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Das
from Jewgeni Onegin
Dass es dabei auf das Objekt von Tatjanas Liebe gar nicht ankommt, war auch Tschaikowski klar: «Noch vor seinem Erscheinen ist sie schon verliebt in einen nicht näher bestimmten Helden ihres Romans.» Diese Interpretation spitzt das zu, was wir in Puschkins Brieftext lesen können, übrigens an der Stelle, zu der Tschaikowski erstmals eine wirklich emphatische Melodie erklingen lässt: «Du erschienst mir in Traumbildern, Du warst mir lieb, bevor ich Dich sah.»
Einer allzu verwirrenden Vielfalt musikalischer Ereignisse begegnet Tschaikowski, indem er mehrmals mit der Wiederholung gleicher musikalischer Abschnitte vereinheitlichende Strukturen andeutet. Auch sind alle melodischen Gestalten von Tatjanas Solo in einen Rahmen gefasst, der mit der Spannung zwischen Unterquart und Terz – so schon beim allerersten Beginn auf die (nicht von Puschkin stammenden) Worte «Und auch wenn ich dabei untergehe» – eine ganz andere melodische Energie ermöglicht als die immer wieder in den Grundton absinkenden Melodien der Eröffnungsnummer. Keineswegs handelt es sich dabei – wie von Richard Taruskin behauptet – um «die Aufeinanderfolge von vier Romanzen, die durch Rezitative verbunden» sind. Zwar lassen sich in der Tat vier grössere Abschnitte isolieren; entscheidend ist jedoch die konsequent vorwärtstreibende Gestik Tatjanas, die sich in einen wahrhaften Liebesrausch hineinsteigert, der am Ende durch die Emphase der höchsten Sopranlage überhöht wird, jedoch keinen Bezug zur Realität hat. An den entscheidenden Stellen bricht Tschaikowski das entrückte DesDur bei Formulierungen wie «Wer bist Du: mein Schutzengel oder mein heimtückischer Versucher?» durch den melodischen Abstieg über die «falschen», nur zur MollTonart passenden Töne ces und heses zum as, was im Orchester den fahlen Beleuchtungswechsel von DesDur nach HesesDur (also ADur) nach sich zieht. Den Melodien, mit denen Tatjana auftrumpfen will, ist nicht nur mit diesem Abgleiten nach Moll das Scheitern eingeschrieben. Ab dem dritten grösseren Abschnitt sind sie allesamt abwärtsgerichtet. Zwar findet sich in der musikalischen Umsetzung von Puschkins Brief begreiflicherweise keine Entsprechung zu dem maliziösen Hinweis des Dichters, er habe Tatjanas Brief aus dem Französischen übersetzen müssen, da ja eine Gutsbesitzertochter nicht in der Lage sei, längere Briefe in russischer Sprache zu verfassen. Tschaikowskis illusionslose Darstellung von Tatjanas selbstvergessener Liebe ist aber um nichts weniger distanziert und gebrochen als die zwischen Empathie und Spott schwankenden Beschreibungen Puschkins. Auch der Komponist macht sich keine Illusionen darüber, dass ein solcher Gefühlsüberschwang zu dem «Untergang» führen wird, von dem Tatjana bereits im ersten Vers der Briefszene spricht. In den fein kalkulierten Bezügen zu den melodischen und rhythmischen Eigenheiten der Eröffnungsnummer wird deutlich, dass diese junge Frau scheitern wird.
Am Ende kann Tatjana noch zufrieden sein, wenn sie eines Tages in der «Gewöhnung» an einen ungeliebten Ehemann und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten wie dem Einkochen von Beeren einen «Ersatz für Glück» erkennen sollte. Noch schärfer formuliert hat Puschkin dieses grausame Scheitern einer grossen Liebe mit einer Nebenbemerkung zu Tatjanas letzter Ansprache an Onegin: «Für die arme Tanja waren alle Schicksale gleich.» Zur Pointe dieser Formulierung gehört, dass unklar bleibt, ob es sich um einen Autorenkommentar handelt oder um die Selbsterkenntnis der (unglücklich) verheirateten Frau. Tschaikowski hätte sich bei der Komposition dieser Worte dafür entscheiden müssen, sie einer Bühnenfigur in den Mund zu legen, so dass er diesmal auf deren Verwendung verzichtete. Der Schärfe dieser und vieler anderer Charakterisierungen von Puschkins Figuren ist er aber mit ganz eigenen und auf ihre Weise atemberaubenden kompositorischen Verfahren gerecht geworden, die nicht weniger skeptische Distanzierungen und melancholische Brechungen erkennen lassen.