Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

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AUFSTIEG UND FALL DER STADT

MAHAGONNY

KURT WEILL  /   BERTOLT BR ECHT


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AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY KURT WEILL (1900-1950), BERTOLT BRECHT (1898-1956)

Unterstützt von den Freunden der Oper Zürich







HANDLUNG Zwei Männer und eine Frau, auf der Flucht vor den Konstablern, bleiben in einer öden Gegend stecken. Sie beschliessen, eine Stadt zu gründen, in der den Männern, die von der Goldküste her vorüberkommen, ihre Bedürfnisse erfüllt werden sollen. In dieser «Paradiesstadt», die hier entsteht, führt man ein be­ schau­liches, idyllisches Leben. Das kann aber die Männer von der Goldküste auf die Dauer nicht befriedigen. Es herrscht Unzufriedenheit. Die Preise sinken. In der Nacht des Taifuns, der gegen die Stadt heranzieht, erfindet Paul Acker­ mann das neue Gesetz der Stadt. Dieses Gesetz lautet: «Du darfst alles». Der Taifun biegt ab. Man lebt weiter nach den neuen Gesetzen. Die Stadt blüht auf. Die Bedürfnisse steigen – und mit ihnen die Preise. Denn: man darf zwar alles – aber nur, wenn man es bezahlen kann. Paul Ackermann selbst wird, als ihm das Geld ausgeht, zum Tode verurteilt. Seine Hinrichtung wird zum Anlass einer riesigen Demonstration gegen die Teuerung, die das Ende der Stadt ankündigt. Kurt Weill

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WENN MAN ALLES DÜRFEN DARF Ein Gespräch mit Regisseur Sebastian Baumgarten über Spass, Wollust, Gewalt und Anarchie und wie man das auf der Bühne zeigt

Wo liegt Mahagonny, und was ist das für eine Stadt, von der die Oper von Kurt Weill und Bertolt Brecht handelt? Sie wird in einer Art Niemandsland gegründet von einer Kriminellenbande, an­geführt von der ehemaligen Prostituierten Leokadja Begbick. Es ist eine künstliche Stadt, die aus dem Nichts entsteht. Sie erinnert an die bibli­ schen Orte Babylon und Sodom und Gomorrha, aber weist natürlich Parallelen zur Glücksspielerstadt Las Vegas auf. Brecht und Weill wollten das Stück allerdings ganz bewusst von Cowboy- und Western-Assoziationen absetzen, deshalb haben sie die ursprünglich englischen Rollenbezeichnungen in deutsche abgeändert, um einen Widerspruch zu erzeugen zwischen den Figuren und der Landschaft. Wie real ist dieses Mahagonny? Es ist real und nicht real zugleich, aber kein Ort, der Heimat bietet. Die Stadt steht für temporäres Vergnügen. In ihr ist nichts von Dauer. Sie ist ein transitorischer Ort, der nie eine feste Gestalt annimmt. Der permanente Um­bruch von Recht und Ordnung, der in Mahagonny stattfindet, erzeugt das Unbehauste und Entfremdete, das für das Stück so zentral ist. Spiegeln sich darin Brechts eigene Grossstadterfahrungen? Die Oper ist in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstan­ den, als Brecht in Berlin lebte. Da hat er die Stadt als Dschungel erfahren. Leben, Unter­haltung, Alkohol, Sex und Kunst konzentrierten sich an diesem

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einen Ort und bedeuteten Üppigkeit und Gefahr in gleichem Masse. Ein frühes Theaterstück von Brecht heisst nicht umsonst Im Dickicht der Städte. Wie vollzieht sich der immerwährende Umbruch, in dem sich Mahagonny befindet? Es gibt mehrere, aufeinanderfolgende Phasen. Nach der Gründung der Stadt und der Ankunft von Prostituierten und Gästen etabliert die Begbick eine Art Spiesser-Glück. Alles ist reizvoll, aber langweilig, billig und durchreguliert. Dagegen begehrt der Held der Oper, Paul Ackermann, auf. Angesichts eines drohenden Taifuns propagiert er eine neue, entfesselte «Du darfst»Phase, in der alles erlaubt ist, in der man «alles dürfen darf». Diese wiederum mündet in die finale Phase der Selbstzerstörung der Stadt. Mahagonny ist ein Sehnsuchtsort. Welches Versprechen birgt er? Dass man als Mensch glücklich wird. Sieben Tage ohne Arbeit, Spass, Wollust, Alkohol – davon spricht Leokadja Begbick in der ersten Szene. Mahagonny ist ein Konstrukt, das, wie jede Ware, ein fiktives Versprechen birgt. Dahinter steckt natürlich der Druck, mit der Ware Geld zu verdienen. Das ist die klassische Wahrnehmung des Stücks: Es führt die sinnent­ leerten Mechanismen der kapitalistischen Warengesellschaft vor und stellt sie bloss. Ist das auch für dich das zentrale Thema? Ein Werk wie Mahagonny öffnet natürlich sehr viele, verschiedene Themen­ felder. Für mich stand der Anspruch auf unbedingten Genuss im Zentrum, auf den Paul Ackermann pocht, und mit dem er das protestantische Verbotsund Regel­system, das Leokadja Begbick etabliert hat, aushebelt. Zügelloser Genuss ist eine starke Energie im Stück. Saufen, Fressen, Dauersex und Sport bis zum Mord werden in der «Dudarfst»-­Phase des zweiten Akts exzessiv durchgespielt. Die anarchische Lust, die sich da Bahn bricht, ist ein Ausdruck von grosser Vitalität, weil sie alles ideologisch Festgefahrene aufmischt. Sie greift um sich und scheint die Welt verändern zu können.

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Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat diesen Aspekt in seinem aktuellen Buch über Brecht betont: «Mahagonny», schreibt er, «sei zwar in manchem ein Abbild der kapitalistischen Gesellschaft, zu­ gleich jedoch ein Anderswo: Name und Ort für die Illusion und Utopie der absoluten Freiheit, den Genuss in seiner radikalen Asozialität.» Genau. Zunächst ist der anarchische Genuss gegen die protestantische Lebens­­verengung eine positive Energie. Später dann wird er zu einer zerstö­ rerischen Kraft. Beides wird im Stück vorgeführt. «Wozu Türme bauen wie der Himalaya, wenn man sie nicht umwerfen kann, damit es ein Gelächter gibt», singt Paul Ackermann. Die Energie richtet sich gegen das Eingeklemmte und Verklemmte der Ver­hältnis­se, aber im zweiten Teil des Stückes erlebt der Anarchist den Um­schlag dieser Energie gegen sich selbst. Die anarchische Lust wird dann absolut gesetzt und kippt ins Zerstörerische. Von Brecht sagt man, er sei Nihilist gewesen. Was ist damit im Hinblick auf Mahagonny gemeint? Er geht wie die Philosophen Walter Benjamin und Adorno von der Vor­ stellung aus, dass das Nihil, das Nichts, notwendig ist, um neu beginnen zu können. Vor­aussetzung für Veränderung ist, dass erst einmal alles in die Luft fliegen muss. Denn sobald man aus bestehenden Verhältnissen heraus versucht, die Gesellschaft zu verändern, sind die alten Krankheiten im Kommenden weiterhin enthalten und brechen erneut aus. Walter Benjamin spricht in einer Analyse der Hauspostille, das ist die Gedichtsammlung, in der die Mahagonny-Gesänge zuerst veröffentlicht wurden, von der «asozialen Haltung» Brechts. Wenn Anarchie Trumpf ist, so denke der Dichter Brecht, soll sie wenigstens beim Namen genannt werden. Die Kon­­sequenz aus asozialen Verhältnissen sei, «ohne falsche und ohne echte Scham» davon zu sprechen. Das ist genau das Thema in Mahagonny.

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Etwa, wenn Paul Ackermann singt «Denn wie man sich bettet, so liegt man. Es deckt einen keiner da zu. Und wenn einer tritt, dann bin ich es, und wenn einer getreten wird, bist du’s.» Das ist der Song, in dem der Raubtierkapitalismus auf den Punkt gebracht wird. Die Unverschämtheit liegt da weniger in dem Gedanken, der im Grunde jedem klar ist, als in der Tatsache, dass er formuliert wird. Er wird ausgespro­ chen! Alle wissen es, aber keiner redet drüber. Paul Ackermann tut es. Bei Brechts Kapitalismuskritik hat heute mancher das Gefühl, das sei die ewiggleiche alte Leier. Ich finde, wir müssen aufpassen, dass wir in der Dekadenz unserer heutigen eurozentristischen Weltbetrachtung die entscheidenden Fragen nicht aus den Augen verlieren. Man kann natürlich sagen, die Kapitalismuskritik bei Brecht sei kalter Kaffee. Da würde ich immer dagegen halten und behaupten: Wir diskutieren uns die Köpfe heiss über Migration, Umweltschutz, Genderfragen usw. Diese Themen sind alle auch sehr berechtigt, aber die Grundfrage nach dem kapitalistischen System stellen wir nicht mehr, die nach der Dominanz des Geldes in unserem Werte­kanon fragt. Als sei es die Lösung, wenn wir von einem besseren, veganen Kapitalismus träumen. Brecht und Weill stellen die Grundfrage in Mahagonny aber sehr wohl und zwar auf dialektische Weise. Man neigt heute dazu, die Brecht-­Texte zu unter­schätzen. Brecht benennt Probleme und wirft Fragen auf, die ich mir als Zuschauer dann schon selbst beantworten muss. Das Stück hat also deiner Meinung nach hundert Jahre nach seiner Ent­ stehung nichts von seiner Brisanz verloren? Eine Welt, die knallhart auf Geld gründet, bringt auch heute noch die Themen her­­vor, die in dieser Oper behandelt werden. Die Menschen gehen doch im Moment nicht ohne Not aus Afrika weg. Die kapitalistische Ordnung produziert Armut und Ungerechtigkeit, und die Menschen folgen dem Versprechen des Geldes, wie sie es auch in Mahagonny tun. Der eigentliche Grund der Entwicklungen in Afrika liegt doch im Kolonialismus. Auch da gibt es eine Parallele zur Oper: Die Gründung der Stadt durch

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die Begbick und ihre Komplizen ist eine ka­pi­­ta­listische Landnahme, eine Art kolonialer Aneignung von zweifelhafter Legitimität. Brecht wird heute gerne als linker Moralisierer abgetan, als der Theater­ macher mit dem belehrenden, erhobenen Zeigefinger. Ist das ein Missverständnis? Das ist halt die verallgemeinernde Wahrnehmung von Brecht, die schon des­halb falsch ist, weil es den einen Brecht gar nicht gibt. Sein Schaffen vollzieht sich in verschiedenen Phasen. Als er gemeinsam mit Kurt Weill die Maha­gonny-Oper in den zwanziger Jahren schrieb, hat er die aktuellen Kunstentwicklungen vom Ex­pres­sionismus bis zum Dadaismus aufgesaugt. Und er hat sich dem Medium Musik ge­öffnet. Das heisst, er hat an allen Formaten des Theaters experimentiert. Es scheint, als würde sich der Blick auf die Welt für Brecht noch einmal komplett ändern. Ideologie stand da überhaupt nicht im Vordergrund. Ich sehe in Mahagonny nicht die eine zentrale politische Botschaft. Das wäre zu einfach. Mahagonny ist von einer starken Ambivalenz des Denkens geprägt, es führt uns dialektische Widersprüche vor, um uns als Zuschauer zu Entscheidungen herauszufordern. Wenn aus heutiger Sicht über den ach so moralischen Brecht geschimpft wird, kann ich nur sagen: Gegenwärtig hat doch inbesondere im Schauspiel gerade ein betreutes Theater Konjunktur, das uns mit einem pädagogischen Ansatz erklärt, was wir in Bezug auf unsere Gegenwart zu denken und wie wir es zu sagen haben. Die Oper handelt im zweiten Teil von Masslosigkeit. Es wird gehurt in Ma­ha­gonny. Ein apokalyptischer Hurrikan bedroht die Stadt. Herr Jakob Schmidt frisst sich zu Tode. Alaskawolf-Joe wird in einem Boxkampf er­schlagen. Wie bringt man das auf die Bühne? Wenn man das realistisch darstellen will, kommt man nicht hinterher. Man muss das übersetzen. Theater bedeutet für mich immer Abstraktion von Realität und damit auch formale Abgrenzung. Die tritt in einen Widerspruch zu der Haltlosigkeit, die später Gegenstand des Stücks ist. Brecht und Weill wussten genau, dass sich Anarchie und Zügellosigkeit nicht einfach

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ab­bilden lassen und führen Mittel der Form ein, um Formlosigkeit darstellbar zu machen. Das ist in der Praxis immer eine grosse Herausforderung. Brecht beschreibt in seinen Anmerkungen zu Mahagonny die Grundzüge des epischen Theaters. Er propagiert für die Oper die Abkehr von Identifikation, Einfühlung, und Gefühlsrausch und fordert die berühmte Trennung der Elemente Wort, Musik und Darstellung. Was heisst das für die Spielweise, in der man das Stück auf die Bühne bringen muss? Bei Mahagonny ist das gar nicht so kompliziert, weil die Partitur in einer Oper die Form stark vorgibt. Die Szenen sind scharf geschnitten und kontras­ tierend von­einander abgegrenzt. Der Sänger kann die Identifikation mit der Figur daher nicht den ganzen Abend durchziehen. Die Nummern zwin­gen ihn, immer wieder in das Spiel ein- und auszusteigen, um in der Unter­ brechung etwa nach vorne zu gehen und einen Kommentar über das Erlebte zu machen. Die szenische Dar­stel­lung muss sich zu einem möglichst klar gesetzten Nacheinander fügen und nicht in der Gleichzeitigkeit. Kann das nicht zu einer, gerade im Opernkontext, als sehr kalt empfun­ denen Darstellungsweise führen? Im Song, im Chor, in der Szene selbst sollen Identifikation, Psychologie und Emotionalität schon greifen, aber eben abgegrenzt und im scharfen Kontrast vom Vorhergehenden und dem Folgenden. Was in der Frage mitschwingt, ist aber vielleicht etwas anderes. Verfremdung entfremdet natürlich immer auch vom Material. Ich komme als Zuschauer in die Haltung des Betrachters und soll den Kopf ein­setzen und reflektieren. Ich persönlich erlebe aber gerade in der jungen Generation der Theatermacherinnen und der Theatermacher ein starkes Bedürfnis nach Gefühl, das durch Brechts Theater nicht gedeckt wird. Brecht hat seine Methode zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kampf gegen Faschismus und Irrationalismus und die Kirche in Anschlag gebracht. Wir befinden uns heute im 21. Jahrhundert und an einem anderen Punkt, die Rationalität der Moderne hat uns stark geprägt, auch negativ. Wie Heiner Müller sagt: «Aufklärung ist eine negative Kraft.» Von daher kann ich die Skepsis nachvollziehen, die Brecht heute mitunter ent­gegen­­gebracht wird.

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Du bist ein Regisseur, der in seinen Inszenierungen gerne in die Vollen geht und mit aufwendigen Bühnenbildern, Video, Film, Choreografie usw. arbeitet. Der spektakulär unterhaltsame Abend könnte aber gerade bei Mahagonny auch zum Problem werden, denn Brecht und Weill wollten mit diesem Werk Kritik an der «kulinarischen» Form der Oper üben. Wie gehst du damit um? Zunächst mal: Ein üppiger, praller, lustvoller Abend entspricht genau meinen sinnlichen Vorstellungen von Theater. Weglassen und Reduktion ist nicht so mein Ding. Wichtig ist, zu verstehen, wie die Oper funktioniert. Die Musik ist ja alles andere als üppig und ausschweifend in ihrer Machart. Die Texte sind auf den Punkt geschrieben. Es ist die Menge an Szenen, kleinen, griffigen Elementen und Kontrasten, die das Stück so reich und voll machen. Dem muss man Rechnung tragen. Was das konkret in Bezug auf unsere Produktion bedeutet, kann ich im Moment noch gar nicht beantworten. Der Versuch wird sein, das Kulinarische aufzugreifen und in dem Moment, wo es da ist, zu kontrastieren. Was mich im Moment ganz stark trägt und fasziniert, ist die Qualität der Musik. Ich habe vor ein paar Jahren die Dreigroschenoper in Stuttgart gemacht und bin im Vergleich da­zu komplett begeistert von der Mahagonny-Partitur. Die Musik ist vielschichtig, in ihrem Eklektizismus unfassbar gut gebaut und verwoben und kommentiert den Text auf einer ganz eigenständigen Ebene. Das Mahagonny-Songspiel wurde 1927 in Baden-Baden bei einem Avant­ garde-­Festival uraufgeführt und als avantgardistisch gefeiert. Das darf man nicht vergessen, wenn man heute etwa den Alabama-Song nur noch als erfolgreichen Popsong wahrnimmt, der von den Doors bis David Bowie adaptiert wurde. Die Eingängigkeit der Musik ist das eine, aber ihr stehen kompositorische Sachen entgegen, die ihrer Zeit weit voraus waren. Es ist unglaublich, was Kurt Weill da veranstaltet. Wir haben gerade die Szene geprobt, in der Jakob Schmidt sich zu Tode frisst. Die Musik ist surreal instrumentiert für Banjo und Zither und so melancholisch und nihilistisch, von Anfang an. Grossartig! Die Szene selber kommt mir vor wie ein Moment bei Ingmar

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Bergman: Die Sinnlosigkeit des Tuns wird in jedem Moment und auf allen Ebenen erkennbar, der Musik, dem Text, der Szene. Das ist für Brecht eigentlich untypisch, weil es in den dialektischen Prozessen immer darum geht, dass eine Figur erstmal an etwas glauben muss, um dann des­illusioniert zu werden. Das ist in der Jakob-Schmidt-Szene ganz anders und filmisch gedacht: In die Szene schneiden die Autoren erst im letzten Moment rein, als würde man nur das Auslaufen des Blutes nach einem Selbstmord zeigen. Das Gespräch führte Claus Spahn

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DIE VERABSCHIEDUNG DER EWIGKEIT Der Lebensweg von Bertolt Brecht führte von Augsburg ins Dickicht der Metropole Berlin. Die Grossstadt-Erfahrung hat sein Schaffen nachhaltig geprägt von Ludwig Haugk

«Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern Meine Mutter trug mich in die Städte hinein Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.» Das berühmte Gedicht «Vom armen B.B.» stammt aus dem Jahr 1922, dem Jahr, in dem Bertolt Brecht nach einigen gescheiterten Anläufen zuvor in der Megacity Berlin Fuss zu fassen sucht. Erstmals veröffentlicht wird es 1927 in der Hauspostille gemeinsam mit den «Mahagonny-Songs», der Urform der späteren Oper. Das Gedicht beginnt mit der Geste eines autobiografischen Bekenntnis­ ses: «Ich, Bertolt Brecht». Doch den Gefallen eines Selbstbekenntnisses tut Brecht seinen Lesern nicht, in einer späteren Strophe wird es heissen: «Ich bin einer, auf den könnt ihr nicht bauen.» Wer war dieser Brecht, der wie kein anderer die literarische und dramatische Welt des 20. Jahrhunderts in der deut­ schen Sprache veränderte und bestimmte? Von ihm selbst, so Brecht, werden wir es nicht erfahren. Denn was ihn interessiert, ist die Selbsterfindung. Das be­ginnt schon beim Namen. Getauft wurde Brecht als Berthold Eugen und wäh­rend seiner Kindheit in Augsburg wurde er stets Eugen genannt. Diese Kindheit erscheint von heute aus gesehen wenig spektakulär. Das Elternhaus war wohlhabend, der Vater Direktor einer Papierfabrik und vorsichtig liberal eingestellt. Die Eltern stammten aus dem Schwarzwald («den schwarzen Wäl­ dern»). In Berichten aus der Zeit wird der Gymnasiast Brecht als charismatische

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Figur gezeichnet, der eine Gruppe von Gleichaltrigen um sich scharte. Früh beginnt Brecht zu schreiben, singt seine Gedichte im Freundeskreis. Die Texte dieser Zeit sind geprägt von den idyllischen Wiesen um Augsburg, von François Villon und Karl May, von Rudyard Kipling und der protestantischen Liedkultur. Der noch nicht volljährige Autor, der aus diesen Texten spricht, nimmt sich, was er kriegen kann, um die bürgerliche Enge einer mittelgrossen Stadt im deutschen Kaiserreich mit dem auszukontern, was sie bieten kann: Literatur, Nietzsche, Lutherbibel, Natur, ein Theater, Sexualität am Wildwasserstrand, eine Gruppe. Für zwei oder drei kurze Sommer der Anarchie wird der BrechtKreis zum Bürgerschreck, die Texte haben alles, nur keine Angst.

Viele Motive in Brechts Schaffen gehen Das komplette Programmbuch auf die Augsburger Zeit zurück können Sie auf Der Weltkrieg zerreisst die Gruppe um Brecht: einige fallen an der Front, an­ dere wenden sich nach dem Krieg den Rechten zu. Aber es gibt auch Wegge­ www.opernhaus.ch/shop fährten, die Brecht sein Leben lang begleiten werden. Einer davon ist Caspar Neher, der Brechts Bühnenbildner werden soll, unter anderem bei der Urauf­ oder am Vorstellungsabend Foyer führung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Er gehörtim in die Augs­ burger Kiste, die gefüllt ist mit Erfahrungen, Lektüren, Menschen und Wider­ sprüchen. wird sie auf seinem unruhigen Lebensweg von Augsburg über desBrechtOpernhauses erwerben München nach Berlin, aber auch ins Exil über Prag und Zürich, Paris, Schwe­ den, Finnland, Moskau in die USA mit sich nehmen. Viele der zentralen Mo­tive in Brechts Werk lassen sich bis in die Augsburger Zeit zurückverfolgen: sein von Karl May und Kipling geprägtes Amerika-Bild, der Vitalismus, der Kanon volkstümlicher Religiosität, der Widerstand gegen das liberale Bürgertum und – nicht zuletzt – das Lied als eine seiner zentralen Ausdrucksformen. Es ist aber nicht Augsburg, was da zeit seines Lebens aus Brecht spricht, sondern es ist das Augs­burg, das er in sich baut, der Entwurf die Konstruktion einer Welt, die er als Gegensatz zu seinen zukünftigen Orten braucht. Diese Orte werden die grossen Städte sein. Brechts erster Weg in die Grossstadt ist kein weiter: er beginnt nach dem Ersten Weltkrieg (selbst von einem Kriegseinsatz verschont) Medizin zu studie­

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ren, da das Elternhaus kein grosses Vertrauen in seine literarischen Ambitionen setzt. München wird für Brecht zu einer wichtigen Station in literarischer und politischer Hinsicht. Das zeitgenössische Theater war damals geprägt vom Ex­ pressionismus einerseits und dem Naturalismus Gerhart Hauptmanns anderer­ seits. Diese Kategorisierungen taugen natürlich nicht viel: Es lässt sich kaum in fünf Sätzen sagen, was das expressionistische Theater war. Zusammengefasst und fahrlässig vereinfacht: Die Stücke dieser Zeit entstammen gedanklich einem Aufbrechen der Konventionen der bürgerlichen Kulturen vor dem Ersten Welt­ krieg. Die expressionistische Revolution war die Beschreibung der Welt aus einer emphatisch empfundenen Subjektive heraus, ihre Helden revoltieren gegen die sie umgebende Welt, eine Verteidigung des durch die Psychoanalyse neu­ entdeckten Ichs gegen den sozialen und ästhetischen Zwang zur Angepasstheit und Schönheit. Brecht war davon gleichermassen fasziniert und genervt.

Der Künstler als Verbrecher und der «kalte Blick» Das durch und durch «expressionistische» Drama Der Einsame von Hanns Johst, einem Star der damaligen Theaterszene in München, verhandelt die Lei­ densgeschichte des Dichters Christian Dietrich Grabbe als christologisch auf­ geladenes Künstlerdrama, das Grabbe als Nationaldichter rehabilitiert. Brecht entschloss sich zu einem Gegenentwurf und schrieb mit Baal frisst! Baal tanzt!! Baal verklärt sich!!! Was tut Baal? sein erstes abendfüllendes Stück. Die zent­ rale Figur, der Dichter Baal (eine spätere Version heisst: Der böse Baal, der asoziale), ist ebenfalls ein Aussenseiter, der radikal das Leben verbraucht – eine Hymne an Francois Villon. Baal ist Anarchist, nicht im Sinne einer politischen Ideologie, sondern im Sinne eines Künstlers, der nur in der Lage ist, das Leben zu schreiben, weil er es lebt. Der Künstler als Verbrecher statt als missverstan­ dene Leidensgestalt. Dieses Bild, so scheint es, legte sich Brecht für seine eigene Existenz vor. Er wird das Stück, dessen erste Fassung auf das Jahr 1918 zurück­ geht, immer wieder überarbeiten (zuletzt kurz vor seinem Tod). Es begleitet ihn wie ein Leitmotiv. Baal ist ein «expressionistisches» Stück, das sich gegen das Leidenspathos des Expressionismus wendet. Der «kalte Blick» – vielleicht

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die zentrale Metapher für den jungen Brecht taucht hier zum ersten Mal auf. Wie kann der Mensch beschrieben werden, jenseits falscher Illusionen? Die Utopie ist das Leben des Dichters selbst, als konsensverweigernde Gegenwirk­ lichkeit: «Wir sind Schmarotzer, die letzten Menschen, die keine Diener sind, Baal und Karamasow in unserer Mitte. Was ist ein Gedicht wert: Vier Hemden, ein Laib Brot, eine halbe Milchkuh? Wir machen keine Ware, wir machen Ge­ schenke», schreibt Brecht in einem Brief 1920.

Brecht im Grossstadtdschungel von Berlin Politisch ist die Zeit im Bayern nach dem Ersten Weltkrieg geprägt von Extre­ Das komplette Programmbuch men. Die Ausrufung der Räterepublik in München und ihre Niederschlagung gehen an Brecht nicht spurlos vorüber. Im Gegensatz zu vielen linken Schrift­ können Sie auf stellern der Zeit wie Erich Mühsam oder Ernst Toller beteiligt sich Brecht nicht direkt an den politischen Auseinandersetzungen, später wird er das mit einem www.opernhaus.ch/shop «angeborenen Mangel an Begeisterungsfähigkeit» begründen. Dennoch hat die Gegenrevolte von rechts, das Zerschlagen einer Hoffnung auf eine andere Ge­ oder am Vorstellungsabend imbestärkt. Foyer sellschaft, Brecht in seiner Abwehr eines sentimentalen Menschenbilds Brecht geht nach Berlin, das mit der heutigen wohlsituierten Hauptstadt eines Exportweltmeisters nichts zu tun hat. Das Berlin erwerben der frühen Zwanziger Jahre des Opernhauses muss eine unglaubliche Geschwindigkeit gehabt haben, mit über zwei Millionen Einwohnern mehr als heute. Ein Dschungel aus Elend und Euphorie, geprägt wie keine andere Stadt von den Folgen des Weltkriegs: Versehrte, Arbeitslose und ein freigeschalteter Kapitalismus prägen das Leben. Diese Stadt wird Brechts Thema. Es ist eine Welt nach einem Zusammenbruch, eine postapokalyptische Welt. Mit dem Krieg hat sich Europa und alles, was man bis dato damit verband, selbst abgeschafft. Das um 1920 geschriebene Stück Trommeln in der Nacht, Brechts erster grosser Erfolg, ist eine Variation von Baal, allerdings ist der Held jetzt ein Kriegsheimkehrer, der Hintergrund nicht mehr eine idyllische Land­ schaft, sondern das umkämpfte Zeitungsviertel von Berlin. Trommeln in der Nacht ist noch im Stil eines expressionistischen Stationendramas verfasst, aber

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es formuliert lustvoll bereits Brechts radikales Programm der Desillusionierung: «Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass eure Idee in den Himmel kommt?» Obwohl als Künstler bereits «im Gespräch», droht Brecht selbst bei­ nah im Rinnstein zu verwesen, er leidet chronisch an Geldmangel und sogar an Unterernährung. Doch Brecht arbeitet unermüdlich an einer Dramaturgie für die neue Zeit oder besser für den neuen Menschen, den Menschen der Asphaltstädte. In dem Fragment Fatzer, einem Deserteursdrama, das Brecht ebenfalls immer wieder umarbeiten und nie zu Ende bringen wird, nennt er diesen Menschen «das neue Tier». Gemeint ist eine Gesellschaft desillusionierter Individuen zwischen Rausch und Überlebenskampf. Brecht baut an einer «Mythologie» der Stadt, einer Metaphysik ohne Gott. Aus den Texten spricht ein radikaler Materialismus, für den Brecht eine Form, ein Theater sucht. Lange bevor er das selbst poetologisch so beschreibt, entsteht hier das «dialektische Theater», die Arbeit am Konflikt als Inhalt. In seinem Stück Im Dickicht der Städte findet er eine seltsame Formel für diese Technik: «Dem Leben ins Weisse im Auge sehen». In Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wird er es später übersetzen mit: «Lass dich nicht ver­ führen.» In Dickicht werden mit der grösstmöglichen Brutalität des Blicks die Hoffnungen und Illusionen der Figuren zerlegt: Religion, Familie, die bürger­ liche Konzeption von Biografie – im Dschungel der grossen Stadt gelten diese Systeme nicht mehr. Das erstaunliche an Brechts Texten ist die Lust, mit der er seinen Nihilismus zelebriert. Er hat «keine Angst vor dem kalten Chicago», wie er selbst 1920 schreibt, der antibürgerliche Rebell der Augsburger Zeit ist da angekommen, wo er befreit denken kann, im anarchischen Dickicht der Stadt mit ihren illegalen Boxkämpfen, Verbrecherkartellen, Prostituierten und Knei­ pen. Brecht ist interessiert an dem «neuen Tier» – wie verhalten sich Menschen, wenn die Fassaden aus bürgerlichen Normen, Romantik und Ideologemen weggefegt sind? In den Regieanweisungen zu Trommeln in der Nacht wird vorgeschrieben, dass über der Szene der Spruch «Glotzt nicht so romantisch» hängen soll. Seine Technik ist aber nicht die überkommene des Naturalismus oder des bürgerlichen Realismus. Brecht sucht nach geräumigeren Metaphern, ihm geht es nicht um das Beschreiben, sondern um das Erkennen.

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Ein fiktives Amerika als Sehnsuchtsort «Deutschland ist langweilig», notiert er in dieser Zeit, «was bleibt: Amerika». Er ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Angesichts der moralischen Selbst­ auslöschung der alten Kolonialherren scheint Amerika ein Sehnsuchtsort: Ame­ rikanische Musik gibt den Rhythmus des hedonistischen Berlins vor, Amerika ist der für die meisten unerreichbare Ort, an dem alles möglich erscheint, an dem ein anderes Leben gelingen kann, jenseits des Ballastes der alten Zeit. In Dickicht wählt Brecht das erste Mal ein fiktives Amerika als Hintergrund, ein Amerika das sich anfühlt wie eine Mischung aus Augsburg und Potsdamer Platz, aus Karl May und den sozialkritischen Schriften von Upton Sinclair. Amerika scheint der ideale Ort, um «das neue Tier» zu studieren: Ein Einwandererland, ein Glücksversprechen und gleichzeitig ein Ort, wo die kapitalistische Zukunft konstruiert wird. Von Sinclairs damals berühmtem dokumentarischen Roman Der Dschungel bezieht Brecht die krasse Schilderung der Zustände in den Fleisch­fabriken von Chicago und der Vereinzelung der eingewanderten Arbei­ ter. Brecht nutzt Amerika als Folie, um seinem Gegenstand, dem Menschen in der Stadt näher zu kommen und betreibt in gewissem Sinne Soziologie als Naturwissenschaft. Die Stadt als «Dickicht», als Natur, der Mensch als «Tier», Religion ohne Gott, Erotik ohne Liebe – die neue Zeit wird radikal anders sein, Brecht sucht nach Bildern, die gross genug sind, um diesen Wandel zu fassen. Hinter allem scheint die Verabschiedung der Ewigkeit als Konzept zu stehen. Das Bild vom neuen Menschen ist eines, das nicht mehr ausgelagert werden kann auf eine jenseitige Perspektive. Die Welt der grossen Städte ist flüchtig. Immer wieder taucht das Motiv des Rauchs auf, oft ironisch gewendet als Zigarettenrauch – der Rauch ist es, der von den Menschen bleibt oder wie es in dem eingangs zitier­ ten Gedicht heisst: «Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurch­ ging, der Wind!» Brechts Helden sind nicht selten ehemalige Seeleute und Holzfäller: Entwurzelte und Entwurzeler. Sie kommen von der See oder «aus den schwarzen Wäldern» und haben in der Stadt keine Arbeit. Sie sind «Ent­ fremdete» und damit die richtigen Archetypen für Brechts neue «Mythologie».

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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Ihre Welt ist das Schattenreich der Kleinkriminalität und Prostitution, die Welt zwischen den Fassaden, die Strasse. Es ist eine Welt jenseits des bürgerlichen Rechts und jenseits der bürgerlichen Moral. Die Faszination für das Verbrechen, für die inoffizielle Organisation der Anarchie findet der Neuberliner Brecht in seiner mitgebrachten Augsburger Kiste: bei Verlaine und Rimbaud, bei Villon und Wedekind. Er reichert sie in Berlin durch eigene Anschauung an.

Die Gleichzeitigkeit von Verführung und Verstörung in den frühen Stücken Aber welche Form sollen die neuen Bilder bekommen? Wie sieht das Theater des jungen Bertolt Brecht aus? Brechts Blick geht auf sein Publikum. Seine grossen Vorbilder in dieser Zeit sind der Sport und das Kino. Im Sport findet er das Interesse des Publikums am Kampf, an der puren Auseinandersetzung. Dieses Interesse will Brecht ins Theater verlegen. Und auch im Kino sieht er diese Lust. In einem kurzen Text über Charlie Chaplin von 1921 schreibt der 23-jährige Brecht: «Der Film zieht seine Wirkung aus der Roheit seiner Besu­ cher.» Als Grundkrankheit des Theaters diagnostiziert der junge Brecht das Mitleid der Autoren mit ihren Figuren. Im Sport wie im Film sieht er die Lust am Untergang der Helden, das Betrachten ihrer Verletzlichkeit und Verwund­ barkeit mit «kaltem Blick». Wenn Theater die «Betrachtung der Verhältnisse des Planeten» möglich machen soll, dann wünscht sich Brecht diesen Blick auf die Bühne. «Es ist üblich, dass die Dichter in den Trauerspielen gegen Ende zu (wie überhaupt) die Partei ihres Helden nehmen. Es ist ein Unfug. Sie müssen die Partei der Natur nehmen.» Brecht wünscht sich ein denkendes Publikum, ein aktives. Im Theater seiner Zeit findet er es nicht. Wohl aber in den wuchernden neuen Massen­ medien: in der Revue, dem Cabaret, dem Boxkampf und den gigantischen Sport­ veranstaltungen. Brecht traut sich ein Theater zu, das die gleiche Kraft entfaltet, ohne intellektuell zu verwahrlosen. Aus der Bildenden Kunst überträgt er die Technik der Montage auf das Theater, bleibt dabei aber der Sprache seiner ersten Jahre treu. Brecht ist auch in seinen Stücken immer ein Lyriker, der aus der einfachen Form des Lieds, des Bänkelgesangs, des Budenzaubers und der

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Choräle sein Formen generiert. Es ist diese Mischung, die schon früh den «Brecht-Sound» generiert, der seine Stücke bis zuletzt prägen wird, eine Spra­ che, die aus den «schwarzen Wäldern» in die Städte getragen wurde. Brecht hat ein Gespür für sein Publikum, er weiss, das Theater über Gegensätze funktio­ niert. Seine frühen Stücke arbeiten mit der Gleichzeitigkeit von Verführung und Verstörung. Er will verführen, unterhalten, hasst die Langeweile, nutzt sein Talent zum Schreiben von Songs, von eingängigen Texten. Er will verstören, um Denkräume aufzustossen, torpediert die lineare Erzählung. Der Erfolg gibt ihm recht. Fast alle Uraufführungen in den Zwanziger Jahren werden einerseits Skandale und andererseits Gesprächsthema.

Der Atheist als Das komplette Programmbuch bedeutender Bibelexeget können Sie auf Brecht war schon in frühen Jahren Atheist. Die Verabschiedung der Ewigkeit, das Beharren auf dem Menschen als dem einzigen Gegenstand, auf den sich Kunst www.opernhaus.ch/shop beziehen kann, ist ein Motor seines Schreibens. Und dennoch kann man sagen, dass Brecht zu den wichtigsten Bibelexegeten des zwanzigsten Jahrhun­ oder Vorstellungsabend im Foyer dertsam gehört. Bis zu seinem Tod begleiten Brecht die Texte insbesondere des Alten Testaments. Hier findet er die zentralen Konflikte und Ausgangslagen für seine Stoffe und in Luther einen Gesprächspartner, der ihm immer wieder des Opernhauses erwerben Sprachbilder anbietet. Vor allem aber findet er Figuren. Es sind die grossen Zweifler, die vom Glauben abfallenden, die Brecht interessieren: bereits in Baal ist es Hiob und sein Aufbegehren gegen Gott und Konvention, im Dickicht der Städte klingen Kain und Abel und die Passionsgeschichte durch. In Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ist die Referenz bewusst gesetzt. Das Stück be­ ginnt mit der Gründung einer Stadt am Fusse eines Berges und ist unschwer zu ent­schlüsseln als Verweis auf das Buch Exodus: das ausgezogene Volk wartet in der Fremde am Fuss des Sinai: es ist unklar, ob Gott sie endgültig verlassen hat, oder ob er sich je wieder zeigen wird. Das biblische Bild ist der Rauch, in den sich der Berg hüllt. Brecht verabschiedet die Perspektive auf die Ewigkeit, er stellt sich auf die Seite derer die unten geblieben sind, oder besser, er stellt sich nicht auf ihre Seite, ergreift nicht Partei, sondern stellt sich an ihre Seite und

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beobachtet, was passiert. Wenn kein Gott mehr kommt, der die moralische Richt­ ­schnur verkündet, der sagt, was passieren soll, darf und muss, wie ordnet sich das System? Ist Glück, wenn alles erlaubt ist? Brecht verweigert die Antwort, sie liegt im Konflikt.

Ein zornig-lustvolles Lob der Negativität Es wird gesagt, dass der «frühe Brecht» ein unpolitischer sei. Tatsächlich aber erweisen sich gerade auch die frühen Stücke Brechts als hochpolitische im Ver­ such der Verteidigung des Chaos’ gegen die Klarheit moralischer und politischer Kategorien. Doch wird dies alles nicht erzählt mit dem Gestus des «Lob des Kommunismus», sondern als zornig-lustvolles «Lob der Negativität». Das sprengt die ordentlichen Kategorien des Erzählens und Zuschauens: «Glotzt nicht so romantisch!» Politisch ist dieses Theater durch und durch und zwar im Wortsinn. Es ist ein Theater für die Stadt. Auch der junge Bertolt Brecht denkt seine Figuren in Widersprüchen. Sein Theater ist dialektisch und episch, lange bevor er es selbst als solches beschreibt. Es ist ein Theater der «Unterbrechun­ gen», wie Walter Benjamin es später beschreiben wird. Ein Theater, das auf Abstände baut. In ihm atmen die Konflikte der Zwanziger Jahre, vor allem aber zeichnet es ein Bild des Menschen in biblischen Dimensionen. Die Begegnung Brechts mit den Schriften von Karl Marx wird oft als «Wendepunkt» in seinem Schreiben bezeichnet. Liest man den jungen Brecht, so erscheint die Sympathie für Marx weniger als Kehrtwende, sondern eher wie ein weiterer Baustein im Mosaik der Bezüge in Brechts Schreiben. Marx’ scho­ nungslose Ideologiekritik des Zusammenhangs von bürgerlicher Gesellschaft, ökonomischer Ausbeutung und Religion passt zu dem «kalten Blick», den Brecht sich antrainieren wollte. Mit Marx leuchtet der Gedanke auf, dass die Welt veränderbar ist, dass die «Natur» des Menschen in den grossen kalten Städten, die Befreiung von der Ewigkeit nicht Schicksal sein muss, sondern eine grosse Idee für einen Neubeginn sein könnte. Brecht war nicht naiv und wusste, dass dieser Neubeginn mit Schrecken kommen muss.

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Wer war Brecht? Brecht war von Beginn an viele. Zu seinem neuen Konzept einer Dramaturgie der Städte gehörte schon in Augsburg ein anderes Verständ­ nis des «Dichters», als es der Geniekult des 19. Jahrhunderts konstruiert hatte. Brecht hat sich immer genommen, was er brauchte: Ideen, Stoffe, Gedanken. Er war zeit seines Lebens Mittelpunkt von Gruppen. Unzählige Male war er mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert. Für Brecht ein lächerlicher Vorwurf. Nicht das «echte», das «authentische», das «ewige» Dichterwort war seine Sprache, sondern die Energie, die aus dem Abschied von all diesen Attributen entsteht. In Zeiten des konservativ-bürgerlichen Rückfalls wie dem heutigen ist die For­ mate und Gewissheiten sprengende Provokation, die in Brechts anarchistischlustvoller Verabschiedung der Ewigkeit liegt, eine überraschend verstörende Zumutung. Brecht, wer immer das war, ist noch lange nicht auserzählt.

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KRIEGERISCHE RUFE, NAHKAMPF, ZISCHEN Alfred Polgars Bericht über den Leipziger Uraufführungsskandal der «Mahagonny»-Oper Theaterskandale sind etwas ungemein Anregendes. Es ist schön, die Menschen um ideeller Fragen willen, wie eben die Kunst sie auf- und hinwirft, rauflustig werden und bis zum Schlagtreffen sich erhitzen zu sehen. Nichts ist in solchen Theaterkämpfen (die durch das Immaterielle der Streitpunkte, sowie durch die Teilung der Raufenden in Gläubige und Ketzer, Anhänger einer neuen und solche einer alten Lehre, an Religionskriege erinnern), nichts ist in ihnen zu ge­ ­­winnen als die Oberhand, und doch werden sie mit einer giftigen Anstrengung geführt, als winkten Preise. Was ist den Leipzigern schliesslich Mahagonny, dass sie um es sollten heulen? Und doch taten sie’s. Und wären, hätten sie nur eine Fahne bei sich gehabt, vom Fleck weg bereit gewesen, die Stadt mit blosser Hand zu stürmen. Sehr merkwürdig, so ein Theaterkrach. Da steht Vergnügen gegen Missver­ gnügen, Lust gegen Unlust, Langeweile gegen Amüsiertheit, und wahrlich, es ist ein erregendes Schauspiel, wenn diese Abstrakta konkret zusammenstossen. Wie rührend, bei solchem Zusammenstoss, die Versuche der Bühne, ihre wohl eingelernte Ordnung gegen die improvisierte Unordnung im Publikumsraum zu behaupten! Die Beziehungen zwischen Darstellern und Zuschauern scheinen plötzlich umgekehrt: jetzt haben diese das Spiel an sich gerissen, und die Schau­ spieler schauen gespannt zu, wie es sich entwickeln wird. Unter Leuten des Parketts, die einander ganz fremd sind, bricht plötzlich intime Feindschaft aus. Und der festliche Charakter, den doch jede Versammlung zahlenden Theater­ publikums in sich trägt, offenbart mit einmal überraschend bösartige Züge. (...) Schon am Beginn des Abends, der stürmisch werden sollte, lag Verschie­ denes in der Luft. Eine Spannung, eine vorspürende Unruhe, ein hörbares Zu­ rechtrücken der Leidenschaften. Die Gemüter, auch die nichtsahnenden, gaben

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leichtes Brodeln von sich, als stünden sie auf einem Feuer, das sie langsam zum Kochen bringe. Es roch auch stark nach mitgebrachtem Unwillen, der darauf wartete, erregt zu werden, und, als diese Erwartung sich nicht rasch genug erfüllte, durch Selbstzündung losging. Es ging los. Hier, dort, oben, unten im elektrisch geladenen Raum zuckten Widersprüche auf, riefen Widersprüche gegen die Widersprüche wach, die ihrerseits Widersprüche zur dritten Potenz weckten. Und bald griff die epische Theaterform von der Bühne auf das Parkett über, wo sich das etablierte, was das Programmbuch als das Wesen der «idealen Form des musikalischen Theaters» erkennt, nämlich: eine Aneinanderreihung von Zuständen. Zustände von Zuständen! In nächster Umgebung meines Platzes geschah allein schon Folgendes: Die Nachbarin links wurde von Herzkrämpfen befallen und wollte hinaus; nur der Hinweis auf das Geschichtliche des Augen­ blicks hielt sie zurück. Der greise Sachse rechts umklammerte das Knie der ei­ ge­nen Gattin und war erregt! Ein Mann hinten redete zu sich selbst: »Ich warte nur, bis der Brecht kommt!« und leckte sich – in Bereitschaft sein ist alles – die Lippen feucht. Kriegerische Rufe, an manchen Stellen etwas Nahkampf, Zi­ schen, Händeklatschen, das grimmig klang wie symbolische Maulschellen für die Zischer, begeisterte Erbitterung, erbitterte Begeisterung im Durcheinander. Zum Schluss: levée en masse der Unzufriedenen, und deren Niederschmetterung durch den Hagel des Applauses. Es gab eindrucksvolle Episoden. Ein würdiger Herr mit gesottenem Ant­ litz hatte seinen Schlüsselbund gezogen und kämpfte durchdringend gegen das epische Theater. Vier Schlüssel hingen an langer Kette, vermutlich der Haus-, der Wohnungs-, der Lift-, der Schreibtischschlüssel. Den fünften hielt der Miss­ vergnügte an die Unterlippe gepresst und liess über die Bohrung im Metall Luft­ströme von höchster Schwingungszahl streichen. Der Ton, den das Instru­ ment erzeugte, hatte etwas Erbarmungsloses, in den Magen Schneidendes: es muss der Kasse-Schlüssel gewesen sein, auf dem der Wilde blies. Seine Frau verliess ihn nicht in der Stunde der Entscheidung. Eine sehr grosse Frau, aufge­ steckter Haarknoten, glatt fallendes blaues Kleid mit gelben Rüschen zu unterst. Die Dame hatte zwei dicke Finger in den Mund gesteckt, die Augen zugeknif­ fen, die Backen aufgeblasen. Sie überpfiff den Kasse-Schlüssel. Ein Anblick, grässlich und gemein.

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Wenn man ins Theater geht wie in die Kirche oder in den Gerichtssaal, oder in die Schule, das ist schon falsch. Man muss ins Theater gehen wie zu einem Sportfest. Es handelt sich hier nicht um Ringkämpfe mit dem Bizeps. Es sind feinere Raufereien. Sie gehen mit Worten vor sich. Bertolt Brecht


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MEHR Ich brauche vieles und viel davon. Und nur fĂźr mich, nur fĂźr mich. Von allem, was man haben will, brauch ich zehnmal so viel. Ich werde nie satt, ich werde nie satt. Es ist besser, wenn man mehr hat! Mehr! Mehr! Mehr! Mehr! Was ich habe, ist mir zu wenig. Ich brauche viel. Ich brauche ganz viel. Hab nichts zu schenken. Wozu Verzicht? Zwar bin ich reich, doch reicht das nicht. Bescheidenheit? Alles was recht ist. Ich nehme alles, auch wenn es schlecht ist. Ich werde nie satt, ich werde nie satt. Es ist besser, wenn man mehr hat! Mehr! Mehr! Mehr! Mehr! Mehr! Mehr! Mehr! Viel mehr! Bin nie zufrieden. Es gibt kein Ziel, gibt kein genug. Ist nie zu viel. All die andern haben so wenig. Gebt mir auch das noch. Ich brauche mehr. Mehr! Mehr! Viel mehr! Noch mehr! Rammstein: Mehr


UMSTÜRZLERISCHE KRAFT Sieben Tage ohne Arbeit – das ist das Glücksversprechen, das «Mahagonny» birgt. Die Oper handelt nicht nur von Kapitalismuskritik, sondern auch von einem radikalen Anspruch auf Genuss Claus Spahn

Eigentlich ist alles gut in der Paradiesstadt Mahagonny. Es gibt Ruhe, Eintracht, Gin und Mädchen, und die Freunde geniessen die schönen Gespräche «der Männer unter sich». Aber dem einfachen Holzfäller Paul Ackermann gefällt es in Mahagonny nicht. Er hat ein Schild gesehen, auf dem steht: «Hier ist verbo­ ten!», und das lässt ihn das Messer zücken. Er hat keine Lust mehr auf Ordnung und Verbote. So verkündet er in einer Nacht, in der die Stadt von der Zerstörung durch einen Hurrikan bedroht ist, das Gesetz der menschlichen Glückseligkeit. Es lautet: «Du darfst!» Und weil der Hurrikan die Stadt auf wundersame Weise verschont, ist in Mahagonny fortan alles erlaubt – Fressen, Saufen, käuflicher Sex, Ausbeutung, Korrup­tion, Totschlag. «Denn man achte scharf darauf, dass man alles dürfen darf» singen die Menschen von Mahagonny. Was Kurt Weill und Bertolt Brecht 1930 in ihrer Oper auf die Bühne ge­ bracht haben, springt uns heute sofort als ein pervertiertes Freiheitsversprechen ins Auge. Wir erkennen in Paul Ackermanns Vision von einer Welt ohne Ver­ bote die Exzesse einer egoistischen Lust- und Spassgesellschaft. Das Gesetz der menschlichen Glückseligkeit trägt durch und durch zynische Züge, denn die Freiheit in Mahagonny ist an eine entscheidende Bedingung geknüpft: Man muss Geld haben und bezahlen können, um alles zu dürfen. Die performative Macht des Geldes durchdringt die Paradiesstadt bis in den letzten Winkel. Mahagonny ist ein Ort totaler Käuflichkeit: Alle Vergnügungen haben Warencharakter, alle menschlichen Beziehungen sind zu Tauschgeschäften herabgewürdigt. Und

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Paul Ackermann, der Vordenker und Barrikadenkämpfer für diese «Glückselig­ keit», wird ihr prominentestes Opfer: Weil er eine Gardinenstange und drei Fla­schen Whiskey nicht bezahlen kann, landet er vor Gericht – ein verlogener Schau­prozess, in dem der Mörder Tobby Higgins freigesprochen, Paul Acker­ mann aber zum Tode verurteilt wird, «wegen des Mangels an Geld, was das grösste Verbrechen ist, das auf dem Erdenrund vorkommt.» Die grelle Kapitalismuskritik, die in der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny angelegt ist, hat überzeitliche Qualität: Wie in einem Zerrspiegel scheint sie auch die Abzocker-Auswüchse unserer Gesellschaft im 21. Jahrhun­ dert vorzuführen. Im «Nie genug»-Rausch, in den sich die Oper in ihrem zwei­ ten Teil steigert, wirkt die Gier des losgelassenen Finanzkapitalismus, wie wir ihn vor der grossen Bankenkrise im Jahr 2008 erlebt haben, gut getroffen. Wie die Hymne der verantwortungslosen Finanzhasardeure, die am liebsten Gewin­ ne privatisieren und Verluste sozialisieren, klingt der Song, den Paul Ackermann in der Nacht der Erkenntnis singt: «Nimm dir das Geld, du darfst es!» Aber die ätzende Kritik an den materialistischen Verhältnissen ist nur eine Seite in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Brecht und Weill ging es nicht allein um fratzenhafte Polemik. Das Glücksversprechen, um das die Oper kreist, ist nicht nur als lachhafte Provokation gedacht, sondern auch als wahrhaftig schöne Vorstellung. Den Autoren ist es durchaus ernst mit dem Spass und der Paradiesvision von den sieben Tagen ohne Arbeit, die Leokadja Begbick in ihrer Gründungsansprache auf Maha­gonny verspricht. Brecht schreibt in seinen «Anmerkungen» zur Oper: «Was den Inhalt dieser Oper betrifft – ihr Inhalt ist der Genuss. Spass also nicht nur als Form, sondern auch als Gegenstand. Das Vergnügen sollte wenigstens Gegenstand der Unter­suchung sein, wenn schon die Untersuchung Gegenstand des Vergnügens ist.» Brecht und Weill präsentieren den Genuss in Mahagonny in dialektischer Ambivalenz: Er ist Ausdruck von Verkommenheit, aber auch eine umstürzleri­ sche Kraft. Genuss und Tabubruch durch Lust gehören von jeher zu den revo­ lutionstreibenden Energien der Linken. Georges Danton war als Protagonist der französischen Revolu­tion Liebhaber der Huren und ein Hedonist. Berühmt ist das Foto der RAF-Terroris­ten Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Prozess zu den Kaufhausbrandstiftungen, auf dem sie sich auf der Anklagebank osten­

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tativ ein Buch mit den Schriften von Marquis de Sade zustecken. Auch Bertolt Brecht gibt seinem Helden Paul Ackermann eine masslose anarchische Lust mit auf den Weg, wenn er singt: «Was ist der Taifun an Schrecken gegen den Men­ schen, wenn er seinen Spass haben will». Und Spass haben, bedeutet: «Was eben ist, das muss krumm werden, und was hoch ragt, das muss in den Staub.» Wo Genuss zur radikalen Grenzüberschreitung wird, bleibt Zerstörung nicht aus. Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat in einem Essay zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny über das Motiv des Genusses bei Brecht reflektiert und diesen Zusammenhang am Beispiel der Oper aufgezeigt. Das Moment des Destrukti­ven und Gewaltsamen, des alle sozialen Regeln bre­ chenden Ausbruchs, ist notwendi­ger Bestandteil der Lust. «Das Leben und der Genuss sind nur zum Preis der Verausgabung und des Todes zu haben. Alle in Mahagonny wussten um diesen Preis und lebten danach, dass ihre Lust Zerstö­ rung und Selbstzerstörung einschliesst», schreibt Lehmann. Am Ende der ge­ niesserischen «Du darfst»-Phase bleibt in Mahagonny kein Stein mehr auf dem anderen. Genau diese Form von Lebens- und Untergangslust, die uns Brecht und Weill in Mahagonny in ihrer ganzen Zwiespältigkeit vor Augen führen, steht allerdings im Kontrast zu den Formen des Genusses, die die Lebenswirklichkeit unserer Gegenwart prägen. Die nämlich sind vor allem an Mässigung und Selbst­ kontrolle gebunden. Wir geniessen, was uns nicht schadet. Wir gönnen uns, was dem Erhalt unserer Leistungsfähigkeit zuträglich ist. Es gibt eine kalorien­ reduzierte Produktlinie eines grossen Lebens­mittelkonzerns, die «Du darfst» heisst, genau wie Paul Ackermanns Gesetz der menschlichen Glückseligkeit, sie bezeichnet aber dessen Gegenteil, nämlich diäti­sches Masshalten statt lustvolle Verausgabung. Der Philosoph Slavoj Žižek hat dazu bereits vor fünfzehn Jahren das passende Zitat geliefert: «Auf dem heutigen Markt finden wir eine ganze Reihe von Produkten, die ihrer schädlichen Eigenschaften be­raubt sind: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol und so weiter. Und was ist mit virtuellem Sex ohne Sex? Alles ist erlaubt, man kann alles geniessen – unter der Bedingung, dass es seiner Substanz beraubt ist, die es gefährlich macht.» Eine solche Art zu leben, ist nicht Ausdruck eines entfesselten Genusses, sondern eines gezähmten. Sie überschreitet nicht die Grenzen des Erlaubten, sondern

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bestätigt sie. Wellness und Fitness gönnen sich die Menschen als aktuelle Formen des Genusses, um in den Zwängen der modernen Welt zu bestehen und nicht, um sie aus den Angeln zu heben. Der österreichische Philosoph und Kulturwissenschaftler Robert Pfaller hat vor sechs Jahren ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel Wofür es sich zu leben lohnt geschrieben, in dem er das gestörte Verhältnis der modernen Gesellschaft zum Genuss thematisiert. Ökonomischer Effizienzwahn, ausgeprägtes Gesund­ heits- und Sicherheitsdenken, Ermahnungen zu Nachhaltigkeit und Political Correctness hätten den Blick auf das verstellt, was «das gute Leben» sei. Er zeichnet das Bild vom Gegenwarts­menschen, der das Leben als Sparguthaben betrachte und eifersüchtig darauf achte, dass niemand etwas davon abknapse. Diesem Kleinsparertum des Lebens stellt er eine Kultur der verschwenderischen Verausgabung entgegen, in der gerade das Ungute und Schädliche und in letz­ ter Konsequenz die Akzeptanz des Todes den Genuss «zur Quelle triumphaler Lust» werden lasse und damit zu dem, wofür es sich zu leben lohne. «Wer immer nur Mass hält mit allem», schrieb der deutsche Philosoph Walter Benjamin, «kommt nie zu wahrer Welterfahrung – denn ein tiefes Ein­ tauchen in das Wesen der Dinge ist allein dem Gierigen vorbehalten.» Dieser Dynamik folgt die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, und sie wird von Bertolt Brecht und Kurt Weill an ihren extremsten Punkt getrieben – in die totale Zerstörung. Aber die Weltwahrnehmung auf dem Weg dorthin könnte für uns Zuschauer genussvoller und erhellender, apokalyptischer und lebens­ praller kaum ausfallen.

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ÜBER DEN GESTISCHEN CHARAKTER DER MUSIK Kurt Weill

Bei meinen Versuchen, zu einer Urform des musikalischen Bühnenwerkes zu gelangen, habe ich einige Beobachtungen gemacht, die mir zunächst als völlig neue Erkenntnisse erschienen, die sich aber bei näherer Betrachtung durchaus in die geschichtlichen Zusammenhänge einordnen liessen. Während ich mich bei meiner eigenen Arbeit immer wieder über die Frage: «Welche Anlässe gibt es für Musik auf der Bühne?» zur Entscheidung gezwungen habe, tauchte bei der rückwärtigen Betrachtung eigener oder fremder Opernproduktion eine andere Frage auf: «Wie ist die Musik auf dem Theater beschaffen, und gibt es bestimmte Eigenschaften, die eine Musik zur Theatermusik stempeln?» Es ist ja oft festgestellt worden, dass eine Reihe bedeutender Musiker sich entweder gar nicht mit der Bühne beschäftigt oder vergebliche Versuche angestellt hat, sich die Bühne zu erobern. Es muss also bestimmte Eigenschaften geben, die eine Musik für das Theater geeignet erscheinen lassen, und ich glaube, dass man diese Eigenschaften unter einem Begriff zusammenfassen kann, den ich als den gestischen Charakter der Musik bezeichnen möchte. Ich setze dabei jene Form des Theaters als gegeben voraus, die mir für eine Oper in unserer Zeit die einzig mögliche Grundlage zu bieten scheint. Das Theater der vergangenen Epoche war für Geniessende geschrieben. Es wollte seinen Zuschauer kitzeln, erregen, aufpeitschen, umwerfen. Es rückte das Stoff­ liche in den Vordergrund und verwandte auf die Darstellung eines Stoffes alle Mittel der Bühne vom echten Gras bis zum laufenden Band. Und was es seinem Zuschauer gewährte, konnte es auch seinem Schöpfer nicht versagen: auch er war ein Geniessender, als er sein Werk schrieb, er erlebte den «Rausch des schöpferischen Augenblicks», die «Ekstase des künstlerischen Schaffensdrangs»

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und andere Lustgefühle. Die andere Form des Theaters, die sich heute durch­ zusetzen beginnt, rechnet mit einem Zuschauer, der in der ruhigen Haltung des denkenden Menschen den Vorgängen folgt und der, da er ja denken will, eine Beanspruchung seiner Genussnerven als Störung empfinden muss. Dieses Theater will zeigen, was der Mensch tut. Es interessiert sich für Stoffe nur bis zu dem Punkt, wo sie den Rahmen oder den Vorwand menschlicher Beziehun­ gen geben. Es legt daher grösseren Wert auf die Darsteller als auf die Mittel der Bühne. Und das Geniessertum, auf das sein Publikum verzichtet, ist auch seinem Schöpfer versagt. Dieses Theater ist im stärksten Masse unromantisch. Denn «Romantik» als Kunst schaltet das Denken aus, sie arbeitet mit narkotischen Mitteln, sie zeigt den Menschen nur im Ausnahmezustand, und in ihrer Blüte­ zeit (bei Wagner) verzichtet sie überhaupt auf die Darstellung der Menschen. Wenn man diese beiden Formen des Theaters auf die Oper anwendet, so zeigt sich, dass der Komponist heute seinem Text gegenüber nicht mehr die Stel­lung des Geniessenden einnehmen darf. In der Oper des 19. und beginnen­ den 20. Jahrhunderts bestand die Aufgabe der Musik darin, Stimmungen zu er­zeu­gen, Situationen zu untermalen und dramatische Akzente zu unterstrei­ chen. Auch jene Form des musikalischen Theaters, die den Text nur als Anlass für ein freies, ungehemmtes Musizieren benutzt, ist schliesslich nur eine Kon­ sequenz aus dem romantischen Opernideal, weil sich hier die Musik noch we­ niger als im Musikdrama an der Durchführung der dramatischen Idee beteiligt. Die Form der Oper ist ein Unding, wenn es nicht gelingt, der Musik im Gesamtaufbau und in der Ausführung bis ins einzelnste eine vorherrschende Stellung einzuräumen. Die Musik der Oper darf nicht die ganze Arbeit am Drama und seiner Idee dem Wort und dem Bild überlassen, sie muss an der Dar­stellung der Vorgänge aktiv beteiligt sein. Und da es sich im Theater von heute um die Darstellung des Menschen handelt, so muss auch die Musik einzig auf den Menschen bezogen sein. Nun gehen der Musik bekanntlich alle psychologischen oder charakterisierenden Fähigkeiten ab. Dafür hat die Musik eine Fähigkeit, die für die Darstellung des Menschen auf dem Theater von entscheidender Bedeutung ist: sie kann den Gestus wiedergeben, der den Vorgang der Bühne veranschaulicht, sie kann sogar eine Art von Grundgestus schaffen, durch den sie dem Darsteller eine

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be­stimmte Haltung vorschreibt, die jeden Zweifel und jedes Missverständnis über den betreffenden Vorgang ausschaltet, sie kann im idealen Falle diesen Gestus so stark fixieren, dass eine falsche Darstellung des betreffenden Vorgangs nicht mehr möglich ist. Jeder aufmerksame Theaterbesucher weiss, mit wie viel falschen Tönen, mit wie viel verlogenen Bewegungen oft die einfachsten und natürlichsten menschlichen Handlungen auf der Bühne dargestellt werden. Die Musik hat die Möglichkeit, den Grundton und den Grundgestus eines Vorgangs so weit festzulegen, dass wenigstens eine falsche Auslegung vermieden wird, wobei dem Darsteller immer noch reichlich Gelegenheit zur Entfaltung seiner persönlichen Eigenart bleibt. Natürlich ist gestische Musik keineswegs an den Text gebunden, und wenn wir Mozarts Musik überall, auch ausserhalb der Oper, als «dramatisch» empfinden, so kommt das eben daher, dass sie nie ihren gesti­ schen Charakter aufgibt. Wir finden gestische Musik überall, wo ein Vorgang zwischen Mensch und Mensch in naiver Weise musikalisch dargestellt wird. Am auffallendsten: in den Rezitativen der Bachschen Passionen, in den Opern Mo­ zarts, im Fidelio, bei Offenbach und Bizet. (...) Wie sind die gestischen Mittel der Musik beschaffen? Sie äussern sich zu­ nächst in einer rhythmischen Fixierung des Textes. Die Musik hat die Möglich­ keit, die Akzente der Sprache, die Aufteilung der kurzen und langen Silben und vor allem die Pausen schriftlich zu notieren und dadurch die schwersten Fehler­ quellen der Textbehandlung auf der Bühne auszuschalten. Man kann übrigens einen Satz auf die verschiedenen Arten rhythmisch interpretieren, und auch derselbe Gestus ist in verschiedenen Rhythmen auszudrücken; das Entscheiden­ de bleibt nur, ob der richtige Gestus getroffen wird. Diese rhythmische Fixie­ rung, die vom Text her erreicht wird, bildet aber nur die Grundlage einer gestischen Musik. Die eigene produktive Arbeit des Musikers setzt erst dann ein, wenn er mit den übrigen Ausdrucksmittel der Musik den Kontakt zwischen dem Wort und dem, was er ausdrücken will, herstellt, Auch die Melodie trägt den Gestus des darzustellenden Vorgangs in sich, aber da der Bühnenvorgang bereits rhythmisch aufgesogen ist, bleibt für die eigentlichen musikalischen Ausdrucksmittel, für die formale, melodische und harmonische Gestaltung ein viel grösseren Spielraum als etwa in einer rein schildernden Musik oder in einer Musik, die neben der Handlung herläuft unter der ständigen Gefahr, zugedeckt

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zu werden. Die rhythmische Festlegung von Seiten des Textes ist also für den Opernkomponisten keine schlimmere Fessel als zum Beispiel das Formschema der Fuge, der Sonate, des Rondos für den klassischen Meister. Im Rahmen einer solchen rhythmisch vorausbestimmten Musik sind alle Mittel der melodischen Ausbreitung, der harmonischen und rhythmischen Differenzierung möglich, wenn nur die musikalischen Spannungsbögen dem gestischen Vorgang ent­ sprechen. So ist etwa ein koloraturartiges Verweilen auf einer Silbe durchaus an­gebracht, wenn es durch ein gestisches Verweilen an der gleichen Stelle zu begründen ist. (...)

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OBDACHLOSER ELAN Zu Kurt Weills Musik in «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» Theodor W. Adorno

Die surrealistischen Intentionen von Mahagonny werden getragen von der Musik, die von der ersten bis zur letzten Note dem Schock gilt, den die jähe Ver­gegenwärtigung der verfallenen Bürgerwelt erzeugt. Sie wird erst die glor­ reich missverstandene Dreigroschenoper, die als Parergon zwischen dem ersten Mahagonny-Songspiel und der endgültigen Gestalt liegt, an die rechte Stelle rücken und zeigen, wie wenig es in den fasslichen Melodien um arriviertes Amusement und zündende Vitalität geht; dass die Qualitäten, die ja der Weill­ schen Musik fraglos zukommen, nur Mittel sind, den Schrecken der erkannten Dämonologie im Bewusstsein der Menschen durchzusetzen. Diese Musik, die ausser an wenigen polyfon sich gebärdenden Momenten wie der Einleitung und ein paar Ensemblesätzen mit den primitivsten Mitteln haushält oder vielmehr den abgenutzten, verschabten Hausrat der Bürgerstube auf einen Kinderspielplatz schleift, wo die Kehrseiten der alten Waren als Totem­ figuren Entsetzen verbreiten – diese Musik, aus Dreiklängen und falschen Tönen zusammengestoppelt, mit den guten Taktteilen alter Music-Hall-Songs, die gar nicht gekannt, sondern als Erbgut erinnert werden, festgehämmert, mit dem stinkenden Leim aufgeweichter Opernpotpourris geleimt, diese Musik aus Trümmern der vergangenen Musik ist gänzlich gegenwärtig. Ihr Surrealismus ist von aller neuen Sachlichkeit und Klassizität radikal verschieden. Sie geht nicht darauf aus, die zerstörte bürgerliche Musik zu restituieren, ihre Formen, wie man das heute zu nennen beliebt «wiederzubeleben» oder das Präteritum durch Rekurs aufs Plusquamperfekt aufzufrischen; sondern ihre Konstruktion, ihre Montage des Toten macht es als tot und scheinhaft evident und zieht aus dem Schrecken, der davon ausgeht, die Kraft zum Manifest. Dieser Kraft entspringt ihr improvisatorischer, wandernder, obdachloser Elan.

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Wie nur die fortgeschrittenste Musik der materialeigenen Dialektik, die Schön­ bergs, so fällt diese Zusammenstellung durchschauter Scherben aus dem bürger­ lichen Musikraum heraus, und wer in ihr Gemeinschaftserlebnisse wie bei der Jugendbewegung sucht, der wird sich an ihr stossen müssen, auch wenn er zehnmal alle Songs im Kopf behielte. Darum ist es ihr erlaubt, Dreiklänge zu schreiben, weil sie sich selber die Dreiklänge nicht glaubt, sondern jeden destru­ iert durch die Art seines Einsatzes. Innermusikalisch kommt das zutage an einer Metrik, die die Symmetrieverhältnisse, wie sie in den tonalen Akkorden stecken, verbiegt und tilgt, da die Dreiklänge ihre Kraft verloren haben und keine Form mehr bilden können, die vielmehr aus ihnen montiert wird, von aussen; dem entspricht auch die Gestalt der Harmonik selber, die das Prinzip der Fortschrei­ tung, der leittönigen Spannung, der Kadenzfunktion kaum mehr kennt, sondern die kleinsten Kommunikationen der Akkorde untereinander, die die späte Chro­ matik ausmachten, weglässt, sodass nun die Resultate der Chromatik funktions­ frei stehen bleiben. In alldem geht Mahagonny weit über die Bühnenmusik der Dreigroschenoper hinaus; die Musik dient nicht mehr; sondern herrscht in der durchkomponierten Oper und entfaltet sich nach ihrem infernalischen Mass. Sie hat zugleich ihre Ausweichungen ins Unscheinbare und Wirkliche. Vor allem in der ausdruckslosen, carmenhaft gefangenen und rätselvollen Duettmusik Jimmys und Jennys; im Billardensemble; an der gross gedachten Stelle am Schluss, wo der Alabama-Song mit dem «We’ve lost our good old mamma» als leiser Cantus firmus erscheint und, im Sinne höchster szenischer Wirkung, durchsichtig wird als Klage der Kreatur über ihre Verlassenheit. Der AlabamaSong ist überhaupt eines der seltsamsten Stücke in Mahagonny und nirgends eignet der Musik mehr die archaische Kraft der Erinnerung an einmal gewesene, verschollene, in kümmerlichen Melodieschritten wiedererkannte Gesänge wie in diesem Song, dessen stupide Wiederholungen in der Einleitung ihn gleichsam aus dem Reich der Dementia heimbringen.

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Und in zunehmender Verwirrung, Teuerung und Feindschaft aller gegen alle demonstrierten in den letzten Wochen der Stadt die noch nicht Vernichteten fßr ihre Ideale – unbelehrt.


Für das Geld. Für den Kampf aller gegen alle. Für das Eigentum. Für den Diebstahl. Für die Käuflichkeit der Liebe. Für das schrankenlose Leben. Für den schrankenlosen Mord. Für die ungerechte Verteilung der irdischen Güter. Für die gerechte Verteilung der überirdischen Güter. Für die Justiz. Für die Tapferen gegen die Wehrlosen. Für die Freiheit der Reichen. Für die Freiheit aller Leute. Für den Fortbestand des goldenen Zeitalters.

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Jeder Aufruhr ist nßtzlich – so erfolglos er immer sein mag. Michail Alexandrowitsch Bakunin

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AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY KURT WEILL (1900-1950), BERTOLT BRECHT (1898-1956) Oper in drei Akten (1927/1929) Uraufführung: 9. März 1930, Leipzig

Personen

Leokadja Begbick

Mezzsopran

Willy, der Prokurist Dreieinigkeitsmoses Jenny Hill

Tenor Bariton

Sopran

Paul Ackermann Jakob Schmidt

Tenor

Tenor

Heinrich, genannt Sparbüchsenbill Josef, genannt Alaskawolf-Joe Tobby Higgins

Tenor

Bariton

Bass


ERSTER AKT NR. 1 WILLY DER PROKURIST

Hallo, wir müssen weiter!

 DREIEINIGKEITSMOSES

Aber der Wagen ist kaputt.

 WILLY DER PROKURIST

Ja, dann können wir nicht weiter.

 DREIEINIGKEITSMOSES

Aber wir müssen weiter.

DREIEINIGKEITSMOSES

Nein. BEGBICK

Gut, dann bleiben wir hier. Es ist mir eingefallen: wenn wir nicht hinaufkommen können, werden wir hier unten bleiben. Seht, alle Leute, die von dort herunterkamen, sagten, dass die Flüsse das Gold sehr ungern hergeben.
Es ist eine schlimme Arbeit, und wir können nicht arbeiten. Aber ich habe diese Leute gesehen, und ich sage euch, sie geben das Gold her! Ihr bekommt leichter das Gold von Männern als von Flüssen! Darum lasst uns hier eine Stadt gründen und sie nennen Mahagonny, das heisst: Netzestadt! WILLY UND DREIEINIGKEITSMOSES

WILLY DER PROKURIST

Aber vor uns ist nur Wüste.

Netzestadt!

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DREIEINIGKEITSMOSES

Ja, dann können wir nicht weiter.

 WILLY DER PROKURIST

Also müssen wir umkehren. DREIEINIGKEITSMOSES

Aber hinter uns sind die Konstabler, die uns von Angesicht zu Angesicht kennen. WILLY DER PROKURIST

Ja, dann können wir nicht umkehren. DREIEINIGKEITSMOSES

Oben an der Küste wird aber doch Gold gefunden. WILLY DER PROKURIST

Ja, die Küste, die ist lang.

Sie soll sein wie ein Netz, das für die essbaren Vögel gestellt wird. Überall gibt es Mühe und Arbeit, aber hier gibt es Spass. Denn es ist die Wollust der Männer, nicht zu leiden und alles zu dürfen. Das ist der Kern des Goldes.
Gin und Whisky,
Mädchen und Knaben. Und eine Woche ist hier: sieben Tage ohne Arbeit, und die grossen Taifune kommen nicht bis hierher. Aber die Männer ohne Zank erwarten rauchend das Herauf­kommen des Abends. An jedem dritten Tag gibt es Kämpfe mit Gebrüll und Rohheit, doch die Kämpfe sind fair. Steckt also diesen Angelstock in diese Erde und hisst dieses Stück Leinen, damit die Schiffe, die von der Goldküste hier vorüberfahren, uns sehen können. Stellt den Bartisch auf dort unterm Gummibaum, das ist die Stadt, dies ist ihre Mitte, und sie heisst: «Hotel zum reichen Manne.» 

 BEGBICK, WILLY, MOSES

DREIEINIGKEITSMOSES

Ja, dann können wir eben nicht hin. WILLY DER PROKURIST

Aber es wird dort Gold gefunden. DREIEINIGKEITSMOSES

Ja, aber die Küste ist zu lang. LEOKADJA BEGBICK

Geht es nicht weiter?

Aber dieses ganze Mahagonny ist nur, weil alles so schlecht ist, weil keine Ruhe herrscht und keine Eintracht, 
und weil es nichts gibt, woran man sich halten kann.

NR. 2 Rasch wuchs in den nächsten Wochen eine Stadt auf, und die ersten »Haifische« siedelten sich in ihr an.

 JENNY

Oh show us the way to the next whisky-bar.


Programmheft AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY Oper in drei Akten (1927/1929) Text von Bertolt Brecht, Musik von Kurt Weill Premiere am 5. November 2017, Spielzeit 2017/18

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Intendant

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

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Textnachweise: Die Handlung von Kurt Weill ist dem vom Komponisten verfassten Vorwort des Regiebuchs zur Oper entnommen, zitiert nach: Brecht / Weill «Mahagonny» Hrsg. Fritz Hennenberg, Jan Knopf, Frankfurt 2006. – Das Interview mit Sebastian Baumgarten (S.8), der Brecht-Essay von Ludwig Haugk «Die Verabschiedung der Ewigkeit» (S.20) sowie der Essay von Claus Spahn «Umstürzlerische Kraft» (S.42) sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Der Ausschnitt aus dem Bericht über den Leipziger Uraufführungs­ skandal (S.34) entstammt Alfred Polgars Tagebuch, zitiert nach David Drew, Hrsg., Über Kurt Weill, Frankfurt 1975 – Das Brecht-Zitat (S.34) in: GBA 21, S.56 – Der Song «Mehr» der Band Rammstein, zitiert nach Internet – Der gekürzte

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Aufsatz «Über den gestischen Charakter der Musik» von Kurt Weill ist zitiert nach Brecht / Weill «Mahagonny», ebda. – Der Textausschnitt «Obdachloser Elan entstammt dem Aufsatz «Mahagonny» aus dem Jahr 1930 von Theodor W. Adorno, Adorno: Musikalische Schriften IV, Frankfurt 2003, die Texte auf S.60/61 entstammen den Regieanweisungen aus der «Mahagonny»-Partitur, UE Wien 1969 Bildnachweise: T + T Fotografie / Tanja Dorendorf fotografierte die Klavier­ ­hauptprobe am 26. Oktober 2017. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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Piano Concertos 1–4 Rhapsody on a Theme of Paganini

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