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am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben
In Paris verliebte er sich in die Tochter seines ehemaligen Klavierprofessors, Anna Zimmermann, die er 1852 heiratete. Etwa gleichzeitig übernahm er acht Jahre lang die Leitung der Pariser Chorvereinigung Orphéon, eine Position, die sein Wirken als Chorkomponist entscheidend beeinflusste. Seine zweite Oper La Nonne sanglante fand an der Pariser Opéra 1854 Anklang. Ein Jahr später folgten nicht nur die beiden klassizistisch geprägten Sinfonien, die Gounod im Auftrag des Orchesterleiters Jules Pasdeloup komponiert hatte, sondern auch die berühmte Cäcilienmesse, sein Hauptwerk im Bereich der geistlichen Vokalmusik.
Sodann begann er die Komposition seiner Oper Faust, deren Uraufführung schliesslich nach einigen Verzögerungen 1859 am Théâtre-Lyrique in Paris stattfand – im selben Jahr wie auch das berühmte Ave Maria, die Vokalfassung von
Gounods Méditation sur le 1er prélude de piano de J. S. Bach. Mit Faust erklomm Gounod in den 1860er Jahren den Gipfel seiner Karriere und wurde zu einem der prominentesten Komponisten seiner Zeit. Weitere Opernaufträge schlossen sich in rascher Folge an: Philémon et Baucis (1860), La Colombe (1860), La Reine de Saba (1862) und Mireille (1864).
Nah am Original von Shakespeare und auf die Schlüsselszenen reduziert
Im Herbst 1864 verständigte sich Gounod mit dem Direktor des Théâtre-Lyrique Léon Carvalho und den beiden Autoren Jules Barbier und Michel Carré darauf, eine Oper über den Stoff von Shakespeares Romeo and Juliet in Angriff zu nehmen. Die Öffentlichkeit wurde hiervon erstmals durch eine Meldung in der Revue et Gazette Musicale de Paris am 27. November 1864 in Kenntnis gesetzt. Demnach sollte das Werk ursprünglich nur vier Akte haben. Aus der Korrespondenz zwischen Gounod und Barbier sowie derjenigen mit seiner Ehefrau Anna sind wir detailliert über die Entstehung informiert. Dabei ging auch für die literarische Bearbeitung die Initiative vor allem von Gounod aus, der sehr genaue Vorstellungen hatte, wie das Werk dramaturgisch gestaltet werden sollte. Wichtig war es ihm, möglichst genau am Original Shakespeares zu bleiben und dieses auf einige Schlüsselszenen zu reduzieren, die sich besonders für eine musikdramatische Darstellung eigneten. Zunächst hatte er vor, zahlreiche Szenen im gesprochenen Dialog zu belassen, um den Gang der Handlung nicht durch weitschweifige Rezitative zu verzögern. Im Laufe der Komposition nahm er jedoch hiervon Abstand und entschied sich für eine durchkomponierte Werkgestalt. Dabei beugte er sich nicht zuletzt dem Druck seines Verlegers Choudens, der von vornherein nicht nur den französischen, sondern auch den internationalen Markt im Blick hatte.
Im Zentrum des Werkes stehen die vier Duette zwischen den beiden Titelfiguren, die nacheinander die wichtigsten Stationen der Handlung vergegenwärtigen: Zunächst ihre erste Begegnung («Ange adorable», Akt 1), sodann die Balkonszene («O nuit divine», Akt 2), die Liebesnacht («Nuit d’hyménée», Akt 4) und schliesslich die Sterbeszene («Dieu! quelle est cette voix», Akt 5). Tatsächlich liegt eine wesentliche Besonderheit dieser Oper darin, dass die dramaturgische Grundstruktur des Werkes aus dieser Folge von Duettsituationen gebildet wird. Lediglich im dritten Akt gibt es kein Duett: Hier folgen die Szene im Kloster und das dramatische Finale mit dem tödlichen Streit zwischen den verfeindeten Familien aufeinander. Verglichen mit den gross angelegten Duetten kommt den wenigen Solonummern eine vergleichsweise untergeordnete Bedeutung zu.
Für den Kompositionsprozess benötigte Gounod Abstand von der lärmenden Metropole Paris und auch von seiner Familie. Daher zog er sich zum Komponieren nach Saint-Raphaël an die Côte d’Azur zurück. Anfang April 1865 reiste er in Begleitung seines Dieners mit dem Zug von Paris nach Fréjus und liess sich von dort mit einer Kutsche nach Saint-Raphaël bringen, wo er für mehrere Monate eine Villa gemietet hatte. Am 5. April schrieb er an Anna, er «arbeite entweder zu Hause oder im Freien, am Meer oder im Schatten einer Kiefer». Vier Tage später wurde er etwas konkreter: «Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr die Ruhe dieses Daseins zum Nachdenken anregt und zum Vorwärtskommen beiträgt. Das nenne ich Arbeit, wie sie mir mitten in Paris unmöglich wäre. Dort hätte ich nicht die nötige Ruhe für meine Gedanken. Hier kann mich nichts abhalten, ich schreite immer weiter voran, ohne dass etwas dazwischenkommt.»
Dann zählte er auf, was ihm in diesen wenigen Tagen bereits gelungen war: «1. die gesamte Einleitung des ersten Aktes; 2. das Scherzo der Königin Mab;
3. das erste galante Duett zwischen Romeo und Julia bei ihrer ersten Begegnung auf dem Ball; 4. den Chor der Mönche, der den dritten Akt hinter der Bühne eröffnet; 5. die Kantilene des Ordensbruders Laurent.» Natürlich hatte er diese fünf Nummern noch nicht vollständig instrumentiert, sondern lediglich Melodie und Bass sowie hin und wieder Angaben zur Instrumentation in seinem Notizbuch festgehalten. Dennoch ist der Ertrag dieser wenigen Tage erstaunlich, denn damit hatte der Komponist bereits grosse Teile des ersten sowie den Beginn des dritten Aktes vollständig konzipiert.
Erstaunlich ist auch, dass er soweit voranschreiten konnte, obwohl das Textbuch zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht fertig vorlag. Vielmehr arbeiteten
Barbier und Carré parallel am Libretto und schickten Gounod den Text in einzelnen Tranchen per Post nach Saint-Raphaël. Oftmals ging es dem Komponisten nicht schnell genug, sodass er sein Autorengespann antreiben oder notfalls sogar selbst dichterisch tätig werden musste. Doch im Grossen und Ganzen verlief alles nach Plan: Nach rund drei Monaten war die Oper im Skizzenbuch vollständig erfasst, und am 10. Juni 1865 konnte Gounod unter sein Manuskript schreiben: «Fin de Roméo et Juliette». Mit diesem Skizzenbuch im Gepäck reiste er sodann nach Paris zurück.
Die Instrumentation und Reinschrift der gesamten Partitur erfolgte sodann in einem zweiten Arbeitsschritt, der wesentlich mehr Zeit in Anspruch nahm als der eigentliche Kompositions- bzw. Konzeptionsvorgang. Diese zweistufige Arbeitsweise ist typisch für die meisten Opernkomponisten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Anders als zuvor beispielsweise noch Mozart, Rossini oder Donizetti, die ihre Partituren ohne vorherige Skizzen in einem einzigen Arbeitsvorgang innerhalb weniger Wochen von vorne bis hinten niederschrieben und dabei einen zuerst entworfenen Gerüstsatz aus Melodie und Begleitung sukzessive durch weitere Stimmen ausfüllten, entwickelte sich die Instrumentierung zu einem der immer aufwändigeren Vorgang, der erst im Anschluss an die vollständige Skizzierung erfolgte.
Die pariserische Seite der Oper und ihr Erfolg während der Weltausstellung
In Paris kamen auch noch einige Nummern hinzu, die er in Südfrankreich noch nicht konzipiert hatte, darunter die glamouröse Auftrittsarie der Juliette («Je veux vivre»), die als schneller Walzer gestaltet ist und gewissermassen die «mondäne», pariserische Seite der Oper repräsentiert. Auch die Ouvertüre wurde, wie damals üblich, nachträglich hinzukomponiert. Sie basiert auf dem Modell der seit der Barockzeit bekannten Grundform der «französischen Ouvertüre», bestehend aus einer langsamen, feierlichen Einleitung und einem schnellen Fugato. Ungewöhnlich ist dabei, dass letzteres in einen A cappella-Chor mündet – der Text dieses «Prologs» ist fast wörtlich aus Shakespeare übernommen.
Mit diesen drei nachkomponierten Nummern (Walzerarie Juliettes, Ouvertüre und Prolog) war die Partitur am 11. September 1866 abgeschlossen.
Inzwischen liefen in Paris die Vorbereitungen für die Weltausstellung auf Hochtouren, die vom 1. April bis 3. November 1867 auf dem Champs de Mars stattfinden sollte. Die Premiere von Roméo et Juliette am 27. April 1867 fiel damit in den Zeitraum der Exposition Universelle und konnte mit grösstem Interesse einer internationalen Besucherschaft rechnen. Tatsächlich erwies sich Roméo et Juliette als die erfolgreichste Oper, die während der Weltausstellung in Paris uraufgeführt wurde. Anders als etwa Giuseppe Verdis nur wenige Wochen zuvor uraufgeführter Don Carlos, der nach relativ kurzer Zeit wieder abgesetzt wurde, konnte sich Gounods Oper während des gesamten Zeitraums der Weltausstellung behaupten und kam auf 89 Aufführungen allein im ersten Jahr.