phèdre ihre Würde, nimmt sie gleichsam in Schutz gegenüber all der Schuld, die sie sich auflädt, ohne es doch zu wollen. Und wenn Hippolyte zu Beginn des IV. Aktes mit «Ah, faut-il en un jour perdre tout ce que j’aime» sein Schicksal beklagt, an einem Tag alles verloren zu haben, was er liebte, so kleidet Rameau diese Klage in eine Art Rondoform, in der der erste Vers zu Beginn, in der Mitte und am Schluss erklingt. Lediglich für Theseus sah Rameau eine andere Selbstdarstel lung vor als für die anderen drei Rollen. Im II. Akt erlaubt es ihm sein Kampf mit Tisiphone nicht, sich dem Publikum beherrscht und gewandt zu präsentie ren; und zu Beginn des V. Aktes, als die Katastrophe über ihn hereingebrochen ist, als er seine Gemahlin tot weiss und seinen Sohn tot wähnt, portraitiert Rameau seine Verzweiflung nicht mit einer geschlossenen Form, sondern mit einem dramatischen Monolog und bettet diesen in einen Orchestersatz ein, der mit der Stimme zu verschmelzen scheint und nicht die äussere Situation, son dern die innere Befindlichkeit des trauernden Königs hörbar macht. Dieser Monolog nimmt vieles von dem vorweg, was in der zweiten Jahrhunderthälfte unter dem Etikett «Reformoper» erprobt wurde – eine Synthese von Drama und Musik, in der sich die beiden Komponenten zu einem grösseren, intensiveren Ganzen zusammenfanden. André Campra hatte sicherlich recht, als er in Hippolyte et Aricie ein Über mass an musikalischer Erfindung konstatierte. Die Charakterisierung der Pro tagonisten, die Orchesterbehandlung, die musikalische Durchdringung des Dramas, ohne auf die vom Publikum erwartete Unterhaltsamkeit, auf die Tänze und Lieder in den Divertissements, auf die Jäger und Priesterinnen zu verzich ten: Rameaus erste Oper wirkt, als habe der Komponist über Jahre hinweg musikalische Ideen in sich aufgestaut, die sich nun, bei der ersten Gelegenheit, Raum verschafften. Niemand konnte ahnen, dass der Fünfzigjährige in den mehr als drei Jahrzehnten, die ihm noch vergönnt waren, zahlreiche weitere Arbeiten für das musikalische Theater schreiben und die französische Oper dabei mehr als einmal neu erfinden würde.
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HIPPOLYTE UND ARICIE Jean Racine
Aricie: Was sagst du, Herr? Hippolyte: Ich bin zu weit gegangen. Zu mächtig wird es mir – Und weil ich denn Mein langes Schweigen brach, so will ich enden – So magst du ein Geheimnis denn vernehmen, Das diese Brust nicht mehr verschliessen kann. – Ja, Königin, du siehst mich vor dir stehen, Ein warnend Beispiel tief gefallnen Stolzes. Ich, der der Liebe trotzig widerstand, Der ihren Opfern grausam Hohn gesprochen Und, wenn die andern kämpften mit dem Sturm, Stets von dem Ufer hoffte zuzusehn, Durch eine stärkre Macht mir selbst entrissen, Erfahr auch ich nun das gemeine Los. Ein Augenblick bezwang mein kühnes Herz, Die freie stolze Seele, sie empfindet. Sechs Monde trag ich schon, gequält, zerrissen Von Scham und Schmerz, den Pfeil in meinem Herzen. Umsonst bekämpf ich dich, bekämpf ich mich; Dich flieh ich, wo du bist; dich find ich, wo du fehlst; Dein Bild folgt mir ins Innerste der Wälder; Das Licht des Tages und die stille Nacht Muss mir die Reize deines Bildes malen. Ach alles unterwirft mich dir, wie auch Das stolze Herz dir widerstand – Ich suche Mich selbst, und finde mich nicht mehr. Jean Racine, «Phädra», 2. Aufzug, 3. Auftritt, übertragen von Friedrich Schiller
PHAEDRA AN HIPPOLYTOS Ovid
Dreimal habe ich versucht mit dir zu sprechen, dreimal versagte mir die Zunge, am Gaumen klebend, den Dienst, dreimal blieb mir der Laut an den Lippen hängen. Es folgt nun etwas, was sich schickt. Sittsamkeit muss mit der Liebe einhergehen. Was offen auszusprechen sich nicht schickte, das hat mir die Lie be zu schreiben auferlegt. Was auch immer Amor befiehlt, das kann man nicht gefahrlos gering schätzen. Er ist mächtig und übt sogar über die Götter, die Herren der Welt, sein Recht. Er war es, der zu mir sprach, als ich zuerst zöger te zu schreiben: «Schreib! Jener eisenharte Mann wird dir besiegt die Hände reichen!» Er stehe mir bei und bohre meine Wünsche so in dein Herz, wie er meine Eingeweide mit seinem gierigen Feuer erhitzt! Nicht aus Leichtsinn will ich die Ehe brechen; mein Ruf ist – erkundige dich doch – frei von jedem Vorwurf. Liebe ist über mich gekommen, je später, umso heftiger. Ich brenne im Innern, ich brenne. Meine Brust trägt eine un sichtbare Wunde. Zwei Meere bestürmen mit ihren Fluten die Landenge, und der schmale Landstreifen hört jedes der beiden Meere. Hier werde ich mit dir Troezen bewohnen, das Reich des Pittheus; und jetzt ist es mir lieber als meine Heimat. Zur rechten Zeit ist abwesend und wird noch lange abwesend sein der neptu nische Held (i.e.Theuseus); ihn hält noch die Küste seines Pirithous auf. Theseus hat – es sei denn, wir streiten ab, was offen zutage liegt – den Pirithous der Phaedra, den Pirithous auch dir vorgezogen. Und das ist nicht das einzige Unrecht, das wir von ihm erleiden; in bedeutenden Dingen sind wir beide von ihm beleidigt worden. Die Gebeine meines Bruders (i.e. Minotaurus), zerschla gen mit der dreiknotigen Keule, hat er auf dem Boden zerstreut; meine Schwes ter (i.e. Ariadne) hat er als Beute für die wilden Tiere verlassen. Eine Mutter, an Tüchtigkeit die erste unter den die Streitaxt tragenden Mädchen, hat dich
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geboren (i.e. Antiope oder Hippolyte), würdig die Kraft des Sohnes; falls du fragst, wo sie ist – Theseus durchstiess ihre Seite mit dem Schwert, und so war die Mutter trotz eines solchen Liebespfandes nicht sicher. Aber sie wurde ihm nicht einmal vermählt und mit der Hochzeitsfackel aufgenommen. Aus welchem Grund denn, ausser damit du – ein Bastard – nicht das väterliche Erbe ergreifen kannst? Durch mich hat er dir Brüder gegeben und nicht ich war der Anlass dafür, sie alle als Erben grosszuziehen, sondern er. Oh, wäre doch mein Leib, als er im Begriff war, dir, du schönster von allen, damit zu schaden, mitten in den Wehen zerrissen worden! Geh nun, halte das Bett eines Vaters, der sich so um dich verdient gemacht hat, in Ehren, das Bett, das er selbst meidet und durch seine Taten verwirft! Und nicht sollen leere Wahngebilde deine Seele erschrecken, weil ich als Stiefmutter offenbar mit dem Stiefsohn ins Bett gehe. Jenes verwandtschaftliche Band hält zusammen mit fester Kette, dem Venus selbst ihre Verpflichtung auferlegt hat. Und wenn wir auch sündigen, es kostet keine Mühe, unsere Liebe zu verbergen. Unter dem Namen der Verwandtschaft wird unsere Schuld verborgen bleiben können. Wenn irgendjemand uns in der Umarmung sieht, werden wir beide gelobt werden; von mir wird man sagen, ich sei eine zuver lässige Stiefmutter für meinen Stiefsohn. Für dich muss nicht in der Dunkelheit die Türe eines strengen Ehemannes entriegelt, kein Wächter muss getäuscht werden; so wie uns zwei immer schon ein Haus zusammen umschlossen hat, so wird uns das eine Haus weiter umschliessen; du gabst Küsse in der Öffentlich keit, du wirst weiterhin Küsse in der Öffentlichkeit geben; du wirst sicher sein mit mir und wirst dir durch Schuld Lob erwerben, wenn du auch auf meinem Bett gesehen wirst. Hör nur auf zu zögern und beeile dich, unseren Bund zu schliessen, so wird dich Amor schonend behandeln, der jetzt in mir wütet. Ich bin mir nicht zu schade, flehend und demütig zu bitten. Wehe! Wo ist nun mein Stolz und wo sind die erhabenen Worte geblieben? Ich war sicher, lange zu kämpfen und nicht schuldig zu werden, wenn es in der Liebe nur irgendwelche Sicherheiten gäbe. Ich bin besiegt und strecke die königlichen Hände nach deinen Knien aus.
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Ovid, «Briefe der Heroinen»
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Wahnsinn ist furchtbar, aber schrecklicher ist, wieder zu Verstand zu kommen. Besser ist es, zugrunde zu gehen, bevor das Bewusstsein zurückkehrt. Euripides, «Phaedra»
SPÄTZÜNDER AN DER SEINE Eine Reise ins Paris der Jahre 1722 bis 1733, als Jean-Philippe Rameau vom unbekannten Provinzorganisten zum Erneuerer der französischen Oper wurde Volker Hagedorn
D er Donner ist verklungen, Göttin Diana hat gesprochen. Die Priesterinnen sind ihr in den Tempel gefolgt, und Hippolyte führt seine geliebte Aricie zur Seite hinaus. Nun endlich ist die femme fatale alleine, Phèdre, die ihren Stief sohn begehrt und gegen ihre Rivalin wütet. Phèdre wird gegeben von Marie Antier, der 36-jährigen Sopranistin, die ihrerseits von nicht wenigen begehrt wird hier im Palais Royal, wo sich 600 Herren stehend im Parkett drängen, die Haare weiss gepudert und hinten in den modischen crapaud mündend, einem Samtsäckchen mit Schleife. Die Damen nebst weiteren Herren blicken und lauschen von den Logen aus, drei Reihen von Balkons bieten Platz für 550 Gäste, noch einmal 150 sitzen hinter den Stehplätzen im Parkett. Phèdre sieht keineswegs aus wie eine Gestalt aus ferner Antike. Während Hippolyte glänzenden Harnisch zur gepuderten Perücke trägt, tritt sie in aus ladendem Reifrock, Puffärmeln und generös dekolletierter Corsage auf. Sie ist so aktuell gekleidet wie das Publikum, nur ein wenig spektakulärer. «Quoi! La terre et le ciel contre moi sont armés! Ma rivale est brave! Elle suite Hippolyte!» Mit Rivalitäten kennt man sich aus in diesem Theater, in dieser Stadt. Unver gessen, wie sich der Prince de Carignan vor fünf Jahren am steinreichen Le Riche de La Pouplinière rächte, nachdem der ihm seine Mätresse ausgespannt hatte. Die Mätresse war keine andere als Marie Antiers, die zornbebende Phèd re dort im Licht, in Duft und Qualm von 24 Öllampen an der Rampe, 600 Kerzen hinter den Kulissenwagen, im warmen Schein, den elf Lüster im Saal verbreiten.
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Sie sind heute mit Wachslichtern besetzt, nicht mit Talg – sofern Mitglieder des Königshauses anwesend sind bei dieser première représentation der Oper «von einem namens Ramau», wie Voltaire am nächsten Tag nachlässig notiert, Hippolyte et Aricie. Auch Voltaire ist dabei an diesem Donnerstagabend, womöglich in der Loge Carignans, mit dessen Sekretär François Berger er gute Verbindun gen unterhält. Ja, Carignan! Er ist 43 Jahre alt, Generalinspekteur der Académie Royale de musique sowie Intendant aller höfischen Zeremonien und Bankette, ein steinreicher Aristokrat, an dem keiner vorbeikommt, der an diesem Haus reüssieren will, in den der erst 23 Jahre alte König Louis XV. sein ganzes Ver trauen setzt, wenn es um die Oper geht, um die tragédie lyrique. Diesem Mann also hatte ein anderer die Mätresse ausgespannt, Alexandre Le Riche de La Pouplinière, als fermier-général ein Steuereintreiber in königli chem Auftrag. Carignan, am längeren Hebel sitzend, hatte dafür gesorgt, dass der Rivale für drei Jahre in die Provinz verbannt wurde. Doch nun ist der wie der in Paris und führt ein grosses Haus nur ein paar Schritte vom Palais Royal entfernt in der modischen Rue Neuve des Petits-Champs. Auch er liebt die Künste. Dass allerdings die erste Oper des Jean-Philippe Rameau in seinem Haus zuerst erprobt worden sein soll, im Frühjahr 1733, ist nicht belegt und nicht wahrscheinlich – erst zwei Jahre später wird er Rameaus wichtigster Mäzen. Der Komponist leitet die Uraufführung nicht selbst, das tut François Fran cœur, einer der 24 violons du roi und an diesem Abend auch batteur de mesu re, Taktschläger. Aber natürlich hat Rameau an den Proben teilgenommen und zu seinem Leidwesen feststellen müssen, dass die raffinierte Enharmonik im zweiten Trio der Parzen die Sänger überforderte – man musste die Passage für diese Produktion streichen, denn das Publikum «urteilt oft nach dem ersten Eindruck, ohne zu überprüfen, ob der wahrgenommene Fehler auf die Ausfüh rung oder auf die Sache selbst zurückgeht.» So schreibt es Rameau 1737 in seiner Génération harmonique, und noch 27 Jahre nach der Pariser Premiere kommt er voller Bitterkeit auf die Kürzung dieser Takte zurück. Die Proben mit ihm können nicht bequem gewesen sein. Er ist anspruchs voll, ernst und streng bis zur Unhöflichkeit, und das bei einem, der so «ba roque» schreibt, wie später sich einmal ein Geiger beschwert, so bizarr also: «Sie haben mir gestern gesagt, ich verstünde mein Handwerk nicht, da ich Ihre
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Musik nicht auszuführen wisse. Ich könnte antworten, dass Sie das Ihre nicht verstehen, da Sie nichts machen als eine barocke Musik, die unmöglich auszu führen ist.» Im Herbst 1733 aber, mit dem Orchester der Académie Royale, kann es sich Rameau noch nicht leisten, Musiker zu beleidigen. Hippolyte et Aricie ist sein Debüt im Genre der Oper – das Debüt eines Mannes von immer hin fünfzig Jahren in einer Zeit, da ein Mann jenseits der vierzig bereits als ausgelebt gilt.
Vom Pariser Jahrmarktstheater zur Opernbühne Erst 1722 komplette hat er sich in Paris niedergelassen, endgültig, nach einem Intermez Das Programmbuch zo als Organist im Jesuitenkolleg an der Rue St. Jacques, das schon lange zu rückliegt. Kaum etwas in seinem Werdegang deutet darauf hin, dass er einer der können Sie auf wichtigsten Komponisten der französischen Oper werden könnte. 1683 gebo ren, zwei Jahre vor Bach und Händel, siebtes von elf Kindern eines Domorga nisten www.opernhaus.ch/shop in Dijon, begabt, kein Wunderkind, hat er den Beruf des Vaters gewählt und in Städten ausgeübt, die Parisern als Provinz gelten: Lyon, Avignon, Dijon, oder amEineVorstellungsabend Foyer Clermont. erste Sammlung von pièces de clavecin, 1706 in im Paris erschie nen, hat ihn nicht berühmt gemacht. Und dann taucht er, 38-jährig, gleichsam mit des einem Buch unter dem Arm wieder an der Seineerwerben auf, seiner just gedruckten, Opernhauses 450 Seiten dicken Abhandlung Traité de l’harmonie. Paris ist in diesen Jahren eine Stadt von etwa 500.000 Einwohnern, die sich auf gerade einmal 15 Quadratkilometern drängen – das sind gut 33.000 Menschen pro Quadratkilometer in bis zu 25 Meter hohen Bauten an engen Strassen, in denen der Gestank der Senkgruben stockt, fern jener Gärten, die der Maler Watteau mit Rendez-vous von flirrender Erotik belebt hat. Die Stadt reicht von der Bastille im Osten bis zu den Tuilerien im Westen, vom heutigen Boulevard des Italiens im Norden bis etwa zum Südende des Jardin du Luxem bourg. Diesem nah ist die foire Saint-Germain, in jedem Jahr von Februar bis Ostern Tummelplatz von Händlern, Gauklern und Theaterleuten, die für einen Platz nicht mehr als fünf Sous nehmen, ein Euro, knapp unter dem minimalen Tagesverdienst eines Arbeiters. Es wimmelt von Menschen in diesen Hallen,
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man findet alles, Gemüse, Fleisch, Wein, Stoff, Schmuck, dressierte Affen, Feuer spucker, Seiltänzer und eben die kleinen, temporären Bühnen, die von den priviligierten Theatern der Stadt scharf und eifersüchtig beobachtet werden. Denn nur die Académie Royale de musique darf vollständig gesungene Werke nebst Ballett zeigen, nur die Comédie-Française und die Comédie-Italienne – wo der Liebespsychologe Marivaux erste Erfolge feiert – dürfen sich dem Sprechtheater widmen. Ihrerseits nicht subventioniert, lassen sich diese Häuser von den Marktkünstlern die Lizenz bezahlen, Genres zu vermischen. So entsteht die Opéra-comique, immer neuen Bremsmanövern ausgesetzt. Jüngste Bedin gung anno 1722: Zu Instrumentalisten, Marionetten und Tänzern darf nur ein Akteur kommen. Rameaus literarischer Freund Alexis Piron, abgebrochener Jurist aus Dijon, macht aus der Not einen Hit und ersinnt eine Harlekinade mit ungeheurem Erfolg. Für ein nächstes Stück lässt er den frisch zugereisten Freund Rameau die Arien einer gewissen Grazinde schreiben. Der gelehrte Organist beginnt seine Bühnenlaufbahn als Komponist von Popmusik. Weitere Produktionen folgen, auch Tanzmusiken für die Comédie-Itali enne, Rameau hat Blut geleckt: «Für die Bühne sollte ein Musiker gefunden werden», schreibt er 1727 einem potentiellen Librettisten, «der die Natur stu diert hat, ehe er sie malt, und der, durch seine Wissenschaft, die Farben und die Nuancen zu wählen weiss, von denen sein Geist und sein Geschmack ihn spüren lassen, wie sie mit dem nötigen Ausdruck zu verbinden sind. Ich bin weit ent fernt davon zu glauben, dass ich dieser Musiker sei, aber …» Soll heissen, wie der Rest des Briefes zeigt: Natürlich ist er dieser Musiker! Zum späten Anlauf motiviert den mittlerweile 44-Jährigen zweifellos auch, dass soeben ClaudeFrançois als erstes Kind seiner jungen Ehe zur Welt gekommen ist: 1726 hat Rameau seine erst neunzehn Jahre alte Klavierschülerin Marie-Louise Mangot geheiratet, die als exzellente Sängerin auch sein Gespür für Stimmen verfeinert. Und die Zeit ist für neue Impulse in der Oper tatsächlich nicht schlecht. 1728 endet nach knapp vier Jahrzehnten die Ära des Jean-Nicolas Francine, einem Schwiegersohn des legendären Jean-Baptiste Lully. Seit dessen Tod 1687 hat Francine, selbst kein Musiker, sondern Unternehmer und Lebemann, die Académie Royale geleitet, enorme Schulden aufgehäuft, und doch – mit einer Unterbrechung von sieben Jahren – einen Herrscher nach dem anderen für sich
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einzunehmen gewusst. Den Sonnenkönig zuerst, Louis XIV., sodann Philippe d’Orléans, Regent anstelle des noch unmündigen Louis XV., und weitere Poli tiker – nebst deren einflussreichen Mätressen –, die dem erst 1710 geborenen König seine Entscheidungen abnehmen, einschliesslich der für eine Gemahlin, die das biologische Fortbestehen der Bourbonen garantieren kann. Für das Fortbestehen der Oper verlässt man sich bis zum Ende der 1720er vor allem auf Werke von Lully. Wann immer eine neue tragédie lyrique an der Kasse scheitert, wird ein Lully herausgeholt und neu aufgeputzt; das Œuvre dieses Grossen beansprucht 30 bis 60 Prozent des Spielplans, während die alten Schulden den Betrieb belasten: 300.000 Livres, etwa sechs Millionen Euro. 1730 wird Prince de Carignan zum Generalinspekteur der Oper ernannt, und nach einigen personellen Fehlschlägen findet er den passenden Operndirektor in der eigenen Entourage. Der König erteilt Eugène de Thuret das Privileg – also eine Mischung aus Geschäftsführung und Intendanz. Thuret, unehelicher Sohn des Eugène de Savoie, ist ein Regimentskapitän. Und tatsächlich kommt mit ihm die schlingernde Académie endlich auf Kurs. Die elf Jahre seiner Di rektion, von 1733 bis 1744, fallen zusammen mit dem steilen Aufstieg Rameaus.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Auf dem Weg in die Zukunft der Oper des Opernhauses erwerben Er muss beizeiten dem Prinzen Carignan aufgefallen sein, nicht nur als zuneh mend begehrter Klavierlehrer. Catherine Le Maure, eine der besten Sopranis tinnen der Zeit, singt 1728 seine Kantate Le Berger fidèle – gleichsam eine Kurzoper. Im selben Konzert tritt auch der geniale Violinist und Komponist Jean-Marie Leclair auf, dessen Frau, eine Notenstecherin, vier von Rameaus Kantaten für die Publikation vorbereitet. Dieser Sammlung folgen zwei Kollek tionen von Klavierstücken. Als 1732 das zweite Kind der Rameaus zur Welt kommt, Marie-Louise, hat sich der Komponist wohl schon mit dem Librettisten seiner ersten Oper zusammengetan. Dieser wendige Abbé Pellegrin, bald 70, kennt in Paris alle und jeden und hat für jegliches Genre geschrieben, auch für die Markttheater, wo Rameau ihm vielleicht zuerst begegnete. Klug wählt man ein Sujet, das dem Publikum durch Jean Racines Tragödie Phèdre et Hippolyte
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von 1677 bekannt ist. Dessen Kernmotive übernimmt Pellegrin, holt aber das junge Paar Hippolyte und Aricie in den Vordergrund und lässt den jungen Helden am Ende nicht sterben – ohne indessen auf das Meeresungeheuer zu verzichten, das bei Racine den Tod Hippolytes herbeiführte. Während Rameau dieses Spektakel in nur siebzehn Takten abhandelt, wird im zweiten Akt der Gang des Theseus in die Unterwelt zum Weg in die Zukunft der Oper: Ver dichtet in Dramaturgie, Struktur und Harmonik bis hin zu jenen enharmoni schen Passagen, die sich in verblüffender Nähe eines Zeitgenossen bewegen, von dem Rameau so wenig weiss wie der von ihm, des Leipziger Thomaskantors Bach. Wie jener ist Rameau ein Neuerer nicht, indem er neu beginnt, sondern Traditionen auf neue Ebenen bringt. Die Energie, das Glühen und Funkeln gerade dieser Partitur hat vielleicht auch damit zu tun, dass den Komponisten noch kein Betrieb, keine Theater routine abgeschliffen hat. Und so, wie sein Freund Alexis Piron ihn schildert, hält sich Rameau auch dem Pariser Trubel fern. Gern treffen sich beide vormit tags um elf in den Tuilerien, wenn dort kaum jemand sonst unterwegs ist. Meist erkennt Rameau den kurzsichtigen, nach der Lorgnette greifenden Piron eher als dieser ihn, der von fern aussieht «wie eine Orgelpfeife ohne Blasebalg» – dass der Komponist ausserordentlich hochgewachsen, mager und blass war, bestäti gen alle, die ihn beschrieben. Über Persönliches spricht er nie, über Musik um so mehr: «Seine ganze Seele, sein ganzer Geist war in seinem Cembalo». Er ist keiner der Männer von Welt, die täglich zehn Salons besuchen. Das Image eines gelehrten Musikers hat vielleicht auch Voltaire im Sinn, als er am Tag nach der Uraufführung über «Ramau» schreibt, dieser Mann habe «das Unglück, mehr über Musik zu wissen als Lully. Er ist ein musikalischer Pedant. Er ist exakt und langweilig.» Das Publikum ist allerdings so angetan, dass Hippolyte et Aricie 32 Mal in Folge gespielt werden kann – für Rameau ist das auch finanziell erfreulich, denn den Opernautoren werden für jede der ersten zehn Vorstellungen je 100 Livres und für die nächsten 20 je 50 Livres gezahlt. Damit kommt er auf 2.000 Livres, etwa 40.000 Euro. Dass sich nach und nach eine gegnerische Fraktion von «Lullisten» formiert, denen er zu kom plex komponiert, macht ihn nur interessanter, auch für Voltaire, der nun sein
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Librettist werden möchte. «Ihre Musik ist bewundernswert», schreibt er ihm im Dezember 1733, «doch eben das schafft Ihnen Feinde, und grausame Feinde. Ich müsste weniger haben als sie, wäre ihre Anzahl proportional zum Talent.» Der Mehrheit der Pariser dürften solche ästhetischen Diskussionen so fern sein wie der Mond. Schon ein Programmheft der Académie Royale kostet mit 30 Sols soviel, wie ein Handwerker oder Arbeiter maximal in zwei Tagen ver dient. Für eine einzige der 132 grossen Wachskerzen, die den Saal zur Premi ere erleuchten, müsste er eine ganze Woche arbeiten, auf gut 200 Livres kommt er im Jahr. Marie Antiers hingegen, die Phèdre des Abends, kann es auf alles in allem 12.000 Livres an realen Jahreseinnahmen bringen, immerhin das halbe Einkommen eines der Gentilhommes de la Chambre, der Staatsminister, die sie aus ihren Logen lorgnettieren. Wie sie aber klagt, was sie singt, als sie erfährt, ihr geliebter Hippolyte sei tot, wie Verzweiflung und Schuldbewusstsein sie in den Selbstmord treiben – diese existenziellen Töne werden weit über die elitä ren Gäste am 1. Oktober 1733 hinaus dringen. «Musique d’un caractère neuf», so fasst es der Mercure de France zusammen. «Die günstige Aufnahme, die das Publikum dieser Oper erwies, lässt zahlreiche Aufführungen erhoffen.»
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HIPPOLYTE ET ARICIE JEAN-PHILIPPE RAMEAU (1683-1764) Tragédie en musique in fünf Akten Libretto von Abbé Simon-Joseph Pellegrin nach der Tragödie «Phèdre» von Jean Racine Uraufführung: 1. Oktober 1733, Académie Royale de Musique, Paris Fassung von 1733 (mit Ergänzungen der Fassungen von 1742 und 1757) (Emmanuelle Haïm, Jetske Mijnssen, Opernhaus Zürich 2018/19)
Personen
Aricie Sopran Hippolyte Tenor Phèdre Mezzosopran Thésée Bariton Œnone Sopran Diane Sopran Neptun Bass Pluton Bass Tisiphone Tenor Première Parque Tenor Seconde Parque Tenor Troisième Parque Bass Une Prêtresse de Diane Sopran Une Matelote Sopran Une Chasseresse
Sopran
Chor
Priesterinnen Dianas, Götter der Unterwelt, Troizener, Matrosen, Jäger und Jägerinnen, Schäfer und Schäferinnen Ort
Troizen (peloponesische Küstenstadt) und Umgebung
OUVERTURE
OUVERTURE
PREMIER ACTE
ERSTER AKT
Le théâtre représente un temple de Diane; on y voit un autel dressé.
Ein der Diana geheiligter Tempel und ein Altar.
SCÈNE 1
1. SZENE
Aricie en chasseresse
Aricia, als Jägerin gekleidet
ARICIE
ARICIA
Temple sacré, séjour tranquille, Où Diane aujourd’hui va recevoir mes vœux; À mon cœur agité, daigne servir d’asile Contre un amour trop malheureux.
Heiliger Tempel, Ort der Ruhe, wo Diana heute mein Gelübde empfangen wird, sei meinem aufgewühlten Herzen Zuflucht vor einer unglücklichen Liebe.
Et toi, dont malgré-moi, je rappelle l’image, Cher prince, si mes vœux ne te sont pas offerts, Du moins, j’en apporte l’hommage À la déesse que tu sers.
Und du, an den ich unwillkürlich denke, teurer Prinz, auch wenn mein Eid nicht dir gilt, so huldige ich wenigstens der Göttin, der du dienst.
SCÈNE 2 (Version 1742)
2. SZENE (Fassung 1742)
Hippolyte, Aricie
Hippolytos, Aricia
HIPPOLYTE
HIPPOLYTOS
Princesse, quels apprêts me frappent dans ce temple?
Prinzessin, was wird hier vorbereitet in diesem Tempel?
ARICIE
ARICIA
Diane préside en ces lieux; Lui consacrer mes jours, c’est suivre votre exemple.
Diana herrscht an diesem Ort. Indem ich ihr mein Leben weihe, folge ich Eurem Beispiel.
HIPPOLYTE
HIPPOLYTOS
Non, vous les immolez ces jours si précieux.
Nein, Ihr opfert Euer kostbares Leben.
ARICIE
ARICIA
J’exécute du Roi la volonté suprême; À Thésée, à son fils, ces jours sont odieux.
Ich führe den höchsten Willen des Königs aus. Theseus und seinem Sohn ist mein Leben verhasst.
HIPPOLYTE
HIPPOLYTOS
Moi, vous haïr? O ciel! Quelle injustice extrême!
Ich soll Euch hassen? O Himmel! Wie ungerecht!
ARICIE
ARICIA
Je ne suis pas l’objet de votre inimitié?
Seid Ihr mir denn nicht feindlich gesinnt?
HIPPOLYTE
HIPPOLYTOS
Je sens pour vous une pitié Aussi tendre que l’amour même.
Ich fühle für Euch ein Mitleid, so zart wie die Liebe selbst.
ARICIE
ARICIA
Quoi? le fier Hippolyte...
Wie? Der stolze Hippolytos...
HIPPOLYTE
HIPPOLYTOS
Hélas! Je n’en ai que trop dit. Je ne m’en repens pas, Si vous avez daigné m’entendre; Mon trouble, mes soupirs, vos malheurs, vos appas, Tout vous annonce un cœur trop sensible et trop tendre.
O weh! Ich habe zu viel gesagt. Ich bereue es nicht, wenn Ihr mich gnädigangehört habt. Der Aufruhr meiner Seele, die Seufzer, Euer Leid und Eure Reize, alles verrät Euch ein empfindsames und zartes Herz.
ARICIE
ARICIA
Ah! que venez-vous de m’apprendre! C’en est fait; pour jamais mon repos est perdu.
Ah! Was habt Ihr mir da offenbart! Es ist geschehen, meine Ruhe ist für immer dahin.
AIR
AIR
Peut-être votre indifférence Tôt ou tard l’aurait rendu; Mais votre amour m’en ôte l’espérance. C’en est fait, pour jamais mon repos est perdu.
Vielleicht hätte Euer Gleichmut sie früher oder später bezwungen, aber Eure Liebe nimmt mir die Hoffnung. Es ist geschehen, meine Ruhe ist für immer dahin.
HIPPOLYTE
HIPPOLYTOS
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer AIR AIR des Opernhauses erwerben
Qu’entends-je! Quel transport de mon âme s’empare! Was höre ich! Welche Leidenschaft erfasst mein Herz! ARICIE
ARICIA
Oubliez-vous qu’on nous sépare? Dans ce temple fatal, quel sort sera le mien?
Vergesst Ihr, dass man uns trennen will? In diesem verhängnisvollen Tempel, was wird mein Schicksal sein?
Hippolyte amoureux m’occupera sans cesse;
Hippolytos Liebe wird mir nicht mehr aus dem Sinn gehen. Selbst am Altar der Göttin wird es mein Herz zu seinem Liebsten ziehen. Und ich werde dort um mein Glück und um das seine weinen. Hippolytos’ Liebe geht mir nicht aus dem Sinn und ich werde um mein Glück und um das seine weinen.
Même aux autels de la déesse, Je sentirai mon cœur revoler vers son bien. Et j’y regretterai mon bonheur et le sien.
Hippolyte amoureux m’occupera sans cesse, Et je regretterai mon bonheur et le sien. HIPPOLYTE
HIPPOLYTOS
Je vous affranchirai d’une loi si cruelle!
Ich befreie Euch von dieser grausamen Pflicht!
ARICIE
ARICIA
Phèdre sur sa captive a des droits absolus;
Phädra hat die uneingeschränkte Macht über ihre Gefangene. Was nützt es, wenn wir uns lieben? Wir werden uns nicht wiedersehen.
Que sert de nous aimer? Nous ne nous verrons plus. HIPPOLYTE
HIPPOLYTOS
Ô Diane! protège une flamme si belle!
O Diana! Beschütze diese schöne Flamme!
Programmheft HIPPOLYTE ET ARICIE
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Tragédie en musique in fünf Akten von Jean-Philippe Rameau (1683-1764) Premiere am 19. Mai 2019, Spielzeit 2018/ 19
Herausgeber
Intendant
Opernhaus Zürich
Andreas Homoki
Zusammenstellung, Redaktion Kathrin Brunner
Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli, Giorgia Tschanz
Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing
Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch
Schriftkonzept und Logo
Druck
Textnachweise: Die Handlung, die beiden Interviews sowie die Essays von Silke Leopold und Volker Hagedorn sind Originalbeiträge für dieses Programmbuch. – Weitere Textquellen: Euripides, Hippolytos. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Peter Roth, Berlin, München, Boston 2015. – Ovid, Metamorphosen. Nach der ersten deutschen Prosaübersetzung durch August von Rode, neu übersetzt und herausgegeben von Gerhard Fink. Bibliothek der alten Welt (Artemis & Winkler) 2001. – Ovid, Briefe der Heroinen, Stuttgart 2000. – Ulrich Schreiber, Opern führer für Fortgeschrittene, Die Geschichte des Musiktheaters, Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution, Kassel
Studio Geissbühler Fineprint AG
2002. – Mythologisches rund um «Hippolyte et Aricie»: red. Artikel u.a. aus: Gerhard Fink, Who is Who in der antiken My thologie, München 1993. Karl Kerenyi: Die Mythologie der Griechen, Zürich 1951. Bildnachweise: T + T Fotografie / Toni Suter fotografierte die Klavierhauptprobe am 9. Mai 2019. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER
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