LEBEN MIT EINEM IDIOTEN
ALFRED SCHNITTKE (1934 – 1998)
Unterstützt von
«Leben mit einem Idioten» ist kein geschlossenes, sondern ein offenes Material, das zwar einen Anfang, aber kein Ende hat. Und es ist offenbar in naher Zukunft kein Ende in Sicht. Das lässt für alle Ausführenden – für die Regie, für die Sänger –ziemlich viele Möglichkeiten offen. Andere Interpretationen sollen auf jeden Fall dieselben irrationalen und zerstörerischen Nuancen des Werkes entdecken und andere hinzufügen.
Alfred Schnittke
HANDLUNG
Die Handlung ereignet sich in nicht allzu ferner Zukunft.
Prolog
Der Mensch – Ich – sitzt allein in seinem Haus und versucht sich daran zu erinnern, warum der Boden mit Blut bedeckt ist und warum seine Frau auf dem Boden liegt…
Erste Szene: Party
Ich und seine Frau geben eine Party: Viele Freunde sind gekommen, um dem Paar zu gratulieren. Denn Ich hat für Vergehen, die nicht näher erläutert werden, eine unerwartet milde Strafe bekommen: Er muss einen «Idioten» bei sich zu Hause aufnehmen. In Zeiten wie diesen ist das keine Strafe, sondern fast schon Nachsicht! Ich und seine Frau sind darüber sehr glücklich und haben Spass mit ihren Freunden.
Doch sobald sich die beschwipsten Gäste zerstreut haben, stellt sich heraus, dass Ich und seine Frau vor den Gästen nur so getan haben, als wären sie glücklich und fröhlich: Ihre Ehe ist alles andere als perfekt. Ich beachtet seine Frau kaum, es ist, als bemerke er ihre Anwesenheit gar nicht. Stattdessen hört er eine seltsame Stimme, die ständig irgendwas wiederholt… ist es «äch»? Oder «ich»? Und seine Frau sagt aus irgendeinem Grund immer wieder, sie sei grausam ermordet worden...
Intermedia
Vor Ich ziehen Szenen aus seiner Vergangenheit vorbei: seine Kindheit, seine Jugend, seine erste Liebe... Sie werden von Szenen aus seiner Zukunft, seinem Alter, seinem Tod abgelöst.
Zweite Szene: In der Galerie
Ich kommt in eine Galerie – die Irrenhaus-Galerie –, die von einem Galeristen, den Ich «Wärter» nennt, geleitet wird. Die Galerie ist voll von Performern, die skurrile Dinge machen. Die Bedeutung dieser Aktionen erschliesst sich für Ich nicht – für ihn sind das alles nur «Idioten», aus denen er einen auswählen und mit nach Hause nehmen muss. Sein Blick fällt auf einen blonden Mann von dreissig Jahren, mit einer hohen Stirn, die aussieht, als ob er von einem Traum erleuchtet wäre. Ich nennt ihn Schätzchen und nimmt ihn trotz der Proteste und Vorwürfe seiner Frau mit nach Hause. Der Galerist ist mit dem Deal zufrieden. Ich bekommt eine Vorahnung von seinem neuen Leben.
Intermezzo
Seine Frau, die das Schätzchen anfangs hasste, spürt auf einmal, dass sie auf seltsame Weise an ihm interessiert ist. Ich merkt das und regt sich sehr darüber auf.
Dritte Szene: Die Kreise des Lebens
Das Schätzchen lebt sich ein im Haus von Ich und seiner Frau. Zunächst geht es relativ ruhig zu: Schätzchen isst nur manchmal ein bisschen zu viel, trägt sowohl die Kleider von Ich als auch die von seiner Frau und erschreckt Passanten. Doch bald fängt er an, groben Unfug zu treiben: Er wirft Lebensmittel aus dem Kühlschrank auf den Boden, verschmiert sie überall, er zertrümmert Möbel, zerreisst Bücher – sogar den geliebten Proust der Frau. Dann scheisst er plötzlich auf den Boden... Ich und seine Frau versuchen, sich in der Küche zu verbarrikadieren, aber das Schätzchen bricht die Tür mit einem Messer auf und vergewaltigt die Frau.
Vierte Szene: Tilibom!
Mit der Zeit ist das Schätzchen viel ordentlicher und sauberer geworden und hat Ich sogar einen Strauss Veilchen geschenkt... «Das Leben kommt wieder ins rechte Gleis.»
Doch da bemerkt die Frau, dass sie schwanger ist. Ich ist sich sicher, dass sie ihn betrogen hat und dass das Kind nicht von ihm sein kann. Es kommt zu einem heftigen Streit zwischen den beiden. Die Frau sagt Ich, dass es keinen Idioten gibt – ausser ihm selbst.
Später lässt sie das Kind abtreiben. Ich und das Schätzchen verprügeln sie.
Ich ist traurig über das, was passiert, aber das Schätzchen tröstet ihn mit seiner
Zuneigung. Die Schönheit des Schätzchens lässt Ich Scham und Angst überwinden, und er gibt sich ihm hin. Mit ihm fühlt er sich wie eine Frau!
Fünfte Szene: Die Geduld der Götter
Ich ist völlig verzaubert von seinem neuen Leben, in dem er mit Schätzchen zusammenlebt wie ein Sohn mit seinem Vater. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlt er sich glücklich. Sie schotten sich ab von seiner Frau, die sie degeneriert nennt und ihnen ständig Szenen macht; ausserdem erinnert sie Ich dauernd daran, dass sie grausam umgebracht wurde. Und obwohl Ich und Schätzchen versuchen, die Frau zu ignorieren, werden ihre Anschuldigungen zunehmend unerträglich. «Denn auch die Götter verlieren mal die Geduld!»
Die Gartenschere schnappt zu…
Sechste Szene: Der Herbst
Ich sitzt in seinem Haus und versteht nun, warum überall im Haus Blut ist. Er hat seine Frau getötet. Es gibt keinen Idioten, es gab nie einen. Ich wird verhaftet…
JEDER HAT EINEN INNEREN IDIOTEN
Regisseur Kirill Serebrennikov spricht über seine Interpretation von Alfred Schnittkes aussergewöhnlichem Werk
Kirill, vor sechs Jahren haben wir hier am Opernhaus Zürich Mozarts Così fan tutte auf die Bühne gebracht, während du in Moskau unter Hausarrest standest. Wie ist es für dich, nun in Zürich zu sein?
Ich bin sehr glücklich darüber. Das Opernhaus ist ein tolles Haus mit wunderbaren Menschen. Ich werde die mutige Entscheidung, Così fan tutte ohne mich auf die Bühne zu bringen, nie vergessen. Es wäre sehr leicht gewesen, dieses Projekt einfach abzusagen. Aber das Risiko einzugehen, hat sich gelohnt – es ist eine sehr er folgreiche Inszenierung geworden, die immer noch gespielt wird, zurzeit unter anderem an der Komischen Oper in Berlin.
Das Opernhaus Zürich war das erste Theater, das sich auf eine Inszenierung eingelassen hat, bei der ich nicht selbst vor Ort sein konnte. Dazu gehörte viel Mut und die Überzeugung, dass man sich auf die Kräfte des Hauses verlassen kann. Andreas Homoki ist Regisseur, und wenn es komplett schief gegangen wäre, hätte er die Inszenierung selbst zu Ende bringen können. Es gibt nur noch sehr wenige Opernhäuser, die von einem Regisseur geleitet werden.
Nun inszenierst du Schnittkes Leben mit einem Idioten und kannst – zum Glück! – selbst die Proben leiten. Was ist das für ein Stück? Das ist eine der verrücktesten Opern, die ich kenne. Sie steht für mich in einer Reihe mit Schostakowitschs Oper Die Nase und mit György Ligetis Le Grand Macabre. Schnittke ist, sozusagen, ein russischer Ligeti.
Was interessiert dich an dieser Oper?
Mir gefällt, dass dieses Stück durch seine offene, fast «traumwandlerische» Form der Regie viele Möglichkeiten bietet. Häufig empfinde ich die Musik in der Oper als einengend. Sie setzt Grenzen. Du musst das musikalische Narrativ bedienen. Im Fall von Schnittke ist das ganz anders, die Musik ist sehr biegsam, sie lässt viele Freiheiten. Und sie hilft dabei, Theater zu machen Ich würde das Stück sogar nicht mal als Oper bezeichnen. Es ist für mich eher ein Schauspiel, in dem die Figuren sich auf eine sehr spezielle Art und Weise unterhalten, sich dabei eines sehr besonderen Hilfsmittels – nämlich der Musik und einer sehr komplizierten, fast extremen Art zu singen – bedienen. Um das zu realisieren, braucht man natürlich sehr spezielle Sängerinnen und Sänger. Und die haben wir!
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Wie arbeitest du mit den Darstellerinnen und Darstellern? Eher wie im Schauspiel als wie in der Oper. Wir erfinden alles gemeinsam, diskutieren über die Figuren, wie sie sich verhalten würden. Vieles entsteht erst während der Proben, das kommt eher selten vor in der Oper.
Die Sängerinnen und Sänger bieten Dinge an, bringen ihre Ideen ein, auch auf musikalischer Ebene.
Nach der Uraufführung 1992 in Amsterdam war klar: Der «Idiot», um den es hier geht, ist Lenin, das Stück ist eine Parodie auf das Leben in der Sowjetunion. Du gehst anders an diese Oper heran. Wer ist für dich dieser sogenannte Idiot?
Die Zeit der Uraufführung war die Zeit nach der Perestrojka, als die Sowjetunion schon zusammengebrochen war. Die Erzählung von Viktor Jerofejew ist noch zehn Jahre früher entstanden und handelt davon, wie die Sowjetmacht alles zerstört. Dass die Figur mit dem Vornamen Wowa, also der Idiot, Lenin ist, hat damals niemand bezweifelt. Aber wer ist Lenin für uns heute?
Für Russland ist er ein Monster, dessen Mumie bis heute im Mausoleum im Zentrum Moskaus liegt und der das Land in einen 100-jährigen Albtraum gestürzt hat, der bis heute andauert. Für die Einwohner Zürichs ist Lenin ein Name aus der Geschichte der Stadt: Lenin hat ja hier eine Zeit lang gelebt.
Aber viele Menschen in Russland kennen diesen Lenin gar nicht mehr, erinnern sich nicht mehr an ihn. Kaum jemand erkennt auch die RevolutionsLieder, die in die Partitur wie Zitate eingewoben sind. Wer also soll dieser Wowa, der das Leben einer Familie zerstört, heute sein? Putin? Ich will keine Oper über Putin machen. Ich will ihm kein Kunstwerk widmen. Ich möchte keine Kunst, die sich irgendwie allegorisch oder metaphorisch auf ihn bezieht. Wozu? Über Putin müssen die Zeitungen schreiben, man muss deutlich aussprechen, dass er derjenige ist, der den Krieg gegen die Ukraine angefangen hat und jeden Tag Kriegsverbrechen verübt. Er ist ein Kriegsverbrecher, fertig. Er verdient keine Oper.
Worum geht es also für dich in diesem Stück?
Um die Natur der Gewalt. Um die Zerstörung von Beziehungen. Um den Wahnsinn. In dieser Oper kann man vieles finden. Ich habe in ihr sogar Bezüge zu Ingmar Bergman entdeckt. Oder zu Fjodor Dostojewskis Erzählung
Die Sanfte, in der die Hauptfigur den Tod seiner Frau rechtfertigt. Warum ist hier ein Mord passiert? Die Gründe dafür bleiben im Dunkeln. Als ob in einem Menschen irgendein «Idiot» existieren würde, der ihm gewaltvolle Handlungen eingibt. Er ist wie ein Fehler im System. Wir nennen ihn den Schwarzen, er singt immer nur «Äch!». Sonst nichts. Er verkörpert den Wahnsinn unserer Hauptfigur – im Stück Ich –, die Stimmen in seinem Kopf. Er ist sein innerer Dämon. Ich denke dabei auch an einen meiner Lieblingsfilme, Idioten von Lars von Trier. Der erzählt von der Existenz eines inneren Idioten und davon, dass es wichtig ist, sich diesen inneren Idioten zu bewahren. Ein innerer Idiot, der es erlaubt, Grenzen auszutesten und zu verschieben. Aber auch ein Dämon, der tödlich werden kann. Es geht dabei um Sexualität, um Schönheit, Männlichkeit, Brutalität, auch um die Kunst als Projektion menschlichen Wahnsinns. Diese beide inneren Idioten kämpfen im Bewusstsein des Menschen gegeneinander. Manchmal fallen ihre Intentionen aber auch zusammen. Und es ist nicht klar, wer gewinnt. Das Stück ähnelt aber, was das Sujet und auch das Genre angeht, zugleich auch einem Thriller wie zum Beispiel The Shining von Stanley Kubrick. Ein Mann und eine Frau leben als glückliches Ehepaar zusammen, plötzlich bringt der Mann seine
Frau um. Wir spielen die Oper auf Deutsch, haben hier und da Anpassungen an die Übersetzung gemacht und werden auch andere Musikstücke von Schnittke verwenden. Hier entsteht also eine neue Fassung der Oper.
Was für eine Bedeutung hat die Musik Schnittkes für dich?
Schnittkes Musik ist die Musik meiner Kindheit. Das mag seltsam klingen, aber es war so. Alle normalen Kinder hatten irgendwelche Märchenschallplatten, ich aber hatte aus irgendwelchen Gründen eine Schallplatte mit Musik für den ersten sowjetischen Synthesizer ANS, benannt nach dem Komponisten Alexander Nikolajewitsch Skrjabin. Ich vermute, das war damals ein Geschenk, als Dreingabe zu einer Kinderschallplatte, die in der Sowjetunion schwer zu bekommen war, während die Synthesizer-Platte niemand haben wollte.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer
Ich aber habe sie als Kind gehört, lieber als Märchen. Da gab es Musik der wichtigsten sowjetischen Avantgardisten: Sofia Gubaidulina, Edison Denissow und eben von Alfred Schnittke. Schnittkes Musik habe ich in der Folge oft gehört. Auch als Filmmusik zu Trickfilmen oder Kinofilmen. Seine Musik war überall. Der Tango, der auch im Leben mit einem Idioten erklingt, stammt aus dem Film Agonie von Elem Klimov und ging auch in Schnittkes erstes Concerto Grosso ein.
des Opernhauses erwerben
Eine wichtige Rolle in dieser Oper spielt – neben den drei bzw. vier Hauptfiguren Ich, Frau und «Idiot» – der Chor. Es ist eine grosse Herausforderung für den Chor, diese Oper aufzuführen. Wen verkörpert der Chor in dieser Oper?
Der Chor ist fast die ganze Zeit auf der Bühne. Er ist, in gewisser Weise, wie ein Spiegel des Zuschauerraums. Manchmal aber auch wie ein griechischer Chor in der antiken Tragödie, er kommentiert die Ereignisse oder verkörpert das Schicksal. Oder er wird zu Figuren im Stück, einmal sind die Choristinnen und Choristen die Freunde der Hauptfigur. Sie haben viele verschiedene Rollen. Und sie sind ein äusserst wichtiger Teil des Ganzen. Sie bilden den Rahmen für den ganzen Abend, mit ihnen beginnt und mit ihnen endet auch das Stück. Leben mit einem Idioten ist eine grosse Choroper. Zum Glück ist der Chor der Oper Zürich sehr wandlungsfähig und dynamisch.
Im Stück wird die Hauptfigur bestraft – wofür, erfahren wir nicht – und muss als Strafe einen «Idioten» bei sich zuhause aufnehmen. Ich geht also ins Irrenhaus und sucht sich dort jemanden aus. In unserer Aufführung findet diese Szene nicht in der Psychiatrie, sondern in einer Galerie für moderne Kunst statt. Warum?
Wie gesagt, bei uns spielen zwei Darsteller den Idioten. Einer davon ist der Schauspieler Campbell Caspary. Er ist hier ein Performer, also jemand, der mithilfe seines Körpers Kunst schafft. Und den kauft sich unser Hauptdarsteller und nimmt ihn mit nach Hause. Mit seinem Körper gibt der Performer ein Statement ab. Oder er provoziert die Hauptfigur, oder er kommentiert die Vorgänge. Wie zum Beispiel die Wiener Aktionisten die Veränderungen im europäischen Bewusstsein nach dem Krieg kommentierten. Unsere Hauptfigur ist ein durchschnittlicher Mann. Er ist mit dem, was der Performer macht, mal einverstanden, mal macht es ihm eher Angst, mal kann er gar nichts damit anfangen. Wie du schon gesagt hast, erfahren wir nicht, warum die Hauptfigur bestraft wird; bei Jerofejew ist das eine dystopische Geschichte, in der Menschen, die sich schuldig gemacht haben, als Strafe der Gesellschaft jemanden bei sich zuhause aufnehmen müssen.
Bekommst du viel Inspiration aus der zeitgenössischen Kunst? Ja, auf jeden Fall. Ich bin ständig in Museen unterwegs. Aber Kunst ist ja überall um uns herum. Für mich ist Theater übrigens auch Teil der zeitgenössischen Kunst. Zeitgenössische Kunst spricht vom Wesentlichen und Aktuellen: davon, wie sich die Welt verändert und wir uns in ihr, wie fragil der Mensch ist, davon, dass Gewalt im allgemeinen und der Krieg im Besonderen eine Katastrophe bedeutet, davon, dass wir liebevoll und verantwortungsvoll miteinander umgehen sollen und die Natur nicht zerstören dürfen, indem wir mehr Ressourcen verbrauchen als nötig. All dies sind Themen, die uns heute beschäftigen und sich auch in der zeitgenössischen Kunst widerspiegeln. Sie ist der beste Kommentar zur Gegenwart. Und in Analogie dazu kommentiert der Performer in unserer Aufführung die Vorgänge auf der Bühne.
Wer ist eigentlich diese Hauptfigur, und warum heisst sie einfach Ich? Ich kann jeder im Zuschauerraum sein. Ein durchschnittlicher, europäischer Mann von heute. Durchaus begütert, normal, bürgerlich. Mit einem schönen Haus und ein bisschen Kunst. Erfolgreich, respektabel. Und er kriegt nun, wie soll man sagen, so ein Wehwehchen im Kopf.
Eine weitere Figur, eher eine Nebenfigur, heisst Marcel Proust. Was ist die tiefere Bedeutung dieser Figur?
Das komplette Programmbuch
können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Die Frau in dieser Oper liest immerzu Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Marcel Prousts Hauptwerk. In den Büchern von Marcel Proust geht es um Einsamkeit und Existentialismus. Und um ein Bewusstsein, das zerfällt, um die Zerstörung von Verbindungen ganz allgemein. Es sind Fragmente der Erinnerung, die eine Collage ergeben. Und genau diese nichtlineare Erzählweise ist auch für die Oper Schnittkes ganz zentral. Die Hauptfigur erlebt immer wieder so etwas wie einen Flashback, aber wir verstehen nicht so ganz, wie es denn nun wirklich war, wie die Frau zu Tode gekommen ist. Wer hat sie umgebracht? Und wie? Die Worte der Hauptfigur widersprechen sich immer wieder. Ein Mensch verirrt sich hier in seinen eigenen Erinnerungen. Wir werden auf der Bühne die immer gleiche Situation mehrmals wiederholen, um zu verstehen, ob Ich seine Frau nun ermordet hat oder nicht. Ob er schuldig ist oder nicht. Was eigentlich genau vorgefallen ist. Und was dieses unheilverkündende «Äch!» bedeutet, das er wieder und wieder hört.
Das Gespräch führte Beate Breidenbach
DIE MUSIK DIENT IMMER
DER HANDLUNG
Dirigent Jonathan Stockhammer im Gespräch über seine Sicht auf Alfred Schnittkes Oper
Alfred Schnittke hatte eine sehr besondere Stellung in der Musikgeschichte, er war unabhängig von den verschiedenen Strömungen im 20. Jahrhundert und hat sich selbst immer wieder als heimatlos bezeichnet; er hatte sowohl deutsche als auch russische und jüdische Wurzeln und fühlte sich nirgendwo zugehörig. Wie würdest du ihn einordnen?
Schnittke war eine sehr komplexe Persönlichkeit, die sich nur sehr schwer einordnen lässt. In unserer heutigen Zeit würde Alfred Schnittke gar nicht mehr so sehr auffallen und sich vielleicht auch nicht mehr so heimatlos fühlen, denn heute geht es vielen Menschen so wie ihm. Als ich damals in den 90-er Jahren nach Europa gekommen bin, habe ich als neugieriger Amerikaner verstehen wollen, wodurch sich Schweizer, Deutsche und Österreicher unterscheiden; es machte mir Spass, als ich neue Länder und neue Kulturen kennenlernte, typische Merkmale herauszufiltern und Menschen in Gruppen einzuordnen. In der Generation meiner Kinder hingegen haben die Menschen mittlerweile viele verschiedene Wurzeln, manchmal kommen die beiden Elternteile aus verschiedenen Ländern und noch dazu nicht aus dem Land, in dem die Kinder aufwachsen. Dreisprachigkeit ist da schon fast normal. Zur Zeit Schnittkes war das noch nicht so. Auch Schnittkes musikalische Sprache lässt sich schwer einordnen. Schnittke war musikalisch äusserst gebildet und in der Lage, sich in seinen Kompositionen bei allen möglichen Musikstilen zu bedienen – ob das Hymnen waren, Volkslieder, Radio- oder Fernsehmusik, alte Musik, Bach zum Beispiel, neue Musik oder alles, was dazwischen ist. Und immer dient das im Falle von Leben mit einem Idioten, seiner ersten Oper, dem Theater. Diese Oper hat dadurch auch immer wieder sehr viel Witz, trotz der emotionalen, tief empfundenen Geschichte.
Schnittke selbst nennt diese Kompositionstechnik, für die er mit unterschiedlichsten Zitaten und auch Selbstzitaten arbeitet, Polystilistik...
Oft versteht Schnittke das Orchester als ein flexibles Ensemble wie in einem Musical oder in einer Varieté Show. Er verwendet langsame und schnelle Walzer, Tangos, Märsche, Jingles – so erweckt die Oper in manchen Momenten das Gefühl einer Fernsehsendung, ja sogar einer Reality Show! Und zuweilen kommt es einem so vor, als habe Schnittke dabei einen improvisierenden Stummfilmpianisten vor Augen. Schnittke selbst hat ja auch viel Filmmusik geschrieben. Das Orchester von Leben mit einem Idioten ist übrigens eher klein, es sind zehn Violinen, fünf Bratschen, vier Celli und fünf Kontrabässe. Das ist ein ziemlich basslastiges Orchester, und es geht ja in dem Stück auch um grässliche Vorgänge, die durch die dunkle Farbe der Musik unterstrichen werden. Dazu kommen solistische Bläser und natürlich Schlagzeug mit Marimbaphon und Flexaton, das wie eine singende Säge klingt. Das ergibt eine Art Jazz Band im Sinne der Jazz-Suiten von Dmitri Schostakowitsch. Da hat man alle möglichen Farben, nur die etwas «fettige» Schicht dazwischen fehlt. Schnittkes Musik zu dieser Oper ist sehr durchlässig, fast absichtsvoll löchrig. Die Darstellerinnen und Darsteller stehen im Vordergrund, manchmal werden sie sogar über weite Strecken alleingelassen von der Begleitung. Der Mut zu Pausen macht die Musik stärker, emotionaler, überzeugender.
Eine Besonderheit dieses Stückes ist es, dass die Geschichte nicht kontinuierlich erzählt wird, die Erzählung springt mal vor, mal zurück… Wenn das Stück beginnt, ist man sofort mitten in der Geschichte. Es gibt keine Ouvertüre, und es gibt in der Art und Weise, wie die Geschichte in dieser Oper erzählt wird, keinen Anfang. Vom ersten Moment an scheint es, als sei alles schon passiert, als habe die Geschichte schon stattgefunden. Aber es gibt viele verschiedene Perspektiven in dieser Geschichte. Die Figur, die im Stück Ich heisst, möchte das dem Publikum erklären, kann das aber nicht in chronologischer Reihenfolge tun. Die Schmerzpunkte sind sehr traumatisch, so dass es nicht ausreicht, sie nur einmal zu erleben. Ein echtes Trauma ist psychologisch eine sehr grosse Last, man versucht vielleicht,
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend
es klein zu machen oder Distanz dazu zu bekommen, es aus dieser Distanz zu analysieren, damit es nicht zu schmerzhaft ist; vielleicht lacht man auch über dieses Trauma. So macht unsere Geschichte das auch, und so macht es auch die Musik. Wir erfahren gleich zu Beginn, dass es um einen grausamen Mord geht. Die Figur Ich nimmt mehrere Anläufe, die Geschichte zu erzählen. Es kommt einem fast vor wie mehrere Besuche beim Therapeuten. Ich geht immer wieder durch die Krise und versucht, sie besser zu verstehen. Und für die Zuschauer ist es, als ob sie dasselbe traumatische Ereignis immer wieder in Zeitlupe erleben müssten und das Trauma immer langsamer und detaillierter untersucht wird, bis eine Schmerzgrenze auch bei den Zuschauerinnen und Zuschauern erreicht ist. Für mich hat die Polystilistik da eine ganz spezifische Funktion: Sie wird eingesetzt, damit wir verschiedene Perspektiven der Geschichte erleben können. Die Musik unterstützt die verschiedenen Zustände der Figuren, und sie dient immer der Handlung. In diesem Stück finde ich übrigens auch die Verfremdungseffekte sehr interessant. Sie entstehen durch die nichtlineare Erzählweise, die ich gerade beschrieben habe, aber auch dadurch, dass die Hauptfigur Ich und manchmal auch die Frau sich direkt an das Publikum wenden und zu Erzählern ihrer eigenen Geschichte werden, sozusagen die vierte Wand durchbrechen.
im Foyer des Opernhauses erwerben
Du hast vorhin gesagt, die Oper ist immer wieder sehr witzig. Allerdings geht es ja um einen Mord… ist es ein komisches Stück? Man kann in manchen Momenten darüber lachen, wie absurd eine Situation ist, aber es ist ganz sicher keine Komödie. Der Sarkasmus, die Ironie, die Metaphern, all das ist sehr stark. Ein Satz wie: «Ich sass da, bekleckert mit Sperma und Tomatensaft» ist nicht unbedingt lustig. Es ist eher ein Schlüssel zur verwirrenden Welt dieses Ichs. Ich lese das Stück als Psychodrama.
Viktor Jerofejew erzählte, wie Alfred Schnittke seine Oper am Klavier vorspielte und dabei nicht mehr aufhören konnte zu lachen. Kann es sein, dass wir viele musikalische Anspielungen heute nicht mehr verstehen? Das ist ganz bestimmt so. Schnittke hatte sicher eine ganze Kette von Assoziationen und Gedanken, wenn er die Musik zu dieser Oper hörte.
Assoziationen, die man eben hatte, wenn man in den 1980er oder 1990er Jahren in der Sowjetunion lebte, und die wir hier und heute naturgemäss nicht mehr haben. Aber ich muss sagen: Wenn das Timing genau stimmt, dann ist die Musik auch dann lustig, wenn man nicht mehr alle Referenzen kennt. Obwohl das Sujet ja sehr ernst ist. Ich denke, das Lachen kann als Katharsis verstanden werden. Und gerade wenn man die langanhaltenden Schmerzpunkte mit Ironie präzise trifft, kann man teils nur mit Lachen reagieren. Der Humor kann ja auch gelesen werden als Versuch, das tägliche Leben trotz unglaublich unangenehmer Umstände irgendwie zu bestehen. Diese Dissonanz ist immer da. Wenn man weiss, welchen Widersprüchen die Menschen in der sowjetischen Gesellschaft, aber auch in der gespaltenen amerikanischen Gesellschaft heute ausgesetzt sind, dann versteht man, wie die Absurdität des Lebens metaphorisch in eine solche Familiensituation übersetzt werden kann, wie das in diesem Stück der Fall ist.
Alfred Schnittkes Musik ist also in gewisser Weise zeitgebunden, wenn wir zum Beispiel an die Zitate von Revolutionsliedern und Freiheitsliedern denken, die in der Sowjetunion natürlich jeder kannte. Ist es für dich ein Problem, dass diese Zeit, die Zeit der Sowjetunion, auf der Bühne so gar nicht präsent ist? Nein. Denn ich finde, dass die Musik auch für naive Ohren funktioniert, die nicht sofort begreifen: Das war ein populäres Lied in den 40-er Jahren, und das ist eine kommunistische Referenz. Man muss das nicht wissen, um die Logik der Musik zu verstehen. Die Musik ist an sich gut. Vielleicht wird man dann irgendwann neugierig und möchte wissen, woher dieses oder jenes Zitat stammt. Wenn aber das Zitieren von fremdem Material die einzige Qualität von Musik ist, dann hat sie uns meistens nicht wirklich etwas zu sagen.
Sehr speziell in diesem Stück ist natürlich die Figur des Idioten, der immer nur «Äch!» singt, das aber auf musikalisch höchst unterschiedliche Art und Weise ...
In unserer Produktion singt Matthew Newlin diese Figur, und bei ihm habe ich immer das Gefühl, ich höre Text unter den Ächs, denn ich spüre seine
Gedanken und seinen Ausdruckswillen dabei. Er tritt sozusagen den Beweis an, dass mit dieser einen Silbe – Äch – eigentlich alles vermittelt werden kann.
Oft singt der «Idiot» in extremer Lage, es klingt mal einfach nur verrückt, mal fast gewalttätig...
Ja, das ist durchaus eine Art musikalische Gewalt, eine Metapher für die Gewalt, die der Idiot dieser Familie antut. Aber auch die anderen beiden Partien, die von Ich und seiner Frau, sind extreme Partien, die sehr schwer zu singen sind.
Das
komplette
können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
Hat das damit zu tun, dass Leben mit einem Idioten Schnittkes erste Oper war und er vielleicht noch nicht so viel Erfahrung damit hatte, für Stimmen zu komponieren? Oder ist es absichtlich so verrückt geschrieben? Für Stimme zu schreiben, ist ein schwieriger Prozess. Das liegt daran, dass keine zwei Stimmen gleich sind. Es gibt zwar Stimmfächer, aber selbst drei oder vier Stimmen aus dem gleichen Fach sind verschieden. Jede Sängerin, jeder Sänger muss den Entwurf, der ihr oder ihm von einem Komponisten angeboten wird, für sich, für sein oder ihr Instrument passend machen. Gute Komponisten, dazu gehörte natürlich auch Schnittke, rechnen damit und passen die Partien während der Proben an. Ich sehe die Partien in dieser Oper eher als eine Art Steno oder Kurzschrift, die erst während der Proben von den Ausführenden ins Reine geschrieben wird. Am intensivsten habe ich das erlebt während der 20er Jahre, in denen ich die Drei Schwestern von Peter Eötvös betreut habe, eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Opern der letzten 50 Jahre. Ich war bei der allerersten musikalischen Probe dabei, da wurden nach der ersten Begegnung mit den Sängerinnen und Sängern sofort Dinge umkomponiert. Und auch dieses Meisterwerk, das vielen als perfekt gilt in seinen Proportionen, blieb immer ein Work in Progress. Am Ende muss man Kompromisse finden zwischen den verrückten Ideen der Komponistinnen und Komponisten und dem, was die Interpretinnen und Interpreten mit den Werkzeugen, die ihnen zur Verfügung stehen, schaffen können. Also ich denke, Schnittke schreibt vielleicht an manchen Stellen für die Stimmen etwas unbeholfen, an vielen Stellen aber durchaus absichtsvoll verrückt.
Programmbuch
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Eine ähnliche Frage stellt sich am Ende des Stückes. Schnittke hatte einen Schlaganfall und war sehr schwach, als er den Schluss komponierte; man fragt sich, ob dieses Auseinanderfallen, dieses in Auflösung Begriffensein der Musik etwas mit seiner Krankheit zu tun hatte oder ob es seine künstlerische Intention war. Wie denkst du darüber?
Das ist für mich eine offene Frage. Klar ist, dass dieser letzte Teil, den er komponierte, nachdem er seinen Schlaganfall gehabt hatte, extrem stark wirkt und sehr effektvoll ist. Ich denke, dass wir uns entschieden haben, einen A-cappella-Chor aus seiner Filmmusik zu dem Film Agonie hinzuzufügen, steht dazu nicht im Widerspruch und ist trotzdem absolut legitim, schon allein deshalb, weil Schnittke sich auch immer wieder selbst zitiert hat. So hat er zum Beispiel seinen berühmten Tango ebenfalls aus der Filmmusik zu Agonie für die Uraufführung von Leben mit einem Idioten in die Partitur aufgenommen; dieser Tango wird auch in unserer Aufführung erklingen. Auch Mozart hat im Don Giovanni seinen Figaro zitiert, und Rossini hat Teile aus seinen Opern wiederverwendet. Dass Schnittke sich in dieser Oper als Kompositionstechnik der Polystilistik bedient, die ja bereits viele eigentlich unvereinbare Stile miteinander verbindet – das macht natürlich Türen auf. Übrigens scheint im Leben mit einem Idioten die Form der Sinfonie durch. Das Stück beginnt mit einem Kopfsatz, der eine Art Adagio-Einleitung hat, wie viele Sinfonien von Beethoven und Mozart. Das ist sicher kein Zufall.
Dann folgt ein Allegro-Satz, dann kommt ein kontrastreicher langsamer Satz. Der dritte Satz beginnt in einem Dreiertakt, wie ein Scherzo, und endet mit einem Trio von Ich, Frau und Idiot. Und in bester Wiener Tradition –denken wir zum Beispiel an Bruckner – endet die Oper in einem langen Adagio, das Ähnlichkeiten hat mit einer Rondo-Form. Das Ganze ist als bewusst gewählte Form zu verstehen und damit wiederum ein Zitat – zitiert wird diesmal eine musikalische Form. Insofern neige ich dann doch zu der Annahme, dass auch der Schluss der Oper von Schnittke bewusst so komponiert worden ist und nicht das Resultat seiner Krankheit war.
Alfred Schnittke spricht ja in Bezug auf seine Oper von einem offenen Material, das immer wieder neu und auch immer wieder anders interpretiert werden muss. Siehst du das auch so?
Ja, auf jeden Fall. Diejenigen Künstlerinnen und Künstler, die ich toll finde und besonders respektiere, sind nicht daran interessiert, ein Museumsstück zu haben, das immer wieder genauso aufgeführt wird wie beim ersten Mal. So ein Stück muss leben! Und wenn man eine gute Basis hat, auf der man aufbauen kann, dann bleibt es frisch, einladend und relevant, diesen Stoff immer wieder neu zu interpretieren.
Das Gespräch führte Beate Breidenbach
Das komplette Programmbuch können Sie auf
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
ES IST EINE
SEHR EXISTENZIELLE GESCHICHTE
Viktor Jerofejew im Gespräch
Viktor, du hast deine Erzählung Leben mit einem Idioten, die der Oper von Alfred Schnittke zugrunde liegt, 1980 in der Sowjetunion geschrieben. Was war das damals für eine Zeit? 1980 ist zum letzten Mal in der Sowjetunion Lenins Geburtstag mit allem Pomp gefeiert worden. Lenin wurde 1870 geboren, 1980 war also ein runder Geburtstag. Ganz Moskau war im Taumel. Man konnte sogar Socken mit Lenins Profil kaufen. Das war schon alles sehr absurd. Und genau deshalb hat sich mir dieses Thema eingeprägt. Lenin taucht in meiner Erzählung nicht zufällig auf. Es war eine Zeit des Stillstands, der Stagnation, der Depression. Und es war kurz nachdem der Literaturalmanach Metropol mit Texten noch unbekannter Autoren erschienen war, darunter auch Texte von mir, und ich daraufhin aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Die Erzählung Leben mit einem Idioten ist einfach aus mir herausgeflossen. Ich mag es eigentlich nicht, wenn die Entstehung von Kunst mystifiziert wird. Aber in diesem Fall schien es mir wirklich, als würde dieser Wowa, so heisst der Idiot in meiner Erzählung, durch die Strassen Moskaus spazieren, ich sah ihn buchstäblich an jeder Ecke. Als ich die Erzählung dann geschrieben hatte, sind die Blätter irgendwie verlorengegangen. Drei Jahre lang war der Text verschwunden. Damals hat man auf der Schreibmaschine geschrieben, und es gab nur ein Exemplar. Dann bekam ich eines Tages einen Anruf von der Frau eines befreundeten Schriftstellers, die mich einlud, am Silvesterabend bei ihnen zuhause etwas vorzutragen. Ich ging also noch mal auf die Suche. Und fand die Blätter schliesslich in meinem Schreibtisch, zu einem Knäuel zusammengedrückt, hinter der Schublade. Diese Erzählung, die später eine Oper
von Alfred Schnittke werden sollte, die mehrfach dramatisiert und sogar verfilmt wurde, war mal ein Papierknäuel, das man erst glätten musste, bevor man es lesen konnte! Ich ging also zu der Silversterparty und las die Erzählung vor. Und es war, als hätte der Blitz eingeschlagen. Stille. Die Gäste vergassen sogar, dass Silvester war. Und ich verstand, dass ich etwas Grosses geschrieben hatte.
Hattest du mit so einem Effekt nicht gerechnet? Oder ihn sogar provozieren wollen?
Nein, ich wollte niemanden provozieren, nie. Ich fand die Erzählung lustig. Und sehr geeignet für einen Silvesterabend: Der Held bringt einen Verrückten nach Hause, das ist doch witzig. Aber natürlich gibt es in der Erzählung auch sehr viel Gewalt.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Wie stehst du heute zu dieser Erzählung?
Heute würde ich nicht mehr sagen, dass das einfach ein lustiger Text ist. Aber ich finde schon immer noch, dass es durchaus zum Lachen ist, wenn – wie in dieser Erzählung – das Absurde beginnt, die Welt zu beherrschen.
Und wer hatte die Idee, aus dieser Erzählung eine Oper zu machen?
Zu Beginn der Perestrojka in den 90er-Jahren las ich die Erzählung zum ersten Mal öffentlich vor, in einer Bibliothek in Moskau. Zu dieser Lesung kamen auch Alfred Schnittke, mit dem ich zu dieser Zeit schon sehr gut befreundet war, und der Dirigent Gennadi Roshdestwensky. Alfred sagte direkt nach der Lesung, dass er aus dieser Erzählung unbedingt eine Oper machen möchte. Ich gab zu bedenken, dass ich nicht wisse, wer dazu das Libretto schreiben sollte. Alfred meinte, dann solle ich das eben selbst machen. Ich hatte aber noch nie vorher ein Libretto geschrieben. Alfred sagte, genau deshalb wird es ein gutes Libretto werden.
Hat Alfred Schnittke dir damals gesagt, was ihm so an deiner Erzählung gefallen hat, warum er sie so geeignet fand für eine Oper?
Wir hatten in Bezug auf unser künstlerisches Schaffen so eine Theorie: Je
mehr du nachfragst und drüber redest, desto schlechter wird das Werk. Ganz offensichtlich hat es ihm gefallen. Das war durchaus überraschend, denn eigentlich interessierte er sich eher für Goethe oder armenische Poesie des 12. Jahrhunderts. Und dann plötzlich sowas. Meine Erzählung ist ja bis heute für manche Leute anstössig. Zum Beispiel heisst es da: «Wowa ist viel sauberer geworden, er scheisst fast nicht mehr auf den Teppich.»
An dieser Stelle waren wir gerade vorhin auf der Probe angekommen… und du lachst, also ist es doch lustig! Übrigens kann ich mich gut daran erinnern, wie Alfred selbst am Klavier sass und die Oper Boris Pokrowski vorspielte, dem Regisseur der Uraufführung. Schon bei der allerersten Phrase – «Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen» – musste er furchtbar lachen. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, es war sehr ansteckend. Pokrowski dachte, wir wollen ihn veräppeln.
Worin besteht für dich die Qualität von Schnittkes Musik? Wenn du genau zuhörst, dann merkst du, dass die Musik die Worte auf besondere Art und Weise beleuchtet, so wie vielleicht die Strassenlaternen abends in Paris die Häuser beleuchten. Meistens gehen ja die Worte in einer Oper durch die Musik verloren, man versteht sie nicht mehr. Dass das in dieser Oper nicht so ist, hat vermutlich mit Schnittkes Erfahrung als Theatermusiker bei Juri Ljubimov zu tun. Für mich war die Zusammenarbeit mit Alfred Schnittke und die Entstehung dieser Oper ein grosses Geschenk. Wir haben übrigens nie über den Inhalt der Oper gesprochen, er hat mich nie gebeten, ihm irgendwas zu erklären.
Alfred Schnittke war ja 1992, als in Amsterdam die Uraufführung der Oper stattfand, schon sehr krank … Ja, als er fast am Ende der Oper angekommen war, erlitt er seinen vierten Schlaganfall. In Moskau schrieben die Zeitungen, dass er gestorben sei… aber glücklicher weise hat er noch einige Jahre weitergelebt, er starb 1998. Der allerletzte Teil der Oper unterscheidet sich stark vom Rest des Stückes. Man hat das Gefühl, als sei Alfred schon ein wenig in einer anderen Welt gewesen,
als er das komponierte. Aber seine Oper ist absolut genial. Seit dieser Erfahrung ist die Oper für mich das tollste Genre überhaupt. Bis dahin dachte ich, die Oper ist, wie Majakowski sagte, etwas für Nichtraucher. Jetzt denke ich, sie ist auch was für Raucher. Durch Alfred habe ich verstanden, dass man sich in der Oper alles erlauben kann, wenn man wirklich etwas zu sagen hat. Man zerstört die Konventionen, und durch diese Zerstörung entstehen ganz neue Ideen, neue Eindrücke, das Gefühl von Unendlichkeit.
Wie ist die Uraufführung in Amsterdam aufgenommen worden?
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer
des Opernhauses erwerben
Die niederländische Königin war anwesend. In der Pause lud sie zum Champagnercocktail ein. Ich war auch eingeladen. Sie sagte zu mir: Monsieur Viktor, Ihre Oper ist zu hart für mich, votre opéra est trop dur pour moi. Ich habe ihr geantwortet: Votre Majesté, der zweite Akt wird noch schlimmer. Am Schluss stand sie auf und begann zu klatschen. Es gab stehende Ovationen, der Applaus dauerte 35 Minuten. Der Sänger des Idioten, Howard Haskin, sagte, das habe sicher daran gelegen, dass die Königin in der Vorstellung war und lange geklatscht hat. Man solle mal abwarten, wie es in den nächsten Vorstellungen wird, wenn all die Professoren kommen, die frustriert sind, weil sie für die Premiere keine Karten mehr bekommen haben. Nach der nächsten Vorstellung dauerten die Ovationen 40 Minuten. Das hatte es in der Amsterdamer Oper noch nie gegeben. Ein Welterfolg! Vor diesem Hintergrund ist es wirklich ein Wagnis, diese Oper jetzt hier in Zürich aufzuführen. Die Latte liegt hoch. Aber ich kenne Kirill Serebrennikov gut. Wir haben in Moskau zusammengearbeitet, als Zhenja Berkowitsch, die mittlerweile in Russland im Gefängnis sitzt, meinen Roman Die Moskauer Schönheit auf die Bühne gebracht hat, im Gogol Zentr, das Kirill damals leitete. Er ist für mich ein absoluter Theatergigant. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und über Leben mit einem Idioten gesprochen. Wir haben uns sehr gut verstanden, ich war mit allem einverstanden, was er sich überlegt hatte.
Ihr habt auch über Kirills Wunsch gesprochen, diese Oper weder als Parodie auf die Sowjetunion noch auf das heutige Russland zu erzählen… Ja, und ich bin der Meinung, Leben mit einem Idioten ist nicht in erster Linie
eine politische Oper. Obwohl ich die Erzählung 1980 in der Sowjetunion geschrieben habe. Es ist eine Oper über die Unvollständigkeit des Menschen. The human being is not perfect at all. Klar, es geht um politische Spielchen, die Hauptfigur wird bestraft und muss einen Idioten bei sich zuhause aufnehmen. Wofür diese Strafe, das bleibt im Dunkeln. Aber es ist vor allem eine sehr existentielle Geschichte. Mit politischen Elementen. Und einer Menge Exzessen.
In der Tat. Warum gibt es in diesem Stück so viel Gewalt?
Wie gesagt: Ich habe diese Geschichte geschrieben, nachdem man mich überall rausgeschmissen hatte. Mein Vater hat meinetwegen seinen Job als Botschafter in Wien verloren. Die Gewalt in dieser Geschichte hat ihren Grund. Wir sind in ein schwarzes Loch gefallen damals. Die Gewalt, die an mir, an meiner Familie verübt worden war, musste irgendwie verarbeitet, artikuliert werden. Noch dazu hatte ein Jahr zuvor die Sowjetunion den Krieg in Afghanistan begonnen. Es war eine monströse Zeit. Die Sowjetunion war nie ein besonders friedliebendes Land. Leben mit einem Idioten ist mein «Geschenk» an die Sowjetunion für das, was sie lange vor meiner Zeit und dann auch mit mir gemacht hat.
Und trotzdem sagst du, Leben mit einem Idioten ist keine politische Oper? Es gibt so viele Anspielungen auf die Sowjetunion, auch in der Musik.
Natürlich. Aber zu einer politischen Oper gehört eine klare Einteilung in Schwarz und Weiss, Richtig und Falsch. Das ist hier nicht der Fall. Man kann diese Oper seht gut in etwas Allgemeines, Existentielles übersetzen. Jede Prosa muss auf festem Boden stehen. Und diese Erzählung stand eben auf dem Boden der Sowjetunion. Viele dieser Anspielungen werden ja heute gar nicht mehr verstanden. Auch deshalb finde ich es legitim, Änderungen vorzunehmen.
Zu Beginn unseres Gespräches hast du davon erzählt, dass es dir 1980 vorkam, als schaue in Moskau Lenin hinter jeder Ecke hervor und dass
dich dies zur Figur des Idioten inspiriert hat. Wer ist dieser Idiot für dich heute?
Ganz einfach. Die Figur des Idioten ist ein Utopist. Er könnte eine kommunistische Utopie im Kopf haben oder irgendeine andere idiotische Utopie. Genau deshalb wäre es auch völlig falsch, diese Figur mit Putin gleichzusetzen. Denn der hat keine Utopie. Der ist einfach nur ein Hooligan. Ein grosser Gopnik auf Russisch. Wie im Titel meines Romans. Utopien sind, wie wir wissen, immer gefährlich. Lenin selbst wird nachgesagt, dass er in den letzten Jahren seines Lebens wahnsinnig geworden sei. Als ich meine Erzählung schrieb, war dieses Thema gerade sehr aktuell. Wenn du Utopist bist, gehörst du zu denen, die behaupten, zu wissen, was Wahrheit ist und was Lüge, in Wirklichkeit aber beides nach Belieben vertauschen. Das trifft natürlich auch auf Putin zu. Wir sind alle seine Geiseln. Geiseln seines Banditentums. Unter Lenin waren wir Geiseln seines Utopismus. Und auch wenn der Kommunismus furchtbar war und Schreckliches angerichtet hat, so lebte er doch von der Idee, eine Alternative zum Kapitalismus zu bieten. Im heutigen Russland geht es nicht mehr um Alternativen, es gibt keine Ideen mehr. Es geht nur um die Liebe zur Macht, zur Unsterblichkeit, zu sich selbst als Zar.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Das Gespräch führte Beate Breidenbach
Der Körper des Mannes wird selten beschrieben, sowohl in der Welt- als auch in der Fachliteratur. Ist vielleicht deshalb die Verbindung des Mannes zu seinem Körper gestört? Manche Teile des männlichen Körpers sind bis heute gar nicht oder nur irgendwie benannt. Der Mann erinnert sich seiner Körperlichkeit in Ausnahmesituationen, vor allem unter Stress. Sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenkt er seiner Tätigkeit, deren Ergebnisse in der Regel katastrophal sind. Es ist eine Entfremdung des Mannes vom Körper geschehen. Dabei ist der Mann ausserordentlich schön. Mehr noch, seine Schönheit kennt in der lebendigen Natur nichts Vergleichbares. Manche meinen, der Mann sei geboren, um zu töten. Er besitze die Schönheit eines Mörders. Aber es gibt auch Leute, die finden, das sei nur ein Teil der Wahrheit...
Viktor Jerofejew, Männlicher Reichtum
ZWISCHEN PROVOKATION UND FATALISMUS
Viktor Jerofejew als Gegenwartsanalytiker
Ulrich Schmid
Viktor Jerofejew ist der Meister der sorgfältig dosierten Provokation. Er weiss genau, dass postmoderne Kunst nicht einfach ein schönes Werk präsentieren soll, sondern ihren eigenen Status in der Gesellschaft reflektieren muss. Dabei schielt er allerdings immer auf einen maximalen Effekt beim Publikum. Besonders einfach war die Sowjetkultur zu provozieren. Jerofejew kannte sie in ihrem innersten Kern. Sein Vater war Stalins persönlicher Französisch-Dolmetscher und nahm nach dem Tod des blutigen Diktators wichtige Diplomatenposten in Paris und Wien wahr. Allerdings wurde dem begabten Sohn bald langweilig in seinem goldenen Nomenklatura-Käfig. Im Jahr 1979 gehörte er zu den Initiatoren des Untergrundalmanachs Metropol, der die russische Literatur aus den Zwängen der Sowjetzensur befreien wollte. Dabei handelte es sich wohlbemerkt nicht um ein aufrührerisches Pamphlet, das den Sozialismus oder die Sowjetmacht in Frage stellte. Jerofejew und seine Gesinnungsgenossen publizierten unbekümmert Texte, die schlicht nichts mehr mit der immer noch geltenden Doktrin des sozialistischen Realismus gemeinsam hatten. Seit dem ersten und für lange Zeit letzten sowjetischen Schriftstellerkongress im Jahr 1934 mussten die vom Staat angestellten Dienstautoren «die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung» darstellen. Verboten war also eine kritische Schilderung der negativen Seiten des Lebens in der Sowjetunion. Immer musste das lichte Ziel der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft als Ende der historischen Entwicklung im Auge behalten werden. Gleichzeitig musste Literatur «verständlich» sein und durfte keine Stilexperimente durchführen. Genau dagegen lehnte sich Jerofejew auf. Er war der festen Überzeugung, dass Kunst frei sein müsse und nicht am Gängelband kommunistischer Kulturpolitiker geführt
werden dürfe. Deshalb veröffentlichte er den Almanach Metropol, ohne auf die staatlichen Zensur- und Kontrollstellen Rücksicht zu nehmen. Sehenden Auges beendete er mit dieser eigenmächtigen Aktion die beeindruckende Karriere seines Vaters, der seine Massregelung jedoch mit Fassung trug. Die Zeiten hatten sich geändert: Unter Breschnew wurden solche Fälle mit dem Entzug der Privilegien und nicht mehr – wie unter Stalin – mit der Verbannung in den sibirischen Gulag geahndet. Jerofejew selbst wurde aus dem Schriftsteller verband geworfen und mit einem Publikationsverbot belegt. Seine Strafe war für sowjetische Verhältnisse mild. Er durfte sogar seine Stelle am Moskauer Literaturinstitut behalten. Er schrieb weiter nonkonformistische Werke – allerdings nur für die Schublade.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
Schonungslose Darstellung von Gewalt und Sexualität
1980 entstand die Erzählung Das Leben mit einem Idioten, die allerdings erst im letzten Jahr der Existenz der Sowjetunion erscheinen konnte. Inhalt und Stil dieses Texts entsprachen weder dem Publikumsgeschmack noch der Parteilinie. Das Leben mit einem Idioten ist in lockerer Umgangssprache geschrieben, die aber in einem krassen Gegensatz zum Inhalt steht: Ein Ich-Erzähler nimmt freiwillig einen aggressiven Idioten in sein Haus auf. Der Idiot foltert und vergewaltigt die Frau des Erzählers. Als die Frau ihren Mann vor die Wahl «ich oder er» stellt, verwahrt sich der Ich-Erzähler gegen diese «faschistische Fragestellung». Die schonungslose Darstellung von Gewalt und Sexualität verstiess gegen alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des sowjetischen Literaturbetriebs. Obwohl Jerofejew in seiner Erzählung keine direkten politischen Aussagen macht, wurde Das Leben mit einem Idioten als Parabel auf die sowjetische Diktatur der Revolutionsführer Lenin und Stalin gelesen. Das russische Volk hatte sich in dieser Lesart einen brutalen Verrückten ins eigene Leben geholt. Es erduldete die monströsen Verbrechen nicht nur, sondern machte sich die ideologische Begründung der allgegenwärtigen Gewalt auch in einem kollektiven Stockholm-Syndrom zu eigen. Jerofejews hellsichtige erzählerische
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Gestaltung dieser tragischen Struktur gehört zu den Höhepunkten seines literarischen Schaffens. Jerofejew tat sich als scharfer Beobachter nicht nur der Abgründe der Sowjetdiktatur, sondern auch des sozrealistischen Literaturbetriebs hervor. 1990 verfasste er einen programmatischen Artikel mit dem Titel Das Begräbnis der Sowjetliteratur. Darin geisselte er in scharfen Worten den Selbstbeschreibungsmythos vieler russischer Autoren, die sich als moralische Autoritäten in die Brust warfen und sogar beanspruchten, eine «zweite Regierung» zu sein. Dabei hatte Jerofejew natürlich vor allem sowjetische Schriftsteller wie Jewgeni Jewtuschenko im Auge. Zahlreiche Profiteure des Systems loteten instinktsicher die Grenzen des Sagbaren aus, achteten gleichzeitig aber peinlich darauf, ihre Berufsprivilegien nicht zu verlieren, die von Dienstreisen über Werkausgaben bis zu Sommerdatschen reichten. Jerofejews Kritik richtete sich aber auch gegen dissidente Autoren wie Alexander Solschenizyn, der zwar gegen das Sowjetsystem anschrieb, aber gleichzeitig einem sozrealistischen Stilideal verpflichtet blieb und mit einem durchaus sowjetischen Pathos die humanitäre Mission der russischen Literatur hervorhob.
Allegorie auf die Stagnation des gesellschaftlichen Lebens
Den Tatbeweis für die Möglichkeit einer anderen, neuen Literatur trat Jerofejew selbst mit seinem Roman Die Moskauer Schönheit an. Auch hier setzt er sadomasochistische, pornografische und homosexuelle Motive ein, die in eine Todesorgie münden. Die Titelfigur, eine Prostituierte, steht stellvertretend für den tragischen Untergang des russischen Gesellschaftskörpers. Während einst das gütige Mütterchen Russland den Armen und Entrechteten geholfen hatte, treibt sich die heruntergekommene Nachfahrin auf den Strassen der sowjetischen Hauptstadt herum. Allerdings erwies sich Jerofejew in den wilden neunziger Jahren als Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswurde. Er war selbst der Hohepriester schockierender Sex- und Gewaltszenen gewesen. 1995 stellte er jedoch in der Einleitung zu seiner weitherum beachteten Anthologie Russische Blumen des Bösen fest, dass die russische Gegenwartsliteratur
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
inzwischen mit perversen, brutalen, schwarzen Texten übersättigt sei. Allerdings gelang es ihm auch in seinem Roman Das Jüngste Gericht aus dem Jahr 1997 selbst nicht, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Sein lüsterner Protagonist reist um die ganze Welt und schreibt seine erotischen Abenteuer in einem Werk mit dem effekthascherischen Titel Das Jahrhundert der Fotze nieder. Auch der nächste Roman Die Akimuden kommt kaum über dasselbe Schema hinaus. Der Titel ist für Russen leicht erkennbar als Silbenvertauschung eines landläufigen Schimpfworts («Mudaki»). Die Handlung wirkt konstruiert: Ausserirdische Zombies, eben «Akimuden», fallen in Russland ein und usurpieren die Macht in Moskau. Ganz offensichtlich wollte Jerofejew mit diesem Roman eine Allegorie für die Stagnation des gesellschaftlichen Lebens in Russland präsentieren. Einen neuen literarischen Strang tat Jerofejew erst 2004 auf. Schon mit dem Titel seines Erinnerungsbuches Der gute Stalin forderte er den Publikumsgeschmack heraus. Jerofejew schilderte seine glückliche Moskauer Kindheit im paranoiden Spätstalinismus. Die extreme Perspektivierung der autobiografischen Darstellung auf eine privilegierte Familie, die zum inneren Kern der sowjetischen Herrschaftsbürokratie gehörte, war schon allein gut für einen Skandal. 2023 verlängerte Jerofejew seine eigene Lebensbeschreibung in die Ära Putin hinein. Der Titel Der grosse Gopnik bezieht sich auf ein russisches Slangwort, das einen Schlägertyp mit kahlrasiertem Schädel in Trainingshosen bezeichnet. Wie in der Erzählung Das Leben mit einem Idioten fasst Jerofejew hier die politische Wirklichkeit in ein Gleichnis: Putin ist der Kleinkriminelle, der versucht, die Weltpolitik mit Banditenmethoden der Leningrader Hinterhöfe zu spielen.
Der Staat als Irrenanstalt
Jerofejews politische Position ist schwierig zu fassen. Er ist mit einer Polin verheiratet und nimmt nicht nur deshalb eine im doppelten Wortsinne exzentrische Sicht auf Russland ein. In seinen zahlreichen Essays für die Zeit und die Frankfurter Allgemeine Zeitung tritt er immer als überzeugter Putinkritiker auf. Jerofejew ist kein Freund der Repressionen und Aggressionen des Putin-Regimes. Aber er warnt immer wieder vor der Gewaltbereitschaft des russischen Volkes,
das nur mit eiserner Faust regiert werden könne. Seine eigene Geschichtsbetrachtung trägt Jerofejew mit seinem charakteristischen Humor vor. So sagte er in einem Interview aus dem Jahr 2011: «Von Zeit zu Zeit brauchen die Russen einen georgischen Diktator oder einen holländischen Fussballtrainer.»
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine übt sich Jerofejew in politischem Fatalismus. Russland erscheint ihm mittlerweile nicht mehr als Staat, sondern als Irrenanstalt. Er weist darauf hin, dass Putin von der Unsterblichkeit träume und sich auf eine ewige Präsidentschaft einrichte. Oder – wie Jerofejew selbst augenzwinkernd relativiert – zumindest eine halbewige. Ausserdem arbeite Putin an der Erschaffung einer neuen Machtelite, die seinen imperialen und imperialistischen Kurs bis in die ferne Zukunft weiterführe. Dagegen sträube sich die aktuelle Führungsclique, die aus loyalen Konservativen und heimlichen Liberalen bestehe. Diese Gruppe träume von einem schnellen Ende des Kriegs und warte auf einen neuen Chruschtschow, der nach dem Tod des Diktators das Land in ruhigere Gewässer lenke. Jerofejew blickt nostalgisch auf die Zeit zurück, als Russland und der Westen sich noch nicht in einem tiefen und unlösbaren Konflikt befanden. Aber er weiss zugleich: Diese Epoche ist ein verlorenes Paradies.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Die Kunst ist das Bild des Menschen selbst.
Das heisst, indem der Mensch mit der Kunst konfrontiert ist, ist er im Grunde mit sich selbst konfrontiert.
Joseph Beuys
DIALOG ALS KOMPOSITORISCHE STRATEGIE
Der Komponist Alfred Schnittke und seine Musik
Ilja Stephan
Wer war Alfred Schnittke? Die feinfühligste und klügste Antwort auf diese Frage gelang wohl den Machern der ARTE-Dokumentation Alfred Schnittke. Ein Portrait mit Freunden. Sie lassen Musik, Bilder und den Komponisten selber sprechen: Während im Hintergrund ein Konzertmittschnitt mit einer von Schnittkes anarchistischen Musikmontagen läuft und ein Pianist wie entfesselt auf die Klaviatur eindrischt, zoomt die Kamera auf Schnittkes Gesicht. Und der lacht, er schüttelt sich buchstäblich vor Lachen, um dann unversehens den Blick nach innen zu richten, während sein Gelächter dem Ausdruck von Ernst und sanfter Traurigkeit weicht. Wüsste man, was in diesen Momenten in ihm vorging, hätte man sein Wesen wohl erschöpfend erkannt, so scheint es. Doch der Meister sabotiert solche Zuversicht sogleich mit verschmitzter Skepsis: Bei dem Versuch, die aufeinanderprallenden Einflüsse, Konflikte, Widersprüche in seinem Wesen, seiner Biografie und seiner Kunst zu erklären, kommt der zu diesem Zeitpunkt 60 Jahre alte, weltbekannte, russisch-deutsche Komponist zu dem Schluss: «Ich würde gerne von hinten auf mich blicken können, um sehen zu sehen, wann endlich das Ergebnis käme. Bisher kam es noch nicht. Gott sei Dank.»
So hilft vielleicht ein Blick auf seine Musik, um zumindest zu einem Zwischenergebnis zu kommen: Eine der kuriosesten und lehrreichsten Produkte von Schnittkes kompositorischer Fantasie ist die Hommage à Igor Strawinsky, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch für Klavier zu sechs Händen von 1979. Schnittke versammelt hier die «Grossen Drei» der russischen Musik des 20. Jahrhunderts an einem Klavier, gespielt von drei Pianisten, und bringt
sie miteinander «ins Gespräch». Durch Zitate und Anspielungen werden die Musiken und stilistischen Welten der drei heraufbeschworen und miteinander verschränkt – oder, besser gesagt, aufeinander losgelassen. Denn der Versuch, die eigensinnigen Herren an einer Klaviatur zu vereinen, mündet wiederholt in einen scharf dissonanten Cluster, der von allen drei Spielern mit verärgerter Geste synchron in die Tasten gedroschen wird. So ganz harmonisch verläuft diese fiktive ménage à trois nicht. Dafür ist sie umso komischer.
Eine andere von Schnittkes musikalischen Kuppeleien trägt ihr Arbeitsprinzip bereits im Titel: In Moz-Art à la Haydn für zwei Violinen und Streichorchester (1976/77) verwendet Schnittke musikalisches Material von Mozart –genauer gesagt, Musik zu einer Karnevalspantomime, die ein ausgelassener nach Art der Commedia dell’arte kostümierter Wolfgang Amadeus einst mit Freunden aufgeführt hatte – und unterwirft es Kunstgriffen und Überraschungseffekten, wie sie für den Stil des Kollegen Haydn einschlägig waren. Das Ergebnis dieses Maskenspiels klingt unverkennbar nach spätem 20. Jahrhundert und Schnittke, doch der Komponist Alfred Schnittke erscheint in diesem Zusammenhang nur mittelbar als eigene Stimme, er fungiert vielmehr wie ein Dramatiker oder der implizite Autor eines Romans, der diverse Protagonisten auf die imaginäre Bühne seines «kontrapunktischen Theaters» (Schnittke) zitiert und den Fortgang seines Plots aus der kunstvollen Manipulation von deren Eigenarten, Begegnungen und Konflikten gewinnt.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Musikalische Stile, Formen und Klänge sind für Schnittke dabei niemals abstrakt. Sie repräsentieren Persönlichkeiten, geistige Haltungen, Epochen, gelebtes Leben. Ihre diversen Kombinationen und Modulationen sind für den versierten Film- und Theaterkomponisten die einschlägige Methode, Einsichten in eine höchst komplexe, widersprüchliche Wirklichkeit klanglich fassbar zu machen. In seiner Gogol-Suite (1980) etwa liefert Schnittke uns ein höchst aufschlussreiches Portrait des Teufels. Gogols Kurzgeschichte Das Portrait erzählt von einem für seine Besitzer kurzfristig profitablen und langfristig fatalen Bildnis des Leibhaftigen. Schnittke beginnt seine musikalische Charakterisierung mit einer harmlosen, allzu simplen Hm-ta-ta-Walzer-Begleitung des Klaviers. Das Böse ist bei ihm immer (musikalisch) banal. Doch diese Begleitfigur hinkt –man hätte hören können, dass der so Portraitierte einen Pferdefuss hat. Zu
dieser lädierten Walzerbegleitung des Klaviers setzt der Komponist als nächstes eine Melodielinie des Cembalos. Ergebnis dieses Klavier-Cembalo-Hybrids ist ein morbider Mischklang; Gothic-Atmosphäre stellt sich ein. Sukzessive addiert Schnittke die anderen Instrumente des Orchesters, penetrante Ohrwurmmelodien der Trompete und immer schärfere Dissonanzen, selbst E-Gitarre und Orgel stimmen ein. Diese Epiphanie des Bösen im Dreivierteltakt steigert sich schliesslich bis zu einer kruden Bruitage im Stile des Sonorismus der 1960erJahre. Das Böse, so darf man wohl folgern, offenbart sich epochenübergreifend als Produkt aus Banalität multipliziert mit Lautstärke.
Polystilismus oder Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
Für seine Art des Komponierens prägte Schnittke einen eigenen Terminus: Polystilismus. Man darf dies nicht als Collage missverstehen. Grundgedanke der Polystilistik ist es, die Gesamtheit der Musik in allen ihren historischen und stilistischen Erscheinungsformen als fortlaufenden Dialog zu verstehen. Wer immer Musik macht, bezieht sich auf Formen, Material, Modelle seiner Vorgänger und Zeitgenossen. Für Schnittke waren alle grossen Komponisten der Musikgeschichte immer schon Partner in einem epochenübergreifenden Netz von Bezugnahmen: Mozarts Fugen «antworten» auf die Erfahrung Bach; Beethovens Spätstil ist ohne das Vorbild Händel undenkbar etc., etc. Die grosse Entdeckung des 20. Jahrhunderts war für Schnittke die Idee, diesen Dialog in den Rang einer kompositorischen Strategie zu erheben. Als einfachstes Mittel dazu benutzt er das Zitat. Schon etwas subtiler ist die gekonnte Fälschung. Ein hübsches Beispiel aus seiner Feder nennt er einen «Original-Corelli made in USSR». Und noch subtiler ist die stilistische Modulation, in der etwa eine barocke Spielfigur zu einer avantgardistischen Klangfläche aufgefächert wird. Aus der Begegnung stilistischer Sphären und der Anwendung solcher Techniken entsteht Komplexität. Diese Komplexität zu einem organischen Kunstwerk mit geistigem Gehalt und überzeugendem musikalischem Verlauf zu formen, war Alfred Schnittkes Arbeitsgeheimnis.
Wie kommt einer dazu, so zu komponieren? Die pragmatische Antwort lautet: Schnittke verdiente seinen Lebensunterhalt lange als Film- und Theaterkomponist. Er war ein Profi darin, für jede erdenkliche Szene und Stimmung den richtigen Ton zu finden. Die historische Antwort lautet: Die Zeit war reif für einen wie ihn. Vorbilder für Konzepte und Kunst dieser Art hatte es in der UdSSR bereits in den kulturell enorm produktiven 1920er und frühen 1930ern gegeben, etwa in den Literaturtheorien eines Michail Bakhtin oder Schostakowitschs kühner 4. Symphonie. Beide wurden von Schnittke intensiv rezipiert. Stalins Kulturpolitik hatte diese Entwicklungen jäh abgeschnitten, und erst mit der politischen Öffnung der 1960er-Jahre war es wieder möglich, an diese Fäden anzuknüpfen. Als junger Komponist hatte Schnittke sich noch in jedem erdenklichen Stil versucht, inklusive Zwölftonmethode. Nichts hatte ihn befriedigt, bis ihm der rettende Gedanke kam, die Vielheit selbst zu seinem Thema zu machen. Von da an saugte er mit Eifer auch verwandte Gedanken aus dem Westen auf und arbeitet sich etwa an der Collagetechnik eines Luciano Berio oder an Bernd Alois Zimmermanns pluralistischer Kompositionsweise ab.
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer des
Opernhauses erwerben
Die profundeste Antwort auf die Frage nach dem Ursprung von Schnittkes Musikverständnis aber ist sicher die persönliche: Sich selbst als abgeschlossene Einheit und fertiges Endergebnis zu verstehen, war ihm buchstäblich nicht in die Wiege gelegt. Alfred Schnittke wurde 1934 in Engels, einer Stadt in der Wolgadeutschen Autonomen Republik der UdSSR geboren. «Mein Vater, ein Jude aus Frankfurt am Main, der kein Jiddisch mehr konnte, sondern nur Deutsch, kam 1926 nach Russland. Er heiratete eine katholische Wolgadeutsche, deren Vorfahren vor 200 Jahren eingewandert waren. Ihre Sprache – die Sprache meiner Mutter – war ein veraltetes, ‹eingeschlafenes› Deutsch.» Zudem waren beide Eltern überzeugte Kommunisten, während die Grossmutter mütterlicherseits Alfred ein Beispiel von glaubensfestem Katholizismus vorlebte. Da Einheit nicht möglich schien, entschied der Mensch Schnittke sich für offene Pluralität: «Ich gehöre zu niemandem, ich habe kein Land, ich habe keinen Platz. Das hat mich jahrelang gequält. Dann habe ich verstanden und endlich Ruhe gefunden: Es wird keine reale Lösung geben.» Doch die Sehnsucht nach einer Lösung scheint ihm immer geblieben zu sein. So liess er etwa in seiner 4. Symphonie von 1983 die stilistischen Sphären von katholischer, protestantischer, orthodoxer
und jüdischer Sakralmusik aufeinandertreffen, um sie im Epilog des Werkes in einem synkretistischen Marienhymnus miteinander zu verschränken.
Tutto nel mondo è burla –Der lange Weg zur Oper
Zur Oper fand Alfred Schnittke erst spät in seinem Komponistenleben. Dabei sei eine Oper zu schreiben immer sein Traum gewesen, behauptete er. Zwei im Skizzenstadium steckengebliebene Opernversuche von Anfang der 1960erJahre bezeugen diese Ambition. Doch dann folgen fast drei Jahrzehnte Latenzzeit. An Kompositionen für Bühne und Leinwand mangelt es dabei nicht: Schnittke schrieb Schauspielmusiken, Ballette, komponierte viel für Film- und Fernsehproduktionen, er erfand neue musiktheatralische Formate wie die «Musikalische Allegorie» oder das «Multimedia Motion Theatre», er bearbeitete in gut polystilistischer Manier Pjotr Tschaikowskis Oper Pique Dame, nur an einen eigenen Beitrag zur Gattung wagte er sich lange nicht. Anfang der 1980er nahm dann das Vorhaben einer Faust-Oper Gestalt an und blieb doch liegen, wenngleich es ab 1985 sogar einen Auftrag durch den Hamburger Opernchef Christoph von Dohnanyi gab. Erst nach seiner Übersiedlung nach Deutschland (1990) ging Schnittke die Realisierung seiner inzwischen drei Opern-Vorhaben konkret an. Allerdings war er durch seine ersten Schlaganfälle da bereits schwer beeinträchtigt und konnte nur noch mit Mühe das riesige Arbeitspensum bewältigen, das diese drei Projekte [Leben mit einem Idioten (1991/92); Gesualdo (1993) und Historia von D Johann Fausten (1991/1994)] sowie zahlreiche weitere Werke ihm abverlangten.
Über die Gründe für diese Verspätung muss man spekulieren: Der Musiktheatraliker Schnittke hatte genug andere Spielfelder, wie Schauspiel, Ballett, Leinwand. Auch seine polystilistischen Konzerte und Symphonien sind bereits latente Dramen, in denen Stile und musikalischen Welten wie Protagonisten aufeinandertreffen und interagieren. Doch ab Ende der 1980er-Jahre wandelt sich Schnittkes Methode. Der frappante Polystilismus der 1970er und 80er weicht im Spätwerk zunehmend einer Kunst der Reduktion, in der manchmal schon
ein einfacher Dreiklang oder ein hingetupfter dissonanter Cluster genügen, um eine ganze musikalische Welt und eine stilistische Sphäre anzudeuten.
Schnittkes erste vollendete Oper Leben mit einem Idioten scheint diesen Wandel zu bezeugen. Im ersten Akt dominiert noch der altbekannte, polystilistische Schnittke. Walzer, Tangos, Märsche, russische Volkslieder, vor allem aber diverse Verballhornungen sowjetischer Propagandachöre prallen jäh aufeinander. – Opernfans werden ausserdem ein Motiv aus Verdis Falstaff wiedererkennen, das dort jedes Sich-Aufblasen des grossmäuligen Ritters begleitet; und Falstaffs späte Einsicht «Tutto nel mondo è burla» (Die ganze Welt ist Narrheit) könnte gut als Motto über Schnittkes Oper stehen. Doch im zweiten Akt wandelt sich das Bild, das Drama wird zusehends auf die Stimmen und ihre vokalen Gesten reduziert. Ganz am Schluss bleibt dann nur noch ein unbegleitetes Vokal-Terzett übrig, in dem Ich eine boshaft deformierte Version eines russischen Volksliedes zum Besten gibt, während «Die Frau» und der «Idiot» ihm mit semantisch-sinnfreien, hysterisch-exaltierten Lautäusserungen sekundieren. Eigentlich müsste solch eine Stimm-Groteske zum Brüllen komisch sein, wäre sie nicht so verzweifelt traurig.*
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
* Unsere Aufführung endet mit dem A-cappella-Chor «Herbst» aus Alfred Schnittkes Filmmusik zu dem Film «Agonie».
Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter all dem ist, dass der Mensch nicht ein sanftes liebesbedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.
Siegmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur
LEBEN MIT EINEM IDIOTEN
ALFRED SCHNITTKE (1934
– 1998)
Oper in zwei Akten, Libretto von Viktor Jerofejew
Deutsche Übersetzung von Jörg Morgener (Redaktion: Beate Rausch)
Uraufführung: 13. April 1992, Amsterdam
Fassung Opernhaus Zürich 2024
Ich Bariton Ehefrau Sopran
Idiot Tenor
Wärter Bass
Marcel Proust Bariton
Chor
Freunde, Irre, Homosexuelle, Stimmen
1. AKT
PROLOG
CHOR
Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen!
ICH
Du Süsse, du meine Strafe!
CHOR
Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen!
FRAU
Wie konntest du den nehmen? Du bist völlig verrückt!
CHOR
Da hat der Teufel selber die Hand im Spiel.
FRAU
Du bekommst einen Sohn, Süsser, auf den wirst du mächtig stolz sein.
ICH
Ich, ich werde dein Sohn sein!
FRAU
Liebster, Liebster, Liebster!
CHOR
Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen!
1. SZENE
ICH
Meine Freunde gratulierten mir zum Idioten.
CHOR DER FREUNDE
Du kannst uns glauben, das macht uns überhaupt nichts.
FRAU
Und sie fielen ihm um den Hals, und dann küssten sie ihn auf seine Wangen.
ICH
Oh! Ich lächelte ganz verwirrt, vor meinen Augen flimmerten Hände und lächelnde Gesichter. Dann küsste ich meine Freunde und umarmte und drückte sie.
CHOR DER FREUNDE
…und Dämpfe der Freundschaft kreisten. Wir haben tatsächlich Schlimmeres befürchtet. Und es gab auch Gründe, weshalb wir Schlimmeres befürchteten. Nun hast du es, das Leben mit dem Idioten. Damit seid ihr doch gut bedient, eine äusserst milde Strafe oder besser gesagt: Überhaupt keine Strafe! Das heisst, natürlich: Je nachdem, wie man’s betrachtet. Sieht man’s durch den Riss unsrer Gegenwart, so erkennt man mit einem Mal in solcher Bestrafung eine geheime Form von Vertrauen…
Und so versperrt man dir nicht alle Wege!
…eine neue Art Lebensfunktion, und mehr eine Weisung als ein Verweis, ja, eine wahre Mission! Bedenke doch, du hast sogar die Möglichkeit, frei zu wählen!
Sie haben mit dir wirklich Nachsicht bewiesen.
ICH
Ich war misstrauisch, viele Monate voller Argwohn, voller Unruhe. Alles ging in meinem Argwohn unter, und die Grenzen zwischen den Dingen waren wie verschwommen, und es stiegen süssliche Dämpfe auf.
ICH UND CHOR DER FREUNDE
Die Freunde, sie küssten mich, das schenkte mir neue Kraft. Und ich? Ach, ich küsste sie, wir lachten und küssten uns!
CHOR DER FREUNDE
Alter, es gibt Glück im Unglück, denn eins ist völlig klar:
Es fehlte dir immer schon ein wenig Mitgefühl, ja, dein Mitgefühl, das war recht schwach…
EINZELSTIMME
Wohlwollend blinzelten die Freunde…
CHOR DER FREUNDE
Und was nun deinen Fall angeht, was damit zusammenhängt…
Programmheft
LEBEN MIT EINEM IDIOTEN
Das komplette Programmbuch
Oper von Viktor Jerofejew und Alfred Schnittke
Premiere am 3. November 2024, Spielzeit 2024/2025
Herausgeber Opernhaus Zürich
können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
Intendant Andreas Homoki
Zusammenstellung, Redaktion Beate Breidenbach Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 66 33, inserate@opernhaus.ch
Schriftkonzept und Logo Studio Geissbühler Druck Fineprint AG
Textnachweise:
Handlung: Daniil Orlov / Kirill Serebrennikov. – Die Gespräche mit Kirill Serebrennikov, Jonathan Stockhammer und Viktor Jerofejew sowie die Artikel von Ulrich Schmid und Ilja Stephan sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Das Zitat von Alfred Schnittke entnahmen wir dem CD-Booklet zur Aufnahme der Amsterdamer Uraufführung (Sony Classical 1992). – Viktor Jerofejew, Männlicher Reichtum, zitiert nach: ders., Männer, Ein Nachruf, Köln 2000. –Christiane Hoffmans, Der Jahrhundertkünstler Joseph Beuys, Essen 2021. – Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a.M. 1988.
Bildnachweise:
Monika Rittershaus (S. 6 / 7, 11, 32 / 33, 44 / 45, 51, 62 / 63, 64 / 65) und Frol Podlesnyj (S. 4 / 5, 12 / 13, 20 / 21, 22 / 23, 24, 41, 42 / 43, 52 / 53, 54, 67) fotografierten das «Leben mit einem Idioten»-Ensemble während der Klavierhauptprobe vom 24. Oktober 2024.
Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie der Beiträge der Kantone Luzern, Uri, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und der Kantone Nidwalden, Obwalden und Schwyz.
PARTNER
PRODUKTIONSSPONSOREN
AMAG
Atto primo
Clariant Foundation
Freunde der Oper Zürich
Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG
PROJEKTSPONSOREN
René und Susanne Braginsky-Stiftung
Freunde des Balletts Zürich
Ernst Göhner Stiftung
Hans Imholz-Stiftung
Max Kohler Stiftung
Kühne-Stiftung
Georg und Bertha Schwyzer-Winiker Stiftung
Hans und Edith Sulzer-Oravecz-Stiftung
Swiss Life
Swiss Re
Zürcher Kantonalbank
GÖNNERINNEN UND GÖNNER
Josef und Pirkko Ackermann
Alfons’ Blumenmarkt
Familie Thomas Bär
Bergos Privatbank
Elektro Compagnoni AG
Stiftung Melinda Esterházy de Galantha
Fitnessparks Migros Zürich
Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung
Walter B. Kielholz Stiftung
Klinik Hirslanden
KPMG AG
Landis & Gyr Stiftung
Die Mobiliar
Annina und George Müller-Bodmer
Fondation Les Mûrons
Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung
StockArt – Stiftung für Musik
John G. Turner und Jerry G. Fischer
Else von Sick Stiftung
Ernst von Siemens Musikstiftung
Elisabeth Weber-Stiftung
FÖRDERINNEN UND FÖRDERER
Art Mentor Foundation Lucerne
Theodor und Constantin Davidoff Stiftung
Dr. Samuel Ehrhardt
Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG
Garmin Switzerland
Elisabeth K. Gates Foundation
Stiftung LYRA zur Förderung hochbegabter, junger Musiker und Musikerinnen
Minerva Kunststiftung
Irith Rappaport
Luzius R. Sprüngli
Madlen und Thomas von Stockar
SOME ENCOUNTERS YOU WEAR FOREVER.
RINGE, OHRRINGE UND ARMBÄNDER IN GELBGOLD, WEISSGOLD UND MIT DIAMANTEN.