Programmbuch

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Les Pêcheurs de perles

15.9.2010

georges BIZET

opernhaus zürich Spielzeit 2010/2011

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Les PĂŞcheurs de perles Georges Bizet


Erster Akt Für die bevorstehenden Tauchgänge in gefährlichem Gewässer machen sich die zur Arbeit angetretenen Perlenfischer mit Gesängen Mut. Zurga fordert sie auf, dem von ihnen gewählten Anführer unbedingte Treue zu schwören. Die Fischer bestätigen Zurga, dass er es ist, dessen Befehlen sich alle zu unterwerfen haben. Von der Ankunft eines Fremden zunächst irritiert, erkennt Zurga in diesem seinen Jugendfreund Nadir. Dieser erklärt, in die Gemeinschaft zurückkehren zu wollen, die er für längere Zeit gemieden hatte, um sein Schicksal in den Wäldern herauszufordern. Nachdem Zurga Nadir offiziell willkommen geheissen hat und die Fischer an ihre Arbeit zurückgekehrt sind, versucht Zurga herauszufinden, ob Nadir als Freund oder Rivale zurückgekehrt ist. Bei einer gemeinsamen Reise nach Candi hatten sich beide in den Anblick einer Priesterin verliebt und sich darüber entzweit. Die Vernunft gebot ihnen im letzten Moment, zugunsten ihrer Freundschaft auf die Liebe zu dieser Frau zu verzichten, und sie schworen einander, diese nie mehr wieder zu sehen. Dennoch hatten sich danach ihre Wege getrennt. Zurga versichert Nadir, dass er sich an den Schwur gehalten und die Erinnerung an diesen Tag ausgelöscht habe. Nadir seinerseits gibt zu, dass er diese Frau zwar nie vergessen werde, sich aber gleichfalls von ihr ferngehalten habe. Mit einem erneuten Schwur auf ihre Freundschaft bis in den Tod besiegeln sie das Wiedersehen. Der Oberpriester Nourabad meldet die Ankunft der von Zurga zum Schutz der Fischer angeforderten Priesterin. Tief verschleiert präsentiert sie sich der erwartungsvollen Menge und wird von Zurga aufgefordert, ein Keuschheitsgelübde abzulegen. Bricht sie es, droht ihr der Tod. Ein mitleidiger Ausruf Nadirs erweckt die Aufmerksamkeit der Priesterin, die für einen Moment aus der Fassung gerät. Doch dann schwört sie, ihr Leben den Perlenfischern zu weihen. Während Nourabad sie auf den ihr zugedachten Platz geleitet, wird Nadir von den Erinnerungen an die von ihm geliebte Priesterin aus Candi aufgewühlt. Für einen Moment glaubte er, sie wieder vor sich zu haben. Anders, als er Zurga versichert hat, ist er ihr damals gefolgt, um heimlich ihrem Gesang zu lauschen. Noch einmal begräbt er seinen Traum von einer Liebe, die unmöglich ist. Die Perlentaucher unter den Fischern machen sich bereit; der Gesang der Priesterin erfüllt die Luft. Jetzt ist sich Nadir sicher, die Stimme der geliebten Frau – Léïla – wieder zu hören. In einem unbewachten Augenblick nähert er sich ihr, und verspricht sie zu beschützen. Léïla, die in Nadir zuvor schon den Mann erkannt hat, der in Candi ihr Herz erobert hatte, überlässt sich glücklich ihrem Gesang, der nun Nadir gilt.


Zweiter Akt Nach getaner Arbeit soll auch Léïla sich ausruhen. Nourabad ermahnt sie, immer ihres Schwures eingedenk zu sein, keinen Mann in ihre Nähe zu lassen. Sie erzählt ihm, dass ihr schon als Kind die Bedeutung eines Eides bewusst gewesen sei. Eines Abends sei ein Flüchtling in ihre Hütte gekommen und habe sie angefleht, ihn zu verstecken, da er verfolgt werde. Sie habe ihm geholfen und sein Versteck verschwiegen, obwohl seine Verfolger sie mit dem Messer bedroht hätten. So habe sie ihm das Leben retten können. Als Dank überliess er ihr damals eine Kette mit der Bitte, sie als Erinnerung an ihn in Ehren zu halten. Als Nourabad sich zurückgezogen hat, schläft Léïla in Gedanken an Nadir, den sie in der Nähe weiss, beruhigt ein. Nadir nutzt die Gunst der Nacht und schleicht sich zu Léïla. Erschrocken und um sein Leben fürchtend, fleht sie ihn an zu gehen. Nadir glaubt sich zurückgewiesen und klagt sie an, sein Herz nicht verstanden zu haben. Léïla aber erwidert ihm, dass sie ihn wohl bemerkt habe, damals, als er heimlich ihrem Gesang gelauscht habe. Ihr Herz sei bereit gewesen, ihm zu folgen. Überglücklich schliesst Nadir sie in die Arme. Endlich können sie sich ihre Liebe eingestehen. Doch Nourabad kehrt unbemerkt zurück und überführt sie des Eidbruches. Die herbeigerufenen Fischer fordern für beide die Todesstrafe. Da tritt Zurga zwischen sie und befiehlt kraft seines Amtes, Nadir mit der unbekannten Priesterin zu verschonen und ziehen zu lassen. Als Léïla von Nourabad gezwungen wird, ihn anzusehen, erkennt auch Zurga in ihr die einst geliebte Priesterin von Candi. Er glaubt sich von Nadir betrogen und fordert nun seinerseits Rache. Bei Anbruch des Tages sollen Léïla und Nadir mit dem Tod bestraft werden.

Dritter Akt Zurga bereut, dass er sich aus Zorn zum Todesurteil für den Freund hat hinreissen lassen. Da wird Léïla zu ihm gebracht. Sie bittet ihn, Nadir das Leben zu schenken und nur sie zu töten. Zurgas Eifersucht erwacht von neuem, als er erkennt, wie sehr Léïla Nadir liebt und unterschreibt das Todesurteil für beide. Gefasst wendet Léïla sich zum Gehen, doch vorher überreicht sie Zurga jene Kette, von der sie Nourabad erzählt hatte. Zurga erkennt betroffen, dass er in Léïla seine Lebensretterin von einst vor sich hat. Die Perlenfischer erwarten ungeduldig den Zeitpunkt, sich für den Verrat der Priesterin rächen zu können. Ungezügelt lassen sie ihren Aggressionen freien Lauf. Nadir und Léïla erwarten ihren Tod. Bevor das Urteil vollstreckt werden kann, gebietet Zurga Einhalt. Er erklärt sich zum Schuldigen an allem Vorgefallenen und bezichtigt sich, als Mensch gescheitert zu sein. Die Verwirrung der Menge nutzend, verhilft er Léïla und Nadir zur Flucht. Die Wut der Perlenfischer richtet sich nun gegen ihn.


Act One The pearl-fishers, who are about to go diving in dangerous waters, are boosting their confidence by singing. Zurga urges them to swear unconditional loyalty to a leader whom they are to elect. The fishermen assure Zurga that he is the one whose orders everyone must obey. Initially unnerved by the arrival of a stranger, Zurga recognises him as his childhood friend, Nadir. The latter declares that he wishes to return to the community that he has avoided for a long period in order to challenge fate in the forests. Once he has officially welcomed Nadir and the fishermen have gone back to work, Zurga tries to find out whether Nadir has returned as a friend or a rival. On a trip to Candi together, both of them had fallen in love with the sight of a priestess and fallen out with each other. At the last minute, reason demanded that they renounce their love of this woman for the sake of their friendship, and they swore to each other never to see her again. Nevertheless, they had subsequently parted company. Zurga assures Nadir that he has kept his oath and expunged the memory of that day. Nadir for his part admits that, although he will never forget this woman, he has kept away from her. They seal their reunion by renewing their pledge to preserve their friendship to the death. Nourabad, the high priest, announces the arrival of the priestess requested for the protection of the fishermen. Heavily veiled, she presents herself to the expectant crowd and is asked by Zurga to make a vow of chastity. If she breaks it, she risks death. Nadir’s compassionate interjection attracts the priestess’s attention, and for a moment she is disconcerted. All the same, she swears to devote her life to the pearl-fishers. While Nourabad leads her to her intended place of abode, Nadir is agitated by the memory of the priestess he loved in Candi. For one moment he believed he had seen her again: contrary to his assurances to Zurga, at the time he followed her and listened furtively to her singing. Once again, he buries his dream of an impossible love. The pearl-divers among the fishermen are getting ready; the priestess’s song fills the air. Now Nadir is certain that he is once again hearing the voice of the woman he loves – Léïla. In an unguarded moment he approaches her and promises to protect her. Léïla, who has already recognised Nadir as the man who captured her heart in Candi, happily abandons herself to her song, which is now devoted to Nadir.


Act Two Having done her work, Léïla should now also rest. Nourabad reminds her that she must always remember her oath not to allow any man near her. She tells him that she was already aware of the meaning of an oath as a child. One evening a fugitive entered her hut and begged her to hide him, as he was being persecuted. She helped him and kept his hiding place a secret, although his persecutors threatened her with a knife. Thus she was able to save his life. As a token of his gratitude he left a necklace with her, asking him to keep it in honour of his memory. When Nourabad retires, Léïla, calmed, falls asleep amid thoughts of Nadir, whom she knows to be close by. Nadir seizes the opportunity to steal to Léïla during the night. Aghast and in fear of his life, she implores him to leave. Nadir believes she is rejecting him and accuses her of not having understood his heart. Léïla, however, replies that she had indeed noticed him when he secretly listened to her singing. Her heart is ready to follow him. Overjoyed, Nadir enfolds her in his arms. At last they can acknowledge their love. However, Nourabad returns unseen and condemns them for perjury. The fishermen summoned by Nourabad demand the death penalty for both of them. Zurga intervenes and orders by virtue of his office that Nadir and the unknown priestess must be spared and allowed to leave. When Nourabad forces Léïla to look at him, Zurga also recognises the once beloved priestess of Candi. He feels betrayed by Nadir and in turn demands revenge. Both are to be punished by death at daybreak.

Act Three Zurga regrets having been driven by anger to condemn his friend to death. Léïla is brought to him. She begs him to spare Nadir’s life and only to kill her. Zurga’s jealousy is reawakened when he realises how much Léïla loves Nadir, and he signs the death warrant for both of them. Composed, Léïla turns to leave, but before she does so she hands Zurga the chain about which she had told Nourabad. Shocked, Zurga realises that Léïla is the girl who saved his life. The pearl-fishers impatiently await the moment to be able to avenge themselves for the priestess’s betrayal. Without restraint, they allow their aggressions free rein. Nadir and Léïla await death. Before the sentence can be carried out, Zurga calls a halt. He declares himself guilty of everything that has happened and accuses himself of having failed as a human being. Exploiting the crowd’s confusion, he helps Léïla and Nadir to escape. The pearl-fishers now direct their fury against him.


Brad Cohen

«Les Pêcheurs de perles» – zur Geschichte der Werkgestalt Wie bei vielen seiner Unternehmungen war auch Bizets Oper «Die Perlenfischer» («Les Pêcheurs de perles») zu Lebzeiten des Komponisten nicht mehr als ein durchwachsener Erfolg beschieden. Ende des Jahres 1863 fanden achtzehn Vorstellungen statt, dann geriet das Werk bis nach Bizets Tod in Vergessenheit. Der Klavierauszug, den Bizet selbst anfertigte und im darauffolgenden Jahr herausgab, stellt die Werkgestalt der Oper dar, so wie der Komponist sie hinterlassen hat. Die Dirigierpartitur, die 1863 bei den Aufführungen benutzt wurde, enthält Hinweise auf zahlreiche Kürzungen des Originals, die während der Proben oder auch während der Aufführungsserie vorgenommen worden sein müssen. Manche dieser Striche betreffen Wiederholungen, andere wurden offenbar gemacht, um besonders schwierigen Passagen aus dem Weg zu gehen (zum Beispiel beim Chor im Finale des Zweiten Aktes). Diese Striche waren jedoch nichts im Vergleich zu der Art und Weise, wie die «Perlenfischer» nach Bizets Tod beschädigt wurden. Als «Carmen» die Opernwelt – nach etwas wackeligem Start – im Sturm eroberte, erkannte Bizets Verleger Antoine de Choudens, dass die Zeit reif war, um andere seiner im Besitz des Verlages befindlichen Werke auszubeuten. Da Bizet kurz nach der «Carmen»-Premiere 1875 gestorben war, fiel der Nachlass seiner Witwe in die Hände, die dem Werk gegenüber keine besondere Sorgfalt walten liess, sowie seinem Verlag, der sich ebenfalls als nicht allzu gewissenhaft erwies. Nach zahlreichen Aufführungen in italienischer Übersetzung in den 1880er Jahren brachte Léon Carvalho, der 1856-1868 Direktor des Théâtre Lyrique – der Uraufführungsbühne der «Perlenfischer» – und seit 1876 Direktor der Opéra-Comique war, in Paris 1893 eine Wiederaufführung der «Perlenfischer» auf die Bühne. Nicht länger durch die Gegenwart des Komponisten behindert, verstümmelte Carvalho (so ist anzunehmen) die Oper und hielt sich dabei an seinen eigenen Geschmack und den Zeitgeist. Er gab bei Benjamin Godard neue Nummern sowie einzelne Abschnitte in Auftrag, ohne ihn als Urheber zu nennen; dabei wurde die Handlung verändert (vor allem im Dritten Akt, der nun mit dem Tode Zurgas in bester Grand Guignol-Tradition endete) und das Duett Nadir-Zurga durch eine Wiederholung der Hauptmelodie im Schlussteil verunstaltet. Diese «neue» Version von Choudens enthielt nicht nur eine stillschweigende Umorchestrierung oder Weglassung vieler Abschnitte von Bizets Original, abgesehen von Fehlern und falschen Lesarten; diese Partitur wich obendrein in vielen Details von den Orchesterstimmen ab, die zusammen damit ausgeliefert wurden.


Wie Michel Poupet in einem Artikel, der 1965 in der Revue de Musicologie erschienen ist, bemerkt hat, war die nachträgliche Umgestaltung des Duettes Nadir-Zurga ganz besonders widersinnig. Die dramaturgische Funktion dieses Duetts ist es, den Verzicht auf Léïla zugunsten der Freundschaft mit einem Mann Ausdruck zu verleihen; in der posthumen Version kehrt das Léïla-Thema nun am Ende als Quintessenz des Duetts wieder. Diese Verunstaltung des Duetts Nadir-Zurga ist meiner Ansicht nach für ein Gutteil der Geringschätzung verantwortlich, die sich in den letzten Jahrzehnten den «Perlenfischern» gegenüber manifestiert hat. Léïlas Motiv – das ersterbende Thema von Flöte und Harfe, das in diesem Duett zum ersten Mal auftaucht – wurde von dem anonym gebliebenen Bearbeiter völlig zu Recht als Schlüsselmelodie der ganzen Oper erkannt. Verkannt wurde jedoch seine Funktion im Gesamtzusammenhang des Werks, wie man an der hinzugefügten Wiederholung des Themas am Ende des Duetts sehen kann. Wenn das Thema so früh schon wiederaufgenommen wird, wird das Potential seiner musikalischen Erzählung damit praktisch ausgeschöpft, und das Ohr ist des Themas bei den im späteren Verlauf der Oper noch folgenden Wiederholungen schon überdrüssig geworden. Bizets ursprüngliche Idee, dieses Thema im Duett nur anklingen zu lassen, anstatt es bereits an sein Ziel gelangen zu lassen, ist origineller, theatralischer, weniger abgedroschen und erweist sich als Reverenz an das Wagnersche Leitmotiv mit den Ausdrucksmitteln der Melodie und der Klangfarbe. Obendrein war das Ende des Duetts in seiner ursprünglichen Gestalt eine der Stellen, die 1863 am meisten gefallen hatten. Seine Intimität und sein Raffinement lassen eine völlig andere Atmosphäre entstehen als das lautstarke Ende des Duetts in der posthumen Fassung. Die bearbeitete Version der Oper, von Poupet schlicht als «schlecht» charakterisiert, wurde von Choudens als Gesamtpartitur und Klavierauszug veröffentlicht. Bis ins Jahr 1965, als der bereits erwähnte scharfzüngige Artikel («Les infidélités posthumes de partitions lyriques de Georges Bizet») von Poupet erschien, wurde die Partitur von Choudens allgemein als den Intentionen Bizets entsprechend akzeptiert. Winton Dean nahm sich des Falls, der sich mehr und mehr als skandalöse Missinterpretation von Bizets Werk erwies, an und verfolgte ihn in einer Reihe von Artikeln und Büchern. 1975 griff der Dirigent und Musikwissenschaftler Arthur Hammond, ein Spezialist für französische Musik, dann auf Bizets Klavierauszug von 1864 zurück und erarbeitete auf dieser Grundlage eine spielbare Fassung für die Welsh National Opera. Das war die erste Aufführung der Oper seit der Uraufführung, die Bizets Intentionen respektierte. Leider ist (und bleibt) die Orchesterpartitur verloren, so dass die Passagen in Bizets Original, die von der korrumpierten Choudens-Partitur abweichen, von Hammond ganz neu orchestriert werden mussten. Ein weiteres Stadium der Wiederherstellung von Bizets Intentionen wurde unterdessen erreicht, als das Dirigierexemplar Bizets aus dem Jahr 1863 in den Archiven der OpéraComique wiederaufgefunden wurde. Dieses Particell, auf sechs Systemen notiert und


Georges Bizet, 1863


mit ausführlichen Angaben über die Instrumentierung versehen, stimmt genau mit Bizets Klavierauszug von 1864 überein. Hervé Lacombe hat in seiner 2001 erschienenen grundlegenden Studie «The keys to French opera in the nineteenth century» die Aufmerksamkeit auf die Existenz dieser Dirigierpartitur gelenkt. In Zusammenarbeit mit dem Verlag Editions Choudens hat er eine eigene Rekonstruktion der fehlenden Orchestrierung vorgelegt. Lacombes Forschungen haben mich ermutigt, für die Londoner Aufführungen im Jahr 2002 eine neue kritische Gesamtausgabe der Oper zu erstellen, die auf Bizets Klavierauszug von 1864 und der Dirigierpartitur als Hauptquellen beruht. Die Angaben zur Instrumentierung in der Dirigierpartitur sind so detailliert, dass die Rekonstruktion der fehlenden Abschnitte unkompliziert war. Die von mir erarbeitete Fassung, für die sich auch das Opernhaus Zürich mit seiner Neuproduktion in der Spielzeit 2010/2011 entschieden hat, stellt bis auf weiteres wohl die grösstmögliche Annäherung an Bizets Oper in ihrer ursprünglichen Gestalt dar. Würde Bizets Autograph der Orchesterpartitur wiedergefunden, schlösse sich der Kreis endgültig; angesichts der Tatsache, dass viele der Manuskripte Bizets nach seinem Tod auseinandergerissen und von seiner Witwe stückweise als Andenken oder Geschenk weggeben wurden, erscheint eine solche Wiederentdeckung allerdings ziemlich unwahrscheinlich. Man kann die Geschichte der verschiedenen Fassungen der «Perlenfischer» als elliptische Bewegung beschreiben. Die ursprünglichen Intentionen des Komponisten waren am Klavierauszug und der Partitur, in denen eine Aufführungsserie von über zwei Monaten im Jahr 1863 ihren Niederschlag findet, klar ablesbar. Nach der Herausgabe des von ihm selbst verfertigten Klavierauszuges im Jahr 1864 endete Bizets aktive Teilnahme am Entstehungsprozess der verschiedenen «Perlenfischer»-Fassungen. Die Abweichungen und Verunstaltungen, denen die Oper nach seinem Tod unterworfen wurde, haben ganz offensichtlich nichts mit ihm oder mit seinen Intentionen zu tun. Mit der Rückkehr zu einer authentischen Fassung, was den Notentext und auch das Libretto betrifft, widerfährt nicht nur Bizet Gerechtigkeit; darin spiegelt sich auch eine allmähliche, höchst willkommene Neubewertung der französischen Oper des 19. Jahrhunderts – leidet diese Gattung doch, wie Hervé Lacombe es ausdrückt, «als Ganzes unter einer dürftigen Wertschätzung.»

Der australische Dirigent Brad Cohen hat in dem 2002 von ihm gegründeten Verlag PerformingEditions bisher fünf Opern von Bizet, Rossini und Bellini als kritische UrtextAusgabe herausgegeben. Die Rechte an der von ihm herausgegebenen Neuausgabe der «Perlenfischer», die Brad Cohen für die von ihm geleiteten Aufführungen des Royal Philharmonic Orchestra 2002 in London erarbeitet hat, wurden später von der Edition Peters erworben.


Ronny Dietrich

«Ich brauche die Bühne…» Exotik lag in der Pariser Luft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In den Salons feierte die orientalistische Malerei Triumphe, Félicien Davids Ode «Le desert» hatte gerade die fernen Zonen des französischen Kolonialreichs als musikalischen Inspirationsquell proklamiert. Auch der 24-jährige Georges Bizet machte sich den Exotismus dieser Zeit zunutze und schuf unter dem Deckmantel ceylonesischen Südseezaubers ein beeindruckendes Gesellschaftspanorama: «Les Pêcheurs de perles», seine erste abendfüllende Oper. Allerdings gingen die Kritiker nach der Uraufführung im Jahr 1863 nicht besonders freundlich mit dem Komponisten um und bezichtigten ihn, Nachahmer von Verdi, Wagner und Gounod zu sein. Nur Hector Berlioz erkannte den eigenständigen Reichtum der Oper: «‹Les Pêcheurs de perles› macht Bizet die grösste Ehre, und die Partitur enthält Arien und Duette voller Feuer und grossem Farbenreichtum.» Georges Bizet hat mit «Carmen» die wohl populärste und meistgespielte französische Oper geschaffen. Dass der Komponist in seinem kurzen Leben weitere elf Werke für die Opernbühne komponiert hatte, ist kaum noch im Bewusstsein. Allenfalls seine zu Alphonse Daudets Schauspiel «L’Arlésienne» geschaffene Bühnenmusik ist als viersätzige Suite überliefert. Auch «Les Pêcheurs de perles» sind eine Rarität in der Opernlandschaft geblieben, obwohl einige Nummern – insbesondere das Freundschaftsduett von Nadir und Zurga und die durch Enrico Caruso bekannt gemachte Romanze Nadirs – grosse Popularität errungen haben. Georges Bizet zeigte schon als Kind eine besondere musikalische Begabung, weshalb seine Eltern, die beide Musiker waren, ihn im Alter von neun Jahren am Pariser Conservatoire anmeldeten. Zwar war Bizet noch zu jung, um aufgenommen werden zu können; aber die Direktoren waren von Bizets musikalischen Kenntnissen und seiner Begabung für das Klavierspiel so stark beeindruckt, dass sie ihm erlaubten, in Antoine François Marmontels Klavier-Klasse einzutreten. Am 9. Oktober 1848 wurde Bizet dann offiziell zugelassen, und ein halbes Jahr später gewann er den Ersten Preis im Solfeggio. Es erfolgte Kontrapunkt- und Kompositionsunterricht u.a. bei Jacques Fromenthal Halévy und Charles Gounod, dem späteren Schwiegervater Bizets. 1851 und 1852 gewann Bizet Preise in Marmontels Klasse, und sowohl Hector Berlioz als auch Franz Liszt bezeugten die ausserordentliche Brillanz seines Spiels. Zudem erwies sich Bizet als gewandter Partiturspieler und war ein begehrter Begleiter bei Proben in


der Opéra und der Opéra-Comique. Bizets Begeisterung für die Oper dürfte hier ihren Anfang genommen haben. «Ich bin einfach nicht gemacht für die Sinfonie. Ich brauche die Bühne, ohne sie kann ich überhaupt nichts», äusserte Bizet einmal gegenüber Camille Saint-Saëns. 1855 komponierte er sein erstes kleines Bühnenwerk «La maison du Docteur», eine Art Hauskomödie für mehrere Gesangsstimmen und Klavier; ein Jahr später beteiligte er sich an einem von Jacques Offenbach ausgeschriebenen EinakterWettbewerb und erhält einen von zwei ersten Preisen für seine komische Oper «Le Docteur Miracle», die 1857 mehrfach in den Bouffes Parisiennes zur Aufführung gelangte. Im selben Jahr gelang es Bizet im zweiten Anlauf mit der Komposition der Kantate «Clovis et Clotilde» den begehrten Rompreis zu erringen, der den Preisträgern ein kostenloses fünfjähriges Studium in Italien, Deutschland und Frankreich gestattete. Die einzige Verpflichtung bestand darin, jedes Jahr ein grösseres Werk zu schreiben, das nach Paris geschickt und dort von einem Professorenkollegium geprüft wurde. Obwohl die Akademie in Paris als erstes einzusendendes Werk eine Messe vorschreibt, setzt sich Bizet – in Rom angekommen – darüber hinweg; lieber will er eine Oper komponieren: «Ich habe also eine italienische Farce in der Art des ‹Don Pasquale› gesucht und gefunden. Ich bin entschiedenermassen für die Buffo-Musik geschaffen und ich gebe mich ihr vollständig hin. Ich war in jeder Buchhandlung Roms, und ich habe zweihundert Stücke gelesen. Man schreibt in Italien nur Stücke für Verdi, Mercadante und Pacini. Was die anderen angeht, begnügen sie sich mit Übersetzungen französischer Opern, denn Urheberrechte werden hier nicht geschützt.», heisst es in einem Brief aus Rom an seine Mutter. «Don Procopio» erhält zwar eine positive Beurteilung, gelobt werden ein «leichter und brillanter Tonfall, ein junger und kühner Stil», doch die Rüge folgt auf dem Fusse: «Wir müssen Herrn Bizet tadeln, weil er eine komische Oper geschrieben hat, während die Satzungen eine Messe verlangen. Wir gemahnen ihn daran, dass auch sehr lebhafte Naturen durch die Meditation und die Darstellung erhabener Vorwürfe einen Stil finden, der selbst in der leichten Muse unerlässlich ist und ohne den kein Werk Dauer haben wird.» Bizet reagiert darauf mit einer – wie er an die Mutter schreibt – «eigenartigen Entscheidung»: «Man verlangt von mir etwas Religiöses. Wohlan, ich werde etwas Religiöses schreiben, aber etwas heidnisch Religiöses! Das ‹Carmen saeculare› von Horaz reizt mich schon seit langer Zeit. Es ist ein Gesang an Apollo und Diana in zwei Chören. Vom


dichterischen Standpunkt aus ist es schöner als die Messe, denn es ist keine Prosa, sondern Poesie, d.h. viel gleichmässiger, viel rhythmischer und folglich viel musikalischer. Ich bin nämlich, um die Wahrheit zu sagen, mehr Heide als Christ.» Schliesslich ist es eine sinfonische Ode, betitelt «Vasco da Gama», mit der er seinen Verpflichtungen nachkommt, doch im Vordergrund des Interesses steht immer noch die Oper. Werke von Shakespeare, Victor Hugo, Molière sowie E. T. A. Hoffmanns «Tonnelier de Nuremberg» beschäftigen den jungen Musiker, der aufgrund einer schweren Erkrankung seiner Mutter im September 1860 nach Paris zurückkehrt. Gemäss den Auflagen der Akademie wendet sich Bizet hier zunächst der Komposition von sinfonischen Werken zu und reicht neben einem in Rom bereits komponierten Scherzo einen Trauermarsch in f-Moll sowie die Ouvertüre «La chasse d’Ossian» ein. Als nächstes Bühnenwerk entsteht «La Guzla de l’Émir» nach einem Libretto des renommierten Autorengespanns Jules Barbier und Michel Carré. Das von der Akademie aufgrund «der Lebendigkeit des Stils und der Sicherheit der Ausführung» zur Aufführung an der Opéra-Comique für würdig befundene Werk, zog Bizet jedoch während der schon laufenden Proben im April 1863 zurück, als ihm von Léon Carvalho, dem Direktor des Théâtre-Lyrique, ein ihm reizvoller dünkendes und – im Hinblick auf sein auslaufendes Stipendium – lukratives Angebot gemacht wurde: ein mit 100 000 Francs subventionierter Opernauftrag. Das Libretto, das Carvalho Bizet vorschlug, trug den Titel «Léïla» und stammte ebenfalls von Carré, diesmal in Zusammenarbeit mit Eugène Cormon. Anders als bei den Auflagen der Opéra-Comique, die u.a. gesprochene Dialoge verlangte, war es Bizet hier freigestellt, eine durchkomponierte Oper zu schaffen. In nur vier Monaten entstand die Partitur zu der im Laufe der Arbeit in «Les Pêcheurs de perles» umgetauften dreiaktigen Oper, steht doch nicht wie in Bellinis «Norma» oder Spontinis «La Vestale» die Priesterin Léïla im Zentrum, sondern die mit zahlreichen Chören charakterisierte Gemeinschaft der Perlenfischer. Dirgent Carlo Rizzi zeigt sich nach seiner ersten Auseinandersetzung mit Georges Bizets «Les Pêcheurs de perles» von der Qualität des Werkes begeistert, das in seiner Eigenständigkeit überrascht und den späteren Komponisten der «Carmen» mehr als nur ahnen lässt. Léïlas Cavatine «Comme autrefois» weist exakt die gleiche Struktur wie Micaëles Arie «Je dis que rien ne m'épouvante» auf, die Behandlung von Hörnern und Celli erinnert an das Vorspiel des 4. Aktes von «Carmen». Aber wichtiger als ein Vergleichen der im Abstand von zwölf Jahren entstandenen Werke ist für den Dirigenten die Tatsache, dass schon der 24-jährige Bizet kompositorisch auf der Höhe dessen ist, was seine nachfolgenden Werke auszeichnet. In erster Linie nennt er die Ökonomie der musikalischen Mittel, die nie zum Selbstzweck werden, sondern immer dem dramatischen Ausdruck dienen und die Seelenregungen der Figuren deutlich machen. Charak-


teristisch dafür ist jener Moment, in dem die Priesterin Léïla – von Zurga zum Tode verurteilt – diesem eine Kette überreicht, mit der er vor Jahren einem Kind dafür gedankt hat, dass es ihm das Leben gerettet hat. Dieses Kind war sie. Bizet zitiert hier das einprägsame Motiv der Priesterin, das jedoch nach einem rallentando unvermittelt in einem schmerzlichen Septimenakkord stockt. Anders als man vermuten könnte bei einer unter Perlenfischern auf Ceylon spielenden Handlung, verzichtet Bizet weitestgehend auf die seinerzeit so beliebten Exotismen. Neben einigen sparsam gesetzten Schlagzeugeffekten liesse sich allenfalls den vier Einleitungstakten zu Nadirs Chanson «De mon amie fleur en dormie» ceylonesisches Flair unterstellen. Doch auch hier steht für Carlo Rizzi eine subtilere Absicht Bizets dahinter. Nachdem sich zuvor mit Ausnahme Nadirs alle Handelnden zur Ruhe begeben haben und auch die Musik gleichsam zum Stillstand gekommen ist, wird die Aufmerksamkeit der Zuhörer mit diesem fremdartigen Oboensolo auf die bevorstehende Szene gelenkt, die die Katastrophe herbeiführt. Bizet, so Carlo Rizzi, wollte nicht demonstrieren, dass er eine grosse Oper mit allem zeittypischen Zubehör zu schreiben im Stande ist, ihm ging es darum, eine Geschichte mit den ihr angemessenen Mitteln ganz linear aus der Musik heraus zu entwickeln. Und das ist ihm in den «Perlenfischern» hervorragend gelungen. Nach der Uraufführung geriet Bizets Oper nach nur achtzehn Aufführungen in Vergessenheit. Erst der Welterfolg seiner «Carmen» veranlasste die Verleger, den Nachlass des Komponisten auszuschlachten. Einen der Gründe dafür, dass die «Perlenfischer» dennoch im Repertoire nicht Fuss zu fassen vermochten, vermutet der Dirigent darin, dass man die Oper gerne in die verkehrte Schublade schob; etwa in eine Reihe mit Puccinis «La Rondine» stellte. Dabei übersah man das dramatische Potenzial, vor allem der Chöre, das diese Partitur auszeichnet. Dass den «Pêcheurs de perles» kein Erfolg beschieden war, wird zu einem nicht geringen Teil auch dem Textbuch angelastet. Allerdings gibt der Umstand, dass Bizet ein bereits fertig komponiertes Werk zugunsten der Vertonung dieses Buches zurückzog, zu denken. Möglicherweise erkannte er in der zwar augenfällig konstruierten, aber gerade dadurch kompositorische Deutungsräume bietenden Geschichte eine reizvolle Folie für seinen musikdramatischen Zugriff. Charakteristisch scheint in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Bizets während seiner Arbeit an der auf die «Perlenfischer» folgenden Oper «La Jolie Fille de Perth» mit einem ähnlich problematischen Libretto. Gegenüber seinem Schüler Edmond Galabert äusserte er: «Mein ‹Mädchen von Perth› hat wenig Ähnlichkeit mit dem Roman. Es ist ein effektvolles Stück, aber die Typen sind zu wenig charakterisiert. Ich hoffe, diesen Fehler zu beseitigen. Es gibt da Verse… Ich halte mich beim Komponieren nicht an die Worte; mir würde keine Note einfallen.»


Für Regisseur Jens-Daniel Herzog steht denn auch nicht die oberflächliche, von vielen Zufällen gelenkte Handlung im Vordergrund seines Interesses an dieser Oper, sondern der dahinter verborgene kritische Blick auf eine Gesellschaftsordnung, die auf Unterdrückung basiert. Der Verortung der Handlung in exotische und scheinbar romantische Fernen – ein Verfahren, das Bizet von Jacques Offenbachs Einaktern her vertraut war, mit denen dieser die allgegenwärtige Zensur zu umgehen wusste – begegnet der Komponist von Anfang an mit einer konkret die seelische Lage der exponierten Personengruppe auslotenden Tonsprache. Sowohl das piano gehaltene Vorspiel wie auch der einleitende Chor mit seinen abwärts gerichteten Motiven künden eher von den bevorstehenden Gefahren als den hier zum Schutz der Perlenfischer beschworenen Tänzen und Gesängen. Nebenbei: die Perlenfischerei gehörte zu den gefährlichsten Berufen und wurde ausschliesslich von armen Fischern oder extra dafür geschulten Sklaven ausgeführt, die nicht selten mit ihrem Leben dafür bezahlten. Auch in der folgenden Szene, in der Zurga die Wahl eines Anführers fordert, wird in der Musik für den Regisseur ganz klar das Gleichgeschaltetsein der Fischer betont, denen keine andere Wahl bleibt, als Zurga in seinem Amt zu bestätigen. Die Mechanismen der Unterdrückung und Ausbeuterei basieren in «Les Pêcheurs de perles» zunächst auf Triebunterdrückung, die Zurga nicht nur von sich selbst, sondern auch von seinen Untergebenen fordert. Halten sie sich an seinen Vorschriften, sorgt er im Gegenzug für ihre Sicherheit: Er lässt eine Priesterin kommen, die während der lebensbedrohlichen Tauchgänge mit ihren Gesängen die gefährlichen Naturgeister fernhalten wird. Wirksamkeit garantiert das von ihr abgelegte Keuschheitsgelübde; bricht sie es, wird sie mit dem Tode bestraft. Alles läuft zur Zufriedenheit Zurgas. Mehr noch: Nadir, ein Freund, mit dem er sich einer Frau wegen zerstritten hatte, kehrt in die Gemeinschaft der Fischer zurück, nachdem er die Unmöglichkeit einer Liebe zu dieser Frau – einer Priesterin – einsehen musste. Nichts und schon gar keine Frau soll sie je wieder entzweien. Doch nun setzt eine Reihe von Ereignissen ein, die Jens-Daniel Herzog als eine Versuchsanordnung deutet, die das von Zurga aufgebaute ideologische Gebäude nicht nur in Frage stellt, sondern schliesslich zum Einsturz bringt. Die Priesterin, Léïla, ist niemand anderes als jene Frau, in die sich Zurga und Nadir einst zugleich verliebt hatten, doch Nadir hat sie im Unterschied zu Zurga nie vergessen können. Seine Bemühungen, die Liebe zu unterdrücken, scheitern in dem Moment, in dem er sie wieder erkennt. Und auch Léïla, der ihr Amt als Priesterin Keuschheit auferlegt, hat Nadir nie vergessen können. Die Konflikte, in die die Protagonisten gestürzt werden, erlauben es Bizet, extreme Seelenzustände zu schildern – Sieg der Liebe unter Todesgefahr bei den Liebenden, eine Achterbahn der Gefühle bei Zurga: Überzeugt von der Richtigkeit seiner Ideale, durchlebt er – nun selbst in seinen privaten Gefühlen verletzt – Stadien der Enttäuschung, der Wut und der Eifersucht, um am Ende die Unmenschlichkeit und Lebens-


feindlichkeit des von ihm propagierten Systems zu erkennen und in einer grossen Selbstanklage die Schuld für alles Vorgefallene auf sich zu nehmen. Erschreckend in diesem Prozess sind vor allem die Reaktionen des von Zurga jeglicher Individualität beraubten Kollektivs der Perlenfischer, die von Bizet aufgezeigt werden. Auf die Tabuverletzung durch Léïla und Nadir reagieren die Fischer mit tödlicher Wut und geraten angesichts der Ratlosigkeit ihres Anführers völlig ausser Kontrolle. Bizet, der selbst mit wachem Geist auf die politischen Vorgänge seiner Zeit reagierte, wie seine Briefe aus Rom belegen, zeichnet hier ein eindrucksvolles Fallbeispiel von den Gefahren politischer Systeme, die auf Unterdrückung basieren. Für die Geschlossenheit des in den «Perlenfischern» dargestellten Systems entwarf Bühnenbildner Mathis Neidhardt den Querschnitt durch einen Schiffsdampfer, der einerseits den Arbeitsort der Fischer vergegenwärtigt, andererseits von alters her als Metapher für u.a Staats-, Gesellschafts-, Menschheits-, Kirchen-, Narren-, Geister- oder Lebensschiff fungiert. Auf der unteren Ebene agiert die Arbeiterklasse, die mittlere Ebene ist für die Herrschaftsschicht reserviert, während die obere Ebene dem religiösen Überbau vorbehalten ist. Der Verzicht auf Südseezauber begründet sich darin, dass es Bizet hier kaum um einen romantisch verklärten Blick auf eine ideale Gesellschaft zu tun war. Wie unwichtig dem Komponisten letztendlich das Ambiente war, resultiert aus der Tatsache, dass die Handlung der Oper ursprünglich unter mexikanischen Indianern angesiedelt werden sollte, bevor sie die Librettisten nach Ceylon an den Indischen Ozean verlegten – möglicherweise «mit Rücksicht auf das französische Engagement bei der Krönung Maximilians zum Kaiser von Mexiko», wie Christian Schwandt in seiner Bizet-Biografie anmerkt. Die Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit der vorgeführten Gesellschaftsform spiegeln auch die Kostüme von Sibylle Gädeke wider. Für die Fischer entwarf sie eine der Tätigkeit entsprechende Kleidung, die mit Assoziationen an unterschiedlichste, doch im Grunde immer ähnliche Uniformierungen spielt, die stets funktional ausgerichtet sind. Geringfügig modifiziert dienen diese auch der Mittel- und Oberschicht als Bekleidung. Grösstmöglichen Kontrast dazu bietet das Gewand der Priesterin Léïla, in dessen Farbig- und Luftigkeit gleichsam alle unterdrückten Sehnsüchte der Menge eingewoben sind.


Georges Bizet

Briefe an die Mutter Rom, 16. Juli 1859 Ich bin vorgestern nach Rom zurückgekehrt, gerade um eine sehr erfreuliche Nachricht zu erfahren: der Friede ist abgeschlossen worden. Bravo! Italien ist endlich frei, «wie ein Dichter sagte». Ich hoffe, dass Du in Deinen Briefen die armen Österreicher nicht mehr herunterreissen wirst, denn sie sind unsere Verbündeten. Aus Feinden sind sie geworden, was sie immer gewesen sind, nämlich tüchtige, vortreffliche Leute, die keineswegs für die Grausamkeit einiger Wilder verantwortlich sind. In Paris glaubt man zu leicht an all die alten Scherze von den «Bleikammern von Venedig» usw. Seit einer guten Anzahl von Jahren war die Lombardei mit der grössten Milde regiert worden. Die unglücklichsten Bewohner waren gewiss nicht die Italiener. Der Herzog von Toskana regiert seine Untertanen wie ein Vater (Stil des Amtsblattes). Die Römer sind natürlich wütend und verabscheuen uns mehr denn je. Diese Herrschaften hatten sich eingebildet, dass man ganz Italien Victor Emanuel überlassen hätte. Alle diese hübschen kleine Stutzer, die, anstatt in der Lombardei ihr Leben einzusetzen, Wortspiele mit den Namen unserer, auf dem Felde der Ehre gefallenen Generale machten, schreien heute Verrat. Die sardinischen Zeitungen haben unsere Offiziere in die übelste Laune versetzt, weil sie alles der Armee Victor Emanuels zuschreiben. Herr von Cavour hat sich Frankreichs bedienen wollen, aber «mit Papa soll man nicht sein Spiel treiben», wie man sagt. Und Papa ist in dieser Angelegenheit Napoleon III. Jeden-


falls ist dieser glänzende Feldzug auf die glücklichste Weise durchgeführt worden und gibt eine schöne Seite mehr in unserer Geschichtsschreibung ab. «La Patrie» ist eine alte Schwätzerin, denn es sind keine Unruhen in Rom gewesen. Einer der neuen Pensionäre (ein Maler) ist von zwei Individuen, die ihm Pistolen unter die Nase gehalten haben, für drei Francs «aufgehoben» worden, das ist alles. Der tapfere General X, den ich nicht leiden kann, hat einige Püffe erhalten, aber keinen Schlag mit der Reitpeitsche ausgeteilt. Nun weisst Du, wie Geschichte geschrieben wird. Die Aufstände verlaufen hier harmlos. In Perugia ist jedoch mehrere Stunden gekämpft worden. Beide Seiten haben sich wie Kannibalen aufgeführt. Das ist schändlich!

Neapel, 24. Oktober 1859 Ich habe französische Zeitungen bekommen und finde darin folgenden Satz: «Neapel befindet sich in unbegreiflicher Aufregung.» Die Zeitung fällt mir aus der Hand, und ich breche in schallendes Gelächter aus! Diese Herren sind wahrlich gut informiert! Unruhen in Neapel! Das ist zu komisch! Von 450 000 Einwohnern wissen mehr als 300 000 nicht, was «Freiheit» bedeutet.


Wenn Du diese dumme, erbärmliche Ausschweifung und diese schwächliche, lächerliche Eitelkeit sähest, die einen auf Schritt und Tritt anekelt! Ah, es lebe Frankreich und die Franzosen! Dort findet man wenigstens Herz, Ehre und vor allem Freimut. Ich kenne nichts Aufreizenderes als diese bleichen Basiliusgesichter [nach Don Basile in Beaumarchais’ «Barbier von Sevilla» und Rossinis gleichnamiger Oper, leicht zu bestechende Verleumder], die Ohrfeigen und immer wieder Ohrfeigen bekommen, ohne je etwas anderes von sich zu geben als Worte des Friedens und der Nächstenliebe und sich im Nu an der nächsten Strassenecke verwandeln. Ganz abgesehen von ihren Helfershelfern und von den Frauen, die die Familie zerrütten und ihren Männern und Kindern um nichts nachstehen! Gott sei Dank bin ich noch nie mit den Söhnen des Loyola in Berührung gekommen und ich habe auch keine Neigung dazu. Es ist sonderbar, je mehr ich auf meinen christlichen Glauben vertraue, um so mehr verabscheue ich diejenigen, die ihn uns lehren. Zum Glück kann man aber Gott lieben, ohne die Priester lieben zu müssen.


Winton Dean

Zur Musik von «Les Pécheurs de perles» Der Vertrag über «Les Pêcheurs de perles» wurde Anfang April 1863 unterzeichnet. Die Aufführung sollte Mitte September stattfinden. Bizet hatte somit nicht viel Zeit. Gounod riet ihm, eher im Schneckentempo fortzuschreiten als sich zu hetzen und sich nicht unter dem Vorwand, die Zeit sei zu knapp, zu übereilen. Nachdem er Bizet nahe gelegt hatte, er solle sich ganz an sich selbst halten («denn Sie sind zwar heute allein, aber morgen liegt Ihnen die Welt zu Füssen») nahm er zu Klagen Bizets Stellung: «Sie bedauern, dass die herrschenden Gesetze keine Ermordung bestimmter Musiker gestatten? Freilich ist sie erlaubt, und das göttliche Recht befiehlt sie sogar. Nur müssen Sie sich selbst über die Mittel klar werden. Wir töten alle: Die Metzger das Vieh, der Faule die Zeit, Journalisten die Toten, gute Werke die schlechten. In zwanzig Jahren werden Wagner, Berlioz und Schumann eine stolze Zahl von Opfern auf ihrem Konto haben; haben wir nicht schon einige seinerzeit grosse Namen von Beethovens Schlägen halb hingemordet gesehen? Was war das für ein Blutbad! Seien Sie auf der Seite der Mörder, zwischen dieser und der Seite der Opfer gibt es keinen Mittelweg.» Kluge Worte, zur richtigen Zeit gewählt: für Bizet war dies System wertvoller als Gounods Vorbild. Die Uraufführung, auf den 14. September terminiert, musste noch wegen der Indisposition Léontine de Maësens, der Darstellerin der Léïla, bis zum 30. September verschoben werden, und auch da war die Sängerin noch nicht ganz wieder auf der Höhe. Die Oper war ein mittelmässiger Erfolg, wenngleich das Publikum von der Lebendigkeit der Orchestrierung und der Gewagtheit der Harmonik eher überrascht denn begeistert war. Bizet wurde am Ende auf die Bühne gerufen und enthusiastisch beklatscht (für Landormys Vermutung, dass die Ovationen nur dadurch zustande kamen, dass Bizet seine Freunde sorgfältig über den ganzen Saal verteilt hatte, gibt es keine stichhaltigen Beweise). Louis Gallet, der Bizet damals zum ersten Mal sah, beschrieb ihn als etwas benommen; gesenkten Hauptes zeigt er nur ein Gestrüpp fester, lockiger Haare über seinem runden, noch ziemlich kindischen Gesicht, das aber von seinen lebendigen, strahlenden Augen belebt war, die den ganzen Saal mit Freude und Verwirrung zugleich in sich aufnahmen. Nach Pierre Berton, einem anderen Zuhörer, wurde Bizet von seinen Altersgenossen bereits als Anführer einer jungen französischen Schule gefeiert: «Der Mensch Bizet zeigte damals derart seltene und bezaubernde Eigenschaften, dass man dem Künstler seine verwirrende Überraschung verzieht.» Dies mag die Stellungnahme der Presse verstehen helfen, die sich mit einer Ausnahme als kühl und herablassend beschreiben lassen. Bizet wurde beschuldigt, Wagner, Félicien


David und die «ungestümen Affekte» der modernen italienischen Schule (Verdi) nachahmen zu wollen, «harmonische Bizarrerien, die aus irregeleiteter Suche nach Originalität entsprungen sind», und die unverzeihliche Sünde der Schwärmerei begangen zu haben; sein Talent sei in etwa dem des Albert Grisar zu vergleichen (einem der trivialsten Komponisten der Opéra-Comique), und an Pathetisches möge er sich doch bitte nie heranwagen. Jouvin («Le Figaro») bezeichnete die Oper als Lärm-Orgie, Gustave Bertrand («Le Ménestrel») schloss seine Rezension mit dem aufgeblähtem Tadel, dass Bizet am Ende der Vorstellung auf der Bühne erschienen sei; wenn er schon habe kommen müssen, dann hätte er sich dazu nötigen lassen oder sich zumindest den Anschein dessen geben müssen. Johannes Weber («Le Temps») erging sich gleichermassen spitzfindig in Nebensächlichkeiten. Die eine Ausnahme – und zwar eigentlich grundsätzlich in der französischen Musikkritik der Zeit – war Berlioz, der seinen letzten Artikel für «Journal des Débats» Bizets Oper widmete und diese dabei sorgfältig analysierte. Er griff einige besonders einfallsreich komponierte Sätze heraus, um ihnen sein Lob zuteil werden zu lassen, darunter den Eingangschor und den herrlichen Chor zu Beginn des zweiten Aktes. Besonders lobte er die Sorgsamkeit und den Einfallsreichtum Bizets in der Orchestrierung, wies aber den Chor «Ah, chante, chante encore» zurück, «dessen Rhythmus zu den Dingen gehört, die man heutzutage nicht benutzen sollte». Mit typischer Ironie betonte er, Bizet sei aus Rom zurückgekehrt, ohne die Musik verlernt zu haben, und schloss: «Die Partitur zu ‹les Pêcheurs de perles› macht Monsieur Bizet alle Ehre, so dass wir ihn trotz seiner grossen Begabung im Vom-Blatt-Spiel als Komponisten zu akzeptieren haben.» Berlioz kämpfte wie üblich auch diesmal auf verlorenem Posten. Die Oper errang zwar bei Bizets Kunstgenossen einen gewissen Achtungserfolg: Ludovic Halévy hörte sie dreimal, stellte «ausgesprochen seltene Eigenschften» fest und schrieb in sein Tagebuch: «In diesem Erstling liegt eine Sicherheit, eine Ruhe, ein unbeschwerter und sachkundiger Umgang mit Chören und dem Orchester, wie sie mit Sicherheit einen wahren Komponisten ankündigen.» Im Unterschied zu dem erwähnten Félicien David, dessen exotische Musik («Le Désert») Selbstzweck war, ein Versuch, Bilder zu malen, deren Farben fremd und aufregend sind, benutzte Bizet das exotische Element, um Charakterzüge und dramatische Atmosphäre zu transportieren. Der einleitende Chor lässt vor dem Hörer ein weit lebendigeres Bild entstehen, als man es als Leser des Textes erwartete; mit seiner scharfen Rhythmik, seinen harten Modulationen und chromatischen Ansätzen wirft er das Publikum mitten in die Handlung der Oper hinein, und wer 1863 im Publikum dem Stück aufmerksam folgte (wie zum Beispiel Berlioz), dem entging nicht, dass hier ein neuer und bis ins Innerste dramatisch empfindender Komponist am Anfang seiner Laufbahn stand. Die sorgfältig ausgearbeitete Coda, in der die Melodie sich über einem Orgelpunkt allmählich in einzelne Bruchstücke verliert, weist bereits auf «Carmen» voraus. Ebenso gut ist der blutrünstige c-Moll-Chor «Dès que le soleil» in der Schlussszene, zu dessen Feuer auch etwas von der Behändigkeit eines Mendelssohn-Scherzos tritt.


Auch in den wirkungsvollen Solosätzen findet man jenes Element, in Nadirs «De mon amie» zum Beispiel, das mit seiner diffizilen Rhythmik (12/8-Takt mit gelegentlichem Wechsel in 9/8-Takt), seinem Schwanken zwischen Dur und Moll und seiner Harfenbegleitung von eindringlicher, beklemmender Schönheit ist. Auch in harmonischer Hinsicht geht Bizet über Davids Leistungen hinaus, die weitgehend aus ostinaten Rhythmen oder speziellen Effekten über Orgelpunkten (oder beidem) bestehen. Seine Techniken ritt Davis zu Tode, und er vermied ernsthafte Zusammenstösse. Sein Verdienst liegt darin, eine Tür aufgestossen zu haben, aber er war nicht begabt genug, um sie zu durchschreiten und das Territorium in Besitz zu nehmen, das hinter ihr lag. Bizet war vermutlich der erste, der dies dann tatsächlich tat, und obgleich ihm noch Unzählige folgten, liegt in seinen Lösungen des Problems häufig eine Unverbrauchtheit, wo sich exotische Abschnitte jüngerer Komponisten bereits wieder getrübt haben. Der Grund dafür liegt allein in der Qualität der Musik. Bizet war wie David vom musikalischen Mittel des Orgelpunktes begeistert, das in jedem Fall en Gemeinplatz ist, benutzte ihn aber, um über ihm mit Chromatik zu spielen, dehnte damit die funktionalen Möglichkeiten des Orgelpunktes aus und entwickelte dabei eines seiner fruchtbarsten Stilelemente. Auch bei ihm kam es zu keinen Exzessen, aber mit den neu gewonnen Möglichkeiten konnte er die Ausdrucksfähigkeit seiner Musik erweitern. Vermutlich diese Experimente riefen den Widerspruch Halévys und der übrigen Lehrer hervor. Heutzutage klingen sie milde, können aber noch immer einen aufmerksamen Hörer mit dem Gefühl des Neuen anrühren. Bizet arbeitet mit der Kombination von Chromatik und Orgelpunkt in dreierlei Hinsicht: als Element der Abwechslung in textloser, absoluter Musik, als Ausdrucksmittel für eine exotische Farbe oder Atmosphäre, womit fast immer dramatische Absichten verbunden waren, und als Spannungselement in Krisensituationen. Die erste Möglichkeit wurde an der C-Dur-Sinfonie und den «Variations chromatiques» vorgestellt, die zweite kommt in «Les Pêcheurs de perles» häufig zu Entfaltung (zum Beispiel im Einleitungschor). Am überzeugendsten arbeitete er jedoch mit der dritten Methode, in «Les Pêcheurs de perles» besonders intensiv. Im zweiten Akt erinnert Nourabad Léïla an ihr Gelübde, dessen Geist sie bereits halb verletzt hat, verlässt den Raum, und sie bleibt mit ihrer Angst und ihren Sorgen allein; die hierzu eintretende Orchesterbegleitung hat eine beeindruckende Wirkung.


Der Auftritt des eifersüchtigen Zurga am Anfang des dritten Aktes wird von ruhigen chromatischen Skalen in Gegenbewegung über einem Orgelpunkt begleitet – ein Genieblitz, der in Mitifios Auftritt in «L’Arlésienne» eine Wiederholung fand. Auch «L’ombre descend», der Eingangschor des zweiten Aktes, weist auf «L’Arlésienne» voraus: die Bässe werden in Quinten geführt und behalten ihren ratternden Rhythmus zusammen mit einem Tamburin den ganzen Satz über bei, nur von zwei Pikkoloflöten begleitet, deren Triller und Arpeggien dem Satz einen ganz entlegenen Zauber verleihen, der aber für Bizet sehr typisch ist.

Immer wieder fand Bizet den musikalisch passendsten Ausdruck, mit dem sich eine Situation ohne unnötigen Kräfteverschleiss überzeugend zusammenfassen läst – was ja doch das höchste Ziel eines Opernkomponisten zu sein hat. Ein solcher genial getroffener Moment ist Léïlas Keuschheitsgelübde im ersten Akt:

Dies sind die ersten Worte, die sie überhaupt singt, und die Phrase wird noch zweimal wiederholt. Im nächsten Augenblick erkennen Nadir und sie einander; Zurga bemerkt ihr Zögern, weiss dafür aber keinen Grund und biete ihr an, sie vom Gelübde zu lösen, bevor es dafür zu spät ist. Sie reisst sich zusammen:


Den Tonfall ihrer Erwiderung traf Bizet so erst wieder in Carmen, besonders in Carmens «mais que je vive ou que je meure, / Non, je ne te céderai pas!», wo dieselbe Grundstimmung wie in Léïlas Bekräftigung ihres Schwures in einer ähnlichen und ebenso überzeugenden Phrase zum Ausdruck kommt. In der Vertonung von Léïlas Worten findet man jedenfalls Wurzeln für die flexible, rezitativische Melodik, mit der Bizet später in «Carmen» so sorgfältig arbeitet (Seguidilla, Kartenszene, Schlussduett) und das sicherlich noch fortentwickelt worden wäre, wenn Bizet ein längeres Leben beschieden gewesen wäre. Worüber sich zeitgenössische Kritiker am meisten den Kopf zerbrachen, war die Orchestrierung. Sie fanden sie schrecklich laut und überladen (einer bezeichnete die Oper als «fortissimo in drei Akten»), und tatsächlich lässt sich vorstellen, dass Bizets Musik ein Ohr schmerzte, das nur Auber gewöhnt war. Die pompöseren Abschnitte – in denen Bizet allerdings am unselbständigsten erscheint – sind ohne Meyerbeer und Gounod kaum zu denken, deren Partituren damals als der Gipfel romantischer Extravaganzen galten. (Berlioz freilich erschien seinen Hörern schlicht exzentrisch). Nadirs «Des savanes et des forêts», wo die Singstimme von Celli und Fagotten (unter langen Streichertremoli) mitgespielt wird, spiegelt Methoden Meyerbeers und des jungen Richard Wagner wider. Der instrumentale Abschnitt im Eingangschor, in dem Melodie und Klanglichkeit bei drei solistischen Bläsern liegen, während Bratschen, Celli, Tamburin und Triangel beständig in leeren Quinten an einer bestimmten rhythmischen Figur festhalten, schafft für die Handlung genau die richtige Farbe. Auch erhalten hier bereits Flöte und Harfe, zwei Instrumente, für deren Möglichkeiten Bizet besonderes Verständnis entwickelte, herausragende Aufgaben zugewiesen. Sie stellen miteinander das Thema des Duetts «Au fond du temple saint» vor, über dessen spätere Eintritte die Flöte, getragen von Streichertremoli, besondere Rechte zu beanspruchen scheinen. Das Englischhorn, dessen erster Auftritt in Nadirs zauberhaft instrumentierter Romanze sich zu höchster Wirkung entfaltet, wird ansonsten sparsam eingesetzt, ebenso das Schlagzeug. Wenn also Teile der Partitur mit den Konventionen der Zeit gehen, gibt es doch klare Anzeichen für das Pikante, Biegsame und den ökonomischen Einsatz bestimmter Mittel, die Bizets Arbeitsstil in späteren Werken besonders auszeichnen.


George Orwell

Unwissenheit ist Stärke Seit Beginn der geschichtlichen Überlieferung, und vermutlich schon seit dem Ende des Steinzeitalters, gab es auf der Welt drei Menschengattungen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht. Sie waren in sich mehrfach unterteilt, führten zahllose verschiedene Namensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhältnis wie ihre Einstellung zueinander wandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen; die Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach gewaltigen Umwälzungen und scheinbar unrückführbaren Veränderungen hat sich immer wieder die gleiche Ordnung durchgesetzt, genau wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellen bestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt. Die Zielsetzungen dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar. Das Ziel der obersten ist, sich dort, wo sie ist, zu behaupten. Das der Mittelklasse, den Platz der obersten einzunehmen. Das der Unterklasse ist, wenn sie überhaupt ein Ziel hat – denn es ist ein bleibendes Charakteristikum der unteren, dass sie durch ihre mühselige Arbeit zu sehr zermürbt ist, um in sich mehr als hin und wieder ihre Alltagssorgen bewusst werden zu lassen –, alle Unterschiede abzuschaffen und eine Gesellschaftsordnung ins Leben zu rufen, vor der alle Menschen gleich sind. So wiederholt sich die ganze Geschichte hindurch ein in seinen Grundlinien gleicher Kampf immer wieder von neuem. Während langen Zeitspannen scheinen die Oberen sicher an der Macht zu sein, aber früher oder später kommt immer ein Augenblick, in dem sie entweder ihr Selbst oder ihre Fähigkeit strenger Zucht, oder beides zugleich, verlieren. Dann werden sie von den Angehörigen der Mittelklasse gestürzt, die die Unteren auf ihre Seite ziehen, indem sie ihnen vorgaukeln, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, drängen die Angehörigen der Mittelklasse die Unteren wieder in ihre alte Knechtschaftsstellung zurück und werden selber zur Oberklasse. Bald darauf spaltet sich von einer der anderen Gruppen oder auch von beiden eine neue Mittelgruppe ab, und der Kampf beginnt wieder von vorne. Von den drei Gruppen gelingt es allein der unteren nie, auch nur zeitweise ihre Ziele zu erreichen. Es wäre eine Übertreibung, behaupten zu wollen, dass im Verlauf der Geschichte kein materieller Fortschritt erzielt worden sei. Selbst heutzutage, in einer Periode des Niedergangs, ist der Durchschnittsmensch physisch besser daran als vor ein paar Jahrhunderten. Aber keine Steigerung des Wohlstandes, keine Verfeinerung der Sitten, keine Reform oder Revolution haben die Gleichheit der Menschen jemals auch nur um einen Millimeter der Verwirklichung nähergebracht. Vom Gesichtspunkt der Unteren aus hat kein geschichtlicher Wandel jemals etwas anderes bedeutet als eine Änderung im Namen ihrer Beherrscher.


Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Regelmässigkeit dieses Turnus vielen Beobachtern bewusst geworden. Daraufhin entstanden damals philosophische Richtungen, welche die Geschichte als einen sich zyklisch wiederholenden Prozess auslegten und aufzeigen wollten, dass Ungleichheit ein unabänderliches Gesetz des menschlichen Lebens sei. Diese Lehre hatte natürlich schon immer ihre Anhänger gehabt, aber in der Art und Weise, wie sie jetzt hervortrat, äusserte sich ein bezeichnender Wandel. In der Vergangenheit war die Notwendigkeit einer hierarchischen Gesellschaftsform die Doktrin gewesen, die von den Oberen vertreten wurde. Sie wurde von Königen, Adligen und Priestern, den Rechtspflegern und ähnlichen Leuten, die daraus Nutzen zogen, gepredigt und gewöhnlich durch Versprechungen einer Vergeltung in einer imaginären Welt jenseits des Grabes schmackhafter gemacht. Die Mittelklasse hatte immer, solange sie um die Macht kämpfte, Worte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit im Munde geführt. Jetzt begannen jedoch diejenigen die Auffassung von Brüderlichkeit einer Kritik zu unterziehen, die noch keine herrschende Stellung innehatten, sondern lediglich hofften, bald zu einer zu kommen. In der Vergangenheit hatte die Mittelklasse Revolutionen unter dem Banner der Gleichheit gemacht und dann eine neue Tyrannei aufgerichtet, sobald die alte gestürzt war. Die neuen Mittelgruppen aber proklamierten ihre Tyrannei gleich im voraus. Der Sozialismus, eine Theorie, die Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auftauchte und das letzte Glied einer Gedankenkette war, die bis zu den Sklavenaufständen des Altertums zurückreichte, war noch heftig von dem Utopismus vergangener Zeitalter infiziert. Aber in jeder von 1900 an sich geltend machenden Spielart dieses Sozialismus wurde das Ziel, sich für Freiheit und Gleichheit einzusetzen, immer unumwundener aufgegeben. Die neuen Bewegungen endlich, die um die Mitte des Jahrhunderts auftauchten, Engsoz in Ozeanien, der Neo-Bolschewismus in Eurasien und der sogenannte Todeskult, wie er gewöhnlich bezeichnet wird, in Ostasien, setzten es sich bewusst zum Ziel, Unfreiheit und Ungleichheit zum Dauerzustand zu machen. Diese neuen Bewegungen gingen natürlich aus den alten hervor und hatten die Neigung, deren Namen beizubehalten und ihren Ideologien äusserlich Anerkennung zu zollen. Aber alle zielten darauf ab, dem Fortschritt Einhalt zu gebieten und die Geschichte in einem geeigneten Augenblick für immer zum Stillstand zu bringen. Das Pendel sollte noch einmal wie üblich ausschlagen, doch dann sollte es stehenbleiben. Wie gewöhnlich sollten die Oberen von den Mittleren verdrängt werden, die damit zu Oberen wurden. Aber diesmal sollten die Oberen durch eine bewusste Strategie instand gesetzt werden, ihre Stellung für immer zu behaupten. Die neuen Lehren traten teils infolge der Anhäufung


historischen Wissens und eines zunehmenden Verständnisses für Geschichte in Erscheinung, das es vor dem neunzehnten Jahrhundert kaum gegeben hatte. Die zyklische Bewegung der Geschichte war jetzt erkennbar oder schien es wenigstens zu sein. Wenn sie aber erkennbar war, konnte man sie auch ändern. Der hauptsächliche, tiefere Grund jedoch lag darin, dass bereits anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen technisch möglich geworden war. Es galt zwar noch immer, dass die Menschen in bezug auf ihre angeborenen Begabungen nicht gleich waren und dass für die Erfüllung bestimmter Aufgaben eine Auswahl getroffen werden musste, bei der einzelne gegenüber anderen bevorzugt wurden. Aber es bestand keine wirkliche Notwendigkeit mehr für Klassen- oder bedeutende Besitzunterschiede. In früheren Zeiten waren Klassenunterschiede nicht nur unvermeidbar, sondern sogar erwünscht gewesen. Ungleichheit war der Preis der Kultur gewesen. Mit der Weiterentwicklung der maschinellen Produktion änderte sich jedoch die Sachlage. Auch wenn die Menschen noch die eine oder andere Arbeit selbst verrichten mussten, brauchten sie deshalb doch nicht länger auf verschiedenen sozialen oder wirtschaftlichen Stufen zu leben. Gerade deshalb war vom Gesichtspunkt der neuen Gruppen, die im Begriff standen, die Macht zu ergreifen, menschliche Gleichheit kein erstrebenswertes Ideal mehr, sondern eher eine Gefahr, die verhütet werden musste. In primitiveren Zeitaltern, als eine gerechte und friedliche Gesellschaftsordnung praktisch unmöglich war, war es ganz leicht gewesen, an diese gerechte und friedliche Ordnung zu glauben. Der Vorstellung eines Paradieses auf Erden, in dem die Menschen ohne Gesetze und ohne schwere Arbeit in einem Zustand der Verbrüderung leben sollten, hatte der menschlichen Phantasie Tausende von Jahren hindurch vorgeschwebt. Und die Vision hatte sogar noch einen gewissen Einfluss auf die Gruppen ausgeübt, die in Wirklichkeit aus jeder geschichtlichen Veränderung Vorteil zogen. Die Erben der französischen, englischen und amerikanischen Revolution hatten teilweise an ihre eigenen Phrasen von Menschenrechten, freier Meinungsäusserung, Gleichheit vor dem Gesetz und dergleichen mehr geglaubt und hatten sogar ihr Verhalten bis zu einem gewissen Grade davon beeinflussen lassen. Aber mit dem vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wurden alle Hauptströmungen des politischen Denkens autoritär. Das Paradies auf Erden war in genau dem Augenblick in Misskredit geraten, in dem es der Verwirklichung naherückte. Jede neue politische Theorie führte, wie immer sie sich nannte, zu Klassenherrschaft und Reglementierung. Und bei der ungefähr um das Jahr 1930 einsetzenden Vergröberung der sittlichen Auffassung wurden Praktiken, die seit langem, in manchen Fällen seit Hunderten von Jahren, aufgegeben worden waren, – wie Verhaftung ohne Gerichtsbeschluss, die Verwendung von Kriegsgefangenen als Arbeitssklaven, öffentliche Hinrichtungen, Folterung zwecks Erpressung von Geständnissen, die Gefangennahme von Geiseln und die Deportation ganzer Bevölkerungsteile – nicht nur wieder allgemein üblich, sondern auch von Menschen geduldet und sogar gutgeheissen, die sich für aufgeklärt und fortschrittlich hielten. Erst nach einem ganzen Jahrzehnt nationaler Kriege, Revolutionen


und Gegenrevolutionen in allen Teilen der Welt traten Engsoz und seine Rivalen als sich voll auswirkende politische Doktrinen hervor. Doch waren sie von den verschiedenen, gewöhnlich als «totalitär» bezeichneten Systemen, die sich schon früher in diesem Jahrhundert gezeigt hatten, bereits angekündigt worden, und ebenso waren die grossen Umrisse der Welt, die aus dem herrschenden Chaos hervorgehen würden, seit langem offenkundig gewesen. Welche Art von Menschen in dieser neuen Welt die Macht ausüben würde, war ebenfalls deutlich geworden. Die neue Aristokratie setzte sich zum grössten Teil aus Bürokraten, Wissenschaftlern, Technikern, Gewerkschaftsfunktionären, Propagandafachleuten, Soziologen, Lehrern, Journalisten und Berufspolitikern zusammen. Diese Menschen, die aus der Angestelltenklasse und der gehobenen Arbeiterschaft stammten, waren durch die dürren Jahre der monopolistischen Industrie und der zentralistischen Regierung geformt und zusammengeführt worden. Mit früheren Generationen der beherrschenden Klasse verglichen, waren sie weniger besitzgierig, weniger luxusbedürftig, mehr auf blosse Macht versessen, und vor allem bewusster in ihrem Handeln und mehr darauf bedacht, ihre Opposition zu vernichten. Dieser letztere Unterschied war grundlegend. Im Vergleich mit der heutigen waren alle Tyranneien der Vergangenheit lau und wirkungslos. Die herrschenden Gruppen waren früher immer bis zu einem gewissen Grade von liberalen Ideen infiziert und damit zufrieden gewesen, überall ein Hintertürchen offen zu lassen – nur die sichtbaren Taten ins Auge zu fassen und sich nicht darum zu kümmern, was ihre Untertanen dachten. Sogar die katholische Kirche des Mittelalters war, an neuzeitlichen Massstäben gemessen, tolerant gewesen. Ein Grund dafür war, dass in der Vergangenheit keine Regierung die Macht besass, ihre Bürger unter dauernder Überwachung zu halten. Die Erfindung der Buchdruckerkunst machte es schon leichter, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, und Film und Radio förderten diesen Prozess weiter. Mit der Entwicklung des Fernsehens aber und dank des technischen Fortschritts, der es ermöglichte, mit Hilfe desselben Instruments gleichzeitig zu empfangen und zu senden, war das Privatleben zu Ende. Jeder Bürger oder doch jeder Bürger, der einer Überwachung für wert befunden wurde, konnte vierundzwanzig Stunden des Tages den Argusaugen der Polizei und dem Trommeln der amtlichen Propaganda ausgesetzt werden, während ihm alle anderen Mittel der Kommunikation verschlossen blieben. Zum ersten Mal bestand die Möglichkeit, allen Untertanen nicht nur vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Willen des Staates, sondern auch vollkommene Meinungsgleichheit aufzuzwingen. Nach der revolutionären Periode der fünfziger und sechziger Jahre unseres Jahrhunderts gruppierte sich die menschliche Gesellschaft wie immer wieder in eine Ober-, eine Mittel- und eine Unterschicht. Aber die neue Oberschicht handelte anders als ihre Vorläufer, nicht aus dem Instinkt heraus, sondern weil sie wusste, was nötig war, um ihre Stellung zu behaupten. Man war seit langem dahintergekommen, dass die einzig sichere Grundlage einer Oligarchie im Kollektivismus beruht. Wohlstand und Vorrechte werden am leichtesten verteidigt, wenn sie Gemeinbesitz sind. Die sogenannte «Abschaffung des Privateigentums», die um die


Mitte des Jahrhunderts vor sich ging, bedeutete praktisch die Konzentration des Besitzes in weit weniger Händen als zuvor; doch mit dem Unterschied, dass die neuen Besitzer eine Gruppe waren, statt einer Anzahl von Einzelmenschen. Als Einzelnem gehört keinem Parteimitglied etwas, ausser seiner unbedeutenden persönlichen Habe. Kollektiv gehört in Ozeanien der Partei alles, da sie alles beherrscht und über alle Erzeugnisse nach Gutdünken verfügt. In den auf die Revolution folgenden Jahren konnte sie nahezu widerstandslos diese beherrschende Stellung einnehmen, da das ganze Verfahren als Kollektivierung hingestellt wurde. Man hatte immer angenommen, dass auf die Enteignung der Kapitalistenklasse der Sozialismus folgen müsse; und fraglos waren die Kapitalisten enteignet worden. Fabriken, Bergwerke, Land, Häuser, Transportmittel – alles war ihnen weggenommen worden, und da diese Dinge nicht mehr Privateigentum waren, mussten sie mithin öffentlicher Besitz sein. Aber die Probleme, eine ewige hierarchische Gesellschaftsordnung einzusetzen, liegen tiefer. Es gibt nur vier Möglichkeiten, auf die eine herrschende Gruppe der Macht verlustig gehen kann. Entweder wird sie von aussen besiegt; oder sie regiert so ungeschickt, dass die Massen zum Aufstand aufgerüttelt werden; oder sie lässt eine starke und unzufriedene Mittelschicht aufkommen; oder sie verliert ihr Selbstvertrauen und das Interesse am Regieren. Diese Gründe wirken nicht vereinzelt, und in der Regel sind alle vier von ihnen in gewissem Umfang vorhanden. Eine herrschende Klasse, die sich gegen alle vier schützen könnte, würde dauernd an der Macht bleiben. Und letzten Endes ist der entscheidende Faktor die geistige Einstellung der herrschenden Klasse selbst. Nach der Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts war die erste Gefahr praktisch verschwunden. Jeder der drei Grossstaaten, die sich heute in die Welt teilen, ist faktisch unüberwindlich und könnte nur durch langsame Änderungen in der Zusammensetzung seiner Bevölkerung, die eine Regierung mit weitgehender Macht leicht verhindern kann, besiegbar gemacht werden. Die zweite Gefahr ist ebenfalls nur eine theoretische. Die Massen revoltieren niemals aus sich selbst heraus und lehnen sich nie allein aus dem Grunde auf, dass sie unterdrückt werden. Tatsächlich werden sie sich niemals, solange man ihnen keine Vergleichsmassstäbe zu haben erlaubt, auch nur bewusst, dass sie überhaupt unterdrückt werden. Die immer wiederkehrenden Wirtschaftskrisen vergangener Zeiten waren vollständig unnötig und werden jetzt einfach unterdrückt, dafür können aber andere und ebenso grundlegende Verschiebungen eintreten und treten auch ein, ohne dass sie politische Folgen haben, weil es einfach keinen Weg gibt, auf dem sich die Unzufriedenheit äussern könnte.


Georges Bizet

Briefe an die Mutter Rom, 20. März 1860 Sprechen wir nun ein bisschen von anderen Dingen. Hier hat gestern eine Protestkundgebung stattgefunden. Die italienischen Polizisten haben 50 Personen niedergesäbelt und verwundet. Zwei französische Offiziere in Zivil sind leicht verletzt worden. Der General de Goyon hat den Polizisten Recht gegeben und die Offiziere derb zurecht gewiesen, die trotz seines ausdrücklichen Verbotes in Zivil ausgegangen waren. Alle Offiziere sind wütend darüber. Victor Emanuel hat die Romagna und die Herzogtümer von Toskana, Parma und Modena in Besitz genommen. Das bedeutet einen Zuwachs von 11 oder 12 Millionen, also soviel wie Preussen. Die Erregung hat unglaubliche Formen angenommen. Neapel ist in Aufruhr. Man hat dort Angst vor Garibaldi. Wenn die Revolution in Neapel ausbricht und das Volk die Einverleibung Sardiniens verkündet, wird alles zu Ende sein oder erst recht anfangen. Es ist für einen Fürsten, der einen so kleinen Staat regierte, ein schöner Traum an der Spitze der ersten Macht zweiten Ranges, kurz: vor dem Königtum über Italien mit einer Einwohnerzahl von 26 Millionen zu stehen.


Gustave Le Bon

Psychologie der Massen Was ist eine Masse? Im gewöhnlichen Wortsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher Einzelner von beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlass der Vereinigung. Vom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck «Masse» etwas ganz anderes. Unter bestimmten Umständen, und nur unter diesen Umständen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der Einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele, die wohl veränderlich, aber von ganz bestimmter Art ist. Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen (loi de l'unité mentale des foules). Die Tatsache, dass viele Individuen sich zufällig zusammenfinden, verleiht ihnen noch nicht die Eigenschaften einer organisierten Masse. Tausend zufällig auf einem öffentlichen Platz, ohne einen bestimmten Zweck versammelte Einzelne bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne. Damit sie die besonderen Wesenszüge der Masse annehmen, bedarf es des Einflusses gewisser Reize, deren Wesensart wir zu bestimmen haben. Das Schwinden der bewussten Persönlichkeit und die Orientierung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung, die ersten Vorstösse der Masse auf dem Weg, sich zu organisieren, erfordern nicht immer die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Einzelner an einem einzigen Ort. Tausende von getrennten Einzelnen können im gegebenen Augenblick unter dem Einfluss gewisser heftiger Gemütsbewegungen, etwa eines grossen nationalen Ereignisses, die Kennzeichen einer psychologischen Masse annehmen. Irgendein Zufall, der sie vereinigt, genügt dann, dass ihre Handlungen sogleich die besondere Form der Massenhandlungen annehmen. In gewissen historischen Augenblicken kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachen, während hunderte zufällig vereinigte Menschen sie nicht bilden können. Andererseits kann bisweilen ein ganzes Volk ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Druck gewisser Einflüsse zur Masse werden.


Hat sich eine psychologische Masse gebildet, so erwirbt sie vorläufige, aber bestimmbare allgemeine Merkmale. Diesen allgemeinen Merkmalen gesellen sich besondere Kennzeichen veränderlicher Art hinzu, je nach den Elementen, aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch die ihre geistige Struktur zu verändern ist.

Gesetz von der seelischen Einheit der Massen Das Überraschendste an einer psychologischen Masse ist: welcher Art auch die Einzelnen sein mögen, die sie bilden, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigungen, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den blossen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganz andrer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde. Es gibt gewisse Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen verbundenen Einzelnen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht, die sich für einen Augenblick miteinander verbunden haben, genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden. In Widerspruch zu einer Anschauung, die sich befremdlicherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen wie Herbert Spencer findet, gibt es in dem Haufen, der eine Masse bildet, keineswegs eine Summe und einen Durchschnitt der Bestandteile, sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile, genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente, wie z. B. die Basen und Säuren, bei ihrem Zustandekommen zur Bildung eines neuen Körpers verbinden, dessen Eigenschaften von denen der Körper, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren, völlig verschieden sind.

Umwandlung der Gefühles des Einzelnen Das Auftreten besonderer Charaktereigentümlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt. Die erste dieser Ursachen besteht darin, dass der Einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht er-


langt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich allein notwendig gezügelt hätte. Er wird ihnen um so eher nachgeben, als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, das die Einzelnen stets zurückhält, völlig verschwindet. Eine zweite Ursache, die geistige Übertragung (contagion mentale), bewirkt gleichfalls das Erscheinen der besonderen Wesenszüge der Masse und zugleich ihre Richtung. Die Übertragung ist leicht festzustellen, aber noch nicht zu erklären; man muss sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen, mit denen wir uns sogleich beschäftigen werden. In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar, und zwar in so hohem Grade, dass der Einzelne sehr leicht seine persönlichen Wünsche den Gesamtwünschen opfert. Diese Fähigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus entgegengesetzt, und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu fähig. Noch eine dritte, und zwar die wichtigste Ursache, ruft in den zur Masse vereinigten Einzelnen besondere Eigenschaften hervor, welche denen der alleinstehenden Einzelnen völlig widersprechen: ich rede von der Beeinflussbarkeit (suggestibilité), von der die oben erwähnte geistige Übertragung übrigens nur eine Wirkung ist. Um diese Erscheinung zu verstehen, müssen wir uns gewisse neue Entdeckungen der Physiologie vergegenwärtigen. Wir wissen heute, dass ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann, der ihn seiner bewussten Persönlichkeit beraubt und ihn allen Einflüssen des Hypnotiseurs, der ihm sein Bewusstsein genommen hat, gehorchen und Handlungen begehen lässt, die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schärfstem Gegensatz stehen. Sorgfältige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen, dass ein Einzelner, der lange Zeit im Schosse einer wirkenden Masse eingebettet war, sich alsbald – durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen, oder sonst eine noch unbekannte Ursache – in einem besonderen Zustand befindet, der sich sehr der Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluss des Hypnotiseurs überkommt. Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist, wird er der Sklave seiner unbewussten Kräfte, die der Hypnotiseur nach seinem Belieben lenkt. Die bewusste Persönlichkeit ist völlig ausgelöscht, Wille und Unterscheidungsvermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind in die Sinne verlegt, die durch den Hypnotiseur beeinflusst werden. Ungefähr in diesem Zustand befindet sich der Einzelne als Glied einer Masse. Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewusst. Während bei ihm, wie beim Hypnotisierten, gewisse Fähigkeiten aufgehoben sind, können andere auf einen Zustand höchster Überspannung getrieben werden. Unter dem Einfluss einer Suggestion wird er sich mit unwiderstehlichem Ungestüm auf gewisse Taten werfen.


Und dies Ungestüm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten, weil die für alle Einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit wächst. Die Einzelnen in einer Masse, die eine hinreichend starke Persönlichkeit haben, um dem Einfluss zu widerstehen, sind in zu geringer Anzahl vorhanden, und der Strom reisst sie mit. Höchstens können sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen. Ein glücklicher Ausdruck, ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hat oft die Massen von den blutigsten Taten abgehalten. Die Hauptmerkmale des Einzelnen in der Masse sind also: Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewussten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflössten Ideen. Der Einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat. Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als Einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar. Er hat die Unberechenbarkeit, die Heftigkeit, die Wildheit, aber auch die Begeisterung und den Heldenmut ursprünglicher Wesen, denen er auch durch die Leichtigkeit ähnelt, mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verführen lässt, die seine augenscheinlichsten Interessen verletzen. In der Masse gleicht der Einzelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sandkörner, das der Wind nach Belieben emporwirbelt. Aus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus, die jeder Geschworene als Einzelner missbilligen würde, Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an, die jedes Mitglied einzeln ablehnen würde. Einzeln genommen waren die Männer des Konvents aufgeklärte Bürger mit friedlichen Gewohnheiten. Zur Masse vereinigt zauderten sie nicht, unter dem Einfluss einiger Führer die offenbar unschuldigsten Menschen aufs Schafott zu schicken, brachen unter Ausserachtlassung ihres eigenen Vorteils deren Unverletzlichkeit und verringerten ihre Schar. Nicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ich ab. Schon bevor es jede Unabhängigkeit einbüsste, haben sich seine Gedanken und Gefühle umgeformt, und zwar so, dass der Geizige zum Verschwender, der Zweifler zum Gläubigen, der Ehrenmann zum Verbrecher, der Hasenfuss zum Helden wird. Der Verzicht auf alle seine verbrieften Vorrechte, den der Adel in einem Augenblick der Begeisterung in der berühmten Nacht vom 4. August 1789 leistete, wäre sicherlich von seinen Mitgliedern als Einzelnen niemals angenommen worden.


Georges Bizet

Briefe an die Mutter Rom, 30. März 1860 Wir warten immer noch auf bedeutende Ereignisse. Ein sonderbares Gerücht ist hier im Umlauf. Der Herr General Lamoricière soll das Kommando über die päpstlichen Truppen übernehmen. Tatsache ist, dass Monseigneur de Mèrode, der Pius IX. mit Leib und Seele ergeben ist, ihn nach Ascona geleitet hat. Man erwartet sie morgen im Vatikan. Man erlebt eigenartige Dinge in unserer Zeit. Die Wahl der Italiener war prächtig. Mehrere französische Offiziere sind für einen Monat in die Engelsburg eingeliefert woden. Ein erbärmlicher Staat ist das, in dem man keine eigene Meinung haben darf. Die Haltung Englands gegenüber Neapel wird interessant. Es ist wahrhaftig verwunderlich zu sehen, wie gut Europa die Pille der Annexion von Savoyen geschluckt hat. Der Kaiser ist wirklich ein aussergewöhnlicher Mensch. Man hat gut reden, aber Frankreich verdankt ihm seine ganze kriegerische Machtstellung, und, bei Gott, das bedeutet etwas. Schreibe mir mal, wie man bei Euch darüber denkt, und lebe wohl für heute.


opernhaus z端rich


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