Der Rosenkavalier

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DER ROSENKAVALIER

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DER ROSENKAVALIER RICHARD STRAUSS (1864–1949)


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Spielzeit 2003/04

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UNGESCHRIEBENES NACHWORT ZUM «ROSENKAVALIER» Hugo von Hofmannsthal

Ein Werk ist ein Ganzes und auch zweier Menschen Werk kann ein Ganzes werden. Vieles ist den Gleichzeitig-Lebenden gemeinsam, auch vom Eigensten. Fäden laufen hin und wider, verwandte Elemente laufen zusammen. Wer sondert, wird unrecht tun. Wer eines heraushebt, vergisst, dass unbemerkt immer das Ganze mitklingt. Die Musik soll nicht vom Text gerissen werden, das Wort nicht vom belebten Bild. Für die Bühne ist dies gemacht, nicht für das Buch oder für den einzelnen an seinem Klavier. Es könnte scheinen, als wäre hier mit Fleiss und Mühe das Bild einer vergangenen Zeit gemalt, doch ist dies nur Täuschung und hält nicht länger dran als auf den ersten flüchtigen Blick. Die Sprache ist in keinem Buch zu finden, sie liegt aber noch in der Luft, denn es ist mehr von der Vergangenheit in der Gegenwart, als man ahnt, und weder die Faninal noch die Rofrano noch die Lerchenau sind ausgestorben, nur ihre drei Livreen gehen heute nicht mehr in so prächtigen Farben. Der Mensch ist unendlich, die Puppe ist eng begrenzt; zwischen Menschen fliesst vieles herüber, hinüber, Puppen stehen scharf und reinlich gegeneinander. Die dramatische Figur ist immer zwischen beiden. Die Marschallin ist nicht für sich da, und nicht der Ochs. Sie stehen gegeneinander und gehören doch zueinander, der Knabe Octavian ist dazwischen und verbindet sie. Sophie steht gegen die Marschallin, das Mädchen gegen die Frau, und wieder tritt Octavian dazwischen und trennt sie und hält sie zusammen. Sophie ist recht innerlich bürgerlich, wie ihr Vater, und so steht diese Gruppe gegen die Vornehmen, Grossen, die sich vieles erlauben dürfen. Der Ochs, sei er wie er sei, ist immerhin noch eine Art von Edelmann; der Faninal und er bilden das Komplement

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zueinander, einer braucht den andern, nicht nur auf dieser Welt, sondern sozusagen auch im metaphysischen Sinn. Octavian zieht Sophie zu sich herüber – aber zieht er sie wirklich zu sich und auf immer? Das bleibt vielleicht im Zweifel. So stehen Gruppen gegen Gruppen, die Verbundenen sind getrennt, die Getrennten verbunden. Sie gehören alle zueinander, und was das Beste ist, liegt zwischen ihnen: es ist augenblicklich und ewig, und hier ist Raum für Musik. 1911

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HANDLUNG I. Aufzug Die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg hat die Nacht mit ihrem jungen Gelieb­ ten, dem Grafen Octavian Rofrano, verbracht. Noch ganz überwältigt von seinem heimlichen Glück, will Octavian den anbrechenden Tag aussperren, der die ver­ heiratete Fürstin mit ihren Alltagspflichten in Beschlag nehmen wird. Vor der Tür werden Geräusche laut und die Marschallin fordert Octavian hastig auf, sich zu verstecken. Es ist jedoch nur Mohammed, der kleine Mohrenknabe, der ein Tablett mit dem Frühstück für die Marschallin bringt. Während des Frühstücks schwärmt Octavian von seinem Glück: er darf hier bei der Geliebten sein, während der Feldmarschall weit weg auf der Jagd ist. Doch die Marschallin bittet ihn, ihren Mann aus dem Spiel zu lassen, hat sie doch gerade diese Nacht von ihm ge­träumt. Die Angst vor einer plötzlichen Rückkehr erschreckt sie. Erneut dringt aus dem Vorzimmer Lärm herein und Octavian ist wiederum ge­zwungen, sich zu verstecken. Dann jedoch bemerkt die Marschallin zu ihrer Erleichterung, dass die Stimme dessen, der Einlass in ihre Gemächer begehrt, nicht die Stimme ihres Mannes ist. Als sie Octavian auffordert, aus seinem Versteck hervorzukommen, entdeckt sie, dass dieser sich inzwischen als Kammerzofe verkleidet hat, um auf diese Weise unauffällig aus dem Zimmer entwischen zu können. In diesem Augen­ ­blick durchbricht der Besucher die Reihen der Lakaien und platzt in das Zimmer herein: es ist ihr Vetter vom Land, der Baron Ochs auf Lerchenau. Ihm fällt sofort der verkleidete Octavian auf, den ihm die Marschallin als ihre Kammer­zofe Ma­ rian­del vorstellt. Der Baron ist von dem hübschen jungen Mädchen sehr angetan und vereitelt ein ums andere Mal, dass Octavian endlich den Raum ver­lassen kann. Baron Ochs, ein passionierter Schürzenjäger, erzählt der Marschallin von seiner geplanten Heirat mit der Tochter eines reichen Neuadeligen, Sophie von Faninal. Den finanziellen Vorteil, den ihm diese Quasi-Mésalliance mit einer «Bagatelladeligen» einbringt, sieht er durch seinen eigenen alten Adel mehr als reichlich aufgewogen. Er bittet die Marschallin darum, für ihn einen adeligen jun­gen Mann zu finden, der dem Brauch genüge tun und als Rosenkavalier seiner

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Zukünftigen die silberne Rose als Zeichen seiner Liebe überbringen könne. Die Marschallin erlaubt sich das Vergnügen, ihrem Vetter zu diesem Zweck den Grafen Octavian vorzuschlagen. Sie zeigt ihm sein Bild, worauf Ochs eine frappante Ähnlichkeit mit der Kammerzofe entdeckt. Er geht davon aus, dass das hübsche Mädchen eine uneheliche Schwester des Grafen ist, da auch er in seinem Gefolge ein «Kind seiner Laune» als Kammer­diener mitführt und fühlt sich ge­ ehrt, dass ein junger Mann aus so gutem Hause sein Rosenkavalier sein wird. Das morgendliche Lever der Marschallin unterbricht die Unterhaltung, sodass sich Octavian endlich zurückziehen kann. Ausser dem «üblichen Bagagi», bestehend aus einer adeligen Witwe mit ihren drei Töchtern, der Modistin, den beiden Intriganten Annina und Valzacchi, dem Tierhändler, dem Friseur und dem Notar, ist der Marschallin heute auch ein Sänger samt einem Flötisten zum Geschenk dargebracht worden. Der Gesang wird allerdings von Ochs gestört, der mit dem Notar lautstark über die juristischen Möglichkeiten in seinem Ehe­ vertrag streitet. Valzacchi und Annina bieten dem Baron ihre Dienste an und dieser beauftragt sie, die hübsche Kammerzofe für ihn ausfindig zu machen. Unterdessen hat sein Kammerdiener Leopold das Etui mit der silbernen Rose gebracht. Die Marschallin verspricht dem Baron, Oc­ta­vian als Aufführer für seinen ersten Bräutigamsbesuch bei Sophie von Faninal aufzubieten. Nach dem Lever bleibt die Marschallin allein zurück. Die Heiratspläne des Baron Ochs mit der kaum fünfzehnjährigen Sophie erinnern sie an ihre eigene Vergangenheit; auch sie hat man sehr jung verheiratet. Das Vorgefühl des Alterns und der Vergäng­lichkeit bedrückt sie. Auch der zurückkehrende Octavian, nun wieder in Männerkleidern, kann ihre Melancholie nicht vertreiben. Im Gegenteil: die Marschallin fühlt sich nur umso stärker daran erinnert, dass ihre Liebe zu diesem jungen Mann nicht ewig dauern kann, da sie ihn früher oder später an eine Jüngere verlieren wird. Diesem Gedanken steht Octavian jedoch ver­ ständ­nislos gegenüber und er zweifelt an ihrer Liebe. Am Ende muss sie ihn trösten. In ihrem Kummer wünscht die Marschal­lin allein zu bleiben und schickt Octavian weg. Kaum hat er den Raum verlassen, be­dauert sie zutiefst, dass sie ihn ohne einen Kuss hat gehen lassen. Die Lakaien, die sie ihm nachschickt, können ihn nicht mehr einholen; so übergibt sie ihrem Moh­ren­­knaben die vergessene Schatulle mit der silbernen Rose, damit er diese zu Octavian bringen kann.

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II. Aufzug Im Hause Faninals wird der Rosenkavalier mit Aufregung erwartet. Herr von Faninal ist stolz über die Ehre, die ihm durch die Heirat seiner Tochter mit einem Adeligen widerfährt. Aus Gründen der Schicklichkeit muss Faninal als Vater der Braut jedoch das Haus verlassen haben, ehe der Rosenkavalier vorfährt. Sophie, die im Kloster erzogen wurde, versucht einem solch grossen Augenblick mit De­mut zu begegnen, ihre kindliche Freude über die bevorstehende Heirat und ihren neuen gesellschaftlichen Stand sind jedoch stärker. Octavian erscheint präch­tig gekleidet und überreicht Sophie die silberne Rose. Er ist von ihrem An­blick hingerissen und auch sie ist von diesem Augenblick wie verzaubert. Wie aus einer anderen Welt zurückkehrend beginnen sie schliesslich eine anfangs noch etwas verlegene Unterhaltung. Sophie erzählt, dass sie ihn aus dem Ehrenspiegel Österreichs, in dem alle Stammbäume verzeichnet sind, kennt, und dass sie seine Vornamen weiss. Sie nennt sogar den Namen, den nur ihm nahestehen­de Personen kennen: Quinquin. Ihr trauli­ches Gespräch wird von Faninal unterbrochen, der den Baron Ochs hereinführt. Dessen ungezwungene Direktheit und aufdringliche Vertraulichkeit stossen Sophie ab; auch Octavian ist über sein Verhalten empört, während sich Faninal vor Glück kaum zu fassen weiss. Er führt Ochs in ein Nebenzimmer, um mit ihm die Einzelheiten des Ehevertrages zu besprechen. Vor dem Hinausgehen stellt Ochs fest, dass seine Braut noch ein rechter «Rühr-mich-nicht-an» ist und fordert Octavian auf, ihr doch ein wenig «schöne Augen» zu machen, da es ihm, dem Bräutigam, nur zugute käme. Empört über diesen Verstoss gegen die Sittlichkeit wendet sich Octavian der verzweifelten Sophie zu und fragt sie, ob sie diesen Wüstling heiraten wolle. Sophie verneint heftig und Octavian verspricht ihr seine Hilfe, wenn sie jetzt stark genug wäre, für sie beide einzustehen. Sophie küsst ihm vor Dankbarkeit und Glück die Hand und Octavian nimmt sie in seine Arme. Die beiden Intriganten Valzacchi und Annina haben die Szene jedoch beobachtet und rufen, während sie die beiden jungen Leute festhalten, den Baron herbei. Ochs zeigt sich zwar empört, amüsiert sich aber eher über Octavian, der ja wie er augenscheinlich keine Gelegenheit auslässt. Die Beteuerungen Sophies,

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dass sie Ochs nicht heiraten will, nimmt er jedoch überhaupt nicht ernst. Das erbost Octavian so sehr, dass er handgreiflich wird und den Baron verletzt. Auf dessen Wehge­schrei läuft das ganze Haus zusammen. Faninal ist äusserst entsetzt darüber, dass dem vornehmen Bräutigam in seinem Hause etwas derartiges geschehen konnte und will seine Tochter nicht anhören. Eher sperrt er sie lebens­ lang ins Kloster, als dass er sich von ihr seine schönen Plänen durchkreuzen lässt. Octavian kann Sophie gerade noch sagen, dass sie von ihm hören wird, dann wird er auch schon des Hauses verwiesen. Die Verletzung hat sich indessen als nicht besonders ernst erwiesen und ein Glas Wein hilft dem Baron über den Schrecken hinweg. Ein bisschen muss er sogar schmunzeln, da ihn Octavian an seine eigene Jugend erinnert. Sein Zorn ver­fliegt vollends, als ihm Annina einen Brief Mariandels überbringt, dass ihn zu einem Stelldichein bittet.

III. Aufzug Octavian hat mit Valzacchi und Annina einen derben Streich für den Baron Ochs vorbereitet und lässt sich nun, verkleidet als Mariandel, von ihm zum Souper führen. Der Baron ist entzückt von der Naivität des jungen Mädchens, allerdings erinnert ihr Gesicht ihn immer wieder an den schmerzhaften Zwischenfall mit Octavian. Octavian spielt ihm indessen das unschuldige Mädchen vor, was den Baron von der Ähnlichkeit ablenkt. Kaum hat er sich beruhigt, wird er von plötzlich auftauchenden Gestalten erschreckt. Mariandel beteuert jedoch, nichts gesehen zu haben. Er versucht sich zu beruhigen, wird aber von Annina gänzlich durcheinander gebracht, die als trauernde Witwe umringt von kleinen Kindern auftritt und vorgibt ihn als ihren Gatten zu erkennen. Nun verliert Ochs die Nerven. Inmitten der «Papa!» rufenden Kinder und eines Haufens herbeigelaufenen Volkes weiss er sich nicht mehr anders zu helfen und ruft die Polizei. Der Kommissar erscheint, vernimmt allerdings den Baron wegen des jungen Mädchens an seiner Seite. Ochs flüchtet sich in die Ausrede, dass es sich um seine Zukünftige handele. In diesem Moment erscheint der von Octavian herbeigerufene Faninal, sieht den zukünftigen Schwiegersohn von einem jungen Mädchen und einer Ehefrau samt Kindern umringt und muss sich das

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Mariandel auch noch als seine Tochter vorstellen lassen. Er schickt nach Sophie, die Octavian in seiner Verkleidung erkennt, sich aber um ihren Vater kümmern muss, der einen Schwächeanfall erlitten hat. Ochs will das Weite suchen, wird aber vom Kommissar zurückgehalten, dem Mariandel etwas zuflüstert und sich dann mit ihm zurückzieht. In diesem Moment erscheint die Marschallin. Rasch durchschaut sie die Situation und gibt dem Baron zu verstehen, dass man ein Spiel mit ihm getrieben hat. Octavian, der sich unterdessen der Frauenkleider entledigt hat, ist erschrocken über das Erscheinen der Marschallin, das in seinem Plan erst später vorgesehen war, und auch Sophie ist bestürzt, da sie erkennt, dass zwischen Octavian und Marschallin mehr ist als blosse Bekanntschaft. Baron Ochs begreift erst langsam die Ausmasse des Ganzen, will aber weiterhin an seinem Heiratsplan festhalten, bis die Marschallin ihm deutlich zu verstehen gibt, dass es an der Zeit ist, sich mit Anstand zurückzuziehen und die Farce ein Ende habe. Unter dem Spott der an der «Wiener Maskerad’» Beteiligten macht sich der Baron aus dem Staub. Octavian steht verwirrt zwischen der mühsam beherrschten Marschallin und Sophie, die nun auch nicht mehr an ihrem Traum von einer gemeinsamen Zukunft mit Octa­vian festhalten will. So muss schliesslich die Marschallin selbst ihren Geliebten dahin schicken, wo sein Herz ihn hinzieht. Mit ihrem Verzicht gibt sie der jungen Liebe eine Chance.

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Vesselina Kasarova Spielzeit 2003/04

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Rudolf Schasching, Alfred Muff, Liuba Chuchrova, Brigitte Pinter Spielzeit 2003/04

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DAS GLEICHZEITIGE IM UNGLEICHZEITIGEN Das Leitungsteam im Gespräch

Kurz nach der Elektra-Première hatte Richard Strauss verlauten lassen, dass er als nächstes eine Mozart-Oper zu schreiben gedenke und am 11. Februar 1909, nicht ganz einen Monat nach der Uraufführung von Elektra, schrieb ihm Hugo von Hofmannsthal: «Ich habe hier in drei ruhigen Nachmittagen ein komplettes, ganz frisches Szenar einer Spieloper gemacht, mit drastischer Komik in den Gestalten und Situationen, bunter und fast pantomimisch durchsichtiger Handlung, Gelegenheit für Lyrik, Scherz, Humor [...]. Zwei grosse Rollen für einen Bariton und ein als Mann verkleidetes graziöses Mädchen à la Farrar oder Mary Garden. Zeit: Wien unter Maria Theresia.» Strauss begeisterte sich für das Sujet und in kürzester Zeit entwarf Hofmannsthal zusammen mit Harry Graf Kessler ein detailliertes Szenarium, das sich an ältere theatralische Formen (Wiener Volkstheater, Opera buffa) anlehnte und auf ganz unterschiedlichen literarischen Vorlagen basierte. Das Libretto des Rosenkavalier, einer «Komödie für Musik» wurde dreiaktig, mit vier von Alter, Stand und Charakter recht verschiedenen Hauptfiguren angelegt: Da ist zunächst die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg, eine kluge, vornehme und weltgewandte Frau Anfang Dreissig; dann ihr etwas älterer Vetter vom Land, der Baron Ochs auf Lerchenau, ein recht von sich eingenommener, lebenslustiger Mann; hinter der Titelfigur verbirgt sich der 17jährige Graf Octavian Rofrano, verwandt mit der Feldmarschallin und ihr Geliebter; und schliesslich ist da die noch nicht einmal 15jährige Sophie von Faninal, Tochter eines reichen Neugeadelten, die Baron Ochs zu seiner Zukünftigen auserkoren hat. Dass dieser das junge Mädchen und die damit verbundene und ihn vor allem interessierende Mitgift doch nicht bekommt, da ihm der junge Graf sämtliche Pläne in letzter Minute durchkreuzt, steht ganz in der Komödientradition. Aber dass

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dieser Graf Octavian durch seine plötzlich aufflammende Liebe zu Sophie seine Liebe zur Marschallin vergisst, so dass am Schluss neben dem düpierten Brautwerber und dem glücklichen jungen Paar eine verzichtende Frau steht, gibt dem Libretto eine für Komödien untypische Fallhöhe. Anregungen für den Stoff fand Hofmannsthal in seinem 1908 verfassten Casanova-Schauspiel Christinas Heimreise, vor allem aber bei Molière und Mozart. Handlungsschema und Exposition des ersten Aktes, sowie die Figur des heiratslustigen Landedelmannes sind Molières Schauspiel Monsieur de Pourceaugnac (1669) entnommen. Der Text des italienischen Sängers während des Levers im ersten Akt entstammt fast wortwörtlich dem Ballet des nations aus Le Bourgeois gentilhomme und die Figur des Faninal ist ebenfalls einem Schauspiel Molières entlehnt (Le Médecin malgré lui, 1666). Die Figur des Octavian ist da­ gegen dem Cherubino aus Mozarts Le nozze di Figaro (1786) nachempfunden. Darüber hinaus liess Hofmannsthal sich von William Hogarths Bilder­ zyklus Mariage à-la-mode (1745) inspirieren und fand mit der Atmosphäre poetischer und historischer Realität einer Stadt und Epoche in Richard Wagners Oper «Die Meistersinger von Nürnberg» Anregung, die ausserdem mit der Ent­sagung des Sachs zugunsten des jungen Paares Eva Pogner und Walter Stolzing an den Verzicht der Marschallin erinnert. Strauss ist begeistert, als er die ersten Szenen zu lesen bekommt, macht sich sogleich an die Arbeit und schreibt am 21. April 1909 an Hofmannsthal: «Wird sich komponieren wie Öl und Butterschmalz. Ich brüte schon. Sie sind da Ponte und Scribe in einer Person.» Eineinhalb Jahre nach dem ersten Textentwurf lag die fertige Partitur vor. Die Uraufführung fand am 26. Januar 1911 am Königlichen Opernhaus in Dresden unter der musikalischen Leitung von Ernst von Schuch statt, der auch die drei vorangegangenen Straussopern zur Uraufführung gebracht hatte. Da das Libretto dem Intendanten Graf Seebach an einigen Stellen zu gewagt schien, wurden erotische Anspielungen im Klavierauszug umformuliert. Für die kurz darauf in Berlin folgende Aufführung nahm der dortige Intendant Georg von Hülsen eine weitere Verstümmelung des Librettos vor, indem er alle ihm unmoralisch vorkommenden Textstellen umdichtete. Diese Fassung wurde erst 1924 wieder revidiert. Trotz dieser Entschärfung erntete Hofmannsthal Kritik ob der Obszönität des Librettos und

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Strauss warf man vor, sich nach seinen ersten Erfolgen Salome und Elektra nun wieder gänzlich von der Avantgarde abgewandt zu haben. Dennoch war die Uraufführung mit so grossem Erfolg verbunden, dass Sonderzüge (sogenannte «Rosenkavalier-Züge») aus Berlin nach Dresden eingesetzt wurden, und bis heute ist Der Rosenkavalier eine der bedeutendsten musikalischen Komödien geblieben. Gemeinsam mit dem Bühnen- und Kostümbildner Alfred Roller legten Hofmannsthal und Strauss für die Uraufführung genaue Regie- und Szenenanweisungen fest. Das führte auf der einen Seite dazu, dass Roller aus dem Geist des Werkes heraus eine vorbildhafte Ausstattung schuf, die Massstäbe für alle weiteren Inszenierungen setzte. Auf der anderen Seite wollte Hofmannsthal diese kompromisslose stilistische Einheit dieser für ihn idealen Inszenierung auch bewusst als Massstab für jede weitere Aufführung wissen, sodass der Verleger Fürstner auf sein Betreiben hin eine Mappe mit detaillierten Regieanweisungen und sämtlichen Figurinen und Bühnenbildentwürfen herausgab. Jeder, der das Notenmaterial haben wollte, bekam die Regiemappe dazu, ob er wollte oder nicht. Auf diese Weise hielten sich nachfolgende Regisseure und Ausstatter mehr oder weniger an diese Vorgaben, wodurch der Rosenkavalier zu einer Oper wurde, die nicht durch unkonventionelle Regiekonzepte, sondern hauptsächlich durch unterschiedliche Sängerpersönlichkeiten und musikalische Interpretationen Aufsehen erregte. Auch das Inszenierungsteam mit Sven-Eric Bechtolf (Regie), Rolf Glittenberg (Bühnenbild) und Marianne Glittenberg (Kostüme) arbeitet eng zusammen, um die stilistische Einheit aus Sprache und Musik mit Regie, Bühne und Kostümen, die Hofmannsthal und Strauss vorschwebte, zu erreichen. Der Blick auf die Ausstattung der Uraufführung ist dabei durchaus wichtig, wird jedoch nicht mehr als Verpflichtung angesehen. Wurden Bühnenbild und Kostüme in der Geschichte der Inszenierungen seit der Uraufführung immer prunkvoller, so achten Rolf und Marianne Glittenberg auf einen unsentimentalen, schnörkellosen, dabei jedoch auch melancholischen wie humorvollen Blick auf die Epoche und ihre Atmosphäre. Wichtig ist Rolf Glittenberg die Intimität der Räume, die sich bei genauer Betrachtung auch in Rollers Bühnenbild findet. Das Rokoko als von Hofmannsthal vorgegebene Handlungszeit spiegelt sich

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sowohl in den Räumen wie den Kostümen, Authentizität ist in vielen Details, etwa der Farbgebung der Räumlichkeiten Faninals im zweiten Akt gewahrt, zugleich aber nehmen sich Rolf und Marianne Glittenberg dieselben Freiheiten wie Hofmannsthal, der später bekannte: «Es könnte scheinen, als wäre hier mit Fleiss und Mühe das Bild einer vergangenen Zeit gemalt, doch ist dies nur Täuschung und hält nicht länger dran als auf den ersten flüchtigen Blick… Es ist mehr von der Vergangenheit in der Gegenwart, als man ahnt.» Hofmannsthal geht es einmal mehr darum, das «Gleichzeitige im Ungleichzeitigen» spürbar werden zu lassen, und so ist in einer Art Überblendung der Zeiten das Wien der Wende zum 20. Jahrhundert in den Rosenkavalier eingeflossen, fin de siècle-Stimmung, décadence, ein Lebensgefühl, das mit einem Höchstmass an Künstlichkeit die Realität wegzublenden suchte. Ein wichtiges Stichwort für Rolf Glittenberg, der den Lebensraum der Marschallin als eine künstliche Welt gestaltet, ästhetisch besonders schön, aber erstarrt. Ein weiteres Stichwort für den Bühnenraum wie auch für die Kostüme ist die beide Epochen gleichermassen bestimmende Vorliebe fürs Exotische. Nicht nur von chinesischen Wandschirmen ist im Rosenkavalier die Rede, auch einen kleinen Neger hat die Marschallin zur Gesellschaft. Sven-Eric Bechtolf sucht seinen Ansatz in den von Hofmannsthal und Strauss detailliert ausgearbeiteten Charakteren. Vor allem die Lebendigkeit dieser Theaterfiguren, die man durch ihre Menschlichkeit und Verletzlichkeit ins Herz schliessen muss, fasziniert ihn. Der Gefahr, sie in Rokokoposen erstarren zu lassen, waren sich schon die Autoren bewusst. In seinen Erinnerungen an die Proben zur Uraufführung schreibt Strauss: «Als ich in Dresden die erste Bühnenprobe mit Orchester hörte, war mir schon im zweiten Akt klar, dass der dortige brave Regisseur alten Schlages vollkommen unfähig sei, das Stück zu inszenieren. An ein gütiges Anerbieten Max Reinhardts mich erinnernd, machte ich dem Generalintendanten Graf Seebach den Vorschlag, Reinhardt bitten zu dürfen, er möge kommen und helfen. Seebach gestand dies widerstrebend zu, unter der Bedingung, dass Reinhardt nicht die Bühne betrete! Wir fanden uns alle auf der Probebühne zusammen, Reinhardt als bescheidener Zuschauer, während ich in meiner Unbeholfenheit den Sängern, so gut ich konnte, ihre Rollen vormimte. Nach einer Weile sah man Reinhardt mit Frau von der Osten

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in einer Saalecke stehen und flüstern, bald dasselbe Bild mit Frl. Siems, Perron etc. Am nächsten Tag kamen sie alle verwandelt als fertige Schauspieler auf die Probe! Darauf gestattete Seebach huldvoll, dass Reinhardt auch auf der Bühne Regie führte. Das Resultat auf der Bühne war ein neuer Stil in der Oper.» Grösste Sorgfalt verwendet Sven-Eric Bechtolf darauf, in dem komplexen Gefüge der Ensembleszenen jederzeit die psychologischen Vorgänge szenisch ebenso nachzuvollziehen, wie sie von Strauss und Hofmannsthal ihren Figuren zugedacht wurden, denn er möchte diesen Glücksfall einer in gewisser Weise einmaligen Zusammenarbeit zwischen Librettist und Komponist nutzen, die so lebensatmende Figuren hervorgebacht hat. Dabei soll die Komödie ebenso sehr zu ihrem Recht kommen wie der Gefühlsstärke der Musik Rechnung getragen werden muss. «Vielleicht etwas genauer» möchte er die Geschichte erzählen, in deren erstem Akt schon das Los der Marschallin besiegelt ist. Schon hier fasst sie den Beschluss, ihren jungen Geliebten nicht mit Gewalt halten zu wollen, wenn es einmal dazu kommen sollte, dass er sich in eine Jüngere verliebt. Ihre tiefe Melancholie und das deutlich gespürte Vergehen der Zeit (und damit ihrer Jugend) durchziehen das ganze Stück und umwehen auch das Ende, an dem diese Trennung so viel schneller gekommen ist, als sie hoffte. Ebenso wie für Rolf Glittenberg, der den Rosenkavalier in einer Linie mit Mozarts Le nozze di Figaro und Tschechows Der Kirschgarten sieht, d. h. Werke, die den Untergang einer Epoche unwiederbringlich zeichnen, treibt für Sven-Eric Bechtolf die Marschallin von Beginn an dem Ende zu. Atmosphärisch spiegelt sich das in der vom Inszenierungsteam gewählten Jahreszeit: dem Winter. Für den letzten Akt erlaubt sich das Regieteam in der Ortswahl eine Abweichung, um einerseits das Rendezvous zwischen Ochs und dem vermeintlichen «Mariandel» als ein von Octavian inszeniertes Spiel deutlicher zu machen, andererseits diesen Akt näher an die Person der Marschallin heranzurücken – ein letzter Abschied, den ein Hauch von Sommernachtstraum durchweht.

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Rolf Haunstein, Alfred Muff Spielzeit 2003/04

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DEM «ROSENKAVALIER» ZUM GELEIT Hugo von Hofmannsthal

Nichts ist schwieriger, als sich das Existierende als nicht existierend vorzustellen. Diese Figuren haben sich längst von ihrem Dichter abgelöst; die Marschallin, Ochs, Octa­vian, der reiche Faninal und seine Tochter, das ganze Gewebe des Lebens zwischen ihnen, es ist, als wäre dies alles längst so dagewesen, es gehört heute nicht mehr mir, nicht mehr auch dem Komponisten, es gehört jener schwebenden, sonderbar erleuchteten Welt; dem Theater, in der es nun schon eine Weile, und vielleicht noch für eine Weile, sich lebend erhält. Ich blättere in der Sammlung der Briefe, die zwischen Strauss und mir in jenen Jahren gewechselt wurden. Manches freilich ist für den, der sie schrieb und empfing, noch heute von der Atmosphäre gelebten Lebens umwittert; ein Hauch steigt daraus empor von jenem eigentlichen Lebenselement der Produktion, jenem Versuchhaften, innerlich Geglaubten, das dann sogleich wie es nach aussen tritt, vom Zweifel behauptet wird. Die Erinnerung an den Widerstand der Welt steigt empor, mit dem sie jedes aus der Imagination hervorgehende Lebendige, sei es noch so heiterer Art, empfängt und kräftigt, indem sie es abzulehnen und zu erledigen meint. Fast sonderbar ist es heute, zu denken, dass Brief um Brief hin und her ging, die Beden­ken eines verdienten Theaterchefs zu beschwichtigen in bezug auf das Ganze und vieles Einzelne, sich zu erinnern, wie scharf und verletzend ein oder das andere Detail der leichten Komödie wirken konnte, ein oder der andere Zug eines leicht hingemalten Bildes, in das heute eine gewisse Harmonie und Ruhe gekommen ist, nach­dem so viele Augen es angeschaut haben. Fast sonderbar, zu denken, wie an einer anderen Hofbühne die erste Sängerin dem Intendanten die Rolle der Marschallin zu­rück­ schickt mit der Bitte, sie von dem Auftreten in der «zweideutigen Atmosphä­re» dieses Stückes zu entheben.

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Doch war der Anfang ohne Schwierigkeit. Gesellig wie das Werk selbst war seine Entstehung. Das Szenarium ist wahrhaft im Gespräch entstanden, im Gespräch mit dem Freund, dem das Buch zugeeignet ist (und zugeeignet mit einer Wendung, die auf wahre Kollaboration hindeutet), dem Grafen Harry Kessler. Die Gestalten waren da und agierten vor uns, noch ehe wir Namen für sie hatten: der Buffo, der Alte, die Junge, die Dame, der «Cherubin». Es waren Typen, die zu individualisieren der aus­füh­renden Feder vorbehalten blieb. Aus dem ewig typischen Verhältnis der Figuren zueinander entsprang die Handlung, fast ohne dass man wusste, wie. Auch die Molièrsche Komödie ruht nicht so sehr auf den Charakteren selbst als auf der Rela­tion der oft sehr typischen Figuren zueinander (dies in Parenthese). Der Ort dieser produktiven Gespräche war Weimar; ich fuhr nach Berlin, ohne eine Notiz als das Personenverzeichnis auf die Rückseite einer Tischkarte gekritzelt, aber mit einer erzählbaren Handlung im Kopf. Die Wirkung dieser Erzählung auf Strauss ist mir erinnerlich, als wäre es gestern gewesen. Sein Zuhören war ein wahrhaft produktives. Ich fühlte, wie er ungeborene Musik an die kaum geborenen Gestalten verteilte. Dann sagte er: «Wir werden das machen. Wir werden es aufführen, und ich weiss auch aufs Haar, was man sagen wird. Man wird sagen, dass eine allgemeine Erwartung wieder einmal schmählich getäuscht wurde, dass dies ganz und gar nicht die komi­sche Oper ist, welche das deutsche Volk Jahrzehnte mit Sehnsucht erwartet. Und mit diesem Kommentar wird unsere Oper durchfallen. Aber wir werden uns unterhalten, indem wir daran arbeiten. Fahren Sie schnell nach Hause und schicken Sie mir möglichst bald den ersten Akt.» Dies Gespräch muss in den letzten März­ tagen (1909) geführt worden sein. Vom 4. Mai ist der Brief aus Garmisch, mit dem der Empfang des ersten Aktes bestätigt wird. In einem Brief vom 16. Mai heisst es schon: «Meine Arbeit fliesst wie die Loisach – ich komponiere mit Haut und Haar.» Ein Jahr später, in dem Brief vom 2. Mai 1910, heisst es: «Ich beginne jetzt mit der Kompo­si­tion des dritten Aktes.» Im Jänner 1911 kam das Werk in Dresden auf die Bühne. Jene lebhaft angeregten Gespräche in Weimar – wie erinnere ich mich des Bücherzimmers, mit ein paar der schönsten Skulpturen von Maillol geschmückt, wie deutlich der hastigen, wie von einem kleinen Fieber beschleunigten Repliken, die einer dem anderen gab –, jenes Spiel mit den typischen, unbenannten Figuren

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und den möglichen Kombinationen, die sie eingehen konnten, es wäre doch für sich allein nicht stark genug gewesen, eine kleine Welt lebender Gestalten hervorzurufen. Dahinter war der geheime Wunsch, ein halb imaginäres, halb reales Ganzes entstehen zu lassen, dies Wien von 1740, eine ganze Stadt mit ihren Ständen, die sich gegen­einander abheben und miteinander mischen, mit ihrem Zeremoniell, ihrer sozialen Stufung, ihrer Sprechweise oder vielmehr ihren nach den Ständen verschiedenen Sprechweisen, mit der geahnten Nähe des Volkselementes. So entstand das Gewim­mel der kleinen Figuren; diese Duenna, dieser Polizeikommisär, dieser Wirt, diese La­kaien und Haushofmeister, diese Intriganten, Schmarotzer, Lieferanten, Friseure, Läufer, Kellner, Sänftenträger, Häscher, Tagediebe. Das aber konnte nur zusammen­gehalten werden durch eine besondere Sprache, die – wie alles in dem Stück – zugleich echt und erfunden war, voll Anspielung, voll doppelter Bedeutung. Eine Sprache, durch welche jede Person zugleich sich selbst und ihre soziale Stufe malt, eine Sprache, welche in dem Mund aller dieser Figuren die gleiche ist – die imaginäre Spra­che der Zeit – und doch im Mund jeder Figur eine andere, mit einer ziemlich be­trächt­ lichen Spannweite von der sehr einfachen Sprache der Marschallin (und in dieser ausserordentlichen, manchmal fast demütigen Einfachheit liegt die grosse Kon­deszendenz der Figur) zu der knappen, eleganten Sprechweise Octavians, in der sich vielleicht ein wenig jugendliche Herzlosigkeit verrät, dem Reden des Faninals – das im Mund seiner Tochter noch um ein kleines gespreizter, aber naiver ist – und der eigentümlichen Mischung aus Pompösem und Gemeinem im Mund des Buffo. Diese Sprache ist es – ein Kritiker hat sie, ich glaube, im tadelnden Sinn, ein Volapük des achtzehnten Jahrhunderts genannt; ich finde diese Bezeichnung sehr annehm­bar –; diese Sprache ist es, welche dieses Libretto zum unübersetzbarsten in der Welt macht. Ausserordentlich geschickte Federn haben sich bemüht, es ins Englische, Fran­zösische und Italie­nische zu übertragen. Aber die Figuren, aus dem Element die­ser Sprache genommen, nehmen etwas Kaltes an, sie stehen in viel härterer Kontur gegeneinander. Es fehlt der zarteste Teil der Modellierung. Es fehlt die Geselligkeit der Figuren untereinan­ der, durch welche die Lebensluft eines Stückes entsteht.

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Nina Stemme Spielzeit 2003/04

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Alfred Muff, Vesselina Kasarova Spielzeit 2003/04

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DENN WAS IST ZEIT? Wir wissen genau, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, verstehen’s auch, wenn wir einen andern davon reden hören. Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiss ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiss ich’s nicht. Doch sage ich getrost: Das weiss ich, wenn nichts verginge, gäbe es keine ver­gangene Zeit, und wenn nichts käme, keine zukünftige, und wenn nichts wäre, keine gegenwärtige Zeit. Aber wie steht es nun mit jenen beiden Zeiten, der vergangenen und zukünftigen? Wie kann man sagen, dass sie sind, da doch die vergangene schon nicht mehr und die zukünftige noch nicht ist? Die gegenwärtige aber, wenn sie immer gegenwärtig wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wenn also die gegenwärtige Zeit nur dadurch Zeit wird, dass sie in Vergangenheit übergeht, wie können wir dann sagen, sie sei, da doch der Grund ihres Seins der ist, dass sie nicht sein wird? Muss man also nicht in Wahrheit sagen, dass Zeit nur darum sei, weil sie zum Nichtsein strebt? Aurelius Augustinus

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Was ist die Zeit? Ein Geheimnis, – wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt! Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie «zeitigt». Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit misst, kreisläufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebenso gut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier. Da ferner eine endliche Zeit und ein begrenzter Raum auch mit der verzweifeltsten Anstrengung nicht vorgestellt werden können, so hat man sich entschlossen, Zeit und Raum als ewig und unendlich zu «denken», – in der Meinung offenbar, dies gelinge, wenn nicht recht gut, so doch etwas besser. Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen und Unendlichen die logisch-rechnerische Vernich­tung alles Begrenzten und Endlichen, seine verhältnismässige Reduzierung auf Null? Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich, im Unendlichen ein Nebeneinander? Wie vertragen sich mit den Notannahmen des Ewigen und Unendlichen Begriffe wie Entfernung, Bewegung, Veränderung, auch nur das Vorhandensein begrenzter Körper im All? Das frage du nur immerhin! Thomas Mann

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Nina Stemme, Vesselina Kasarova, Malin Hartelius Spielzeit 2003/04

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WIE DU WARST! WIE DU BIST! Zeit und Identität im «Rosenkavalier» Ruth E. Müller

Octavians leidenschaftlicher Ausruf, Nachhall einer durchlebten Liebesnacht, eröffnet die Handlung und gibt zugleich dem, was folgen soll, das Motto. Denn in kürze­ster und bündigster Form fällt der Akzent auf das «So-und-nicht-andersSein» und zugleich auf die Abfolge der Zeiten. «Wie du sein wirst, wie du gewesen sein wirst», könnte ein trockener Grammatiker fortfahren. Freilich erschliesst sich diese Dimen­sion der Anfangssätze erst, wenn man von der Bühnen­ aktion abstrahiert, gewisser­massen die Ausrufungszeichen wegstreicht und nur auf die dürren Worte achtet. Doch solche Doppelbödigkeit ist gerade beim Sprachartisten Hofmannsthal Programm. Sprachspielerisch steckt er den Rahmen ab: Um die Zeit (oder Zeiten) wird es gehen und darum, wie jemand ist, also um sein Wesen, seine Identität. Kunstvoll sind diese beiden Themen miteinander verschränkt – wie der Anfangssatz und seine Wiederholung auf einer anderen Zeitstufe. Noch das kleinste Textelement ist ernstzunehmen als Bedeutungsträger, nichts darf als zufällig oder beliebig durchgehen. So kann das grammatikalische Detail zum dra­maturgischen Signal, der Name zum Fatum werden, hinter der leicht hingeworfenen Redensart eine zentrale Aussage stehen. Hofmannsthals Libretto bietet mehr als einen Text an: Hinter, unter, neben der manifesten Bühnenaktion und ihren Figu­ren­konstellationen liegen andere Bedeutungsschichten. Zu vielfältig sind Verweise und Anspielungen, zu deutlich die Finger­ zeige des Autors, um jene zweite verdeckte Hand­lung zu übersehen. Deren Haupt­darstellerin aber ist die Zeit. Schon die Angabe der Handlungszeit – «in Wien, in den ersten Jahren der Re­gierung Maria Theresias» – spannt den Anspielungshorizont weit auf. Hof­

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manns­thal hat nie einen Hehl aus seiner besonderen Vorliebe für diese Epoche gemacht, die für ihn zugleich eine Gesellschaftsform repräsentierte (man denke etwa an den 1917 erschienenen Essay Maria Theresia, der in der Person der Kai­serin zu­gleich die Epoche glorifiziert). Wien um die Mitte des 18. Jahrhunderts war für Hofmanns­thal aber auch noch etwas anderes: eine Analogie zu seiner eigenen Zeit; eine Möglich­keit, aus idealisierenden Rückblenden eine Deu­tung der Gegenwart zu gewinnen; eine noblere und heilere Variante dessen, was ihn um­gab. Nichts könnte für diese nostalgische Rückwendung und ihre Verquickung mit dem Wien um 1900 besser Zeugnis ablegen als das Einleitungs­ gedicht, das der erst achtzehnjährige Hugo von Hofmannsthal für Arthur Schnitz­­lers Bühnenstück Anatol 1892 verfasste (übrigens unter dem Pseudonym Loris). In den hier anklingenden Motiven stiftet er die Beziehung zu einem imaginären «Wien um 1760», indem er die beiden Epochen miteinander identifiziert: Gemeinsam ist ihnen die melancholische Reflexion, die Überreife einer spätzeitlichen Gesell­schaft, welche nur noch leben kann in selbstgeschaffenen ästhetischen Refugien, und das Wissen um die allmähliche Dekadenz überkommener Werte. Zeigt sich hier schon ein gleichsam dialektisches Verhältnis zum Thema Zeit, so wird dies deutlicher noch in der Personenkonstellation: Ochs und Mar­ schallin einerseits, Octavian und Sophie auf der anderen Seite repräsentieren ja jeweils eine ganze Generation. Indem der Text tendenzielle Identitäten zwischen Ochs und Octavian, der Marschallin und Sophie stiftet, entsteht eine Simultanhandlung, an der sich ablesen lässt, wie Octavian vielleicht einmal sein wird, wenn er das Alter des Ochs erreicht hat, wie die Marschallin als junges Mädchen war, wie Sophie sich entwickeln könn­te. Die Hinweise des Librettos auf diese Verknüpfungen sind deutlich: So erinnert sich die Marschallin daran, wie sie «frisch aus dem Kloster (...) in den heiligen Eh’stand kommandiert word’n» ist, und das klingt, ins Präsens versetzt, wie eine Beschreibung der Situation, in der sich Sophie befindet (Ochs über Sophie: «Kommt frisch­weg aus dem Kloster...»). Ochs kommentiert den Übergriff Octavians auf Sophie im zweiten Akt mit den Worten: «Ist mir ordentlich, ich seh’ mich selber!» Im übrigen sind zumindest die drei adeligen Protagonisten Baron Ochs auf Lerchenau, Graf Ro­frano und die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg miteinander verwandt, was neben dem

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dynastischen einen metaphorischen Aspekt hat. Darauf hat Hofmanns­thal in seinem Ungeschriebenen Nachwort zum Rosenkavalier (1911) hingewiesen: «Die Marschallin ist nicht für sich da, und nicht der Ochs. Sie stehen gegeneinander und gehören doch zueinander, der Knabe Octavian ist dazwischen und verbindet sie. Sophie steht gegen die Marschallin, das Mädchen gegen die Frau, und wieder tritt Octavian dazwischen und trennt sie und hält sie zusammen.» Dass die Duenna Marianne Leitmetzerin heisst und der verkleidete Octavian – dessen Name immerhin die ersten beiden Buchstaben mit dem des Ochs teilt – sich aus­gerechnet Mariandel nennt, dehnt das Prinzip simultan dargestellter Generatio­nen auch auf die Ebene der komödienhaften Nebenfiguren aus. Annina aber ist nichts anderes als eine italienisch verniedlichte Anna, so wie Marianne sich aus Maria und Anna zusammensetzt. Maria wiederum heissen auch die Marschallin und Octavian (dieser mit seinem zweiten Taufnamen). Ausserdem ahmt «Octavian» die Vokalkon­stellation von «Maria» nach. Alles scheint also aus einem Kern oder einem Zentrum heraus gebildet und variiert. Ehe solche Allbezüglichkeit sich auf der Bühne realisieren kann, stellt sie sich bereits linguistisch dar. Sogar Faninal hat daran teil, wenn auch in bedenklicher Assonanz an «animal» (lat. Tier). «Octavian» legt die Assozia­tion nahe, dass er der achte (lat. «octavus»), jedenfalls nicht der erste ist, verweist ausserdem auf den römischen Erobererkaiser Augustus Octavian, eröffnet aber auch ein christlich-katholisches Bezugsfeld: Oktave ist ein Begriff aus der katholischen Liturgie. Übrigens ruft das falsche Mariandel im dritten Akt die «heilige Mutter von Maria Taferl» um Hilfe an, und da Maria Theresia im ersten Akt ihren Geliebten zärt­lich «Taverl» genannt hat, verwischen sich die Grenzen zwischen den einzelnen Personen, stellt sich bereits auf der Ebene der Benennungen ein Quipro-quo wechseln­der Identitäten her, in dem bezeichnenderweise auch der Unterschied zwischen Mann und Frau verschwimmt. Tiefsinnig und ironisch zugleich ist die Namensgebung: Die Marschallin heisst Werdenberg, obwohl sie eher die Vergangenheit repräsentiert, und der Name der von Hofmannsthal als «recht hübsches gutes Dutzendmädchen» apostrophierten Sophie lautet, aus dem Griechischen übersetzt, «Weisheit». Schon die Dramatis personae enthalten also mehrere mögliche Geschichten. «Im Falle des Rosenkavalier erscheint es mir aber besonders wertvoll nach

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aussen hin zu markieren, dass ich diese Arbeit mit meinem literarischen Namen vollauf zu decken wünsche und sie nicht als ein etwa nebenhin geschriebenes ‹Libretto› angesehen wünsche», schrieb Hofmannsthal 1910 an den Verleger Otto Fürstner und machte deutlich, dass nichts in seinem Text beiläufig oder beliebig sei. Dies fordert geradezu dazu auf, jene zweite Handlung zu rekonstruieren und freizulegen, für die die Psychologie der handelnden Personen nur ein Darstellungsmittel und nicht das Ziel ist. Zeit und Identität lauten die beiden Generalthemen des Stückes, und reali­ siert werden sie im Medium der Liebe (oder nüchtern ausgedrückt: im Medium erotischer Be­ziehungen). Die Kernfrage heisst, wie Identität gerettet werden kann vor dem un­barmherzigen Verfliessen der Zeit, und welche Rolle die Liebe dabei spielt – eine Frage, auf die Hofmannsthal bewusst keine eindeutige Antwort gibt. Im Gegenteil bietet er mehrere Lösungen an, indem er sich des Kunst­ griffs bedient, seine Protagonisten in der oben skizzierten Weise zu paral­le­li­ sieren: So erscheinen die Befind­lichkeiten des Ochs, der Marschallin, Octavians, Sophiens als komplementäre Lösun­gen oder auch Alternativen des einen Problems, das sich ihnen allen stellt. Schon in der ersten Szene beschwört Octavian die Verschmelzung von Ich und Du, also die Aufhebung der Identität in einer emphatischen Liebeserfahrung, und be­kämpft mit tristanischem Trotz die Alltagsnormalität. Die Marschallin begegnet seiner Aufregung zunächst mit einem Bibelzitat: «Jedes Ding hat seine Zeit.» Dieser Spruch birgt freilich eine beunruhigende Weisheit: Er ist fast synonym mit «Alles ist vergänglich». Doch darüber täuscht zunächst ein graziöser Walzer hinweg, und vordergründig ist ja auch nur vom Frühstück die Rede. Allerdings lässt sich die Idylle nicht lange gegen die Aussenwelt verteidigen. Die Marschallin denkt an Vergange­nes, verplappert sich mit einem «Einmal...», das Octavian sofort eifersüchtig aufschrecken lässt: «Was war einmal?» Erschüttert zeigt er sich auch über die zeitliche Koinzidenz, dass Marie Theres’ während der mit ihm verbrachten Liebesnacht von ihrem Mann geträumt hat. Mit dem Traum kommt eine Instanz ins Spiel, die zur Aufhebung der Zeit ten­ diert. Wie sehr die Marschallin von der Vision geplagt wird, es könne kein Vorher und Nachher, sondern nur noch ein Zugleich geben, davon legt ihre Einbil­ dung, der heranstürmende Ochs sei ihr Mann, beredtes Zeugnis ab. Dennoch

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vergisst sie nicht, dass Entfernung eine Funktion von Geschwindigkeit und Zeit ist: Selbst ihre Befürchtung des Unwahrscheinlichen – Projektion schlechten Ge­wissens vielleicht – reflektiert noch das physikalische Gesetz: «Weiss Er, Quin­ quin – wenn es auch weit ist – der Feldmarschall is halt sehr geschwind.» Schon in dieser idyllisch-verspielt anmutenden Szene liegt also die Wunde offen: Octa­ vian kämpft gegen die Zeit an, die seiner Liebe feind ist und die der Feldmarschall gleichsam in absentia verkörpert: Er war vor Octavian da, und er wird wiederkommen. Gefahr liegt für Octavian in der Reduktion der für ihn bislang einzigartigen und beispiellosen Liebeserfahrung zur Episode. Für die Schlussszene des ersten Aktes zwischen Octavian und der Marschallin hatte Hofmannsthal einige Verse vorgeschlagen, die von Strauss nicht vertont wurden, in denen jedoch das Sich-Aufbäumen gegen die Zeit mit grosser Deutlichkeit dargestellt ist. Octavian verteidigt die Bastion seiner Liebe mit den Worten: «hier und heute das versteh ich/dich hab ich, dich seh ich/ und Morgen soll sein wie Heute/und das Verrin­ nen und Vergehen/das ist für die anderen Leute!/Und die andern, die sind weit/ und für einander haben wir Zeit/ und eine andere Zeit will ich nicht denken...» Vergeblich versucht er, sich Zeit und Raum zu unterwerfen, indem er sie mit dem Mass seiner Liebe misst. Die Marschallin, erwachsener als er, hat jedoch ganz reali­stische Befürchtungen: dass ihr Ehemann (der er natürlich auch in Entfernung bleibt) die räumliche Distanz, Bedingung für die Zeit-Exklave, in der Marschallin und Octa­vian sich verbergen, zur Unzeit überwinden könnte. Kongenial macht der Autor sich hier zwei Axiome der 1899 (mit der Jahreszahl 1900) erschienenen Traumdeutung Sigmund Freuds zunutze: Eine über den Tag verdrängte Befürchtung realisiert sich im Traum; der Traum suspendiert die normale Zeiterfahrung. Obwohl die Bühnensituation mit dem Auftritt des Ochs eine Entspannung bringt, bleiben die halb unbe­wusst zur Sprache gebrach­ ten Gefährdungen im Raum stehen. Wie Zeit und Identität zusammenhängen, darüber sinniert am ausführlichsten die Marschallin in ihrem Monolog im ersten Akt. Vorausgegangen ist ein Moment der Selbsterkenntnis: Sie sieht in den Spiegel und wird plötzlich ge­wahr, dass auch an ihr die Zeit nicht spurlos vorübergeht. Der Satz: «Mein lieber Hippolyte, heut haben Sie ein altes Weib aus mir gemacht», klingt zu ernst, als dass eine zufällig miss­ra­te­ne Coiffure ihn provoziert haben könnte.

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Die musikalische Gestaltung tut hier das ihre dazu, um den Satz aus dem Geschehen herauszuheben, die Marschallin gewis­sermassen auf ein Podest zu stellen, das aus der Handlung herausragt. Weil Marie Theres’ fähig ist zum nüchtern-realistischen Blick auf sich selbst, kommt es ihr auch zu, im folgenden Monolog die Dinge beim Namen zu nennen. Die Frage, mit der sie sich quält, lautet: Wie kann Identität sich gegen alle der Zeit geschuldeten Wandlungsprozesse behaupten? Gibt es eine davon unabhängige Einheit der Person oder verändert sich die Persönlichkeit notwendig «im Lauf der Zeit»? Auffällig ist, dass die heimliche Hauptfigur des Stückes weder philosophisch argumentiert noch aufbegehrt, sondern alles von Gott gegeben hinnimmt, sich lediglich leise darüber beklagt, dass ihr die Gnade der Verdrängung nicht geschenkt ist – über die sowohl Ochs als auch Octavian in überreichem Masse verfügen. Für die Doppeldeutigkeit des Satzes: «Es ist ja schon vorbei», hat der zurückkehrende Geliebte allerdings kein Ohr. Die Marschallin setzt ihren Vanitas-Monolog über die Vergäng­lichkeit zunächst fort – und findet zu einer vordergründig verblüffenden Lösung: «Auch sie (i.e. die Zeit) ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.» Geradezu gewaltsam wird die irritierendste Erfahrung im menschlichen Leben, die Einsicht in seine zeitli­che Begrenztheit, integriert in ein christliches Sinngebungsmodell. Der Zeit kreatürliche Eigenschaften zuzuschreiben, heisst auch, sie zu domestizieren. Denn dann hat sie keine Gewalt mehr über das menschliche Leben, steht wie dieses in der Verfügungsgewalt eines Höheren. Die Marschallin spricht, wie gesagt, als einzige in deutlichen Worten die bittere Lebenswahrheit aus. Anlass dazu ist ihr das sichere Gefühl, dass eine grosse Leidenschaft sich ihrem Ende zuneigt. Als einzige blickt sie der Unwiederholbarkeit und Vergänglichkeit von Gefühlen ins Auge. [...] Steht Marie Theres’ gewissermassen ausser Konkurrenz, da sie derart souverän mit ihren Gefühlen und unerfüllbaren Liebeswünschen umzugehen vermag, so zeigt das andere Dreiecksverhältnis des Stückes, Ochs – Octavian – Sophie, eher Züge, die es in die Gattungstradition der Komödie einordnen. Hofmannsthal hatte die grund­legen­de Struktur des Stückes von diesem Verhältnis abgeleitet, das man geradezu als gattungskonstitutiv begreifen kann: «Der Gang der Handlung ist ja auch für das naiv­ste Publikum simpel und verständlich: ein dicker, älterer, anmassender Freier, vom Vater begünstigt, wird von einem hübschen

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jungen ausgestochen – das ist ja das non plus ultra an Einfachheit.» Liegt schon in der Ausfüllung eines geradezu bana­len dramaturgischen Grundgerüstes mit höchst kunstvollen Mitteln ein besonderer Reiz, so gewinnt das Stück an Tiefe durch die Verflechtung der zentralen Themen von Zeit und Identität mit der Dreieckskonstellation Ochs – Octavian – Sophie. An dieser Konstellation ist zunächst ungewöhnlich, dass Octavian unversehens von einem Dreieck ins andere stolpert: War er zunächst der Rivale des Feldmarschalls, so gerät er jetzt in Konkurrenz zu Ochs, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, und die ihn an diese Position bringt, ist die Marschallin selbst. Schliesslich hat sie den Ein­fall, Octavian als Brautwerber vorzuschlagen. Ungewöhnlich ist an diesem Dreieck, das erst allmählich aus einem anderen hervorgeht, ferner die tendenzielle Identität der Rivalen: Sie sind, wie erwähnt, nicht nur miteinander verwandt, sondern können sogar verstanden werden als Simultandarstellung in zweierlei Hinsicht: Ochs sagt etwas darüber aus, wie Octavian sein könnte, wäre er eine Generation älter. Gleichzeitig prallen bei der Werbung um Sophie zwei Strategien aufeinander, die, sozialhistorisch betrachtet, das zeitlich frühere dynastische Verhalten der Aristokratie und die jüngere, typisch bürgerliche Empfindsamkeit verkörpern. Die Werbung des Ochs geschieht aus Gründen der wirtschaftlichen Sanierung und der legitimen Fortpflan­zung seiner Dynastie, während Octavian sich Hals über Kopf verliebt, ohne auch nur einen Gedanken an die Standesproblematik – schliesslich ist er von hohem Adel – zu verschwenden. Nach einer auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden bürgerlichen Illusion sind Gefühle stärker als alles andere, ja die Verbindung zweier Liebender legitimiert sich im Extremfalle sogar ausdrücklich dadurch, dass sie mit dem Verlust von gesellschaftlichen Privilegien bis hin zum sozialen Abstieg einhergeht. Ohne Überspitzung kann man also sagen, dass Octavian im Verlauf der Handlung den Über­gang vom jungen Adligen, dessen Initiation im Boudoir einer vornehmen, selbstver­ständlich verheirateten Dame stattfindet, zum überzeugt monogamen Bräutigam bürgerlicher Prägung vollzieht. Entscheidend für den Unterschied zwischen Ochs und Octavian, der gleich­ zeitig ein Unterschied der Generationen und – so merkwürdig das auf den ersten Blick klingen mag – der sozialen Klasse ist, erweist sich das Verhältnis zur Zeit: Während die Vitalität des Ochs in der Zeit ihren Ort hat, ja sogar den Jahres-

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zeiten zugeordnet wird (was auch den Aspekt der zyklischen Wiederholung einschliesst), erfahren Octavian und Sophie die Einmaligkeit ihrer Begegnung in einer Art Zeitvakuum, im Herausfallen aus der Zeit. Im Zusammensein mit der Marschallin hatte Octavian die Zeit noch als Bedrohung empfunden, also wahrgenommen. Nun existiert sie für ihn und Sophie nicht mehr, wird nur noch in den koinzidierenden Extremen Ewigkeit und Augenblick vergegenwärtigt. «Ich bin Euer Liebden in aller Ewigkeit verbunden»: Mit diesen Worten empfängt Sophie den Rosenkavalier und hat bereits alles verraten. Umgekehrt könnte Ochs nicht deutlicher disqualifiziert werden als durch die mehrmals wiederholte Bezeichnung «Zukünftiger». So unauffällig sie sind, zeigen doch gerade solche sprachlichen Details, welch himmelweiter Unterschied zwischen einer Ehe, wie sie Ochs in den Kram passt, und der geradezu mystischen Verbindung Octavians und Sophiens besteht. «Ist Zeit und Ewigkeit in einem sel’gen Augenblick», singt Sophie in der Rosenüberreichungsszene. Im Hinblick auf die The­matik von Zeit und Identität liest sich diese Szene als Variation auf den Zeit-Monolog der Marschallin im ersten Akt. Auf die Aushebelung des Bewusstseins aus der normalen Zeitwahrnehmung folgt die Dissoziation der Persönlichkeit: «Wer bin denn ich? Wie komm’ denn ich zu ihr? Wie kommt denn sie zu mir?» Wie bei der Marschallin wird eine exzeptionelle Zeiterfahrung durch einen emotionalen Ausnahmezustand ausgelöst und hängt eng mit der Identitätsproblematik zusammen. Marie Theres’ stellt sich die Frage nach ihrem Ich angesichts der verrinnenden Zeit, in einer Phase, in der die Liebesbeziehung zu Octavian un­ leugbar zu Ende geht, und gelangt in me­lancholischem Verzicht und frommer Selbstbescheidung auf eine andere Be­wusst­seinsstufe. Sie stellt sich dem Problem, indem sie es benennt. Gerade das Gegenteil tun Octavian und Sophie: Sie versperren sich der Zeit und dem Bewusstwerden, ver­lieren ihre Identität in der gegenseitigen Verschmelzung, stürzen in Tiefen, die der Komödie normalerweise nicht zugänglich sind. Doch Hofmannsthal wäre nicht er selbst, könnte er diesem Qui-pro-quo nicht auch eine komödienhafte Seite abgewinnen: Es gehört zum Grundbestand der Gattung, dass zwei Personen sich über eine dritte unterhalten, ohne dieselbe Person zu meinen, also unwissentlich anei­nan­der vorbeireden. Einen ähnlichen Effekt erreicht Hofmannsthal durch die miss­ver­ ständliche Verwendung der dritten Person Singular im Dialog: Sophie wechselt

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unmerklich von der Anrede Octavians («Freilich, Er ist ein Mann...») in ein klein­geschriebenes «er» über, das Ochs meint: «Und wird’ ihm keine Schand’ nicht machen...» Da sie am Ende jedoch den Octavian bekommen wird, ist die­ ses «er» bereits doppeldeutig – ebenso doppeldeutig wie Octavians Werbung –, die sich unversehens als eine in eigener Sache darstellt. Das Thema Ochs und die Zeit gestaltet Hofmannsthal auf komödienhafte Art und Weise, indem er seine Figur auch vor Kalauern nicht zurückschrecken lässt: «Brav, Faninal, er weiss, was sich gehört. Serviert einen alten Tokaier zu einem jungen Mädel.» Auch das Wiener Liedel, das Ochs zum Zwecke der Verführung von Mariandel und Sophie intoniert, handelt ja von der Zeiterfahrung, nämlich davon, wie sie sich in der erotischen Begegnung verändert: «Ohne mich, ohne mich jeder Tag Dir so bang, mit mir, mit mir keine Nacht Dir zu lang.» Unwillkürlich erinnert man sich an Jupiter, wie er Alkmene beiwohnte in einer dreifach verlängerten Nacht. Tat­sächlich gibt es etliche Hinweise auf eine Identifizierung des Ochs mit Jupiter («Wollt’, ich könnt’ sein wie Jupiter selig in tausend Gestalten...»). Dieses Motiv hat nicht nur den Aspekt erotischen Grössenwahns und phantasierter Omnipotenz; es lässt auch nachdenklichere Töne anklingen. Denn hinter der Rastlosigkeit erotischen Begehrens verbirgt sich ein Problem: Jupiter bedarf der Verkleidung, der Vielgestaltigkeit, manchmal sogar des Betrugs und der Gewalt, um sein Ziel zu erreichen, und er wird zwanghaft von einem zum anderen – letztlich austauschbaren – Abenteuer getrieben. So erscheint das klare Bewusstsein von der dahinjagenden Zeit als Konsequenz aus der bitteren Erfahrung, dass die Wiederholung vergeblich ist: Nur das Einmalige hält die Zeit an – die Wiederholung bestätigt ihre Macht. Ochs lebt mit der Fiktion, die Häufigkeit seiner Abenteuer erhalte oder beweise seine Jugend. Darin ist er ein anderer Don Juan: Vitalität bemisst sich in erotisch-sexueller Leistungs­fähigkeit, und die wiederum ist ein Zeichen von Jugend. Gleich zweimal äussert er sich höchst befriedigt darüber, dass Sophiens «vehementer Trotz» ihn verjüngte (!), und auffälligerweise hebt er an Octavian immer wieder dessen «siebzehn Jahr» hervor. Fast klingt das wie Neid. Die Ein­maligkeit hingegen zerreisst den Faden der Zeit. Deswegen ist Octavians und Sophiens Sprache die des «Nie» und «Immer». Wo es ernst wird, erscheinen sie gegenüber der reissenden Zeit, als wären sie in Drachen­blut getaucht. So

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kann es Sophie gar nicht schrecken, wenn der Vater lautstark an­droht, sie «auf Lebenszeit» in ein Kloster zu stecken. Denn die Erfahrung ihrer Liebe lautet in einer von Hofmannsthal für das Duett im zweiten Akt vorgeschlagenen Version: «Ist alles gleich – ist keine Zeit, dass ich’s begreif’/Ist Zeit und Ewigkeit zugleich bei mir/in einem seligen Augenblick...» (spiegelbildlich heisst das bei Octavian: «Ich war ein Bub/war’s gestern oder war’s vor einer Ewigkeit?»). Doch die Marschallin, die das Leben kennt, weiss, dass der Kampf gegen die Zeit nicht gewonnen werden kann durch Flucht in eine Traumwelt. Treffsicher bringt sie in den knappen Sätzen, die sie am Ende noch an das neue Lie­bes­paar richtet, das Zeitproblem wieder zur Sprache: «Find’ Ihn ein bissl em­pres­siert, Rofrano», sagt sie zu Octavian, der ihr Sophie vorstellen möchte; dann schickt sie ihn weg mit den Worten: «Geh Er doch schnell und tu’ Er, was sein Herz ihm sagt.» Sophie ihrerseits wird ganz direkt gefragt: «So schnell hat Sie ihn gar so lieb?», und nichts ist weni­ger verwunderlich als die völlige Verständnislosigkeit ihrer Antwort: «Ich weiss nicht, was Euer Gnaden meinen mit der Frag’.» Gehören solche scheinbar leicht dahingeredeten, handlungsmässig unbetonten Sätze der verbalen Schicht des Werkes an, die die Zeitproblematik trägt, so bedient Hofmannsthal sich für die Durchführung des Themas «Identität» typisch theatralischer Mittel. Ein Paradestück dafür ist der ganze dritte Akt. Was einer ist oder sein könnte, wofür man ihn zu recht oder zu unrecht hält: das macht die Szene klar durch Verkleidungen und vorhandene oder fehlende Standesattribute. Hier kreuzen sich glücklich Gattungstypik und dichterische Absicht. Denn die Komödie ist der klassische Ort des Identitätswechsels, der vor­­gespielten Tatsachen, der missverstandenen Rede. Und so taugt Octavians Verwandlung in die Zofe Mariandel einerseits als ko­mödienhafte Bühnenaktion, andererseits macht sie einen Wesenszug des Kindman­nes szenisch evident: seine Androgynität. So weist die Tatsache, dass Ochs mit der Perücke gleichzeitig seine Standesprivilegien verliert, auf die Zerbrechlichkeit adeli­ger Macht hin, die sich offenbar nur noch auf Äusserlichkeiten zu stützen vermag. Leise Komik breitet sich auch dort aus, wo Ochs die Situation zu seinen Gunsten um­inter­ pre­tieren will und damit eine Wahrheit ausspricht, die ihm erst im weiteren Verlauf schmerzlich bewusst werden soll: «Hier sitzt kein Bräutigam und keine Kam­merjungfer nicht», sagt er zum Mariandel, um es leichter «debauchieren»

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zu können, und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Den Höhepunkt erreicht die Verwirrung zunächst mit dem Auftritt der verkleideten Annina, und von da an gerät Ochs bis zur Aufklärung durch die Marschallin in ein heilloses Trudeln: Zuerst gelingt es ihm mangels Perücke nicht, seine Identität zu beweisen; dann verleugnet ihn Valzacchi; dann gibt er «Mariandel» für seine Braut Sophie aus und wird dabei ertappt; dann verleugnet er den herbeigeeilten Faninal – und wird stehenden Fusses überführt. Dann muss er erkennen, wer sich im Mariandel-Kostüm verbarg. Und bei dieser seiner rasenden Talfahrt gerät schliesslich auch das mit in den Strudel, was zunächst ausserhalb der komischen Differenz von Sein und Schein zu liegen schien: Seine «Braut­schaft» wird von der Marschallin kurzerhand zusammen mit all den anderen Maskeraden beendet, und ehe er sich’s versieht, landet sein mit allem Ernst betrie­benes und von der Marschallin anfangs unterstütztes Heiratsprojekt in einem Topf mit der «Farce». Diese Wendung ist zwar zutreffend in einem metaphorisch-mora­lischen Sinne, verwischt jedoch gezielt die Realitätsebenen des Stückes: Denn Ochs’ Werbung um Sophie war alles andere als eine Farce, vielmehr ein höchst erfolgver­spre­ chen­des Unternehmen. Doch mit dem «Es ist ja eh’ als eins» erklingt eine Grund­wahrheit des Stückes – bezeichnenderweise aus dem Munde des verkleideten «Mariandel». Das kann soviel heissen wie: Es ist alles egal; es kann aber auch heissen: Es ist alles dasselbe; womit der Unterschied zwischen den beiden Realitätsebenen des Stückes in nichts zergeht. Zum selben Genre generalisierender Äusserungen ge­hört auch das «Sind halt aso, die jungen Leut’.» Mit einem eleganten und etwas nachlässigen Federstrich wird alles zurückgenommen, entschärft, in Distanz ge­rückt, was tiefer irritieren könnte. Und es ist kein Zufall, dass diese Kernsätze jenem spezi­fischen Wiener Fluidum entströmen, das die bitteren Wahrheiten des Lebens überspült und zudeckt. In der Tat schrieb Hofmannsthal in einem Brief an Richard Strauss über das theresianische Wien, es sei der «eigentliche Träger des Ganzen, und durch dieses Ganze werden die Figuren lebendig».

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Rudolf Schasching, Brigitte Pinter Spielzeit 2003/04

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BARON VON KEMPELENS SCHACH-«AUTOMAT» E. Wenzel Mraček

Der barocken, materialistischen Geisteshaltung entsprechend, die durch Entwicklungen in Wissenschaft, Kunst und Technik die Welt – und somit den Menschen – als etwas Endliches, in seinen Teilen und in seiner Funktion Kalkulierbares, erkannt zu haben glaubte, erscheint die Mode, anthropomorphe Automaten oder Androiden zu entwickeln und zu besitzen, wie die verdichtete und materialisierte Form der zeitgenössischen Idee vom Menschen. Schon an der Schwelle zur Neuzeit warfen seine vorrationalistischen Zeitgenossen dem Universalgelehrten Albertus Magnus vor, er wäre ein Zauberer, was ihn nicht nur dämonisiseren sollte, sondern schlicht in Lebensgefahr brachte: «Grund dafür war die ihm zugeschriebene Erfindung eines als Klosterbruder gestalteten Automaten, der unliebsame Besucher abhalten sollte.» Das berühmteste Uhrwerk mit Automaten wurde 1352 im Strass­burger Mün­ster errichtet. Neben einem Astrolabium und einem ewigen Kalender, beide durch das Uhrwerk be­ trieben, besass die Uhr auch das bewegte Figurenwerk Maria mit dem Kind, vor welchem die Heiligen Drei Könige vorbeizogen. Gott selbst kam auf einer Wolke mit Orgelmusikbegleitung und Glockenspiel vom Himmel herab, und ein Hahn konnte in Angedenken an Verrat und Treue Petri krähen und mit den Flügeln schlagen. Auch René Descartes soll einen Automaten (eigentlich Androiden) namens Francine besessen haben, einige Autoren meinen, er hätte ihn erfunden. Mit der gesteigerten Perfektion im Uhrwerkbau kommt es zur Transplantation des Uhrwerks – als Antrieb – in die Darstellung des ohnehin schon als Maschine begrif­fenen Menschen. So wird in den Androiden oder Automaten Anthropomorphes – in Form der Maschine – neben Maschinelles – in Form des biologischen Menschen – ge­setzt. Die herausragende Persönlichkeit unter den Automatenkonstrukteuren der Neuzeit war der Genfer Jacques de Vaucanson. Er studierte die Bewegungsab­läufe des Menschen ebenso wie den Aufbau und

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die Spielweise der Querflöte und fertig­te einen künstlichen Flötenspieler. Bei diesem im Jahre 1738 präsentierten Androiden gelangte der mit Blasbälgen erzeugte Luftstrom durch den Mund und über die Zun­ge an das Mundstück der Flöte. Dort wurde der Ton gebildet, den die Finger, auf den entsprechenden Klappen liegend, vorgegeben hatten. Besonders bewundert wurde auch Vaucansons berühmte Ente, die, auf einem Podest stehend, nicht bloss watscheln, schnattern und mit den Flügeln schlagen, sondern erstaunlicherweise auch fressen, offenbar verdauen und sichtbar ausscheiden konnte. Die Ente war der­ massen perfekt gestaltet, dass sie sogar aus der Nähe für lebendig gehalten wurde. Für die Theoretiker bildeten die Triumphe der Technik die Grundlage ihrer Argumen­tation: Der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie kannte Vaucansons Automaten aus eigener Anschauung. In seiner 1748 erschienenen Schrift L’Homme-Machine beschrieb er den Menschen als eine sich selbst steuernde Maschine, die sich wie ein Uhrwerk vollständig mit Hilfe physikalisch-mechanischer Prin­zipien erklären lasse. La Mettrie meinte, Vaucanson müsse seine Kunst lediglich noch weiter steigern, um im Prinzip in der Lage zu sein, auch einen entsprechenden An­droiden zu bauen. Die Natur gehe im Prinzip genauso vor wie ein Automatenbauer, zur Erschaffung eines wirklichen Menschen bringe sie eben nur noch mehr Kunst auf als dieser. Menschenbild und Automatenbau standen in einer wechselseitigen Beziehung: Einerseits war es ein mechanistisch bestimmtes Bild vom Organismus, das als Grundlage für die Schaffung künstlicher Menschen in Form immer perfekte­rer Automaten diente, umgekehrt lieferte der Automatenbau wiederum das Modell für das Menschenbild. Ab 1739 wendete sich Jacques de Vaucanson der Rationalisierung menschlicher Arbeit zu. Die von ihm entwickelten Maschinen ahmen die Gesten der Arbeiter nach, sind auch der Form des menschlichen Körpers nachempfunden, vor allem aber rhyth­­misieren sie Arbeitsvorgänge im Sinn industrieller Produktionsweisen und erhöhen die Effizienz der Arbeit. Als sprechendes Beispiel für das Verständnis des scheinbaren Nachbaues des menschlichen Körpers – einschliesslich seiner Intelligenz – in Form von Androiden (hier als Kombination des Automaten und des anthropomorphen Androiden) sei die Geschichte des «Türken» des Barons von Kempelen zitiert, des wohl spektakulärsten Auftritts

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eines Androiden/Automaten. Bei gleichzeitiger Demonstration der Grenzen der Menschdarstellung spiegelt sie alle Wunschvorstellun­gen um menschliches Vermögen ihrer Zeit wider. Zugleich muss die zweifellos be­acht­liche Kunstfertigkeit der technischen Realisierung dieser «Schachmaschine» be­tont werden. In einer Vorbemerkung zur Geschichte der Entstehung des «Türken» gibt Ernst Strouhal eine Erläuterung zum historischen Gebrauch des Schachspiels als Weltmetapher: «Wie die Uhr fungiert das Schachspiel seit dem Mittelalter als Modell der rationalistischen Welt und nimmt aufgrund seiner hohen Komplexität und Rationa­li­tät eine besondere Stellung unter den Spielen ein. Das Schachspiel ist das Modell einer spinozistischen Welt: Die Zahl der möglichen Züge ist zwar enorm gross, aber das Spiel bleibt endlich, deterministisch und durch Vernunft beherrsch­bar. [...] Die Welt ist – potentiell – rechenbar, ein panlogisches, geschlossenes System, in dem Gesetzmässigkeit, Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit statt Willkür, Chaos oder Zufall herrschen.» Baron Wolfgang von Kempelen (1734–1804) präsentierte den Schach spielenden «Türken» 1769 der Kaiserin Maria Theresia, die sich unter anderem für Phänomene wie die Magnetismusexperimente des Franzosen Pelletier inter­ es­sierte. Der Schachautomat übertraf diese Experimente und auch die Androiden des Zeitgenossen Jaquet-Droz bei weitem. «Die Maschine Kempelens hatte spielerisch von der Ratio Be­sitz ergriffen, eine Puppe hatte das schwerste aller Spiele, das Schach, erlernt.» Das Publikum begegnete dem Automaten mit einer Mischung aus Schock und Lust. Die lebensgrosse Puppe in türkischer Tracht sass an der Rückwand eines eleganten Holzkastens. Die Vorderseite, auf dem ein Schachbrett mit Holzfiguren stand, wies drei Türen auf, darunter eine Schublade. Vor der Vorstellung öffnete Kempelen die Abteilungen, um das Innere des Kastens vorzuzeigen. Die Zuseher erblickten ein Ge­wirr aus Walzen, Hebeln und Zahnrädern verschiedenster Grössen. Mit einer Ker­ze durchleuchtete Kempelen den Automaten Abteil für Abteil, danach bat Kempe­len einen Freiwilligen aus dem Publikum an das Schachbrett, und endlich begann der «Türke», sich selbständig zu bewegen. Bei jedem Zug war ein Rasseln und Ächzen von Zahnrädern zu hören. In diesem Fall waren diese Maschinengeräusche, im Gegensatz zu anderen Androiden und Automaten, wohl erwünscht, lenkten sie doch von dem Gedan-

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ken ab, die Maschine könnte von einem Menschen in ihrem Inneren betrieben werden. Die Kritik, so Ernst Strouhal, war sich nach der Vorstellung einig, eine technische Sensation gesehen zu haben. Für eine kurze historische Zeit schien vieles, sogar die denkende Maschine möglich zu sein. Zugleich muss wohl auch eine gewisse Angstlust geherrscht haben, wie auch wir sie gegenüber der Entwicklung der künstlichen Intelli­genz emp­finden. Strouhal spricht hier vom Schach spielenden Golem, jenem Geschöpf, das aufgrund seiner Unausgereiftheit zur Gefahr für seinen Erzeuger wird. Der Première des «Türken» folgte eine Reihe von Vorführungen für die Wiener Gesell­schaft. Es erschienen Artikel, Briefe, Kundmachungen und Flugschriften, die sich mit dem Geheimnis der Schach spielenden Maschine auseinandersetzten. Die zentrale Frage war, ob und wie einem Automaten/Androiden das freie, nicht vorherbestimm­te Handeln beizubringen sei, ob der «Türke» also autonom funktionierte, denn dann wäre er durch die «Simulation der Freiheit der menschlichen Entscheidung über jeden Vergleich mit anderen Automaten erhaben, die wunderbarste Erfindung der Mensch­heit», wie Edgar Allan Poe noch 1836 – allerdings skeptisch – bemerken wird. Die Beobachter der Vorführungen um 1770 waren «nach sorgfältiger Unter­suchung» zur Überzeugung gelangt, dass das «Automatum sich ganz alleine überlassen» sei: «Die Maschine wirkt gänzlich durch sich selbst, so dass sie nicht den mindesten Ein­fluss erhält. Niemand steckt darin verborgen», schreibt ein Korrespondent der Brünner Zeitung noch 1780, «aber eine Menge kleiner Rollen, worüber Saiten gespannt waren, verwirrten meinen Begriff, und es kam mir vor, als wenns eine Reihe von Ver­nunftschlüssen wären, deren letzteres Resultat darinn besteht, dass die Partie gewonnen ist.» Der Schöpfer dieses Automaten, der Baron von Kempelen, galt jedenfalls als neuer Prometheus, als Genie der Mechanik, als fortschrittlicher Aufklärer, zugehörig jenen «Biedermännern, die an Vertilgung der Vorurteile, der Missbräuche und des Aberglaubens Theil genommen, mithin die gute Sache eifrig unterstützt und befördert haben» (J. Rautenstrauch, 1784). Je grösser allerdings die Popularität Kempelens und seines Automaten wurde, desto grösser wurde auch der Erklärungsbedarf und desto schwieriger wurde es, kritischen Fragen auszuweichen. Kempelen hatte seinen Ruf als seriöser Ingenieur und

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Beamter zu verlieren. Obwohl er bei jeder Vorstellung betonte, dass es sich um eine Täuschung handle, war es zu spät, die Täuschun­gen zu erläutern und so alle «sorgfältigsten Beobachter» für Dummköpfe zu erklären. Aber abgesehen davon, dass der Automat nicht war, was das Publikum in ihm zu sehen glaubte, muss es sich doch um eine ihrer Zeit entsprechende Höchstleistung der Feinmechanik gehandelt haben. Um sich für einige Zeit aus der Affäre zu ziehen, erklärte Kempelen, dass die Maschine irreparabel beschädigt sei. Wenige Jahre später allerdings – der Anlass dürfte akuter Geldmangel infolge der Experimente zur Entwicklung einer Sprechmaschine gewesen sein – suchte Kempelen um Urlaub an und präsentierte den «Türken» in ganz Europa. Erschienen in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts noch durchwegs bewundernde Rezensionen der Vorstellungen des «Türken», so änderte sich dies in den folgenden Jahrzehnten in Richtung einer kritisch philosophischen Rezep­ tion. Der «Türke», als technisches Wunder, wurde zum Gegenstand von Wissen­ schaft und Politik. Nach Vorstellungen in Frankfurt veröffentlichte Johann Philipp Ostertag «philosophische Grillen» über den Kempelenschen Schachspieler. Er sah übernatürliche Kräf­te im «Türken» wirken. Nach der Leipziger Präsentation im Jahr 1784 schlossen der Mathematiker Johann Jacob Hindenburg und nach ihm Carl Friedrich Ebert Metaphysik bereits aus. Sie machten elektrische und magnetische Ströme für eine externe Lenkung des «Türken» verantwortlich. Beide hielten den «Türken» für einen echten Automaten. Bis 1800 erschienen über hundert Texte über Kempelen und seinen Automaten/Androiden. Letztlich war der «Türke» eine Maschine, die es durch das Nichtwissen um ihre Funktion ge­stat­ te­te, in ihr zu sehen, was die Gesellschaft der Zeit, entsprechend dem Stand der Wissenschaft, zu sehen erwartete, quasi ein technisch-philosophisches Placebo. Die belebte – und selbständig denkende – Maschine schien Wirklichkeit geworden zu sein, zugleich musste La Mettrie Bestätigung gefunden haben, dass der Unterschied zwischen Mensch und Maschine zumindest ein fliessender sei. Schliesslich wurden in Paris, London, und in Deutschland Stimmen laut, die einen Pseudoautomaten vermuteten. Kempelen wurde Täuschung und Betrug vorgehalten.

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Allen voran hatte Freiherr Friedrich zu Racknitz mit grossem Aufwand den «Türken» in zwei Modellen nachgebaut, um die Welt von den Mystifikationen über die den­ken­de Maschine zu befreien. Racknitz entdeckte – wie übrigens vier Jahre vor ihm Lorenz Boeckmann aus Karlsruhe –, dass ein im Inneren des Kastens verborgener Spieler das äussere Geschehen am Schachbrett verfolgen könnte, wenn die Schachfiguren mit Magnetkernen versehen wären, wodurch bei Betreten eines bestimmten Feldes unmittelbar darunter angebrachte Metall­ nadeln angehoben würden. Zugleich beschrieb Racknitz die Lenkung des «Türken» von innen mit grosser Präzision: Mittels einer Storchenschnabelmechanik war es dem Spieler möglich, Bewegungen am inneren (verkleinerten) Schachbrett über einen Seilzug durch den linken Arm des Türken auf das grosse Schachbrett zu übertragen. Man möchte annehmen, dass die­se Enttarnungen zureichten, um aus dem Türken eine Technikreliquie im Status einer museumsreifen Kuriosität zu machen. Doch die Arbeiten von Boeckmann und Racknitz blieben fast resonanzlos.

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Vesselina Kasarova, Malin Hartelius Spielzeit 2003/04

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DAS LEUTSELIGE BETRAGEN EINES KAVALIERS Iso Camartin

Über die Entstehungsgeschichte des Rosenkavaliers ist ziemlich alles gesammelt und gedeutet, was sich an Quellen festmachen lässt. Man findet es in Band XXIII der Kritischen Ausgabe sämtlicher Werke Hugo von Hofmannsthals, besorgt von Dirk O. Hoffmann und Willi Schuh, erschienen 1986 im S. Fischer Verlag. Es wäre nicht sehr freundlich, hier einfach das auszubreiten, was andere erforscht haben, und was jedenfalls den Germanisten ohnehin bekannt ist. Ich kann mich mit einem «Rosenkavalier»-Thema nur salvieren, wenn ich einen anderen Weg einschlage. Wenn ich zum Beispiel die Figurenkonstellation dieses Werkes als eine exemplarische ansehe für eine Frage, die sich in jeder geschichtlichen Situation neu stellt. Diese Frage könnte lauten: «Wer ist vornehm, wer ist vulgär?» Oder entpersonalisiert: was darf als vornehm, was muss als vulgär gelten? Woher kommen jeweils die Massstä­be, um die als hoch von den als niedrig geltenden Formen des Benehmens und Betragens voneinander zu unterscheiden? Dass ich den Ochs von Lerchenau als «Gegenspieler-Figur» für gutes und vornehmes Benehmen hier vorstelle, geht – ich gestehe es gern – auf eine Anregung von Peter Wapnewski zurück. Ich bin ihr umso lieber gefolgt, als ich seit langem für diesen Ochs eine ungeklärte Sympathie empfinde. Er ist eine grossartige Gestalt mit einem etwas unfairen Abgang. Ich habe über diesen Baron nicht mein Leben lang nachgedacht. Doch seit ich ihm etwa vor dreissig Jahren in der Bayerischen Staatsoper in München zum ersten Mal begegnet bin, hat nicht nur der Wirt jenes nicht über alle Zweifel erhabenen Etablissements im dritten Akt eine offene Rechnung – ich habe sie auch. Hier geht es nicht ganz gerecht zu. Im 3. Akt, bei den letzten Wor­ten des Barons, wenn er – wie es in der Regieanweisung heisst – sein Spiel verloren gibt und schnell entschlossen

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ruft: «Leupold, wir gehen!» bleibt ein Rest von Insatis­faktion. Der Schuft zieht ab, hat die Zeche zu bezahlen, ist ein in Handel und Wandel blamierter – und doch werden wir dabei nicht froh, selbst wenn wir die «wienerische Maskerad’» schnell vergessen und uns dem neuen Liebespaar zuwenden. Denn das, was hier als das Feine den Sieg davon trägt, ist vielleicht nicht ganz so fein, wie es den Anschein hat. Der Triumph des jungen Paares über den blöden Ochs ist einer, über den keine ganze Freude aufkommt. Um wieviel glücklicher und versöhnter macht uns da das Los vom allernächsten Verwandten des Barons: Sir John Falstaff, der sein Bruder, sein Neveu und noch einmal so dick ist. Falstaffs Abgang von der Bühne stellt eine Balance her: Ogni sorta die gente dozzinale Mi beffa e se ne gloria. Pur – senza me, costor con tanta boria Non avrebbero un bricciolo di sale. Sono io che vi fa scaltri. L’arguzia mia crea l’arguzia degli altri. Da glauben einige Leute, über Falstaff spotten zu können: Doch ohne mich – so Falstaff … hätten sie in ihrem grossen Dünkel nicht ein Salzkörnchen Witz. Ich bin es, der sie schlau macht. Mein Scharfsinn ist es, der den Scharfsinn der anderen erst schafft. – Die Beteiligten sehen ein, was sie Falstaff verdanken, und man begibt sich heiter und zufrieden mit Sir John zu einem prächtigen Mahl, – tutti gabbati – lauter Gefoppte! Ist das nicht ein wundervoll gerechter Schluss für eine Geschichte, in der die Schwächen eines nicht in jeder Hinsicht vornehmen Herrn die Absichten derjenigen, die sich für rundum vornehm halten, offenbaren und dekouvrieren? Ist das nicht ein Schluss nach unserem Gusto für eine Komödie, wo doch demjenigen, der uns das grosse Vergnügen bereitet hat, am Ende nicht nur der Schaden, sondern so­gar eine Art Gerechtigkeit widerfährt? Was haben wir als Schlusspointe im «Rosenkavalier»? Einen Baron, dem man zu ver­stehen gegeben hat, dass die Farce aus ist und dass er «in aller Still sich retirieren darf»; einen Faninal, dessen Herz vor lauter Blamage kurzfristig wirklich zum Stillstand kommt; eine melancholische Marschallin, die sich nun

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darauf einrichtet, dass die rechte Gesellschaft für sie künftighin der alte und gelähmte Onkel Greifenklau ist; ein Liebespaar, ein ziemlich «empressiertes», traum- und weltverlorenes, das gradaus in die Seligkeit läuft und sich «an der himmlischen Schwell» fühlt. Sollen auch wir, die Hörer und Zuschauer, hier einfach «bonne mine à mauvais jeu» machen und die Geschehnisse vornehm auf sich beruhen lassen? – Nein, die uns im Rosenkavalier erzählte Geschichte verdankt dem Baron in ihrer Anlage und in ihren Ergebnissen zuviel, als dass man diesen sonderbaren Herrn schadenfreudig auf seine Landgüter in die Provinz ziehenlassen könnte. Hier muss man noch einmal über die Bücher. Wo schlägt ein Romanist nach, wenn er nach dem historisch wirksam gewordenen Kanon für Vornehmheit sucht? Natürlich bei Baldassare Castiglione im Libro del Cortegiano. Entstanden ist das Werk, ohne das die späteren Ausprägungen des französischen «honnête homme», des spanischen «El discreto» und des englischen «gentleman» undenkbar sind, zu Beginn des 16. Jahrhunderts, wohl zwischen 1508 und 1516. In einer überarbeiteten Fassung erschien es 1528, ein Jahr vor Castiglio­nes Tod, und wurde bald zum massgeblichen Handbuch des vollendeten höfischen Mannes. Am Hof von Urbino finden unter der Leitung zweier Damen, der uns aus der Portraitkunst der Renaissance wohlbekannten Herzogin Elisabetta Gonzaga und ihrer Schwägerin, abendliche Gespräche zwischen damals bedeutenden Denkern und Künstlern statt, in denen es um Wissen und Genuss, um Treue und Unabhängigkeit, um ideale Bilder von Mann und Frau und um die Eleganz der Sprache geht. Die für unsere Frage zentrale Stelle ist jene, in welcher die Gesprächs­partner sich über das Wesen der «Grazie» unterhalten – jenes nur schwer zu erringenden Gleich­ gewichts zwischen Sensibilität und Intelligenz, zwischen individueller Selbst­ kontrol­le und spielerischer Freiheit im Verhältnis zu zwei Arten von Herrschern: zu jenen, die die Welt beherrschen, und zu jenen, die unser eigenes Herz beherrschen. Da heisst es: «Ma avendo io già più volte pensato meco, onde nasca questa grazia, lassando quegli che dalle stelle l’hanno, trovo una regola universalissima, la qual mi par valer circa questo in tutte le cose umane che si facciano e dicano, più che alcuna altra: e ciò è fuggir quanto più si pò, e come un asperissimo e periculoso scoglio, la affettazione; e, per dir forse una nova parola, usar in ogni cosa una certa sprezzatura, che nasconda l’arte, e dimostri, ciò che si fa

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e dice, venir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi. Da questo credo io che derivi assai la grazia: perché delle cose rare e ben fatte ognun sa la difficultà, onde in esse la facilità genera grandissima maraviglia; e per lo contrario, il sforzare, e, come si dice, tirar per i capegli, dà summa disgrazia, e fa estimar poco ogni cosa, per grande ch’ella si sia.» Das entscheidende Wort heisst hier: «una certa sprezzatura». Ein neues Wort, sagt Castiglione, und er sucht es über den Gegensatz zu umschreiben. Dieser heisst «affettazione», wir sagen dafür: Affektiertheit und meinen ein zu gewolltes, künstliches Markieren von Verhaltensformen, für die wir ein Publikum suchen. Zuviel Inten­tion ist dabei und zuviel «show-off». Was aber die Grazie ausmacht, ist Natürlichkeit. Nicht nur die angeborene, sondern jene raffinierte Form von natürlichem Benehmen, in der man das Angelernte und Einstudierte nicht mehr entdeckt. Die höch­ste Kunst der Vornehmheit ist nicht die Absenz, sondern die Verhüllung der Intention. Eleganz und Grazie darf nicht als Kunst erscheinen, denn sobald man «studio e arte» entdeckt, verfliegt der Kredit «e fa l’uomo poco estimato». Ein anderes Wort für dieses Ideal der Grazie wäre «disinvoltura». Damit meinte man damals die Leichtigkeit und Eleganz der körperlichen Bewegungen, über die ein Tänzer und ein Reiter verfügen müssen – um nicht steif «alla Veneziana» zu erscheinen, sondern leicht und locker und von einer amablen «simplicità». Nun ist es aufschlussreich, die Regieanweisungen Hofmannsthals in der Auftritts­sze­ne des Barons im 1. Akt zu lesen. Wir finden zahlreiche Hinweise darauf, dass der Autor gerade diesen hier nur sehr verkürzt vorgestellten Eleganz-Code der Renaissance im Blick hatte. Da heisst es etwa: Ochs, mit Grandezza zu den Lakaien; oder: der Baron verneigt sich mit Aisance; oder: der Baron, mit weltmännischer Leichtig­keit. – Man könnte versucht sein, den Rosenkavalier als ein Werk zu verstehen, das nach diesem Eleganz-Code angelegt ist, wobei die eigentliche Komik des Stückes durch zweifache Verletzung dieses Codes zustande käme: a) durch Verletzungen nach oben (Geziertes, Gespreiztes, Pompöses, «spanische Tuerei», die Nachäffereien des Faninal, um vornehm zu erscheinen) b) durch Verletzungen nach unten (Rüpelhaftes, Vulgäres, Ordinäres, der ländlich-bäuerliche Ochs, die Lerchenauische Dienerschaft).

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Meine These ist nun, dass das ästhetisch-moralische Zentrum des Rosenkavaliers nichts anderes als diese «disinvolutura» und «sprezzatura» ist, frei­lich nicht allein als ein nach aussen gekehrtes Verhalten, sondern als innere Haltung dem Leben und der vergehenden Zeit gegenüber. Repräsentiert ist dieser Eleganz-Code in der Marschallin. Sie ist die eigentliche Verkörperung der «agevolezza», und sie sagt es selbst in den Zeilen: «Leicht will ich’s machen dir und mir…». «Unforciert» wäre ein anderes Stichwort für dieses Lebensideal. «Nicht nach dem Kalender forciert», so meint es Ochs, bei dem die Triebnatur durchbricht. Doch für die Marschallin ist es etwas anderes: das Nicht-Erzwingen von Ansprüchen einerseits, das Hinnehmen von Unvermeidlichem andererseits. Man könnte deshalb sagen, der Rosenkavalier sei eine Geschichte über die Grazie, mit der wir Unvermeidliches hinnehmen sollen. Doch da der Rosenkavalier eine Bühnengeschichte ist und kein lyrisches Gedicht, belebt sich auch diese Dichtung vor allem durch die Abweichungen vom genannten Ideal. Der Konflikt, der zwischen dem Autor und dem Komponisten im Lauf ihrer Arbeit entsteht, betrifft genau diesen Punkt. Welche Abweichungen sind hier gewünscht und welche sind zu vermeiden? Hofmannsthal sucht die dramatischen Elemente durch Code-Verletzungen nach oben; er will die Komik des Stücks auf der Ebene des Affektierten und Gezierten realisieren. Strauss sieht es anders. Er setzt auf die Regelverletzungen nach unten; ihm ist das ordinär-deftige Element als Bestandteil der Komödie unerlässlich. Aus dieser unterschiedlichen Einstellung erwächst ein spannender, bis in private Verletzungen hineinreichender Künstlerdisput. Auf der Suche nach der zeit­ge­mässen Gestalt der «MusikKomödie» ist Hofmannsthals Gegenspieler kein an­de­rer als der Komponist selbst. Strauss schreibt an Hofmannsthal am 4. Mai 1909: «Ersten Akt gestern erhalten: bin einfach entzückt. Es ist wirklich über alle Massen reizend; so fein, vielleicht ein bisschen zu fein für den grossen Haufen, aber das macht nichts.» Hofmannsthal be­merkt die Spitze, und antwortet am 12. Mai: «Ihr Bedenken, die Arbeit könnte zu fein sein, macht mich nicht ängstlich… Die Ausführung muss, glaub ich, so sein, wie sie ist, nämlich völlig abgehend vom Trivialen und Konventionellen, denn der wirkliche und dauernde Erfolg setzt sich zusammen aus der Wirkung auf die groben und feinen Elemente des Publikums, und die

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letzteren schaffen das Prestige, ohne das man ebenso verloren ist, wie ohne Populärwirkung.» Hier werden die Gefahren­zonen von Hofmannsthal genau ausgeschildert: Trivialität, Konventionalität, das Schielen auf Populärwirkung. Er will die «feinen Elemtente des Publikums» anspre­chen. Das Komödiantische soll vom Prestigiösen nicht abgetrennt werden. Strauss lässt sich freilich durch solcherlei Bedenken nicht hemmen. Am 16. Mai 1909 schreibt er an Hofmannsthal einige Sätze, die den Dichter wohl nicht nur gefreut haben: «Mei­ne Arbeit fliesst wie die Loisach, ich komponiere alles mit Haut und Haar. Morgen beginne ich schon mit dem Lever. Die Szene des Barons ist schon fertig. (...) Wol­len Sie mir dazu noch etwas nachdichten, die Musik ist schon fertig, ich brauche nur Worte zur Begleitung und zum Ausfüllen?» Hofmannsthal ist ein Profi. Er weiss, dass er hier dem Komponisten entgegenkommen muss und liefert die gewünschten Verse «zum Auffüllen.» Doch Strauss will mehr. Für ihn ist das Komödiantische nicht explizit genug. Am 20. Juli 1909 schreibt er Hofmannsthal: «Vergessen Sie nicht, dass das Publikum auch lachen sollte! Lachen, nicht lächeln und schmunzeln! Mir fehlt in unserem Werke bis jetzt eine wirklich komische Situation, es ist alles bloss heiter, nicht komisch!» Hofmannsthal antwortet am 3. August 1909: «Ich verschliesse mich nämlich Ihrem Gedanken über den Unterschied zwischen dem bloss heiteren und dem drastisch Komischen durchaus nicht – sage mir aber, dass eine heitere Gesamtatmosphäre mit lebensvollen kontrastierenden Figuren und ohne langweilige Maschinerie und öde Strecken doch auf die Dauer auch beim Publikum jeder Annäherung an das drastischere operettenhaftere Genre überlegen sein wird. (Siehe Meistersinger und Figaro, worin auch wenig zum Lachen, viel zum Lächeln.)» Hofmannsthal setzt sich durch – jedenfalls was den ersten Akt betrifft. Strauss ist intelligent genug, um den geheimen Drehpunkt des ersten Akts zu entdecken. Hier nämlich ist nicht der Ochs, sondern die Marschallin die zentrale Figur. Man könnte sagen, dass das der Marschallin Gemässe im ersten Akt am Ende auch musikdramatisch obsiegt – Streit wird es später noch einmal um die «Heustelle» des Barons geben. Hofmannsthal ist beim ersten Hören entsetzt und schreibt an Strauss am 12. Juni 1910, die OchsStelle: «muss halt ein Heu in der Nähe dabei sein» sei «nur in einem Ton, schauspielerisch ebenso wie musikalisch, denkbar. Nämlich vertraulich plump,

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pfiffig geflüstert. Als eine dumm-schlaue Intimität zu der Marschallin, mit vorgehaltener Hand geflüstert, aber um Gottes willen nicht gebrüllt.» Genau so, wie wir sie von guten Interpreten heute zu hören bekommen. Im zweiten Akt, in dem nicht die Marschallin, sondern Ochs das Zentrum des Geschehens ist, greifen die Argumente von Strauss besser, wenn er sich mehr Drastik, Donnern und Zetern, Schimpfmonologe und dergleichen wünscht. Hier bringt Strauss Verdi ins Spiel – Falstaffs Monolog «Mondo reo!» Schändliche Welt als Anregung für das, was er sich wünsche. «Das Jetzige ist zu zahm, zu geziert und zaghaft und zu lyrisch.» (13. August 1909) Strauss spürt die dramatischen Schwächen dieses Aktes und verlangt deutlich nach Korrektur. Am 15. September 1909 schreibt er an Hofmannsthal: «Bekomme ich für die Schlussszene des II. Aktes (Baron allein) noch einige drollige Verse: Flucherei auf Octavian, Triumph über den Sieg, Schmerzen im Arm, so ein Gemisch von Kater und Lustigkeit?» Man kann sich gut vorstellen, wie Hofmannsthal vor «Kater und Lustigkeit» und den Zumutungen des Komponisten erschrocken ist. Heute jedoch muss jeder Liebhaber des Rosenkavalier eingeste­hen, dass Strauss das dramatische Talent am Rosenkavalier -Projekt war und dass er mit seinen Argumenten absolut im Recht war. Es war zuviel bleiche und fade Vor­ nehmheit im Text. Was Hofmannsthal retten musste, waren die eigentlich lyrischen Passagen, das heisst die Liebesduette im 2. und im 3. Akt. Da nannte er deutlich das zu vermeidende Vorbild: «Insbesondere das beliebig zu wiederholende ‹O blieb’ er nur bei mir!› gibt vielleicht den gewünschten Anlass zu gesteigerter, nicht bloss zärtlicher Musik. Zu einem eigentlich erotischen à la Wagnerischen Aufeinanderlos­schreien möchte ich diese beiden jungen, naiven, gar nicht walküren- oder tristan­artigen Geschöpfe womöglich nicht zwingen.» (2. September 1909) Für das letzte Duett des 3. Aktes will Hofmannsthal «etwas Mozartisches» und «die Abkehr von der unleidlichen Wagnerischen Liebesbrüllerei ohne Grenzen, sowohl im Umfang als im Mass, – eine abstossend barbarische, fast tierische Sache, dieses Aufeinander losbrüllen zweier Geschöpfe in Liebesbrunst, wie er es praktiziert.» (6. Juni 1909) Dies hat Strauss wiederum sehr präzis verstanden und umgesetzt – ein weiterer Beweis für die unglaubliche «künstlerische Intelligenz» beider Partner, wenn es darum ging, zu erkennen, wer jeweils mit seinen Forderungen im Recht war.

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Um zu verstehen, welche zwiespältigen Gefühle Hofmannsthal bereits zu Beginn der Arbeit seinem Komponisten gegenüber empfand, ist noch anderes zu beachten, als was die beiden einander mitteilten. Hier bietet Hofmannsthals brieflicher Gedanken­austausch mit Harry Graf Kessler eine Ergänzung, die uns heute noch staunen lässt. Am 26. März 1909 schreibt er an Graf Kessler: «Ich hoffe, ich kann eine gewisse Ein­wirkung auf ihn nehmen, dass er auch sich von Salome und Elektra energisch differenciert. Gewiss ist es bei diesem eigentümlichen Verhältnis meine Pflicht, ihn auch in gewissem Sinn zu führen. Denn Kunstverstand habe ich mehr als er, oder höheren, auch besseren Geschmack. (Im übrigen mag er mir an Kraft oder eigentli­chem Talent überlegen sein, das gehört ja nicht hierher.)» Es ist ein interessantes Begabungsparallelogramm, das Hofmannsthal hier skizziert: sein Kunstverstand und guter Geschmack gegen die Kraft und das «eigentliche Talent» von Strauss. Vermutlich wäre es nicht falsch, den fertigen Rosenkavalier als das optimale Ergebnis dieser unterschiedlichen Anlagen zu bezeichnen. Um welche Mitte dreht sich letzlich der Rosenkavalier? Kann man den Titel des Werks dafür als Hinweis verstehen? Wohl kaum. Wie die Titelfrage zwischen Hofmannsthal, Graf Kessler und Strauss diskutiert wurde, ist das groteskeste Stück in der Entstehungsgeschichte des Werks. Von Hofmannsthal her scheint es keinen Zweifel zu geben. Das Stück müsste doch Die Marschallin heissen (oder wie Peter Wapnewski es vorgeschlagen hat: Die Marschallin und die Zeit) Aber es gibt in den Dokumenten keinen Beleg dafür, dass Hofmannsthal dies auch wirklich vorgeschlagen hätte. Der erste, der das Werk nicht nur «Spieloper», sondern mit konkretem Namen benennt, ist Strauss. Er schlägt im Mai 1909 als Titel vor: Der Ochs von Lerchenau und die silberne Rose. Hofmannsthal geht nicht darauf ein, wider­spricht aber auch nicht. Vermutlich war er in der Titelfrage noch sehr unsicher. Was wir wissen, ist, dass auch er den Baron als Titelfigur zu dieser Zeit favorisierte. Dann taucht im Briefwechsel mit Graf Kessler der Operettentitel Der Vetter vom Land auf. Er wird von Graf Kessler selbst als langweilig und im schlechten Sinn altmodisch bezeichnet. Sein Gegen­ vorschlag lautet nun Quin-Quin – der Name sei «wirklich suggestiv». Doch weder Hofmannsthal noch Strauss beissen an. Am 8. Oktober heisst es unmiss-

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verständlich in einem Brief Hofmannsthals an Graf Kessler zu Quin-Quin: «gleich unsympathisch und absolut unacceptabel wegen des fatalen Anklanges an zahllose französ. Possen und Operetten To-to, Rip-Rip etc.etc.». – «Marian­ del, mit irgend einem Adjectiv» scheint die nächste gemeinsame Trouvaille ge­wesen zu sein. Keine besonders geniale Zwischenlösung! Dann soll Hofmannsthal als erster den Titel «Rosencavalier» ins Spiel gebracht zu haben. Doch Graf Kessler ist alles ande­re als begeistert und holt nun eine ganze Reihe von Titeln aus seinem Zauberhut: Der Grobian in Liebesnot – Der Grobian im Liebesspiel – Die galanten Abenteuer des Barons von Lerchenau – Die Liebeslist – Die Schule der Unverschämten – Ochsens Schulung. Im Dezember 1909 schreibt Hofmannsthal an Kessler: «Ich bin ziemlich fest für den Titel Ochs von Lerchenau» entschlossen, der den buffo in die Mitte stellt, das derbe Element andeutet und ganz gut klingt und aussieht.» Doch Hofmannsthal wird nach ersten Reaktionen auf den nun kursierenden Versuchstitel wieder unsicher. Am 4. Mai 1910 schreibt Alfred Roller, der für Hofmannsthal das Regiebuch ausarbeitet, an Strauss: «Hofmannsthal schreibt mir, der Titel werde wohl ‹faute de mieux› Der Rosenkavalier sein. (...) Mir gefällt der Titel sehr gut. Er spricht sich leicht und lässt etwas Fröhliches ahnen.» Strauss, dem der Vorschlag weit weni­ger gefiel, fügte sich schliesslich: «Mir gefällt der Rosenkavalier gar nicht, mir gefällt der Ochs! Aber was will man machen. Hofmannsthal liebt das Zarte, Ätherische, meine Frau befiehlt: Rosenkavalier. Also Rosenkavalier! Der Teufel hol ihn!» Damit war zwar der Titel da – doch einer, der an den wirklichen Hauptfiguren der Oper vorbeigeht, selbst wenn wir zugestehen wollen, dass im 3. Akt tatsächlich der Rosenkavalier Rofrano sich als eigentliche Drehfigur der Geschehnisse nicht schlecht behauptet. Schon am 20. Mai 1909 hatte Hofmannsthal an Graf Kessler seine hierarchisierende Evaluation der Figuren kundgetan: «Wie ich erst im Arbeiten verstand, sind sie (sc. die Marschallin) und Ochs, als Gegenpole (Hervorh. von mir) die Hauptpersonen, Octavian und Sophie, das Liebespaar, de second plan. Die Polarität ist die absolute, wenn auch keineswegs geistlose Gemeinheit und die vornehme reife Persönlichkeit: in diesem Sinn endet die Marschallin das Stück: sie wird nicht sitzen gelassen, sondern sie schiebt mit einer überlegenen Geste Octavian zu Sophie hin. (Das Liebespaar als Centrum, wagnerisch, liegt mir gar nicht; beim Ausarbeiten des Scenario war

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uns das noch nicht so ganz klar.)» Hofmannsthal hat offensichtlich gar nicht versucht, die für ihn zentralen Figuren in den Titel der Oper hineinzuretten. Er hatte genug dafür zu kämpfen, dass sie im Verlauf des Stücks die ihnen von ihm zugedachte Stellung zu halten vermögen. Am 15. August 1909 schreibt Hofmannsthal an Graf Kessler: «Von den Menschen, denen ich das Fertige zeigte, wurde sehr bedauert, dass die Marschallin, die man liebgewonnen hatte, im II nicht vorkommt. Da sie nun wirklich die netteste Figur ist, so muss ich recht sehr trachten, ihr in III alle Vorteile einer dominierenden und zugleich rührenden Situation zuzuwenden, damit sie den Hörern als eine Hauptfigur oder fast als die Hauptfigur sich eingrabe.» Was Hofmannsthal hier will, war leichter gewollt als getan. Einen Liebhaber an eine jüngere Frau zu verlieren, mag im Leben oft einen dramatischen Verlauf nehmen, auf der Bühne ist das schiere Ziehen­lassen und der vornehm-melancholische Verzicht dramatisch keine besonders ergiebige Handlung. Strauss wusste, dass die Bühne nicht mit Verzichts- und Verlust­ethik drei Akte lang zu beleben ist und hat deshalb instinktiv den Gegenspieler der Marschallin als dramatische Figur favorisiert. Hofmannsthal hat dies im Verlauf der Arbeit genau begriffen – und in seiner künstlerischen Sensibilität hat er dagegen überhaupt nicht opponiert. Was er indessen versucht hat, war etwas anderes: er hat alles getan, um die Gegenfigur, den Baron Ochs, gleichsam mit der Aura der Marschal­lin zu infizieren. Damit hat er den Zauber dieser Frau in seiner sonderbarsten und vielleicht allerstärksten Wirkung vorgeführt. Es ist nichts als dieser Zauber, der noch die ruppigsten und blamabelsten Absichten des Landadligen in ein erträgliches, ja sogar vergnügliches Spiel zu verwandeln vermag. Dass Hofmannsthal bei der Figur des Barons ästhetisch gegensteuern wollte, wird deutlich, wenn wir uns die Quellen für diese Figur vor Augen führen. Als wichtigste gilt zurecht Molières Monsieur de Pourceaugnac – die Geschichte jenes geprellten Provinzjunkers, der gern wieder in seine Provinz zurückflüchtet, nachdem er erfährt, wie es ihm unter schlaueren Menschen in der Stadt ergeht. Hofmannsthal hat sich auch in Les Aventures du Chevalier de Faublas um-gesehen, selbst die späte­re Operettenfassung des Stoffes L’ingénu libertin ou la Marquise et le Marmiton diente ihm als Orientierung. Wichtig sollen zudem die Tagebücher des Fürsten Johann Josef Khevenhüller (1706-

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1776) gewesen sein. Doch die für die Konzeption der Figur des Ochs entscheidende Klärung fand zwischen Hofmannsthal und Graf Kessler im Mai 1909 statt. Der Vorgang ist ein Lehrstück über Annäherungen unter­schiedlicher Standpunkte zwischen künstlerisch kollaborierenden Freunden. Es ging vor allem um die grosse Arie des Barons im 1. Akt, in der Ochs der Marschal­lin auseinandersetzt, dass ein Bräutigam alles andere als ein lahmer Esel sei und dass der Tag keine Stunde und das Jahr keinen Tag kenne, an dem für einen rechten Lieb­haber «dem Knaben Cupido nicht ein Geschenkerl abzulisten wäre.» Diese wundervoll galante und gleichzeitig derb-unanständige Auseinandersetzung über die vielerlei Arten, wie «das Frauenzimmer will ge­ nom­men sein», hat vom ersten Entwurf bis zur definitiven Fassung viele Änderungen erfahren. Die Hofmannsthalsche Endfassung kam schliesslich so spät, dass Strauss sie nicht mehr in allen Details be­rücksichtigen wollte – die Musik war für ihn fertig! Dies obwohl Hofmannsthal auf der definitiven Abschrift vermerkt hatte: «unbedeutende, aber für mich unerlässliche Veränderungen in Ton u. Wortlaut». So gibt erst die Buchfassung des «Rosenkava­liers» in Treue das Schlussergebnis dieser Auseinandersetzung zwischen Graf Kessler und Hofmannsthal wieder. Graf Kessler findet nach der ersten Lektüre, der Baron sei nicht roh genug gezeich­net. Er müsse derber sein, etwas Groteskes, Rabelaisartiges an sich haben und dürfe vor allem nicht zu viel Reflektieren. «Ochs ist ein Zweckmensch, wenn seine Zwecke auch unmoralisch sind. Wenn er Betrachtungen anstellte, brauchte er gar nicht so viel Frauenzimmer. Gerade weil er keine Poesie hat, muss er immer wieder neue haben. Und das degoutante an ihm ist eigentlich nur, dass er die Blüte, die er knickt, nicht zu geniessen weiss, dass er sie beschmutzt und vergeudet. (...) Ochs muss doch dumm sein; das ist absolut existentiell. Wie soll man aber einen Menschen für dumm hinnehmen, der die allerraffiniertesten, Tizianischen Landschaftseindrücke, Gior­gio­ne Phantasien hat?» (Graf Kessler am 17. Mai 1909) Doch damit nicht genug. Bereits am Tag darauf doppelt Graf Kessler nach – ohne Hofmannsthals Reaktion abzuwarten – mit einer langen Wortanalyse der besagten Arie. Je mehr er darüber nachdenke, umso mehr werde ihm deutlich: «so spricht ein Künstler, ein Ästhet, aber nie im Leben der Freiherr von Ochs auf Lerchenau. (...) Ein Ochs freut sich, wenn er die Kuhmagd bei

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ihrer Verrichtung überrascht, wenn er sie kneifen kann, dass sie quietscht, wenn die Mädchen in der Schwemme ihre Röcke hochheben; aber ‹wiegende Hüften› und ‹namenlos hingegebene Seligkeit› sind für ihn Kaviar. Diese Arie des Ochs kommt mir so vor, als ob Caliban plötzlich anfienge, wie Ariel zu reden, oder Bottom der Schneider wie Titania.» Hofmannsthal antwortet am 20. Mai. Zunächst sei er «grün vor Wut» ge­ worden, habe sich den Text Zeile für Zeile hergenommen und finde nun «en somme und in aller Ruhe noch nicht, dass du Recht hast». Doch Graf Kessler ist ihm hier bei der Suche nach den richtigen Nuancen zu wichtig, als dass er die Argumente beiseite schieben könnte. «Jetzt musst du fürs erste versuchen, dich mir zu accomodieren, dann wieder ich mich dir.» Und nun Hofmannsthals wohlbedachte Gegengründe für seinen angeblich zu vornehm geratenen Ochs: «Mein Lerchenau, den ich sehr genau sehe, höre und rieche, ist kein dummer Rüpel pur et simple – keineswegs ein Philister, sondern ein ‹Kerl›, ein rustikaler, im Falstaff stecken gebliebener kleinadli­ger Don-Juan, oder wenn schon Philister, jedenfalls gesteigerter Philister, HalbgottPhilister – und kein Vieh. (...) Ein Luder ist er, ein gemeiner Kerl, ein Ausnützer, mit einer Art von Weltkenntnis, dazu ein Schmutzfink, ein Filz – aber gar nicht ohne Kraft, nicht ohne Humor. Von der einen Sache in der Welt, von der er (nebst dem Essen) was versteht, näm­lich von Weibern, hauptsächlich der dienenden Classe, von der versteht er auch zu reden, so wie jeder von seinem métier zu reden versteht, bramarbasierend, mit einem ungesuchten pittoresque und natürlich gefundenen Nuancen. Bitte Harry lies die ganze Arie jetzt neben mir sitzend ruhig durch, ob da ein Dichter redet, ein Oedipus-Hofmannsthal – oder ein glouton, ein goulu von seiner Lieblingsspeise redet. Lies es und denk dir es von einem fetten lüsternen Gesicht, halb Fuchs halb Schwein, buffonesk gesungen, wie ich unterm Arbeiten immer singe und agiere.» Und als ein P.S. fügt Hofmannsthal hinzu: «Die Constatierung des pikanten Sich-Wiegens in den Hüften bei slawischen Bäuerin­nen hab ich hundertmal von ganz banalen Officieren bei Casinogesprächen ge­hört – wo nichts in einem oesterr. Casino undenkbarer ist als Pretiosität! Aber einen Unterofficier hab ich in dem Ochs nicht sehen wollen! Und er ist doch immmerhin eine Art homme du monde und vor einer grossen Dame! Da kann er doch nicht von hochgehobenen Röcken und

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in Hintern-Zwicken reden (das wäre ja vor lauter Wahrheit wieder unwahr!)» Graf Kessler liest die Entgegnung, wundert sich, mildert darauf seine Kritik, um auf den Punkt loszusteuern, wo er sich im Recht fühlen darf. Am 24. Mai 1909 schreibt er an Hofmannsthal unter anderem: «Seine (sc. des Barons) Gedanken sind allerdings schweinisch, aber vor der Marschallin hat er als Vetter vom Lande eine Art von bäuerischem Respekt. Deshalb versucht er sich, auch wo er aufgeknöpft redet, doch nach seinen Begriffen dezent auszudrücken. Leider thut er das, indem er lyrisch wird; ich hätte ihn mir eher in einer drollig förmlichen Weise ungeheuer indezente Sachen sagend vorgestellt. So wenigstens habe ich es in Wirklichkeit erlebt. Wir differieren also über den Stil einer Maske, über die Art von Maske, die einem Ochs zur Hand ist, wenn er sich in eine solche auch für ihn bewusst gefährliche Situation begibt. Aber darüber, dass er eine Maske vornimmt, differieren wir nicht im geringsten.» Hofmannsthal sah, dass die Tendenz zum Lyrischen in dieser Arie wirklich vorhanden und fehl am Platz war. Er machte sich an die Revision einzelner Stellen. Am 30. Mai schon konnte er an Graf Kessler berichten: «Ich habe nun die Arie des Ochs umgeschrieben. Der Mimus wird dadurch in diesem Teil weniger inconsequent, es hält sich besser, scheint mir. Bitte schreibe Deine aufrichtige Meinung darüber. Als mimisches Grundmotiv der längeren Expectoration kann man jetzt, glaube ich, etwas wie die tactlose, ungebetene Eloquenz des Gourmands oder des Jägers gelten lassen. Stimmt dir das wenigstens hinreichend?» Es stimmte. Graf Kessler antwortet am 5. Juni: «Jetzt scheint mir die Arie des Ochs durchaus im Ton, ich meine richtig als Valeur, namentlich wenn die Musik das Mimische in der richti­gen Weise herausbringt und unterstreicht.» Damit war das ideale Mixtum von Unverschämtheit und Contenance sprachlich gefunden. Die «Valeurs» waren richtig gesetzt. Wer den 1. Akt des Rosenkavaliers hört, wird auch dem Komponisten gerne zugestehen, dass er diese schwierige Mixtur von ungehemmter Direktheit und gespielter Grandezza, jenes ungezwungene leutselige Betragen eines Kavaliers, wie es die Jungfer Marianne im Faninalschen Haus später nennen wird, grossartig getroffen hat. Es ist nicht unwichtig, hier anzufügen, dass Richard Strauss sich bis in seine alten Tage gegen die vulgarisierende und verhässlichende Darstellung des Ochs gewehrt hat, wie ein Brief vom 20. September 1943 an Willi Schuh es

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direkt belegt: «Ich unterschreibe wiederum, dass Ochs kein widerlicher, hässlicher alter Geisbock, sondern wenn auch ländlich angehaucht und mit den unsympathischen Eigenschaften eines wahllosen Schürzenjägers und geizigen Landedelmannes behaftet, doch immerhin ein ansehnlicher, sogar hübscher Don Juan von etwa 35 Jahren sein soll, der sich im Boudoir einer Marschallin noch halbwegs manierlich (bis er im III. Akt à la Beckmesser gänzlich entgleist, nachdem er im II. Akt schon bedenkliche Zeichen von Feigheit aufgewie­sen hat und auch dem Parvenu Faninal gegenüber sich taktlos benommen) zu benehmen versteht. (..) Die Figur ist vom Dichter kräftig genug gezeichnet, so dass der Darsteller eher mildern und verschönern soll, statt das Derbe und Unsympathische noch zu unterstreichen.» Gerade diese Ambivalenz von Vornehmheit und Triebnatur, die dramatisch und atmosphärisch die Handlung des Rosenkavaliers prägt, wurde nicht gleich verstanden und begrüsst. Zwei kritische Stimmen, erhoben von Künstlern, die zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren jener Zeit gehörten, sollen hier stehen als Beweis dafür, wie hoch die Wellen der Missverständnisse hier schlugen. Am 29. November 1910 notiert Arthur Schnitzler in seinem Tagebuch: «Abends las Hugo den Rosenkavalier. (...) In der Figur der Marschallin etwas vom Dichter Hofmanns­thal; im Detail etwas von dem gebildeten ja gelehrten Culturmenschen. Das ganze inhaltlich dünn; ja banal; im erotischen die Übertreibungen des Unsinnlichen bis zur Roheit; der Humor dürr-grotesk; die Verse auffallend schlecht. Als Textbuch immer­hin nicht ohne Vorzüge, was bei einem so unmusikalischen Menschen ein Beweis von Talent ist.» – Am 5. Februar 1911 bedankt sich Thomas Mann brieflich bei Hofmannsthal für die Übersendung der Textausgabe des Rosenkavaliers. Er habe es gelesen «mit dem aufrichtigsten Entzücken über soviel Anmut und Leichtigkeit. Aber wie, um Gottes willen, verhalten denn Sie sich nun eigentlich zu der Art, in der Richard Strauss Ihr leichtes Gebilde belastet und in die Länge gezogen hat? Vier Stunden Getöse um einen reizenden Scherz! Und wenn dieses Missverhältnis die einzige Stylwidrigkeit bei der Sache wäre! Wo ist Wien, wo ist achtzehn­tes Jahrhundert in dieser Musik? Doch nicht in den Walzern? Sie sind anachronistisch und stempeln also das Ganze zur Operette. Wäre es nur eine. Aber es ist Mu­sik­drama anspruchsvollsten Kalibers. Dabei ist, da

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Strauss von Wagners Kunst, die Deklamation mit dem Riesenorchester nicht zuzudecken, garnichts versteht, kein Wort verständlich. Alle die tausend sprachlichen Delikatessen und Kuriositäten des Buches werden erdrückt und verschlungen, und das ist am Ende gut, denn sie stehen in schreiendem stilistischen Widerspruch zu dem raffinierten Lärm, in dem sie untergehen, und der noch zweimal so raffiniert, aber viel weniger Lärm hätte sein dürfen. Kurz ich war recht verstimmt und finde, dass Strauss nicht wie ein Künstler an Ihrem Werk gehandelt hat.» Wir denken heute anders. Wie das Publikum von damals, das vom Zauber der Worte und vom Glanz der Musik gefangen war – und vielleicht am allermeisten vom Charme, mit welchem Unvermeidliches hier fürs Auge und fürs Ohr vorgeführt wur­de. Wir wissen heute auch, dass die Akte 2 und 3 Richard Strauss die entscheiden­den dramatischen Impulse verdanken – ja dass ohne seine Interventionen und sein Gespür für Bühnengeschehnisse das Stück geradezu unaufhaltsam ins Lyrisch-Sentimentale und ins Resignativ-Melancholische hineingeraten wäre. Diese Lebendigkeit verdankt die Oper am allermeisten der Figur des Ochs. Der Baron Ochs mit seinem Betragen ist es, der uns vor Augen führt, an welche Grenzen Schönheit, Grazie und Lebensklugheit unvermeidlich stossen und was hier die Folgen von Grenzüberschreitungen sind. Wer die untere Schranke durchbricht, gerät ins Ordinäre und Vulgäre; wer die obere miss­ achtet, ins Pompöse, Steife und Gezierte. Das Komische ist nichts, als das Durch­brechen der Schranken des Natürlichen. Das Natürliche ist das Schwierigste und das Raffinierteste, eben: sprezzatura – disinvoltura – agevolezza. Nur das Natürliche ist wirklich schön. An allem anderen können wir uns amüsieren oder, wenn es zuviel wird, uns ärgern. Dies ist die Lehre des Rosenkavaliers, die wir der Marschallin und ihrem Gegenspieler Ochs zu gleichen Stücken verdanken.

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DER ROSENKAVALIER Komödie für Musik in drei Aufzügen op. 59 Text von Hugo von Hofmannsthal

Personen

Die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg  S opran Der Baron Ochs auf Lerchenau  B ass Octavian genannt Quinquin, ein junger Herr aus grossem Haus  M ezzosopran Herr von Faninal ein reicher Neugeadelter Bariton Sophie seine Tochter Sopran Jungfer Marianne Leitmetzerin die Duenna  S opran Valzacchi ein Intrigant  Tenor Annina seine Begleiterin  A lt Ein Polizeikommisar Bass Der Haushofmeister der Feldmarschallin  Tenor Der Haushofmeister bei Faninal  Tenor Ein Notar Bass Ein Wirt  Tenor Ein Sänger Tenor Drei adelige Waise  S opran, Mezzosopran, Alt Eine Modistin  S opran Ein Tierhändler Tenor Vier Lakaien der Marschallin  2 Tenöre, 2 Bässe Vier Kellner 1 Tenor; 3 Bässe Chor

die Faninalsche Dienerschaft, vier kleine Kinder Stumme Rollen

Ein Friseur, ein Flötist, ein kleiner Neger, Leopold, eine adelige Witwe, Küchenpersonal, verschiedene verdächtige Gestalten Die Handlung spielt in Wien in den ersten Jahren der Regierung Maria Theresas, um 1740 bis 1745


ERSTER AUFZUG Zimmer der Feldmarschallin. OCTAVIAN

Wie Du warst! Wie Du bist! Das weiss niemand, das ahnt Keiner! MARSCHALLIN

Beklagt Er sich über das, Quinquin? Möcht’ Er, dass viele das wüssten? OCTAVIAN

Engel! Nein! Selig bin ich, dass ich der Einzige bin, der weiss, wie Du bist! Keiner ahnt es! Niemand weiss es! Du, Du, Du! – Was heisst das «Du»? Was «Du und ich»? Hat denn das einen Sinn? Das sind Worte, blosse Worte, nicht? Du – sag’! – Aber dennoch: Es ist etwas in ihnen; ein Schwindeln, ein Ziehen, ein Sehnen und Drängen, ein Schmachten und Brennen: Wie jetzt meine Hand zu Deiner Hand kommt, das Zudirwollen, das Dichumklammern, das bin ich, das will zu Dir; aber das Ich vergeht in dem Du… Ich bin Dein Bub, aber wenn mir dann Hören und Sehen vergeht – wo ist dann Dein Bub? MARSCHALLIN

Du bist mein Bub’, Du bist mein Schatz! Ich hab’ Dich lieb! Man hört von fern ein leises Klingeln. OCTAVIAN fährt auf

Warum ist Tag? Ich will nicht den Tag! Für was ist der Tag! Da haben Dich alle! Finster soll sein! Die Marschallin lacht leise. OCTAVIAN

Lachst Du mich aus? MARSCHALLIN

Lach’ ich Dich aus? OCTAVIAN

Engel!

MARSCHALLIN

Schatz Du, mein junger Schatz. wieder ein feines Klingeln

Horch! OCTAVIAN

Ich will nicht. MARSCHALLIN

Still, pass auf! OCTAVIAN

Ich will nichts hören! Was wird’s denn sein? das Klingeln näher

Sind’s leicht Laufer mit Briefen und Komplimenten? Vom Saurau, vom Hartig, vom portugieser Envoyé? Hier kommt mir keiner herein! Hier bin ich der Herr. MARSCHALLIN

Schnell, da versteck’ Er sich! Das Frühstück ist’s. Schmeiss’ Er doch seinen Degen hinters Bett! Octavian versteckt sich. Ein kleiner Neger, ein Präsentierbrett mit der Schokolade tragend, trippelt über die Schwelle, stellt das Servierbrett auf das kleine Tischchen und verschwindet wieder. Octavian kommt aus seinem Versteck heraus. MARSCHALLIN

Er Katzenkopf, Er Unvorsichtiger! Lässt man in einer Dame Schlafzimmer seinen Degen herum­ liegen? Hat Er keine besseren Gepflogenheiten? OCTAVIAN

Wenn Ihr zu dumm ist, wie ich mich benehm’, und wenn Ihr abgeht, dass ich kein Geübter in solchen Sachen bin, dann weiss ich überhaupt nicht, was Sie an mir hat! MARSCHALLIN

Philosophier’ Er nicht, Herr Schatz, und komm Er her. Jetzt wird gefrühstückt. Jedes Ding hat seine Zeit. OCTAVIAN

Marie Theres’! MARSCHALLIN

Octavian!


OCTAVIAN

OCTAVIAN

Bichette!

Ja freilich hör’ ich was, aber muss es denn Dein Mann sein!? Denk’ Dir doch, wo der ist: im Raitzenland, noch hinterwärts von Esseg.

MARSCHALLIN

Quinquin!

MARSCHALLIN OCTAVIAN

Mein Schatz!

Ist das sicher sehr weit? Na, dann wird’s halt was anders sein. Dann is ja gut.

MARSCHALLIN

Mein Bub’!

OCTAVIAN

Du schaust so ängstlich drein, Theres’.

OCTAVIAN

Der Feldmarschall sitzt im crowatischen Wald und jagt auf Bären und Luchsen. Und ich, ich sitz’ hier, ich junges Blut, und jag’ auf was? Ich hab’ ein Glück, ich hab’ ein Glück!

MARSCHALLIN

Weiss Er, Quinquin – wenn es auch weit ist – der Feldmarschall ist halt sehr geschwind. Einmal – sie stockt

MARSCHALLIN

OCTAVIAN

Lass Er den Feldmarschall in Ruh’! Mir hat von ihm geträumt.

Was war einmal? Was war einmal? Was war einmal? Bichette! Bichette! Was war einmal?

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MARSCHALLIN

Heut Nacht hat Dir von ihm geträumt? Heut nacht?

Ach sei Er gut. Er muss nicht alles wissen.

MARSCHALLIN

So spielt sie sich mit mir! Ich bin ein unglücklicher Mensch!

OCTAVIAN

Ich schaff’ mir meine Träume nicht an. OCTAVIAN

MARSCHALLIN

Heute Nacht hat Dir von Deinem Mann geträumt? Heute Nacht?

Jetzt trotz’ Er nicht. Jetzt gilt’s:

MARSCHALLIN

Mach’ Er nicht solche Augen. Ich kann nichts dafür. Er war einmal wieder zu Haus.

horcht

Es ist der Feldmarschall. Wenn es ein Fremder wär’, so wär’ der Lärm da draussen in meinem Vorzimmer. Es muss mein Mann sein, der durch die Garderob’ herein will und mit den Lakaien disputiert. Quinquin, es ist mein Mann! Octavian läuft gegen rechts

OCTAVIAN

Der Feldmarschall? MARSCHALLIN

Es war ein Lärm im Hof von Pferd’ und Leut’ und Er war da. Vor Schreck war ich auf einmal wach, nein, schau’ nur, schau’ nur, wie ich kindisch bin: ich hör’ noch immer den Rumor im Hof. Ich bring’s nicht aus dem Ohr. Hörst Du leicht auch was?

Nicht dort, dort ist das Vorzimmer. Da sitzen meine Lieferanten und ein halbes Dutzend Lakaien. Da! Zu spät! Sie sind schon in der Garderob’! Jetzt bleibt nur eins! Versteck’ Er sich! nach einer kurzen Pause der Ratlosigkeit

Dort! OCTAVIAN

Ich spring’ ihm in den Weg! Ich bleib’ bei Dir. MARSCHALLIN

Dort hinters Bett! Dort in die Vorhäng’! Und rühr’ Dich nicht!


Programmheft DER ROSENKAVALIER Richard Strauss (1864–1949)

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Premiere am 4. Juli 2004, Spielzeit 2003/2004

Wiederaufnahme 15. Februar 2019, Spielzeit 2018/2019

Herausgeber

Intendanz

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

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Andreas Homoki Ronny Dietrich

Carole Bolli, Joachim Buroh

Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Hugo von Hofmannsthal, «Ungeschriebenes Nachwort zum ‹Ro­senkavalier›», in «Gesammelte Werke. Prosa III», Frankfurt 1952 – Die Inhaltsangabe sowie «Das Gleichzeitige im Ungleichzeitigen» wurden für dieses Programmbuch geschrieben – Hugo von Hofmannsthal, «Dem ‹Rosenkavalier› zum Geleit», in «Hugo von Hofmannsthal/Richard Strauss ‹Der Rosenkavalier›, Fassungen – Filmszenarium – Briefe, Fankfurt /Main 1971 – Aurelius Au­gus­tinus, «Denn was ist Zeit», in «Bekenntnisse», 11. Buch, Kempten 1884 – Thomas Mann, «Was ist die Zeit», in «Der Zauberberg», Berlin 1924 – Ruth E. Müller, «Zeit und Identität im ‹Ro­ senkavalier›, in Programmheft «Der Rosenkavalier», Oper

Studio Geissbühler Fineprint AG

Frankfurt, Saison 1992/93 – E. Wenzel Mraček, «Baron von Kempelens Schach-«Automat», in «Simulatum Corpus. Vom künstlichen zum virtuellen Menschen», Graz 2001 – Iso Camartin, «Das leutselige Betragen eines Kavaliers», in «Gegenspieler», hrsg. von Thomas Cramer und Werner Dahlheim, München 1994. Bildnachweise: Suzanne Schwiertz fotografierte das «Rosenkavalier»-En­semb­le während der Klavierhauptproben 2004. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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