3 minute read
Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop
Ein Blick auf die Pariser Theaterspielpläne für 27. April 1867 verdeutlicht das immense Angebot an Opernaufführungen zur damaligen Zeit. An sechs Theatern gleichzeitig wurden allein an diesem Abend Musiktheateraufführungen geboten. Die Opéra präsentierte anstelle von Don Carlos wieder Giacomo Meyerbeers L’Africaine, die Opéra-Comique hatte Mignon von Ambroise Thomas im Programm, und am Théâtre-Italien spielte man Columella von Valentino Fioravanti. Gleich zwei Bühnen rivalisierten mit Aufführungen von Werken Jacques Offenbachs: Am Palais Royal gab man La Vie Parisienne, und im Théâtre des Variétés war La Grande Duchesse de Gérolstein zu erleben. Und last but not least fand am Théâtre-Lyrique die Uraufführung von Roméo et Juliette statt. In der Presse war das Echo auf die Premiere überwältigend. Le Figaro schrieb bereits am nächsten Tag, Roméo et Juliette könne zweifellos «unter die bewundernswertesten Opern des Jahrhunderts gerechnet werden» und erhebe sich «weit über alle Werke, die in den letzten Jahren zu erleben waren». Und in Le Ménestrel war zu lesen, Gounods Oper habe die älteren Romeo-und-JuliaVertonungen von Nicola Vaccai und Vincenzo Bellini für alle Zeit in den Schatten gestellt. Allerdings wurden schon im Laufe der ersten Spielzeit zahlreiche Änderungen vorgenommen. Dem Tenor Pierre-Jules Michot, der die Rolle des Roméo übernommen hatte, war dessen Arie «Ah! lève toi, soleil» im 2. Akt auf die Dauer zu hoch, so dass sie von H-Dur nach B-Dur transponiert werden musste. Zudem wurden zahlreiche Kürzungen vorgenommen, infolge deren sich die Aufführungsdauer auf knapp zweieinhalb Stunden reduzierte. Wesentlich dramatischer als diese Eingriffe in die Werkgestalt war jedoch die finanzielle Situation des Théâtre-Lyrique: Bereits 1868 musste der Direktor Léon Carvalho Bankrott anmelden, und das Theater wurde geschlossen. Somit endete auch die Aufführungsgeschichte von Faust und Roméo et Juliette an diesem Theater abrupt.
Gounod wollte verständlicherweise nicht auf die Einnahmen seiner beiden Erfolgsstücke verzichten und schickte sich an, Faust und Roméo et Juliette anderen Pariser Theatern anzubieten. So wechselte Faust bereits ein Jahr später an die Grand Opéra und stieg dort innerhalb kurzer Zeit zum meistgespielten Werk auf. Roméo et Juliette hatte zunächst weniger Glück, denn kurz darauf zogen dunkle Wolken am Horizont auf. Während des Deutsch-Französischen Kriegs kam das Pariser Opernleben 1870/71 zeitweilig zum Erliegen. Im September 1870 emigrierte Gounod mit seiner Familie nach London, sein Privathaus in Saint-Cloud wurde beim Angriff auf Paris von preussischen Kanonen zerstört. Anzeichen von Depressionen, die sich schon in früheren Jahren manifestiert hatten, traten nun deutlicher hervor, und Gounod verbrachte die nächsten vier Jahre in London.
289mal an der Opéra-Comique und der Wechsel an die Grand Opéra
In Paris hatten sich die Verhältnisse nach dem Krieg und den anschliessenden politischen Unruhen allmählich wieder normalisiert, und auch der Opernbetrieb lief bald wieder auf Hochtouren. Nachdem Faust erfolgreich von der Opéra übernommen worden war, zeigte sich nun die Opéra-Comique an Roméo et Juliette interessiert. Da sich der Komponist jedoch weiterhin in London aufhielt, stand er für die Bearbeitung und Einstudierung des Werkes an dem neuen Theater nicht zur Verfügung. Daher beauftragte Gounod seinen Meisterschüler Georges Bizet, sich um die Einrichtung von Roméo et Juliette zu kümmern. Brieflich teilte er Bizet seine Änderungs- und Kürzungswünsche mit, darunter die Streichung der Arie des Klosterbruders und eines Chores im dritten Akt, eines weiteren Chores im vierten Akt sowie des Dialogs der beiden Mönche im fünften Akt. Durch diese Eingriffe reduzierte der Komponist die in der ursprünglichen Fassung stark hervortretende religiöse Dimension zu Gunsten einer strafferen Handlungsführung. Historisch bedeutsam wurde die Premiere von Roméo et Juliette an der Opéra-Comique am 20. Januar 1873 auch deshalb, weil es sich um die erste Aufführung einer durchkomponierten Oper ohne gesprochene Dialoge an diesem Theater handelte. Roméo et Juliette wurde in den Jahren 1873 bis 1887 insgesamt 289mal an der Opéra-Comique gespielt. Doch am 25. Mai 1887 ereignete sich eine Katastrophe: Während einer Vorstellung der Oper Mignon geriet das Theater in Brand, und mehr als 400 Zuschauer kamen ums Leben.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, dass auch Roméo et Juliette an die Grand Opéra wechselte. Hierfür waren allerdings Anpassungen an die Gepflogenheiten der französischen grossen Oper erforderlich, zu denen vor allem die Präsenz von Balletteinlagen und grossen Chornummern zählte. Gounod, der seit 1874 wieder in Paris lebte und allgemein als der führende französische Komponist galt, komponierte nun also eine Ballettmusik für den vierten Akt hinzu. Ausserdem nahm er weitere Veränderungen in der Partitur vor, die nun ihre dritte und endgültige Fassung erhielt. Eine wesentliche Erweiterung erfuhr dabei das Finale des dritten Aktes. Gänzlich neu eingeführt wurde die Rolle des Herzogs von Verona, der nun das Urteil verkündet und Roméo in die Verbannung schickt. Ebenfalls eine Ergänzung der Fassung von 1888 ist das Arioso Roméos («Ah! jour de deuil») mit dem hieran anknüpfenden monumentalen Schlusschor am Ende des dritten Aktes.
In dieser endgültigen Version wurde Roméo et Juliette von 1888 bis heute allein an der Pariser Oper insgesamt mehr als 650mal gespielt. Diese Fassung letzter Hand liegt auch der Zürcher Produktion zu Grunde, die allerdings auf das Ballett verzichtet und zudem kleinere Kürzungen vornimmt.