![](https://static.isu.pub/fe/default-story-images/news.jpg?width=720&quality=85%2C50)
4 minute read
CLASH DER EMOTIONEN
from Jewgeni Onegin
Ein Gespräch mit Regisseur Barrie Kosky über seine Kindheit mit Tschaikowski, verpasste Chancen und Marmelade
Barrie Kosky, Sie haben einmal gesagt, Sie seien «Tschaikowski-Freak». Was verbindet Sie mit diesem Komponisten?
Mein russischer Grossvater starb, als mein Vater noch sehr jung war, ich kannte also meinen Grossvater nicht. Aber er hinterliess mir seine Schallplattensammlung. Mehr als die Hälfte dieser Schallplatten waren Einspielungen mit Musik von Tschaikowski, neben sehr vielen Aufnahmen der Sinfonien auch Jewgeni Onegin, Pique Dame und Nussknacker. Als ich ungefähr fünf oder sechs Jahre alt war, hörte ich zum ersten Mal den Nussknacker und führte ihn anschliessend immer wieder zusammen mit meiner Schwester als Tanztheater auf. Besonders der arabische und der chinesische Tanz hatten mich tief beeindruckt. Als ich ein bisschen älter war, hörte ich die Vierte und Fünfte Sinfonie, und mit etwa 14 dann zum ersten Mal Onegin. Tschaikowski war ein grosser und wichtiger Teil meiner Kindheit.
Und obwohl dieser Komponist so wichtig für Sie war, inszenieren Sie mit dem Jewgeni Onegin nun zum ersten Mal in Ihrer Karriere eine Oper von Tschaikowski...
Ich habe es mir immer gewünscht, Onegin, Pique Dame oder Mazeppa zu inszenieren, aber entweder kam das entsprechende Angebot nicht, oder ich war gerade nicht frei.
Was fasziniert Sie an Jewgeni Onegin?
Jewgeni Onegin gehört zu einer kleinen Gruppe von Opern, in denen man keinen einzigen Takt ändern möchte, weil nichts überflüssig oder unverständlich erscheint. Bei dieser Oper habe ich das Gefühl: Das Stück kann nur so sein und nicht anders! Das liegt zum einen am Zusammenspiel von Text und
Musik – die Geschichte, die Psychologie, die Musik, alles ist unglaublich perfekt kombiniert. Man denkt ja oft, Tschaikowski habe sich mit Tatjana identifiziert. Das hat er zweifellos getan, aber genauso hat er sich mit Onegin identifiziert. In der Musik spüre ich eine tiefe autobiografische Verbindung des Komponisten mit beiden Figuren – the loved and the not loved. Tschaikowski hat diese Oper nicht nur komponiert, er hat sie gelebt. Während der Arbeit am Onegin hat er seine ehemalige Schülerin Antonina Miljukowa geheiratet, nachdem sie ihm einige Liebesbriefe geschrieben hatte; nach drei Monaten trennte er sich wieder von ihr, weil er es einfach nicht mehr aushielt. Aber es geht hier nicht nur um die Homosexualität des Komponisten, es geht vor allem auch um seine Einsamkeit, um sein geradezu klaustrophobisches Gefühl innerhalb der Gesellschaft, die Sehnsucht nach Liebe und die Unmöglichkeit, sie zu finden. «Lyrische Szenen» hat Tschaikowski sein Stück genannt, nicht einfach Oper – ein grossartiger, absolut passender Titel. Sowohl Tatjana als auch Onegin sind sehr komplexe Figuren von grosser Tiefe und vor allem voller Menschlichkeit. Ich bin immer sehr berührt von diesem Stück; egal, ob es eine furchtbare Inszenierung ist oder ob schlecht gesungen wird, am Schluss bin ich immer in Tränen aufgelöst.
Viele Zeitgenossen kritisierten Tschaikowski, weil sein Onegin angeblich wenig bühnenwirksam sei. Und Tschaikowski selbst schrieb an seinen Freund und Kollegen Sergej Tanejew, er habe ja «bekanntermassen keine szenische Ader». Wie sehen Sie das? Den Vorwurf kann ich nicht nachvollziehen. Ich finde den Onegin total bühnenwirksam. Natürlich gibt es keine spektakulären Szenen wie beispielsweise im Barocktheater, auch keine Kriegsszenen und keine Opernklischees, wie man sie im 19. Jahrhundert liebte. Man muss das auch im Zusammenhang sehen mit der Entwicklung im Sprechtheater bei Ibsen und Strindberg: Es findet eine Verinnerlichung des Dramas statt. Und das Drama im Onegin entsteht durch den Clash der Emotionen. Es ist ein unglaubliches Emotionsgewitter, das wir hier erleben!
In einem Portrait über Sie habe ich gelesen, die Arbeit an einer neuen Inszenierung beginne für Sie immer mit einem Bild. Was für ein Bild war das bei der Konzeption von Onegin? Ich hatte immer das Gefühl, dass man die Figuren in einer Landschaft sehen muss. Das war der Ausgangspunkt, von dem aus wir dann zu dieser Welt aus Gras und Bäumen kamen. Wichtiger war aber vielleicht noch das Einmachglas. Im ersten Gespräch mit meinem Team habe ich gesagt: Normaler weise ignorieren wir ja alle Regieanweisungen. Aber in diesem Fall bin ich sehr beeindruckt von diesem Bild: Zwei Frauen kochen Marmelade. Das ist ein bisschen wie bei Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und den berühmten Madeleines: Der Geruch und der Geschmack von frisch gekochter Marmelade löst alle möglichen Erinnerungen aus. In diesem Stück wird von der ersten Szene an sehr viel über die Vergangenheit gesprochen, über das, was hätte sein können, über die Zukunftsträume, die sich nicht erfüllt haben. Und über der Erinnerung an die Vergangenheit vergessen die Figuren, in der Gegenwart zu leben. Übrigens bin ich immer wieder überrascht davon, wie komplex Tschaikowskis Idee von der Liebe war. Nur bei Wagner findet man eine vergleichbare Komplexität, natürlich in einer anderen Form. Für mich hat Tschaikowski die Themen Liebe und Liebesbeziehungen so tief ausgeleuchtet wie fast kein anderer Komponist. Es ist so einfach für uns, die wir im 21. Jahrhundert leben, uns mit diesen Figuren zu identifizieren!
Also denken Sie, dass die Emotionen, die Puschkin und vor allem Tschaikowski beschreiben, in unserer heutigen Welt ganz ähnlich sind? Auf jeden Fall. Man hat die Chance verpasst, man hat das Falsche gesagt, man hat falsch reagiert, man war unhöflich und bereut es später. Das alles ist absolut heutig.
Trotzdem haben Sie sich dagegen entschieden, die Inszenierung in der Gegenwart anzusiedeln...
Man könnte sicherlich einen wunderbaren Film machen, der diese Geschichte komplett in die Gegenwart holt. Aber da das Thema Vergangenheit in
Jewgeni Onegin eine so wichtige Rolle spielt, fand ich es schöner, die Oper so aufzuführen, dass eigentlich offen bleibt, wann und wo sie genau spielt. Würde man sie in der heutigen Zeit spielen, müsste man auch die elektronischen Kommunikationsmittel wie EMail und SMS verwenden. Aber das funktioniert für mich nicht in diesem Stück. Mir war es wichtig, auf der Bühne eine Welt zu erschaffen, die den Zuschauer gar nicht darüber nachdenken lässt, wann und wo das Stück spielt, sondern die es ermöglicht, sich auf die Geschichte, die Figuren und ihre Beziehungen zu konzentrieren.
Onegin ist eine Figur, die oft kalt und herablassend auftritt. Wie sehen Sie ihn?
Ich möchte vor allem nicht, dass Onegin von Beginn der Oper bis zum Schluss nur eine einzige Emotion zeigen kann. Man darf das Ende noch nicht am Anfang zeigen! Weder die Charaktere auf der Bühne noch die Zuschauer wissen, was am Ende wirklich passiert. Onegin ist ein Aussenseiter. Aber er ist bei uns am Anfang trotzdem guter Laune. Er ist voller Frustrationen und Ängste, aber er ist nicht böse. Er weiss nicht so genau, wer er ist; er sucht seine Identität, genauso wie Tatjana. Am Anfang hat man das Gefühl, die beiden könnten vielleicht ein interessantes Paar werden. Man muss Widersprüche zeigen, Rastlosigkeit, Schlaflosigkeit. Onegin ist ein Gejagter, doch er weiss selbst nicht, wovon er eigentlich gejagt wird. Heute würde man ihn vielleicht als bipolar bezeichnen. Onegin muss auch ein Sympathieträger sein, sonst funktioniert das Stück für mich nicht. Man muss Mitleid mit ihm haben, man sollte nicht denken: You got what you deserved. Das ist nicht die Geschichte.