Die Frau ohne Schatten

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DIE FRAU OHNE SCHATTEN

R ICHAR D STR AUSS


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DIE FRAU OHNE SCHATTEN RICHARD STRAUSS (1864-1949)



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PROLOG Die Tochter des Geisterfürsten Keikobad kann sich in verschiedene Tiere verwan­ deln. Deshalb hat es die Amme schwer, über sie zu wachen. Ausserdem fühlt sich die Feentochter zu den Menschen hingezogen. Eines Tages begegnet sie in der Gestalt einer weissen Gazelle dem Kaiser der südöstlichen Inseln, der auf der Jagd zu den sieben Mondber­gen vorgedrungen ist. Sein roter Jagdfalke be­deckt der Gazelle die Augen, so dass der Kaiser sie mit einem Pfeil verletzen kann. In höchster Bedrängnis verwandelt sie sich in ein junges, schönes Weib. Der Kaiser verliebt sich sofort in sie und macht sie zu seiner Frau. Er hält sie jedoch von den Menschen fern. Die Nächte verbringt er mit ihr, tagsüber geht er auf die Jagd und überlässt die Kaiserin der Obhut der Amme. Die Kaiserin hat die Gabe, Tier­ gestalt an­nehmen zu können, verloren. Sie ist jedoch noch nicht ganz Mensch geworden: sie hat bisher kein Kind empfangen und wirft keinen Schatten.

1. AKT 1. Szene Wie jeden Monat erscheint ein Bote aus dem Geisterreich und fragt die Amme insgeheim, ob die Kaiserin einen Schatten wirft. Es ist der zwölfte Bote; er verkündet der Amme, dass die Kaiserin, wenn sie nach Ablauf von drei Tagen immer noch ohne Schatten ist, ins Gei­sterreich zurückkehren muss, der Kaiser aber versteinern wird. Der Kaiser geht auf die Jagd. Er will seinen roten Falken suchen, den er in der Erregung der ersten Begegnung mit seiner Frau mit einem Dolch verletzt und vertrieben hatte. Als die Kaiserin erwacht, erscheint der Falke und gemahnt an den Fluch, den die Kaiserin von einem Talisman kennt, jedoch vergessen hatte: Wirft sie nach Ablauf eines Jahres keinen Schatten, wird ihr Mann zu Stein. Die Kaiserin bestürmt die Amme, ihr zu einem Schatten zu verhelfen. Widerwillig verrät die Amme, wo ein Schatten zu bekommen wäre: Bei den Menschen, die der Amme verhasst sind.

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2. Szene: Der Färber Barak ernährt nicht nur seine junge Frau, eine Waise, die er aus der Armut erlöst hat, sondern auch seine missgestalteten drei Brüder und die Bettelkinder aus der Nachbarschaft, denen er Arbeit gibt. Nichts wünscht er sich sehnlicher als eigene Kinder, die die Färberin jedoch bisher nicht emp­ fangen hat. In Baraks Abwesenheit schleichen sich die Amme und die Kaiserin bei ihr als Dienerinnen ein. Der Amme gelingt es, die Färbersfrau, der sie Reich­ tümer und erotische Abenteuer leibhaftig vor Augen stellt, zu überreden, einen Handel einzugehen: Wenn sie künftiger Mutterschaft abschwört und damit ihren Schatten preisgibt, werden sich ihre Wunschträume erfüllen. Die Färberin willigt in den Pakt. Ihr Bett wird von dem ihres Mannes geschieden. Damit bei dessen Rückkehr vom Markt das Abendessen fertig ist, zaubert die Amme mit Hilfe eines dienstbaren Geistes fünf Fische auf den Herd. Aus ihnen erklingen auf einmal die klagenden Hilferufe der ungeborenen Kinder der Färberin, denen der Weg in die Welt versperrt zu werden droht. Amme und Kaiserin verschwin­ den. Als Barak eintritt, muss er zur Kenntnis nehmen, dass seine Frau von nun an getrennt von ihm schlafen will und zwei Dienerinnen angenommen hat. Er geht zu Bett, während die Wächter der Stadt die Gattenliebe als die Brücke, auf der die Toten wiederum ins Leben gehen, preisen.

2. AKT 1. Szene Tags darauf wartet die Amme, bis Barak mit seiner Ware aus dem Haus geht. Dann lässt sie von Neuem das Trugbild eines Jünglings erscheinen, von dem die Färberin insgeheim träumt. Die Kaiserin spürt, dass Barak bald heimkehren wird, und die Amme lässt den Spuk schnell wieder verschwinden. Barak hat zusammen mit seinen Brüdern gross eingekauft und die Kinder aus der gesam­ ten Nachbarschaft zu einem Festmahl geladen. Ohnmächtig versucht die Fär­ berin, gegen die Feierstimmung aufzubegehren.

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2. Szene Der Kaiser ist dem Falken nachts zum Falknerpavil­lon gefolgt. Die Kaiserin hatte ihrem Mann geschrieben, sie werde für drei Tage und Nächte dort sein. Nun beobachtet er, wie Kaiserin und Amme sich heimlich in den Pavillon schlei­ chen; am Geruch ihrer Gewänder erkennt der Kaiser, dass sie bei den Menschen waren. Er fühlt sich hintergangen und will die Kaiserin töten, vermag es jedoch nicht. Verzweifelt folgt er dem Falken, der ihn noch an einen anderen Ort zu führen scheint.

3. Szene Am Morgen des folgenden Tages gibt die Amme Barak heimlich einen Zauber­ trunk, der ihn in Schlaf versetzt. Die Färberin erschrickt zunächst, lässt sich jedoch dann wieder von der Amme in das Gaukelspiel um den begehrten Jüng­ ling hineinziehen. Als ihr Verlangen so stark wird, dass sie schon bereit ist, sich dem Fremden hinzugeben, schreckt sie im letzten Augenblick zurück und weckt ihren schlafenden Mann. Dieser taumelt hoch, greift nach einem Hammer als Waffe gegen die vermeintlichen Einbrecher und zerbricht dabei einen Mörser. Die Angst der Färberin schlägt in Zorn auf ihren Mann um, der nicht begreift, was seine Frau so aufbringt. Sie geht mit der Amme aus; nur die Kaiserin bleibt bei Barak, dessen – von ihr mitverursachtes – Leid sie rührt.

4. Szene Nachts im Falknerpavillon wird die Kaiserin von Gewissensbissen gegenüber Barak gequält. In einer Vision steht ihr auch das Schicksal ihres Mannes vor Augen, der zu Stein wird. Der Handel um den Schatten wird entweder ihn oder das Färberpaar ins Unglück stürzen.

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5. Szene Der dritte Tag geht zu Ende. Unnatürliche Dunkelheit herrscht im Färberhaus. Die Färberin steigert sich in eine wilde Rede hinein und bezichtigt sich selbst der Untreue gegenüber ihrem Gatten. Die ungeborenen Kinder tut sie von sich ab und verkündet, sie habe ihren Schatten verkauft. Die Amme hat ihr Spiel ge­­wonnen; die Kaiserin zögert jedoch, den Schatten an sich zu reissen. Barak gerät in ungeheure Wut, als er feststellen muss, dass seine Frau keinen Schatten wirft. Er will sie töten. Die Brüder können ihn nicht halten. Da wirft sich die Kaiserin dazwischen; sie will keinen Schatten, an dem Blut klebt. Die Färberin, die ihren Mann noch nie so gesehen hat, gibt ihre Lüge zu: den Ehebruch hat sie nicht begangen, den Schatten jedoch hat sie verwirkt. Sie liefert sich Barak aus. Da werden übernatürliche Mächte wirksam: das Färberhaus wird zerstört, und alle werden verschlungen.

3. AKT Alle fünf sind ins Geisterreich verschlagen worden. Dort irren Barak und die Färbersfrau umher, ohne sich gegenseitig hören oder sehen zu können. Beide fühlen Reue und Liebe: die Färberin bekennt sich zum ersten Mal zu ihrem Mann, dessen Verzeihung sie ersehnt; Barak leidet darunter, die ihm anvertrau­ te Frau mit dem Tode bedroht zu haben, anstatt sie zu beschützen. Die Amme und die Kaiserin gelangen zum Eingang eines Tempels, dem Ort des Wassers des Lebens und zugleich der Schwelle des Todes. Die Amme fürchtet Keikobads Zorn, da sich seine Tochter mit den Menschen eingelassen hat. Die Kaiserin fühlt, dass sich mit dem bevorstehenden Urteil nicht nur ihr Schicksal, sondern auch das ihres Mannes und der Färbersleute entscheiden wird. Sie sagt sich von der Amme los und bekennt sich zu den Menschen. Die Amme ruft Keikobads Namen. Der Geisterbote erscheint und verkündet ihr, sie müsse fortan unter den Menschen leben, die sie so sehr hasst. Die Kaiserin trifft auf das goldene Wasser des Lebens. Ein Hüter der Schwel­ le fordert sie auf, davon zu trinken, dann gehöre der Schatten der Färberin ihr.

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Von ferne hört man die verzwei­felten Stimmen von Barak und seiner Frau. Die Kaiserin weigert sich zu trinken und begehrt, von ihrem Vater gerichtet zu werden. Statt Keikobad wird der Kaiser sichtbar; er ist, bis auf die Augen, zu Stein geworden. Zum zweiten Mal fordert der Hüter der Schwelle sie auf, den Schatten der Färberin in Besitz zu nehmen; dann werde der Kaiser gerettet. Wieder hört man die Stimmen von Barak und seiner Frau. Die Kaiserin weist den Schatten endgültig zurück. Damit hat sie die Prüfungen bestanden: Gerade durch ihre Weigerung ist der Kaiser erlöst. Die Stimmen der Ungeborenen erklingen. Barak und seine Frau finden sich, verzeihen einander und versichern sich gegenseitig ihrer Liebe. Die Angst aller weicht allgemeinem Jubel.

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Spielzeit 2OO9/1O Emily Magee, Beate Vollack


Spielzeit 2OO9/1O Emily Magee


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Spielzeit 2OO9/1O Birgit Remmert



VIER PERSONEN AUF DER SUCHE NACH IHREM MENSCHSEIN David Pountney im Gespräch über «Die Frau ohne Schatten»

Die Frau ohne Schatten lässt viele Deutungsansätze zu. Märchenhafte Elemente, ein dichtes Netz von Symbolen, aber auch psychologisch lebens­nah gezeichnete Figuren und Situationen charakterisieren das Stück. Was hat Sie an dieser vielschichtigen Oper interessiert? Von welcher Seite aus haben Sie sich dem Stoff genähert? Mich hat dieses Stück als Studie über vier Figuren auf der Suche nach ihrem Menschsein gereizt. Das könnte der Untertitel der Oper sein. Der Rest ist Ausschmückung: das Märchenhafte, die Symbolik, das sind verschiedene Arten, die Geschichte zu erzählen. Auch die Farbigkeit der Musik gehört zur dekorativen Seite des Werks. Der Kern des Stückes ist der Weg dieser vier Personen auf der Suche nach ihrer psychischen Bestimmung; für den Kaiser kann man das vielleicht nur eingeschränkt sagen, die anderen drei – die Kaiserin, Barak und seine Frau – gehen diesen Weg. In der Frau ohne Schatten werden archaische Themen berührt, grund­ legende Menschheitsfragen angesprochen. Zugleich ist es ein sehr theatra­lisches Werk, das nicht als abstraktes Denkspiel, sondern als pralles Opernerlebnis seine Wirkung entfaltet. Wie kann man die Balance zwischen der sinnlichen Umsetzung und der gedanklichen Durchdringung finden? Vor allem, was das Bühnenbild betrifft, muss man die Erwartungen an eine theatralische Virtuosität bis zu einem gewissen Grad erfüllen; Strauss und Hofmannsthal wollen natürlich auch grosses, unterhaltendes Theater bieten.

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Andererseits muss man dem Publikum die Möglichkeit geben, das immer wieder auf die psychologische Situation der Figuren rückzubeziehen. Die Schau­plätze der Handlung müssen gewisse realistische Elemente enthalten. Deshalb haben wir uns entschieden, das Stück im habsburgischen Milieu anzusiedeln und in wiedererkennbaren Räumen spielen zu lassen, in denen diese Figuren heimisch sind: Räume, in denen man sich vorstellen kann, wie zwei Eheleute ihre Beziehungskämpfe ausfechten oder eine junge Frau die Erfahrung macht, was es heisst, sich als eine Art Prinzessin in die Welt wirk­licher Menschen zu begeben – wo man nicht einfach mit dem Finger schnipsen kann, und alle Wünsche werden erfüllt. Man darf nie vergessen, dass unter der exotischen Oberfläche essentielle Fragen des Menschseins zur Sprache kommen. Ich glaube nicht, dass es ein Vergnügen wäre, dreieinhalb Stunden Oper zu erleben, wenn es dabei nur um eine Art exotisches Märchen ginge.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Hugo von Hofmannsthal hat in jungen Jahren als Lyriker Furore ge­ www.opernhaus.ch/shop macht, war später aber vor allem als Autor von Theaterstücken und Opern­libretti erfolgreich. Richard Strauss wiederum war ein Komponist oder am Vorstellungsabend mit untrüglichem Theaterinstinkt. In Die Frau ohne Schattenim stellen Foyer die beiden hohe Anforderungen an jedes Opernhaus, das ihr Mammutwerk auf des die BühneOpernhauses bringen will. Rasche Verwandlungen des Bühnenbildes, erwerben die durch musikalische Zwischenmusiken von der Länge her genau vor­ gegeben sind, illusionistische Effekte, mit denen übernatürliche Vor­ gänge dargestellt werden sollen, schliesslich eine Art «Weltuntergang» am Ende des zweiten Aktes, wenn die Färberwelt zerstört wird. Wie sind Sie, zusammen mit Bühnenbildner Robert Israel, mit diesen Herausfor­ derungen umgegangen? Interessant finde ich – das hat sich mir erst während der Proben erschlossen –, wie einfach diese Oper über weite Strecken gebaut ist. Das mag damit zu­sammenhängen, dass wir den Akzent auf die psychologische Realität der Figuren legen. Die meisten Szenen erweisen sich bei den Proben als genaue Beschreibung enger Beziehungen zwischen den Menschen. Es hat mich selbst überrascht, wie flüssig man das Stück bei den Proben erlebt – fast wie

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ein Ibsen-Drama. Diese Parallele trifft es vielleicht ganz gut: Ibsens Nora oder ein Puppenheim, exotisch ausgeschmückt mit dem Drum und Dran des Peer Gynt. Was ich nicht ganz nachvollziehen kann, ist, warum Strauss sich dafür entschied, daraus so eine grossdimensionierte Angelegenheit zu machen. Vielleicht ist hier auch ein Stück weit eine Fehlkalkulation unter­ laufen. Hofmannsthal musste als erfahrener Librettist wissen, dass gesungene Sprache ungefähr viermal so viel Zeit braucht wie gesprochene. Es ist er­staunlich, dass er sich bei der Frau ohne Schatten offenbar nicht nachdrücklich genug um diesen technischen Umstand geschert hat. Einige Passagen, die in sich wiederum sehr verwickelt sind, sind einfach zu lang geraten. Dadurch wurde Strauss in gewisse Längen hineingetrieben. In Briefen stellt Hofmannsthal an manchen Stellen den Anspruch an Strauss, die Worte müssten so in Musik transformiert werden, dass sich ihre Bedeutung mitteilt, ohne dass man jedes Wort versteht. An anderen Stellen wiederum war er durchaus besorgt darüber, dass sein Text von Strauss’ Musik zugedeckt werden würde. Allerdings hatten sich die beiden für Die Frau ohne Schatten von Anfang an etwas anderes vorge­ nommen als den Konversationston, mit dem sie im Rosenkavalier so gute Erfahrungen gemacht hatten und auf den sie dann im Vorspiel zur Ariadne auf Naxos – diese Oper entstand parallel zur Arbeit am Libretto der Frau ohne Schatten – noch einmal zurückkehrten. Schon in einem frühen Stadium haben die beiden Schöpfer der Frau ohne Schatten eine Analogie zu Mozarts Zauberflöte hergestellt – ähnlich wie sie beim Rosenkavalier die Analogie zum Figaro im Sinn hatten. Die Art und Weise, wie Strauss zum Beispiel auf die unsichtbare Figur des Geisterfürsten Keikobad reagiert, der im Stück nie auftritt, in der Musik aber unglaublich machtvoll präsent ist, ist wunderbar. Er war ganz offensichtlich fasziniert von der Möglichkeit, das Milieu des Rosenkavalier verlassen und seine Zauberflöte komponieren zu können. Daraus erwächst zweifellos auch zu einem grossen Teil die Faszination der Frau ohne Schatten für das Publikum: die Musik, mit der die wunderbaren, märchenhaften Elemente – der Falke, der Bote des Geisterreichs, Keikobad und die ganze Zauberwelt – von Strauss

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heraufbeschworen werden. Ich bin überzeugt, dass man das szenisch nicht verdoppeln sollte. In den meisten Inszenierungen der Frau ohne Schatten wird versucht, eine möglichst exotische Welt für dieses Stück zu erschaffen; wir haben uns eher für das Gegenteil entschieden. Das meiste dieser exotischen Farben ist schon im Klang des Orchesters und muss auf der Bühne nicht wiederholt werden. Sie antworten in Ihrer Inszenierung auf die mit Symbolen aufgeladene Dichtung von Hofmannsthal und auf die mit suggestiver Klangsymbolik gesättigte Partitur von Strauss mit starken visuellen Symbolen. Ihre Deutung bekommt dadurch etwas Obsessives, Surreales; die Collagen von Max Ernst kommen einem in den Sinn, oder ein Film wie Stanley Kubricks 2001 – Eine Odyssee im Weltraum, auch Fellini. Inwieweit ent­ spricht eine solche Bildwelt dem Werk? Die Frau ohne Schatten entstand (das ist ihr anzumerken) in einer literarischen Atmosphäre, in der Sigmund Freud mit der Psychoanalyse und C.G. Jung mit seinen Untersuchungen von Archetypen und Symbolen hervortraten. In der surrealen Welt der Collagen von Max Ernst drückt sich diese Atmosphäre aus. Deshalb erschien uns diese Bildwelt als dem psychologischen Aspekt des Stückes angemessen; die Symbole sind ja nicht nur da, um exotische Farben zu liefern, sondern stehen für psychologische Zusammenhänge, die jenseits einer rein materialistischen Existenz angesiedelt sind. Von dieser nüchtern-pro­sai­ schen Welt gibt es auch einen gewissen Anteil, namentlich in den Fär­ber­haus-Szenen. Das Stück will aber auf jeden Fall mehr, und da schafft diese Art von jungianischer Symbolik einerseits eine exotische und mythische Sphäre, steht aber gleichzeitig auch für die psychologische Realität der Personen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Sie beziehen sich in Ihrer Inszenierung optisch auf die k.u.k.-Welt. Der Untergang der Donau­monarchie vollzog sich sozusagen parallel zur Entstehung der Frau ohne Schatten während des Ersten Weltkriegs. Auch die soziale Verortung der Figuren ist Ihnen sehr wichtig. Wie schon zu Beginn gesagt: In diesem Stück geht es um vier Personen auf der Suche nach ihrem Menschsein. Und dieses Menschsein ist sehr stark

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Spielzeit 2OO9/1O Reinhard Mayr


dadurch charakterisiert, dass sich ein ungeheurer Abgrund zwischen den Habenichtsen und den Besitzenden auftut. In diesem Sinne ist das soziale Gewissen des Werks, wenn man so will, sehr stark in der Zwischenkriegs­welt verwurzelt. Auch wenn Hofmannsthal sich auf politischer Ebene nicht für solche Fragen interessiert hat und eher reaktionäre Standpunkte vertreten hat: in ganz Europa gab es während der 1920er und 1930er Jahre mit ihren tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krisen diesen Gegensatz zwischen Genusssucht und krassem Reichtum und, unmittelbar daneben, extremer Armut, verursacht durch die rohen Exzesse der industriellen Revolution, die mit Umweltzerstörung und der Verschmutzung ganzer Städte und dem Entstehen eines Lumpenproletariats einhergingen. Das sind die sozialen Realitäten, aus denen heraus das Stück lebt. Das spürt man ganz stark.

Das komplette Programmbuch Betrachtet man die Entstehungsgeschichte dieser Oper, war sich Hof­ können Sie auf manns­thal dieses Aspekts schon bewusst. Zu Beginn hatte er sich das «niedere Paar» als Commedia dell’arte-Figuren vorgestellt. In den erstenwww.opernhaus.ch/shop Briefen heissen Barak und seine Frau Arlekin und Smeraldina. Später formte Hofmannsthal sie dann um in das Färberpaar, die einer oder am Vorstellungsabend imAn­Foyer schmutzi­ gen, anstrengenden Tätigkeit nachgehen, also eindeutig ge­ hörige einer Arbeiterschicht sind. Auch das «Mitleids­motiv», das für die des Verwandlung der Kaiserin so zentral ist, bezieht sich, glaube ich, nicht Opernhauses erwerben nur darauf, dass sie das persönliche Lebensglück des Ehepaares Barak und Färberin zu zerstö­ren droht, sondern auch auf die soziale Realität, mit der sie durch die beiden konfrontiert wird. Eine Realität, die durch die schiere Existenz einer aristokratischen Schicht, der die Kaiserin zuzurechnen ist, mit hervorgerufen wurde. Das ist wiederum sehr typisch für das Verhalten bestimmter Angehöriger der Aristokratie der Zeit, vor allem Frauen: die Suffragetten, die das Frauen­ wahlrecht forderten, alle die­se Blaustrümpfe aus wohlhabenden Familien, die hinabstiegen ins Milieu der Arbeiterklasse und herausfinden wollten, wie das Leben dieser Menschen aussieht. Ein Buch wie Down and out in Paris and London von George Orwell, der einer gutsituierten Familie entstammte und in den 1920er und 1930er Jahren als Tagelöhner in bitterster Armut lebte,

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spiegelt einen solchen Weg in die Slums wieder – auch ein Akt der Revolte, mit dem die Eltern herausgefordert werden. Die Kaiserin steigt herab zu den Arbeitern; umgekehrt gibt es die Figur der Amme: Sie gehört von ihrer Herkunft her üblicherweise der unteren Mittelschicht an, ist aber meist bei einer Oberschichtfamilie angestellt und ver­sucht, mehr und mehr in diese Schicht aufzusteigen. Die Amme äussert sehr virulent Verachtung für den Dreck und das Elend eines Lebens in der Arbeiter­ klasse – auch, wenn sie von den Menschen allgemein spricht, ist klar, was sie damit meint. Andererseits kennt sie die Schwächen dieser Leute sehr genau: Sie weiss, wie sie die Färbersfrau in Versuchung führen kann. Wir setzen für diese Szenen ein kleines Theater auf dem Theater ein; auf dieser Bühne der geheimen Wünsche der Färberin erscheint die Welt des Varietés und der Ope­rette als grosse Verlockung – diese Welt ist auch in der Musik, die Richard Strauss für die Erscheinung des Jünglings findet, hörbar. Die Amme trifft mit dieser Szenerie genau die eskapistischen Fantasien der Färberin. Was mich in der Auseinandersetzung mit dem Stück an der Figur des Barak beschäftigt hat, ist die Beobachtung, dass er in all seiner vorbehaltlosen Güte auch etwas Unmenschliches hat. Seine grenzenlose Geduld mit der Färberin ist in ge­wisser Weise auch ein Defekt. Ich weiss nicht, ob Strauss und Hof­manns­thal sich darüber im Klaren waren. Strauss hat sich wohl sehr stark mit Barak identifiziert. Für ihn schrieb er die eingängigsten Melodien. Er wollte ihn sicher eher positiv zeichnen, im Unterschied zur Färberin, für die Hofmannsthal dem Komponisten schon zu Beginn der Arbeit dessen Ehefrau, die Sängerin Pauli­ne de Ahna, als Vorbild nannte. Sie war Beschreibungen zufolge eine streitbare Frau mit eigen­­willigem Charakter, wohingegen Strauss sich als gutmü­ tigen Ehemann sehen wollte, der ihr ihre Launen und Ausbrüche nachsah. Das ist an sich ein psychologisch bemerkenswerter Vorgang: dass ein Kom­po­ nist wie Richard Strauss sich so schamlos in diatonischen, melodiösen Weisen als unkomplizierten Gutmenschen porträtiert, während er der Färberin, deren Porträt von seiner Frau inspiriert war, Passagen schreibt, die an manchen Stellen an Zwölftonmusik grenzen.

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Welche Assoziationen waren in der Arbeit an den Kostümen mit MarieJeanne Lecca fruchtbar, um die Figuren zu umreissen? Der Kaiser gehört ganz klar dieser Gruppe von Aristokraten an, die haupt­ sächlich am Jagen und an Frauen interessiert waren; man kann ihn auf die eine oder andere Art und Weise dem Hause Habsburg zurechnen. Wir haben versucht, die seltsame Herkunft der Kaiserin aus dem Feenreich durch einen Kopfschmuck aus den Hörnern einer Gazelle zu versinnbildlichen. Die Max Ernst-Assoziationen haben wir für die ganzen Figuren aus der Zauber­ welt ausgebeu­tet: der Falke, die merkwürdigen Vogelmenschen, die in der Albtraumszene der Kaiserin den Sarg des Kaisers tragen, der Geisterbote – eine Art viktorianischer Gentleman auf Stelzen mit Flügeln ... auch die Amme hat Federn an ihrem Kostüm; für alle Zauberfiguren zieht sich dieses Motiv der Federn durch. Baraks Welt ist wiederum eine Art Berlin Alexanderplatz auf wienerisch. Hinzu kommen die Arbeiterkinder, denen Barak Arbeit und Brot gibt, wo er schon keine eigenen Kinder hat.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Das Erringen des Schattens bedeutet für die Kaiserin zum einen, dass sie Kinder bekommt; zum anderen steht dieses Symbol, wie Sie schon oder am Vorstellungsabend Foyer angesprochen haben, ganz allgemein für das Menschsein. Imim Falle der Kaiserin, die als Kind des Geisterfürsten Keikobad unsterblich ist, bedeutet sich bewusst für die Sterblichkeiterwerben und die Leiden der Men­ desdas,Opernhauses schen zu entscheiden. Das Geisterreich, in dem sich die letzte Prüfung auf dem Weg zu dieser Menschwerdung vollzieht, bildet den Schauplatz des dritten Aktes. Es präsentiert sich als ein Ort des Schreckens. Welche Jenseitsvorstellungen fliessen hier in Ihre szenische Deutung ein? Wir wollten zwischen den ersten beiden Akten und dem dritten Akt einen deutlichen Bruch setzen. Was im dritten Akt vor sich geht, erscheint mir, als ob diese vier Personen auf der Suche nach ihrem Menschsein in eine Art dantesker Vorhölle geworfen werden. Der seelische und moralische Zwiespalt, in dem sich die Figuren befinden, wird dadurch zugespitzt – vor allem für die Kaiserin. Alle werden gezwungen, sich mit der eigenen Verletzlichkeit, mit ihren Beziehungen zueinander, ihrer Fähigkeit oder Unfähigkeit zum Mit­leiden zu konfrontie­ren. In diesem Akt lassen wir die reale Welt eindeutig

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hinter uns. Deshalb wollten wir eine abstrakte Erinnerungswelt schaffen, in der Fragmente der vorhergehenden Welt sichtbar bleiben, aber zerstreut. Durch den Einsatz der Drehbühne soll der Eindruck entstehen, dass die Figuren aus der Zeit gefallen sind. Errettet werden sie dann am Ende durch den Verzicht der Kaiserin auf den Schatten der Färberin. Bei Hofmannsthal bleiben die beiden Paare allerdings, ihrer Zugehörig­ keit zu verschiedenen Schichten entsprechend, vom Bild her räumlich getrennt in oben und unten. Seine Weltanschau­ung liess wohl nicht zu, die Menschwerdung der Kaiserin in Solidarität mit dem Färberpaar als Weg hin zu einer Aufhebung des Klassenunterschieds zu sehen. Darin muss man Hofmannsthal ja nicht unbedingt folgen. Für mich jedenfalls muss die Utopie des Schlussbildes – nachdem die vier Personen auf der Suche nach ihrem Menschsein ans Ziel gekommen sind – neben dem Gedan­ ken, das Leben zukünftiger Generationen zu berücksichtigen, auch eine Überwindung gesellschaftlicher Schranken beinhalten.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Konrad Kuhn

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Spielzeit 2OO9/1O Roberto SaccĂ


ZURÜCK ZU DEN QUELLEN Über Hofmannsthals «Frau ohne Schatten» Etienne Barilier

Für viele Künstler ist es ein vitales Bedürfnis, zurückzugehen zu den Quellen; auch für Hofmannsthal – er kehrt mit Die Frau ohne Schatten zur ältesten Quelle zurück, die die Menschheit kennt: dem Märchen. Reich an Bedeutun­ gen, ist das Sujet dieser Oper so alt wie die Welt und ... wie die Märchen. Ist eine solche Rückkehr zu den Quellen, nostalgisch und wunderbar, im 20. Jahr­ hundert überhaupt noch möglich? Die Philologie greift auf das Wort «Quellen» zurück, um die Werke zu bezeichnen, von denen sich ein Autor hat inspirieren lassen: die Bücher, die sein Ausgangspunkt, sein Reiseproviant und seine Weg­ weiser waren. Dieses Wort klingt nicht sehr schön und könnte doch nicht tref­ fender sein: Man wirft einem Fluss nicht seine Quellen vor, will man ihm nicht das Lebensrecht verweigern. Ein Künstler existiert durch die Kunstwerke, die ihm vorausgingen, alle Literatur auf der Welt schreibt die Literatur der Welt fort, deren Anfang nicht zu verorten ist: die Quelle selbst hat keine Quelle; ebenso wenig, wie man jemals den «Ursprung» der Sprache finden wird. Alle Schriftsteller, selbst die Quertreiber und die Bilderstürmer, schreiben sich so in die Literatur ein und bekennen sich zu den Quellen. Aber einige Künstler unterhalten eine ausdrücklichere Beziehung zu ihren Vorgängern, führen einen konstanteren Dialog mit den Toten, schreiben sich mit grösserer Entschiedenheit in das, was man die Welt der Kultur nennt, ein. Sie empfinden die «Rückkehr zu den Quellen» als vitales Bedürfnis, auch wenn sie es nicht un­bedingt als notwendig empfinden, ausschliesslich in dieser Parallelwelt zu leben, diesem Universum vollendeter Vergänglichkeit und diamantener Sicher­ heit, Schatten oder Abglanz der wirklichen Welt, diesem Universum, das man die Literatur nennt. Einige Dichter, wie Mallarmé, glauben mehr als andere, dass

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die Welt dafür gemacht ist, in ein Buch zu münden – oder besser noch: dass die Welt einzig in den Büchern ins Dasein getreten ist, einen Sinn hat und wirklich ist. Auch Hofmannsthal gehört zu dieser Art von Dichtern. Die Frau ohne Schatten ist ein «Märchen» – damit haben wir die erste «Quelle», und keine unwichtige. Eine ferne, unvordenkliche Quelle, da das Märchen die allumfassendste und älteste Erzählform ist, die die Menschheit kennt, angefangen bei den mündlichen Kulturen. Ist das Märchen nicht der Vorfahr jeglicher Literatur? Indem Hofmannsthal auf diese Form zurück­greift, kehrt er in der Zeit bis zum Vorzeitlichen zurück – oder zumindest bis zu jenem gesegneten Zeitalter, als die Wirklichkeit noch untrennbar mit der Welt der Mythen, des Fan­tastischen und des Übernatürlichen verbunden war; in jener Zeit stand das, was man heute Fiktion nennt, noch nicht, wie im 20. Jahrhun­ dert, unter dem Verdacht der Leichtfertigkeit, der Falschheit oder der Frivolität. Im Gegenteil: das Fiktive war Teil der Wirklichkeit, und zwar mit unendlich viel grösserer Intensität, Erhabenheit und Würde als der Tatsachenbericht oder die Geschichtsschreibung, die sich für «realistisch» halten. Wenn man sich im 20. Jahrhundert für das Märchen entscheidet, bedeutet das also, die Würde der Fantasie zu bekräftigen; es bedeutet, der Literatur, die damit offensichtlich los­ gebunden von Zwecken ist, den erhabenen Wert einer ontologischen Unter­ nehmung, einer mythischen Wahrheit zuzusprechen. Wenn man sich im 20. Jahr­ ­hundert für das Märchen entscheidet, ohne sich damit an Kinder wenden zu wollen oder eine Parodie zu intendieren, sondern vielmehr, um die Quintessenz der eigenen Weltsicht auszudrücken, dann unterstreicht man damit, dass das Wunderbare der Ort der grössten ontologischen Tiefe ist. Man gesteht der Vergangenheit als solcher damit eine bevorzugte Beziehung zum Wesentlichen zu. Entscheidet man sich für das Märchen, dann geht man damit nicht nur zu einer Quelle zurück, sondern man misst dem Begriff «Quelle» selbst einen her­ ausragenden Wert zu. Man verleiht der Überzeugung Ausdruck, dass die Rück­ kehr in die Kindheit des menschlichen Ausdrucksvermögens eine Bewegung hin zu mehr Reinheit, mehr Wahrheit ist. Eine Rückkehr zum Primordialen, im doppelten Wortsinn: zum Wesen und zum Ursprung.

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Der Taumel von Tausendundeiner Nacht Wenn Hofmannsthal, um sein tiefstes Selbst auszudrücken, das Bedürfnis ver­ spürt, zurückzukehren in illo tempore [in jene Zeit], zu den Ursprüngen des kollektiven Selbst, wenn er bewusst (und durchaus im Einklang mit der Psycho­ analyse, die er aus erster Hand kannte) das Wirkliche mit dem Archaischen ver­ schmelzen will, dann ist es nicht verwunderlich, dass an der Spitze der von ihm selbst benannten Quellen die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht stehen, eine anonyme Sammlung, deren Entstehungszeit und -ort nicht eindeu­tig fest­ stellbar sind. Tausendundeine Nacht, das ist die mise en abyme (also sich selbst widerspiegelnde Darstel­lung) eines unerschöpflichen Fantasiereichs, die jeden Autor oder Rahmen übersteigt; das ursprüngliche Raunen der schöpferischen Sprache des Menschen selbst; der Stoff, der murmelnd alle Märchen-Stoffe enthält, die Quelle der Quellen. Man kann einige Stellen benennen, an denen sich Die Frau ohne Schatten direkt auf die Märchensammlung Tausendundeine Nacht bezieht: zum Beispiel das Motiv der Kaiserin als Gazelle oder das des goldenen Wassers. Doch solche Zitate des einen oder anderen Details sind nicht das Wesentliche; wichtiger ist da schon die Verwendung einiger «orientalischer» Namen (Barak, Keikobad). Bestimmte Wesen und Orte werden beschworen, die mit mythischer Bedeu­tung aufgeladen sind und Assoziationen an das Fantastische der Geisterwelt hervor­ rufen: der Falke, die Höhle, die Mondberge. Übernatürliche Mächte werden in Szene gesetzt (vor allem die Kraft, sich verwandeln zu können), um eine unver­ wechselbare Atmosphäre zu schaffen und dem Leser das Gefühl eines Taumelns durch Raum und Zeit zu geben, kurz: vor seinen Augen den Märchenpalast funkeln zu lassen, den jeder seit seiner Kindheit kennt und als Heranwachsender und reifer Mensch immer wieder mit neuer Faszination aufsucht. Hofmannsthal schreibt in seinem Vorwort zu einer Ausgabe der Märchen aus Tausendundeiner Nacht: «Wir bewegen uns aus der höchsten in die niedrigste Welt, [...] und es ist eine Menschlichkeit, die uns umgibt, mit breiter, leichter Woge uns hebt und trägt; wir sind unter Geistern, unter Zauberern, unter Dämonen, und fühlen uns wiederum zu Hause. [...] Dies Geheimnisvolle, das uns beim höchsten

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gehäuften Lebensanschein von jeder Beklemmung, jeder Niedrigkeit entlastet, ist das tiefste Element morgenländischer Sprache und Dichtung zugleich: dass in ihr alles Trope ist, alles mehrfach deutbar, alles Ableitung aus uralten Wurzeln, alles schwebend. [...] Da ich von einer Trope, einer übertragenen Bedeutung rede, so wird der Verstand des Lesers [...] an einen transzendentalen Sinn, eine verborgene höhere Bedeutung denken, wo ich ein weit minder künstliches und weit schöneres, das ganze Gewebe dieser Dichtungen durchsetzendes Phänomen aufzeigen möchte: diese Sprache – nicht zur Begrifflichkeit abgeschliffen...» Was Hofmannsthal hier in seinem Vorwort zu Tausendundeine Nacht als Ideal be­ schreibt, ist jedem Autor moderner Märchen unmöglich geworden. Das Drama der Moderne besteht darin, dass das Symbol seiner selbst nicht mehr unbewusst sein kann, in der Literatur nicht mehr als reines Aufblühen der Sinnlichkeit hervorgebracht werden kann. Das ist nicht einem Mangel an Talent, son­dern der Situation der Moderne geschuldet, die nicht von sich selbst absehen kann, nicht verleugnen kann, dass sie seit ihrer Geburtsstunde Mythos und Logos von­einander getrennt hat. Hermann Broch beschreibt dieses Dilemma in Hofmannsthal und seine Zeit mit Blick auf die Oper und die Erzählung: «Die Frau ohne Schatten bildet den Höhepunkt seiner Entdeckungsfahrten ins Urwaldgebiet der Symbole. Aber ist dieser Urwald überhaupt betretbar? In Baudelaires Ur-Symbolen ahnt man ihn; sie sind wie Schreie, die aus der schweren Undurchdringlichkeit eines uner­ reichbar fernen Dschungels herüber in die Menschenwelt dringen. Hofmannsthal führt in den Dschungel hinein, doch da zeigt sich, dass es nicht der des Ur­waldes ist; nein, es ist ein Symbol-Garten und trotzdem ein Ur-Garten, vielleicht der Ur-Garten.» Man muss eingestehen, dass die Absicht, symbolisch zu schreiben, von Anfang bis Ende in der Erzählung gegenwärtig ist. Und man kann im modernen «Zeitalter der Entzauberung» nicht umhin sich einzugestehen, dass ein Märchen – selbst wenn es dem tiefsten Wollen des Autors entspringt, viel­ leicht sogar dem Willen, die eigene Fantasie nicht zu kontrollieren, sich unbe­ wusst bis zu den eigenen Quellen herabsinken zu lassen, wenn diese paradoxe Formulierung gestattet ist – dass ein heutiges Märchen in seiner Sym­bo­lik gleich­ wohl nicht die reine, naive und spontane Beziehung zu diesen Sym­bo­len be­ wahren kann, die sich in Tausendundeine Nacht mit solcher Wucht manifestiert.

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Spielzeit 2OO9/1O Birgit Remmert


Von Hofmannsthals «Quellen» zu sprechen heisst deshalb auch davon zu spre­ chen, was er nur als Verlust bewahren kann: heisst, die nostalgisch-sehnsüchtige, rückwärts gewandte Dimension seines ganzen Werkes einzugestehen. Dessen ungeachtet begleiten – neben den Erzählungen aus Tausendund­ einer Nacht, zu denen Hofmannsthal eine so unmittelbare, vitale und auch schmerzliche Beziehung hatte – noch andere Werke, die dem Autor zeitlich viel näher liegen, den Weg zum Libretto und zur Erzählung Die Frau ohne Schatten. Einige dieser Werke waren wiederum ihrerseits von Tausendundeiner Nacht oder auch von persischen Dichtern wie Hafiz und Omar Khayyam inspiriert. Hof­ mannsthal ist beileibe nicht der Erfinder des Orientalismus in der Literatur, eher einer seiner letzten Vertreter in der Nachfolge einer Vielzahl romantischer Au­ toren. Um im deutschen Sprachraum zu bleiben: der Goethe des «Westöstlichen Divan» und des «Märchens» ist ein prominenter Vorläufer. Ebenso zu nennen wäre die Zauberflöte, zu der Hofmannsthal nach eigener Aussage eine Art Analogie schaffen wollte – auch Mozarts Oper wurde zum Vorbild für dieses Werk der «Initiation» mit seinem Duft von Orient.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Wechselnde Schatten oder am Vorstellungsabend im Foyer Betrachten wir das Sujet, das in der Erzählung von Hofmannsthal und der gleichnamigen Oper von Richard Strauss im Titelerwerben genannt wird – der Verlust des Opernhauses des Schattens –, so stellen wir fest, dass dieses an psychologischen, symbolischen und religiösen Bedeutungen reiche Sujet so alt ist wie die Menschheit; also so alt wie die Märchen ... auch das Sujet stammt aus unvordenklichen Zeiten. Im Jahre 1914, kurz bevor Hofmannsthal den Text des Opernlibrettos abschloss (aber lange, bevor er die Arbeit an der Erzählung beendete) widmete sich der Psy­choanalytiker Otto Rank in seinem Essai Der Doppelgänger aus ethnografi­ scher und psychologischer Sicht dem Motiv des verlorenen Schattens, das in den Mythen und Märchen vieler Kulturen aus unterschiedlichen Weltgegenden vorkommt. Rank stellt fest, dass der Verlust des Schattens mehr oder weniger als Symbol für die Angst vor dem Verlust der Seele zu verstehen ist. Hofmannsthal kannte das Motiv natürlich aus Chamissos Erzählung Peter Schlemihl, ebenso wie aus dem «Abenteuer in der Silvesternacht» von E.T.A.

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Hoffmann (in der das verlorene Spiegelbild die Stelle des Schattens einnimmt). Die Existenz dieser «Quellen» nimmt der Frau ohne Schatten nichts von ihrer Originalität; diese liegt im durch eigenwillige Akzentsetzung geschaffenen neuen Sinn, den Hofmannsthal dem Motiv aus unvordenklicher Zeit verleiht. In seiner rohen Urgestalt handelt das Sujet zunächst einmal von einem Verlust. Dieser Verlust kann sich, je nach Autor, auf die Identität, die Fruchtbarkeit, Geld, Macht, Vaterland, innere Einheit, Sinnhaftigkeit etc. beziehen. In Chamissos Erzählung mit ironischen Untertönen zieht der Verlust des Schattens nach sich, dass Peter Schlemihl zwar übernatürliche oder übermenschliche Kräfte gewinnt, andererseits aber vom täglichen Leben, der Liebe, dem Glück abgeschnitten ist; er wird zum Ahasver, zum Fliegenden Holländer. Bei E.T.A. Hoffmann entpuppt sich der Verlust des Spiegelbildes für Erasmus als noch grausameres Schicksal als dasjenige Schlemihls (auf den sich Hoffmann explizit bezieht). Der Verlust des Spiegelbildes ist der Preis für das Glück in den Armen Giuliettas, die nichts anderes als eine Verbündete Satans ist. Und dieses Glück muss Erasmus, der in letzter Minute gerettet wird, beinahe mit dem Mord an seiner Frau und seinen Kindern bezahlen. Bei Chamisso landet der Held in der Vorhölle, bei Hoffmann schmachtet er in der Hölle.

Die Eroberung des Schattens ist schmerzhaft Abgesehen von diesen beiden zentralen Texten der deutschen Romantik müssen noch andere «Quellen» für Die Frau ohne Schatten genannt werden: Carlo Gozzis Theaterstück La donna serpente (Die Schlangenfrau), aus dem der damals noch völlig unbekannte junge Komponist Richard Wagner das Sujet für seine erste Oper Die Feen gewann. In Gozzis Werk geht es nicht um den Verlust des Schattens, sondern, ein noch allgemeiner gefasstes Thema, um die Erlangung des Menschseins: Eine Fee ist in einen Sterblichen verliebt. Damit eine solche Liebe gelebt werden kann, muss die Fee auf ihre Unsterblichkeit verzichten – oder der Mann sie erringen. Die Unsterblichkeit erscheint hier als Mangel; nicht, weil sie die Fee daran hindert, ihre eigene Identität zu finden, sondern weil sie sie von der Menschenwelt abschneidet. Gozzi erzählt in seinem Stück also nicht

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von einer Übertretung, die bestraft wird, sondern von einer unmöglichen Liebe zwischen zwei Wesen aus verschiedenen Welten. So betrachtet, scheint das Sujet der «Unerreichbarkeit des Menschseins» dem Sujet des «verlorenen Schattens» gänzlich fremd zu sein. Aber was Hofmannsthal von Gozzi übernimmt, ist der Umstand, dass aus dem Verlust ein ursprünglicher (und nicht nur auf bestimm­ te Umstände zurückzuführender) Mangel wird. Die Fee bei Gozzi ist nicht ein ehemaliger Mensch, sondern eine Unsterbliche, die aus Liebe davon träumt, Mensch zu werden. Ebenso verhält es sich mit der Kaiserin in der Frau ohne Schatten. Der Geniestreich Hofmannsthals – sein originärer Beitrag zur Behand­ lung des Sujets – besteht darin, dass eine von Natur aus, sozusagen «von Geburt an» gegebene Situation als tragischer Verlust dargestellt wird. Damit wachsen der Unsterblichen der Schmerz und die Begierden einer Sterblicher zu. Bei Hof­mannsthal geht es also nicht um den Verlust und die anschliessende Rück­ eroberung des Menschseins, das als Strafe für eine Verfehlung entzogen worden war (wie bei Chamisso und Hoffmann), sondern um die Menschwerdung, von der die Kaiserin träumt. Die Figur wird damit zum symbolischen Ausdruck für eine irdische Seele – Hofmannsthals eigene Seele, wenn man so will. Auch die Kaiserin hat ihren Schatten verloren; der Verlust ist jedoch so vollständig, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnert. Nichts verbindet sie mehr mit der Menschenwelt ausser dem Schmerz darüber, unsterblich zu sein, also die para­ doxe Sehnsucht nach einem Menschsein, das sie noch nie fleischlich erlebt hat. Die Unsterblichkeit, der die Kaiserin so gern entrinnen möchte, ist nichts anderes als jener unaussprechliche, schreckenerregende Zustand, dem Hof­ manns­thal zeit seines Lebens zu verfallen drohte: jener Zustand, in dem die ein­fachsten Dinge der Welt ihre Substanz, ihre Realität, ihre Form und ihre Farbe verlieren – ein Zustand, den der Dichter selbst in den «Briefen des Zu­ rück­gekehrten» nicht als Tod, sondern als «Nicht-Leben» bezeichnet. Dieser Zustand wird schon im berühmten «Chandos-Brief» beschrieben. Die Un­ sterblich­keit der Kaiserin ist dieses «Nicht-Leben», das Verbot des Daseins in der Welt. Das Fehlen des Schattens steht für die Unmöglichkeit, Kinder zu bekommen und sich so in die Gemeinschaft einzuschreiben; die Unmöglichkeit, jene Fortdauer zu erlangen, die dem Menschen – realer als jedes unsterbliche Leben – in seinen Nachkommen verliehen ist. Die einzige Unsterblichkeit, die

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zählt, besitzen die Menschen durch ihre Fähigkeit, sich von Generation zu Generation fortzupflanzen und aus dem Liebesakt einen Akt des Lebens zu machen. Dem gegenüber besteht das Vermögen der Kaiserin einzig darin, nicht sterben zu müssen, was wiederum bedeutet, nicht leben zu können.

Ist eine Rückkehr zu den Quellen möglich? Es ist oft darauf verwiesen worden, dass die Erfahrung der Initiation in der Frau ohne Schatten an die platonische Erfahrung von der Wiedervereinigung der getrennten Hälften, also an das ekstatische Erfassen der Einheit der Welt erin­ nert. Auch einen bestimmten Platonismus muss man zu den «Quellen» Hof­ mannsthals zählen. Aber der Dichter behandelt das platonische Sujet in der Art einer Umkehrung, so wie ein Komponist in der Zwölftonmusik die Reihe um­ kehrt: In Platons «Gastmahl» deutet Sokrates die sexuelle Anziehung und den Trieb zur Zeugung als Zeichen für die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Aber dabei handelt es sich in seinen Augen um ein Surrogat für die Unsterblichkeit. Die Zeugung ist nach Platons Vorstellung nur das materielle Bild der Schöpfung, also die Voraussetzung für die Unsterblichkeit in der Welt der Sinne; wir sind jedoch aufgerufen, sie in der Welt des Verstandes zu erobern. Und die eigentli­ che Fruchtbarkeit liegt nicht in den Körpern, die sich vereinigen, um andere Körper hervorzubringen, sondern in der Vereinigung der Seelen. Indem wir uns durch Abstraktion über die irdische Realität erheben, erringen wir das wahre Sein in seiner Ganzheit. In der Frau ohne Schatten geht es Hofmannsthal um das genaue Gegenteil: die menschliche Seele sehnt sich nicht nach Unsterblichkeit, sondern danach, sterblich zu sein. Die Kaiserin begreift, dass die Ewigkeit nicht unsere höchste Bestimmung ist; sie erkennt, dass unser einziger Zugang zum wahren Leben die irdische Liebe ist, die eine Nachkommenschaft hervorbringt. Die höchste Initiation des Menschen besteht darin, dass er sein Wesen, also die condition humaine, annimmt. Natürlich sind sich die meisten Männer und Frauen, wenn sie heiraten, mehr oder weniger glücklich sind und Kinder bekommen, gar nicht darüber im Klaren, dass sie damit die wunderbaren Stadien einer Initiation

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Spielzeit 2OO9/1O Emily Magee


durchlaufen. Sie legen den Pfad zu ihrer höchsten Wahrheit zurück, als wäre es ein banaler Weg von da nach da. Hofmannsthal will uns – und sich selbst – nichts­ destotrotz davon überzeugen, es gäbe kein anderes Schicksal, will man nicht in die Wüste des «Nicht-Lebens» verbannt sein. Er selbst ist durch die Prüfungen dieses «Nicht-Lebens» hindurch gegangen, die manche Unsterblichkeit nennen würden. Er ermisst nun mit unaussprechlichem Schmerz den ganzen Reichtum und die Würde eines alltäglichen Lebens, das er zuvor nicht leben wollte; darin besteht nun seine Weisheit. Wie ist es möglich, dass eine solche «Botschaft», die den platonischen Ini­ tiationsweg in die Alltäglichkeit umkippen lässt, uns nicht – trotz der Genialität des Dichters – enttäuschend «bürgerlich» vorkommt? Das mag daran liegen, dass Die Frau ohne Schatten, obwohl ihr Abenteuer in Eheglück und allgemei­ ner Versöhnung mündet, für den Leser trotz dieses Ausgangs eine niemals auf­ lösbare Spannung behält. Ein solches Werk ist ein lebendes Paradoxon: in der Form des Märchens verabschiedet es sich vom Märchen; mit allen Wundern des Unwirklichen will es die Wirklichkeit verherrlichen; mit allen Kräften des Be­ wusst­seins und der inneren Distanz möchte es das Loblied der reinen Spontanei­ tät singen; mit allem Zauber der Poesie will es uns das Universum des Prosaischen nahebringen. Hätte Hofmannsthal seine eigene «Botschaft» befolgt, hätte er diesen Text nicht schreiben dürfen. Er hätte überhaupt nicht schreiben dürfen. Zu unserem Glück ist es ihm nicht gelungen, dass sein Text ganz und gar zu Nostalgie wurde. Bei seinen Vorgängern war der Verlust des Schattens ein Schmerz. Bei Hofmannsthal ist die Eroberung des Schattens vielleicht noch schmerzlicher, und man hört nicht auf sich zu fragen, ob dieses «Nicht-Leben», das so schwer auf der Kaiserin lastet, am Ende nicht doch kostbarer gewesen wäre als das Leben. Ganz sicher lässt sich die geheime Einheit dieses zerrissenen Werkes auf­ zeigen, die einzige, die es wirklich erreicht: sie vollzieht sich auf der Ebene der Ästhetik. Die Form ist auf wunderbare Weise untrennbar mit dem Inhalt ver­ bunden. Der Rückgriff auf das Märchen ist ein nostalgischer Akt, getragen von Liebe ebenso wie von verzweifelter Sehnsucht nach einer Menschheitsepoche, in der die Erzählung mit der Moral des Erzählten verschmolz und das Symbol mit dem unmittelbaren Erleben; ebenso zeugt die Idee, den höchsten Sinn der

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menschlichen Existenz im simplen Einklang mit dem unwillkürlichen Leben zu erblicken, von Nostalgie. Der Wille zur Spontaneität, der Verzicht auf Bewusst­ heit, das vorsätzliche Aufgeben der inneren Distanz – lauter Widersprüche in sich. Lauter Unmöglichkeiten. Ebenso wie auch das grösste Genie im 20. Jahr­ hundert kein Märchen mehr wie in Tausendundeiner Nacht schreiben kann, ebenso wenig kann sich ein Dichter, und sei es der tiefgründigste, der puren Spontaneität des Daseins verschreiben, indem er sich eben das vornimmt; er ver­fehlt sie schon durch den Umstand, dass er es bewusst darauf anlegt. Hof­ mannsthals Frau ohne Schatten ist sowohl vom Inhalt als auch von der Form her eine «Rückkehr zu den Quellen». Und der schmerzliche, nostalgische, wunder­ bare Beweis dafür, dass eine solche Rückkehr unmöglich ist.

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Bereits in einem relativ frühen Stadium der Arbeit am Libretto be­gann Hofmannsthal, den Stoff der Oper parallel dazu in die Form einer Erzählung zu fassen. Die Arbeit daran schloss er erst nach Fertigstellung der Oper ab; die Erzählung «Die Frau ohne Schatten» erschien einige Tage nach der Uraufführung 1919. Die Geschichte weicht in dieser Fassung vielfach von der Opern-Version ab. Im folgenden werden zwei längere Passagen abgedruckt; beide Episoden kommen so in der Oper nicht vor. Anstelle des vierten Bildes des zweiten Akts der Oper, in dem die Kaiserin in einem Traum die Versteinerung ihres Mannes erlebt, schildert Hofmannsthal im vierten Kapitel der Erzählung aus der Perspektive des Kaisers, wie diese Versteinerung von­statten geht. Der Kaiser ist mit grossem Jagd­gefolge ausgezogen, um seinen verschollenen Lieb­lingsfalken aufzuspüren. Als er ihn schliesslich hoch oben im Gebirge findet, führt ihn dieser je­doch nicht, wie in der Oper, auf die Spur der Kaiserin und der Amme, die sich ohne sein Wissen in die Menschenwelt begeben haben. Vielmehr lockt der Falke den Kaiser in ein höhlenartiges Gewölbe im Bergmassiv. Dort begegnet er seinen ungeborenen Kindern, als deren Ältestes sich der rote Falke selbst erweist. Sie servieren ihm ein opulentes Mahl, an dessen Ende er zu Stein ge­worden ist. – Das sechste Kapitel wiederum erzählt von einem Besuch der Färberin am Grab ihrer Mutter. Unmittelbar daran schliesst sich die auch in der Oper enthaltene Szene an, in der sie ihrem Schatten endgültig abschwört, woraufhin Barak sie töten will und das Färberhaus von dem über die Ufer tretenden Fluss verschlungen wird.

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DIE FRAU OHNE SCHATTEN ERZÄHLUNG Hugo von Hofmannsthal

Viertes Kapitel (Auszüge) Der Kaiser stieg die steilen glatten Stufen schnell hinab, er achtete nicht auf die Falltür in seinem Rücken; die singenden Stimmen, das Unerklärliche, die Um­ stände des Ortes bannten alle seine Sinne. Gerade hier drang alles tief in ihn, er war im Bereich seines ersten Abenteuers mit der geliebten Frau. Jene unvergess­ liche erste Liebesstunde war ihm nahe, sein Blut war bewegt, dass er die seltsame Grabeskühle kaum fühlte, die aus den Wänden des Berges und von unten auf ihn eindrang. Für ein neues Abenteuer wäre kein Platz in ihm gewesen – oder doch? Wer hätte es sagen können. – Er dachte nichts Bestimmtes, aber alles, was ihm ahnte, verknüpfte sich innig mit seiner Geliebten. Er konnte die Worte des Gesanges nicht verstehen. Von Stufe zu Stufe schien es ihm, jetzt würden sie ihm gleich verständlich sein. Eine gewisse Reihe kam öfter wieder. Er sprang die letzten Stufen schnell hinab und fand sich in einer Art Vorhalle, dämmerig er­ leuchtet; das Licht kam unter einer Tür hervor, die ihm entgegenstand, aus Holz mit ehernen verzierten Bändern. Er fand kein Schloss und keinen Griff, aber als er sich der Tür näherte, bewegten sich die Türflügel in den Angeln. Deut­lich hör­te er in diesem Augenblick die letzten von den Worten, die schon öfters wie­ der­gekehrt waren. Sie hiessen: Was fruchtet dies, wir werden nicht geboren! Er hatte keine Zeit, über den Sinn dieser Worte nachzudenken. Er war über die Schwelle getreten und die Türflügel schnappten hinter ihm leise wieder zu. Er stand in einem geräumigen Saal, dessen Wände, wie ihm schien, aus nichts anderem als dem geglätteten Gestein des Berges bestanden. In der Mitte des Raumes war ein Tisch gedeckt, für je einen Gast an jedem Ende. Zu jeder Seite des Tisches brannten mit sanftem feierlichen Licht sechs hohe Lampen. Nirgend

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war an den Wänden ein Gerät; trotzdem atmete das Ganze eine seltsam alter­ tümliche Pracht, die dem Kaiser die Brust beengte. Ein Knabe ging zwischen dem Tisch und dem dunklen, der Tür entgegen gelegenen Teil des Saales ab und zu. Es musste dieser sein, der gesungen hatte. Er brachte Schüsseln, die aus purem Gold schienen, und langhalsige, mit Edelsteinen besetzte Krüge und ordnete sie auf die Tafel. Manche Schüssel mit ihrem Deckel war so schwer, dass er sie nicht auf den Händen, sondern auf dem Kopf trug, aber er ging unter der Last wie ein junges Reh. Der Knabe kam aus dem Dunkel gegen das Licht, er sah den Kaiser in der Tür stehen und schien nicht überrascht. Er drückte die Hände über der Brust zusammen und verneigte sich. Von rückwärts rief eine Stimme: – Es ist an dem! – Doch war dieser Teil des Saales im Halbdunkel und erst später gewahrte der Kaiser, dass sich dort eine Tür befand, völlig gleich der in seinem Rücken, durch die er eingetreten war, und ihr genau entgegenstehend. Der laute Ruf verhallte nach allen Seiten und offenbarte die Grösse des Gemachs. Der Knabe neigte sich vor dem Kaiser bis gegen die Erde und sprach kein Wort. Aber er wies mit einer ehrfurchtsvollen Gebärde auf den einen Sitz am oberen Ende der Tafel. Obwohl alle zwölf Lampen, welche die beiden langen Seiten des Tisches begleiteten, anscheinend mit gleicher Stärke brannten, musste doch das Licht, das denen am oberen Teil entströmte, von der stärkeren Beschaffenheit sein und umgab diesen Platz und die Prunkgeräte, die dort angerichtet waren, mit strahlender Helle, die Mitte des Tisches war noch sanft und rein er­leuchtet und das untere Ende lag in einer bräunlichen Dämmerung. Der Knabe sah mit Aufmerksamkeit auf den Kaiser hin, aber sein Mund blieb fest zu. Es dauerte einen Augenblick, bis sich der Kaiser besann, dass es in jedem Fall an ihm wäre, die ersten Worte zu sprechen. – Was ist das? fragte er, du rich­ test hier eine solche Mahlzeit an für einen, der zufällig des Weges kommt? – Die festverschlossenen Lippen des schönen Knaben lösten sich; er schien verlegen, trat hinter sich und sah sich um. Aber der Kaiser achtete schon nicht mehr auf ihn; denn drei Gestalten, die er nicht genug ansehen konnte, waren irgendwo seitwärts aus der Mauer herausgetreten. Die mittlere war ein schönes junges Mädchen, sie glitt mehr als sie ging auf den Kaiser zu, zwei Knaben liefen neben ihr und konnten ihr kaum nachkommen; sie glichen dem Tafeldecker an Schön­ heit, aber sie waren kleiner und kindhafter als dieser. Das Mädchen hielt einen

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gerollten Teppich in Händen, den sie vor den Kaiser hinlegte; dabei neigte sie sich bis fast an den Boden. – Vergib, o grosser Kaiser, sagte sie – nun erst, da sie sich aufrichtete, sah er, dass sie trotz ihrer noch kindlichen Zartheit nicht um vieles kleiner war als er selbst – vergib, sagte sie, dass ich dein Kommen überhö­ ren konnte, vertieft in die Arbeit an diesem Teppich. Sollte er aber würdig werden bei der Mahlzeit, mit der wir dich vorlieb zu nehmen bitten, unter dir zu liegen, so durfte der Faden des Endes nicht abgerissen, sondern er musste zurückge­ schlungen werden in den Faden des Anfanges. – Sie brachte alles mit niederge­ schlagenen Augen vor; der schöne Ton ihrer Stimme drückte sich dem Kaiser so tief ein, dass er den Sinn der Worte fast überhörte. Der Teppich lag vor seinen Füssen; er sah nur einen Teil und nur die Rückseite, aber er hatte nie ein Gewe­ be wie dieses vor Augen gehabt, in dem die Sicheln des Mondes, die Gestirne, die Ranken und Blumen, die Menschen und Tiere ineinander übergingen. Er konnte kaum den Blick davon lösen. Er besann sich mit Mühe auf die Pflicht der Höflichkeit, und es verging eine kleine Weile, bevor er einige Worte an die jungen Unbekannten gerichtet hatte. – Ihr seid vermutlich auf einer Reise, sagte er mit grosser Herablassung, und indem er von seiner Stimme alles Gebieterische abstreifte. Eure Zelte und die eures Gefolges, denke ich, sind in der Nähe aufgeschlagen, und ihr habt der Kühle wegen dieses alte Gewölbe aufgesucht? Ich möchte nicht hören, dass ihr in diesem Berge wohnet! – Die Kinder hingen mit der grössten Aufmerksamkeit an seinem Munde. Bei den letzten Worten, die unwillkürlich mit mehr Strenge über seine Lippen kamen, zuckte ein Lachen über ihre Gesichter. Man sah, wie die drei Knaben sich bemühen mussten, nicht laut herauszulachen. Das Mädchen aber war gleich wieder gefasst, ihre Züge nahmen wieder den Ausdruck der gröss­ten Aufmerksamkeit, fast der Strenge an. – Oder ist eures Vaters Haus nahe? fragte der Kaiser abermals; nichts an ihm verriet, dass er ihr unziemliches Be­ tragen bemerkt hätte. – Die drei Knaben mussten noch mehr mit dem Lachen kämpfen, und der Tafeldecker bückte sich eilig und machte sich an dem Tisch zu tun, um sein Gesicht zu verbergen. – Wer ist denn euer Vater, ihr Schönen? fragte der Kaiser zum dritten Mal mit unveränderter Gelassenheit; nur wer ihn gut kannte, hätte an einem geringen Zittern seiner Stimme seine Ungeduld er­­raten. Das schöne Mädchen bezwang sich zuerst. – Vergib uns, erhabener

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Gebieter, sagte sie, und zürne nicht über meine jungen Brüder, sie sind ohne alle Erfahrung in der Kunst des höflichen Gespräches. Dennoch müssen wir dich bitten, mit der geringen Unterhaltung, die wir dir bieten können, für eine Weile vorliebzunehmen, denn es scheint, unser ältester Bruder hat noch nicht alle Speisen und Zutaten beisammen, die er für würdig findet, dir vorgesetzt zu werden. – Ihre Gebärde lud ihn ein, sich dem Tisch zu nähern, und er fühlte, dass er fast matt vor Hunger war, aber die Haltung der Kinder und die unbegreif­ liche Anmut aller ihrer Stellungen, selbst der ungezogenen, entzückte ihn so, dass er keinen Gedanken an etwas anderes wenden konnte. Das Mädchen war am oberen Ende des Tisches niedergekniet, sie breitete den Teppich aus und lud ihn ein, sich darauf niederzulassen. Das Gewebe war unter seinen Füssen, Blumen gingen in Tiere über, aus den schönen Ranken wanden sich Jäger und Liebende los, Falken schwebten darüber hin wie fliegen­ de Blumen, alles hielt einander umschlungen, eines war ins andere verrankt, das Ganze war masslos herrlich, eine Kühle stieg aber davon auf, die ihm bis an die Hüften ging. – Wie hast du es zustande gebracht, dies zu entwerfen in solcher Vollkommenheit? – Er wandte sich dem Mädchen zu, das in Bescheidenheit einige Schritte weggetreten war. Das Mädchen schlug sofort die Augen nieder, aber sie antwortete ohne Zögern. – Ich scheide das Schöne vom Stoff, wenn ich webe; das was den Sinnen ein Köder ist und sie zur Torheit und zum Verderben kirrt, lasse ich weg. – Der Kaiser sah sie an. – Wie verfährst du? fragte er und fühlte, dass er Mühe hatte, gesammelt zu bleiben. – Denn jeder einzelne Gegen­ stand, den sein Auge berührte, drang mit wunderbarer Deutlichkeit in ihn: er sah vieles im Saal und glaubte von Atemzug zu Atemzug mehr zu sehen. – Wie verfährst du? fragte er nochmals. – Die junge Dame folgte seinem Blick mit Ent­ zücken. Es verging eine Weile, bis sie antwortete. – Beim Weben verfahre ich, sagte sie, wie dein gesegnetes Auge beim Schauen. Ich sehe nicht was ist, und nicht was nicht ist, sondern was immer ist, und danach webe ich. – Aber er hörte sie nicht, so verloren war sein Blick im Anschauen der herrlichen Wände, in denen das Licht der Lampen sich spiegelte. An der Spannung, mit der die Gesichter der Knaben sich ihm zuwandten, erkannte er, dass die Antwort an ihm war. Er war ganz gebunden von der Schönheit dieser Gesichter, auf denen ein Schmelz lag, wie er ihn nie auf den Gesichtern von Kindern meinte gekannt

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zu haben, und in den Augen, die sich gespannt auf ihn richteten, sah er, was er nie in irgend welchen Augen wahrgenommen hatte. – Sind euer noch mehr Ge­schwister? fragte er ohne Übergang den einen, der ihm zunächst war. Er wusste nicht, wie ihm gerade diese Frage in den Mund kam. Sein Auge hing wie gebannt an ihren Gestalten. Die Lust des Besitzenwollens durchdrang ihn von oben bis unten, er musste sich beherrschen, sie nicht anzurühren. – Das hängt von dir ab, gab ihm nicht der Gefragte, sondern der andere der beiden zur Antwort. [...] – Zwölf Monde sind vergangen und sie wirft keinen Schatten! riefen die Kinder. Das Mädchen löste sich von den anderen; es war, als ob sie mit geschlos­ senen Füssen auf ihn zugehe; ihr betrübtes Gesicht schien ihm ein wunderbares Geheimnis anvertrauen zu wollen. – Nur ein Gran von Grossmut! riefen die Stimmen. – Mit Grausen erkannte er, dass das Mädchen jetzt in unbegreiflicher Weise seiner Frau glich. Aus ihren Augen brach ein Blick der äusser­sten Angst und zugleich Hingabe; sie war das Spiegelbild jener zu Tode geängsteten Ga­ zelle. Er las in diesem Blick nichts anderes, als das Eingeständnis dessen, was er nie wollte genannt hören, und die Bitte um eine Verzeihung, die er nicht ge­ währen konnte. Er hasste die Botschaft und die Botin und fühlte sein Herz völlig Stein geworden in sich. Ohne ein Wort suchte seine Hand nach dem Dolch in seinem Gürtel, um ihn nach dieser da zu werfen, da er ihn nicht nach seiner Frau werfen konnte; als die Finger der Rechten ihn nicht zu fühlen ver­ mochten, wollten ihr die der Linken zu Hilfe kommen, aber beide Hände ge­ horchten nicht mehr, schon lagen die steinernen Arme starr an den versteinten Hüften und über die versteinten Lippen kam kein Laut. – Es ist an dem! rief mit lauter Stimme der älteste Bruder. – Die Lampen und der gedeckte Tisch waren im Nu verschwunden. – Nur ein Gran von Grossmut, o unser Vater! riefen noch einmal mit Inbrunst alle die schönen Stimmen, aber die Statue, die gross und fin­ster in ihrer Mitte stand, regte sich nicht mehr. – Die Geschwister bewegten sich wie Flammen auf und ab, von ihren Gesichtern leuchtete ein milder Schein. Das älteste Mädchen war noch am längsten erkennbar, ihre Augen hingen an der Statue. Die Wände rückten zusammen, die Türen waren ver­schwun­den, das Gemach war kreisförmig. Von oben öffnete sich’s, die Sterne sahen herein, die Gestalten waren verflogen, und in der Mitte die Statue des Kaisers blieb allein.

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Sechstes Kapitel (Auszüge) Die junge Frau hatte sich auf ihr Bette geworfen und ihr Gesicht vergraben. Vergeblich umschmeichelte die Amme ihre Füsse. Die Junge liess es geschehen, aber sie beachtete es nicht. – O meine Mutter, rief sie und seufzte laut auf. – O meine Mutter, sagte sie für sich, welche Kräfte hast du mir zugemutet, da du mir auferlegtest, den, welchen du mir zugeführt hast, auf immer lieben zu können! und wo hättest du dergleichen Kräfte mir mitgegeben? – Sie hauchte es leise vor sich hin, die Lippen bewegten sich, aber man hörte nichts. Plötzlich stand sie auf ihren Füssen. – Vorwärts, rief sie, es ist Zeit, dass ich kein Kind mehr bin! – Sie schien es wieder nur zu sich seIber zu sagen. Sie warf ein Tuch über und ging gegen die Tür. – Wohin, meine Herrin? rief die Amme. Die Frau schien sich erst jetzt wieder zu erinnern, dass sie nicht allein war. Sie sah die Amme streng und aufmerksam an. – Es ist Zeit, sagte sie, dass ich mit meiner Mutter rede und mich losmache, denn sie hat mir auferlegt, was ich nicht länger tragen will. – Sie ging zur Tür hinaus. – Vorwärts, flüsterte die Amme, denn sie wird unser bedürfen. – Die Kaiserin drückte sich zur Seite, sie wäre gern dem Färber nachgeschlichen, aber die Amme nahm sie bei der Hand und zog sie hinter sich drein. Die Färberin ging mit schnellen kühnen Schritten wie ein junges Pferd, das die Morgenluft einzieht, und die beiden folgten ihr in geringer Entfernung. Sie gingen über den Fluss, aber nicht in das Viertel der Hufschmiede sondern rechts hinab, wo der Boden sich senkte, eine ärmliche, enge, von Menschen erfüllte Strasse. Da wohnten die ärmsten Leute, die Kesselflicker, die Lumpensammler, die Fallensteller in dichten Klumpen beisammen wie die Ratten. An einer Ecke, wo zwei solche Strassen zusammenstiessen, blieb die Färberin einen Augenblick stehen; sie sah zwischen den Wimpern in einen von Männern, Weibern und Kindern wimmelnden Hof hinein und sagte vor sich hin: Schmutzig ist ein kleines Kind und sie müssen es dem Haushund darreichen um es rein zu lecken; und dennoch ist es schön wie die aufgehende Sonne; und solche sind wir zu opfern gesonnen. – Es war ein ganz seltsamer, fast singender Ton, in dem sie es sagte. Sie bogen ein, gingen weiter bergab, endlich einen Abhang hinunter zwi­schen alten halbverfallenen Mauern. Es war eine von den Schluchten, welche

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da und dort die Stadt durchzogen, deren Abhang nicht bebaut war und nur hie und da die Spuren längst verfallener Wohnstätten zeigte. Unten war eine stein­ gefasste Zisterne und neben dieser ein alter Begräbnisplatz mit ein paar Bäumen. Die Färberin ging auf das Grab ihrer Mutter zu; sie stieg schnell über die Grab­ steine, ihr Fuss rührte den Staub nicht auf, der zwischen ihnen lag und die Tritte lautlos machte. Vor einem kleinen Grabstein fiel sie mit ausgebreiteten Händen auf die Knie. Sie bog die Stirn gegen den Stein, ein gekrümmter Wei­ denbaum hing über ihr, sie schien mit dem ersten Atemzug in das tiefste Gebet hineingestürzt. Die Sonne versank hinter ihr in schweren Dunst wie in einen Trichter. Säulen von Staub hoben sich lautlos überall zwischen den Gräbern auf und sanken in sich zusammen wie Säcke. Ein Windstoss fuhr dahin; er riss das letzte Wort des Gebets von den Lip­ pen der Färberin. Sie stand jäh auf; ihr Aufspringen war wie eines Tieres, in dessen Gebärde kein Gedächtnis wohnt von der letztverstrichenen Sekunde. Ihr Gesicht glich sich selber nicht mehr; sie war schöner als je; ihr Haar hatte sich ge­löst und flog um sie. – Was siehst du mich so an? rief sie der Amme zu, die mit Entzücken auf sie sah. Jetzt habe ich ein Joch abgeworfen und mich aus­ gedreht aus einem alten Gesetz! – Sie ging schnell den Abhang hinauf; die Amme lief hinter ihr drein. – Es muss nicht beim Wasser, es kann auch beim Feuer geschehen, nicht wahr? rief die Junge ihr über die Schulter zu, so war deine Rede, meine Lehrerin! die habe ich mir zu Herzen genommen. – Der Wind kam den dreien nach und riss an ihren Gewändern; er wirbelte den Staub auf. Es war dunkel mitten am Tag, als wollte es augenblicklich Nacht werden. Vögel haste­ ten zwischen den Häusern hin, Menschen liefen in einem braunroten Dunst an ihnen vorbei, von oben legte sich Finsternis auf alles. Als sie an die Brücke kamen, fing die Färberin mit eins an, langsamer zu gehen. Sie blieb stehen, tat wieder ein paar Schritte. Sie taumelte, als hätte sie einen Schlag empfangen, und fuhr mit der einen Hand zu ihrem Kopf, gegen das Ohr hin. Sie kam dabei dicht vor einen Wagen. Der oben sass, riss die Zugtiere zurück. Von den Vorübergehenden blieben etliche stehen trotz ihrer Hast. – Was ist es, das dich anficht? rief die Amme und sprang zu ihr. Das junge Weib lag ihr gleich im Arm, eisig kalt. – Die Stimme! sagte sie klagend. Meiner Mutter Stimme! sie ist an meinem Ohr. Hörst du sie nicht? – Was sagt sie? fragte die Alte. – Barak! stöhnte die Färberin. Nach

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ihm ruft sie. Sie sagt, er solle mich binden. Sie will meine Hände halten, damit er mich töten kann. Sie will nicht, dass ich lebe, um zu tun, was ich zu tun be­ schlos­sen habe. – Ihr Gesicht war ganz grau, die Augen bläulich unter­laufen. Die Alte fasste nach ihren Händen, die glühend heiss waren; plötzlich riss sich die Junge los, sie stürmte davon, zwischen den Leuten durch, die Alte hinter ihr her. Als die Kaiserin sie einholte, in einer Gasse neben dem Flussufer, lag das junge Weib auf der Erde, den Rücken an eine Mauer gestützt, und atmete flach und schnell; die Alte kauerte bei ihr. Etliche waren stehen geblieben und sahen auf die Liegende hin: ein paar alte Gevatterinnen, ein Eseltreiber und ein alter Mann. Die Kaiserin trat mitten unter die Menschen; der Eseltreiber schob sie halb zur Seite und lehnte sich auf sie, sie bemerkte es nicht. Die Amme zischte: Hinweg mit euch! und deckte ihren dunklen Mantel über die Liegende. Die Leute gingen weiter, nur ein Kind stand noch da. Trinken! flüsterte die Färbe­ rin. Die Amme winkte und das Kind hielt eine hölzerne Schale hin, die angefüllt war; es war, als hätte es sie aus der Luft genommen. Von der Schale schwebte ein zarter und beklemmender Duft, ganz wie jener, der vor dem Kommen des Efrits den Raum erfüllt hatte. Die Färberin bog den Kopf der Schale entgegen, welche die Alte ihr hinhielt. Das Kind war nicht mehr da. – Trink dieses, sagte die Alte, und wisse: deine Mutter ist eine Doppelzüngige in ihrem Grabe und eine Spiel­ verderberin, und ihre Worte müssen dahingeblasen werden, denn es sind die Ungewünschten, die aus ihrem Munde sprechen. – Das Gesicht der Fär­berin ver­änderte sich, sowie sie getrunken hatte: eine jähe Glut stieg ihr in die Wan­ gen, ihre Augen wurden schwimmend wie bei einer Trunkenen. Sie stand auf ihren Füssen, in ganz sonderbarer Weise schlug sie ihren Arm um den Nacken der Alten, und sie wandten ihre Schritte wieder der Brücke zu. Die Kaiserin hielt sich dicht an ihnen; aber sie redeten eifrig miteinander, immer nach des anderen Seite hin, und sie konnte nichts verstehen. Als sie dem Färberhaus ganz nahe wa­ren, sprangen ihnen aus dem Dunkel die Brüder entgegen, rissen das junge Weib von den zwei Begleiterinnen weg und schrien auf sie ein mit verzerrten Ge­sichtern. – Er verlangt von uns seine hinweggebrachten Kinder! schrien sie, wo hast du sie? Was hast du an ihnen getan? – Er misshandelt und würgt uns um deinetwillen, du Verfluchte, uns, die wir eure Heimlichkeiten nicht kennen und

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von deinen Verbrechen nichts wissen! – Die Färberin runzelte nur die Stirne; sie würdigte die Schwager keiner Entgegnung. – Was hast du ihm in den Trunk getan, du Hexe, schrie der Mittlere und stiess mit dem einen langen Arm die Alte vor die Brust, – und er schaut auf uns und sieht uns nicht, aber sieht ihrer fünf, die nicht da sind, an einem Tisch sitzen und begrüsst sie als seine Gäste. – Die Frau machte sich los. – Jetzt werden wir sehen, ob meine Reden noch wi­der­r uflich sind! sagte sie und trat über die Schwelle. In der Herdasche hockte der Färber. Sein Gerät lag in Unordnung vor ihm; alle seine Spachteln und Schaufeln, hölzerne, zinnerne und hürene Löffel, gross und klein, als hätten Kinder alles im Spiel herumgestreut. Er drückte mit den grossen Händen Malvenblätter sorgfältig in das schmutzige Farbwasser, das auf der Erde stand; das eine Bein hatte er mitten in einer scharlachroten Pfütze liegen. Die Frau blieb vor ihm stehen; er achtete nicht auf sie. Er sprach zu Kin­dern, die nicht da waren. Er zeigte ihnen, wie man arbeiten müsse. Er sprach lang­sam, belehrend, in einem unbeschreiblich glücklichen Ton. Die Frau rief ihn an. – Barak, hörst du mich! Ich habe dir etwas zu sagen. Ich höre, du redest mit denen, von denen du vermeinst, dass sie noch kommen werden. So wisse denn und erfahre endlich: diese sind dahingegeben, denn sie wollten mir einen üblen Streich spielen, und dafür verdienen sie, was ihnen widerfahren wird. – Barak trat dicht auf sie zu; seine Augen hatten sich mit Blut unterlaufen und sie standen jetzt nicht hervor sondern lagen tief in den Höhlen, und ihr Ausdruck war furchtbar. – Siehe, sagte die Frau, es ist das letzte Mal, dass wir beide unse­ ren Atem austauschen. – Zündet ein Feuer an, sagte Barak. Seine Stimme war un­erkennbar, so als ob ein fremdes Wesen aus ihm heraus redete. Der Verwach­ sene warf sich schnell zur Erde und blies in die Herdasche, ein Feuer schlug auf und die Frau stand gleich im vollen Feuerglanz, der an ihr auf- und ablief, und war schön und böse über die Massen. [...] – Siehe, ich bin schön, und das ist nicht für deinesgleichen, und darum hast du den Knoten meines Herzens nicht lösen können. Meine Schönheit hat einen Anderen gerufen, denn sie ist ein mächtiger Zauber. Darum habe ich einen Ver­trag geschlossen und gebe meinen Schatten dahin und die Ungewünschten mit ihm; und ein Preis ist ausbedungen, und ich nenne ihn dir: es ist die Zartheit der Wangen auf immer, und die unverwelklichen Brüste, vor denen sie zittern,

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die da kommen sollen, mich zu begrüssen – und Einer ist ihr erster: diesem ge­ ­ öre ich von nun ab. – Barak tat jetzt einen Schritt auf die Frau zu und die Frau h wich zurück. – O meine Mutter! rief sie, ihre Stimme klang ganz dünn. Der Färber war schon hinter ihr; in der höchsten Angst riss sie sich zusammen und wie ein Pfeil schoss sie zur Tür hinaus. Die Finsternis brüllte und wälzte sich heran, in dem undurchdringlichen Dunkel wehten dicke Staubwolken dahin, von dem halbabgedeckten Schuppen stürzten die Ziegel, und zugleich schlug der Fluss mit Gischt übers Ufer.

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Spielzeit 2OO9/1O Janice Baird, Michael Volle

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Spielzeit 2OO9/1O Emily Magee


EIN MÄRCHENSPIEL VOM ÜBERLEBEN DER MENSCHHEIT Hans Mayer

Hört, wir gebieten euch: ringet und traget, dass unser Lebenstag herrlich uns taget! Was ihr an Prüfungen standhaft durchleidet, uns ist‘s zu strahlenden Kronen geschmeidet! Es sind Verse aus dem dritten Aufzug, vorletzte Szene, der Frau ohne Schatten. Stimmen der Ungeborenen, mit der Regieanweisung Hofmannsthals: «von oben». Eine Botschaft an die beiden nun wiedervereinten Ehepaare, das kaiserli­ che und das plebejische, Versbotschaft der noch ungeborenen, doch nun er­ wünschten und erwarteten Kinder, worin der Sinn der grossen Prüfung zusam­ mengefasst werden soll. Lassen Sie mich einen Augenblick weiterzitieren, aber­mals als Botschaft: Was euch nicht angehört, Müsset ihr meiden, Was euch das Innre stört, Dürft ihr nicht leiden, Dringt es gewaltig ein, Müssen wir tüchtig sein. Liebe und Liebende Führet herein!

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Aber die Liebenden, die hier beschworen werden, müssen gar nicht hereinge­ führt werden, denn sie sind bereits auf der Szene. Auch handelt es sich diesmal nicht um Stimmen der Ungeborenen, sondern – der Textanweisung zufolge – um einen «Chor der Engel». Und die Verse stammen auch gar nicht aus der Frau ohne Schatten; sie sind nicht einmal von Hofmannsthal, sondern von Goe­ the und stehen im letzten Akt von Faust II. Nun könnte man den zu Lebzeiten Hofmannsthals immer wieder gehörten Vorwurf des dichterischen Epigonen­ tums von neuem anbringen und ein Goethisieren des Wieners belächeln. Allein dabei würde übersehen, dass die Apotheose in der Frau ohne Schatten nicht allein in der Sprachmelodie, sondern gerade auch im geistigen Gehalt ganz bewusst als Nachfolge des Faust von Goethe gehalten wurde. Nicht nur Faust II nämlich wird im Schlussakt der Oper gleichsam von neuem beschworen, wobei erinnert werden mag, dass schon Goethe selbst seine – wie er es nannte – «sehr ernsten Scherze» des Zweiten Faust weitgehend als Libretto für einen grossen Tonsetzer verstand. Einen Komponisten freilich, den er unter seinen späten Zeitgenossen nicht entdecken mochte. Die Musik zu Faust II, so hat sich Goethe noch ge­ äussert, müsste im Stil des Don Giovanni gehalten sein. Dies alles wusste Hugo von Hofmannsthal natürlich, denn er verstand das Konzept seiner Oper von Kaiser und Kaiserin und Amme, vom Färber und der Färbersfrau, als eigentümliche Neugestaltung des Faust-Themas. In der von Hofmannsthal selbst verfassten und vorzüglichen Nacherzählung der Opern­ handlung im Textbuch heisst es ausdrücklich: «Die Amme ist ein Wesen me­phi­ sto­phelischer Art; sie kennt die Menschenwelt mit scharfer und liebloser Kennt­ nis.» Am stärksten, mit einer geradezu modernen literarischen Kühnheit, kommt es zu einem Amalgam aus Hofmannsthal und Goethe am Schluss des zweiten Aufzugs. Zweimal hatte Hofmannsthal seinem lieben Tonsetzer Richard Strauss, der darüber keineswegs entzückt war, zumuten müssen, grosse Septette zu komponieren: Färber und Färbersfrau, Kaiserin und Amme, dazu die drei durch das Leben misshandelten Brüder des Barak. Die Färbersfrau hatte mit der Amme den Teufelspakt geschlossen. Im Briefwechsel mit Strauss zieht Hofmannsthal höchst unbefangen diesen Vergleich. Im ersten Akt hatte die Amme die Pakt­ formel vorgesprochen:

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Abzutun Mutterschaft auf ewige Zeiten, von deinem Leib! Auf dem Höhepunkt des zweiten Aufzugs spricht die Färberin, nur halb wissend, was geschieht, in verwirrtem Gefühl, doch ausdrücklich «ohne Furcht», die Paktformel nach: im Angesicht des Ehemannes Barak. Abtu’ ich von meinem Leibe die Kinder, die nicht gebornen und mein Schoss wird dir nicht fruchtbar... Der Schatten fällt von ihr ab, der weit mehr in dieser Handlung bedeutet als blosse Mutterschaft und Möglichkeit des Weiterlebens in künftigen Geschlech­ tern. Die drei Brüder Baraks entdecken die schreckliche Wahrheit. Ein Schwert fällt vom Himmel als Richtschwert in die Hand des betrogenen Barak. Als er die Schuldige richten will, «erlischt das funkelnde Schwert plötzlich und scheint ihm aus der Hand gewunden...», wie Hofmannsthals Anweisung lautet. Eine plötzliche Verwandlung sprengt das Färberhaus, die Erde tut sich auf, und durch die geborstene Seitenmauer tritt der Fluss herein. Barak und die Frau versinken, die Kaiserin wird vom magischen Mantel der Amme geschützt. Man hört das letzte Wort des weiblichen Mephisto aus dem Dunkel: Übermächte sind im Spiel! Her zu mir! Auch das klingt dem Leser wie dem Hörer arg vertraut. Es sind die gebieterischen Worte des Mephistopheles am Schluss von Faust I. Faust wird durch die Zauber­ pferde aus Gretchens Kerker fortgetragen ins Reich des Vergessens. Auch dort sind Übermächte im Spiel, die als Stimme von oben das «Gerettet» verkündet hatten. Auch Mephistopheles, gleich der Amme, hat nicht Zeit, sich um die Über­­mächte zu kümmern. Jetzt geht es nur noch um Faust und die Kaiserin. Her zu mir! 53


Wie soll man einen solchen, in der Operngeschichte und wohl auch in der Schauspielgeschichte einzigartigen Aktschluss verstehen? Dass der letzte Satz, und möglichst auch der erste Satz eines Theaterstückes als künftiges Zitat ver­ wend­bar sein möge: das hatten die Stückeschreiber und Librettisten immer wieder angestrebt. Von Schiller bis Brecht, der sich dabei ausdrücklich an den sonst missachteten Friedrich Schiller hält, sind Aktschlüsse und Anfangszeilen nicht bloss zitierbar geworden, sondern mittlerweile Zitat. Trotzdem: sie wurden zwar als zitathafte Satzprägungen vom Autor formuliert und konnten später zitierbar werden. Allein sie waren im Augenblick der Niederschrift noch kein Zitat. Jenes «Her zu mir!» der Amme hingegen ist ein Zitat. Der zweite Aufzug der Frau ohne Schatten schliesst mit Goethe. Kein Zweifel: hier wird ein künstlerisches Konzept bewusst durchgeführt, ohne Beachtung hämischer Vorwürfe des Epigonentums. Der zweite Aufzug bei Strauss und Hofmannsthal, so könnte man es zugespitzt formulieren, schliesst als Faust I; die Apotheose des dritten Opernaktes hingegen evoziert, nicht minder bewusst, den Geist und die Sprachform der Schlussszenen aus Faust II. Von geistigen und literarischen «Anleihen» hier zu sprechen, wäre sinnlos. Hof­ mannsthal hat das Zitat der Amme bewusst als bekanntes Zitat künstlerisch eingesetzt. Er hat damit eine spezifisch moderne Kunstform der Zitatmontage sehr früh bereits, im Jahre 1914 nämlich, als er das Textbuch für Strauss entwarf, vorweggenommen. Die Goethe-Zitate, dann auch die Verse am Schluss der Oper haben Zitatcharakter neben ihrer Eigenbedeutung für die Handlung, sollen geistige Kontinuität bewirken. Der Leser und Hörer wird mit Hilfe dieser Montage aus Einst und Jetzt genötigt, einen geistigen Zusammenhang für sich herzustellen. Man soll, das ist der Wunsch des Librettisten Hofmannsthal, sein Opernspiel als einen Hofmannsthalschen Faust verstehen. [...] Die faustischen Elemente sind nicht zentral. Sie sind notwendig als Elemen­ te der Handlung, vor allem als Teufels- oder Hexenpakt, sie sind, in den Versen des dritten Aufzugs, überdies wichtig als Beschwörung einer dichterischen Sphä­ re der Vergangenheit, die als weiterwirkend gedacht wird. Die Umwandlung jedoch der Prüfungssituation aus der Zauberflöte aus einem dualistischen Spiel, worin nur das Fürstenpaar (Tamino und Pamina) ernsthaft gereinigt wird, wäh­ rend Papageno und Weibchen ganz ungeweiht und ungereinigt bleiben müssen,

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als Figuren des «Unmittelbar-Erotischen», wie der dänische Philosoph Kierke­ gaard das formuliert hat, trifft den geistigen Kern des Werkes. Aus einem ur­ sprünglich denkspielhaft beschworenen Gegensatz von gesellschaftlich hoher und niederer Sphäre (das Färberpaar hiess ursprünglich Arlekin und Smeraldine und sollte, wie die Figuren im Wiener Volkstheater, im Dialekt sprechen) wird nun ein humanistisches Einheitskonzept, das dem Färber Barak keine andere Sprache erlaubt als dem Kaiser, und der Kaiserin keine andere als dem Weib des Färbers. Die Entstehungsgeschichte ist also vor allem als ein Ernstnehmen des Plebejers Barak und seiner Leiden zu verstehen. Daher ist auch Barak der einzi­ge im Spiel, der einen eigenen Namen besitzt. Alle anderen Figuren sind als Funk­ tionsträger vorgestellt: der Kaiser, die Kaiserin, die Amme. Auch das Weib des Färbers wird von Hofmannsthal nur in dieser Funktion vorgestellt. Sie heisst einfach: «die Frau». Wie bewusst diese Namengebung und Namenverweigerung gehandhabt wird, erkennt man an der zweiten Ausnahme im Text. Auch der Vater nämlich der Kaiserin, Fürst des Geistreiches, also die von der Amme ge­ hass­te und gefürchtete göttliche Übermacht, hat einen Namen. Die Kaiserin ist Tochter des zürnenden Geisterfürsten Keikobad. Am Beispiel des Barak wird demonstriert – und hier ist der Abstand zu den Konzepten Schikaneders und auch noch Raimunds evident –, dass die Leiden der Menschen mitsamt der Art, wie sie damit im inneren und im äusseren Leben fertigwerden, unabhängig bleiben von einer hohen oder niedrigen Funktion inner­halb der Gesellschaft. Indem Hofmannsthal seinen Stoff so versteht und ge­staltet, stellt er das Libretto zur Frau ohne Schatten unverkennbar in die Tra­ di­tion der bürgerlichen Aufklärung. Es ist österreichische, sogenannte josefini­ sche Aufklärung, die sich dem Weimarer deutschen Klassizismus und Idealismus anverwandelt. Dies ist eine bewusste Nachfolge Lessings und der Minna von Barn­helm; des Faust von Goethe; vor allem der Zauberflöte. Was scheinbar als Spiel mit Zitaten und gebildeten Anspielungen bei Hofmannsthal interpretiert werden könnte, erweist sich als Bekenntnis zum bürgerlichen Humanismus und zur Verwandlungsethik der idealistischen Philosophie. Dass trotzdem am Schluss der Frau ohne Schatten die gesellschaftliche Gleichheit nach bestandener Prüfung wieder aufgekündigt wird, und die Gestalten der herrscherlichen und der be­ herrschten Welt bloss im Leiden in der ethischen Entscheidung als einander

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gleich­wertig behandelt wurden, nun aber jedes, wie im Märchen, in seine Sphä­ re zurückkehrt, in den Palast und in die Hütte, das charakterisiert Hofmannsthals Dichtung als ein Werk der gesellschaftlichen Spätzeit und als brüchig, vergleicht man in der Tat und rückblickend den Ausklang der Frau ohne Schatten mit Mozarts Finale in der Zauberflöte. [...] Durch Einbeziehen des Frühwerkes kann die eigentliche dichterische Sub­ stanz der Frau ohne Schatten genauer bestimmt werden. Die Märchenwelt von Kaiser und Kaiserin gehört zum Stoff, darf aber nicht als konkrete staatlichpolitische Gegebenheit verstanden werden. Die Einsamkeit von Kaiserin und Kaiser ist vor allem zu verstehen als Verantwortungslosigkeit gegenüber einer jeglichen Mitwelt. Die Selbstsucht im Genuss und Befehlen ist halb unschuldig bei der Kaiserin, der nach wie vor ihre Herkunft aus göttlicher Sphäre anhaftet. Sie ist schuldhaft beim Kaiser, dem alles nur Mittel ist und Instrument zum voll­ kommenen Genuss: auch die Kaiserin, die er von aller Mitwelt abschirmt und gleichsam gefangenhält. Menschen sind nur Mittel, sein Zorn verschont weder die Diener noch den treuen Falken. Dieser Kaiser lebt, und durch ihn auch die Kaiserin, in vollkommener Weise eine rein ästhetische Existenz des Geniessens. Es ist zugleich die formale Existenz des elitären Künstlers und Ästheten. Auch Thomas Mann hatte in seinem Frühwerk, vor allem im Roman Königliche Hoheit, die formale Existenz eines Fürsten gleichgesetzt dem einsamen Ästhetentum des Künstlers. Dadurch aber wird die Frau ohne Schatten für Hofmannsthal zu einem Parabelspiel über die Überwindung des egozentrischen Künstlertums mit Hilfe anderer Menschen, die als solche und als Gleichberechtigte anerkannt werden. Aus dieser tieferen Einsicht entsprang Hofmannsthals Entscheidung, den ur­ sprünglichen Dualismus der Sphären zwischen dem Hohen Kaiserpaar hier und dem ungleichberechtigten Paar der Wiener Spassmacher preiszugeben. So ent­ stand die Gleichberechtigung der Sphären zwischen Kaiserpaar und Färberpaar. Dadurch wird Barak nun als Mann, der einen Namen trägt in voller Mensch­ lichkeit, zum eigentlichen Gegenspieler der Kaiserin, als der Frau ohne Schatten. Jetzt erst erkennt man, wie sinnvoll und übersichtlich die Konstellation der Figuren vom eigentlichen Sinn des Spiels her entworfen wurde. Die äussere Hand­lung strebt nach der glücklichen Vereinigung der beiden Paare, von Kaiser

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und Kaiserin, von Barak mit seiner Frau. Eine tiefere Zuordnung aber verbindet insgeheim die Kaiserin mit Barak, den Kaiser mit der Färberfrau. Die Entschei­ dung der Kaiserin, den Schatten der Färberin, den diese von sich abtat, nicht an­zunehmen, so dass besagter Schatten, wie Richard Strauss besorgt monierte, zwischen dem zweiten und dritten Aufzug irgendwo herrenlos herumirren muss, diese erste verantwortungsbewusste Handlung der Kaiserin, ist eine Entschei­ dung für Barak und sein Glück. Noch wird sie, am Ende des zweiten Aufzugs, getroffen, ohne dass eine tiefere moralische Entscheidung dadurch vollzogen würde. Die erfolgt erst in der grossen Szene der Kaiserin beim Anblick des ver­ steinerten Gatten. Das hervorgeschossene «Ich – will – nicht!» ist nun wahrhaft ein moralischer Entschluss, weil er bereit ist, das eigene Glück nicht zu erkaufen durch das Unglück eines anderen. Die Kaiserin handelt menschlich: als ein auf­ geklärter und einsichtsvoller Mensch. Dadurch erst wurde sie Mensch und fähig, von nun an selbst den Schatten zu werfen. Die eigentliche Auseinandersetzung findet mithin zwischen der Kaiserin und Barak statt. Durch Barak und sein Tun wird ein Beispiel gegeben und ein Gegenbild entworfen zur formal-ästhetischen Existenz. Dem entspricht in folge­ richtiger Weise die zweite Achse zwischen Kaiser und Färberin. Hier freilich weist das Textbuch zur Frau ohne Schatten einige Brüche auf und Lücken. Wie soll man das Verhalten der Färberin deuten? Handelt es sich um eine böse Frau? Dann würde die Güte und Männlichkeit des Barak, ob solcher Bindung an eine kalte Intrigantin, arg entwertet. Aus dem Mangel einer tieferen Motivierung dieser Figur im Libretto ist übrigens die Unsitte entstanden, die Färberin als eine keifende Hysterikerin zu interpretieren. Ich selbst habe noch als junger Mensch die erste Berliner Aufführung der Oper unter Leitung des fast nur mit dem rechten Arm und dem Blick dirigierenden Richard Strauss in der Erinne­ rung. Die grosse Sängerin Barbara Kemp, übrigens eine berühmte Carmen und Elektra, hatte auch das Weib des Barak gleichsam als Amalgam aus Carmen und einer als Hysterikerin missverstandenen Elektra aufgebaut. Sehr eindrucksvoll und sehr falsch. Freilich hat Hofmannsthal im Text einige Hinweise gegeben, sol­­chem Missverständnis zu steuern, allein sie sind zu subtil und scheinbar «nebenbei» gesagt. Dennoch ist unverkennbar, dass es sich bei der Färberin um eine sehr schöne junge Frau handelt, die sich in der Armut verhärtete. Man lebt,

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mit Barak, in der hässlichen und leidvollen Welt sehr armer Leute. Die Frau des Färbers sieht vor sich die eigene Zukunft als ein Verblühen und Verkommen, als körperliche Verwandlung zur Hässlichkeit und als seelische Transformation zur bösartig keifenden Vettel. Sie ist schön und auch fähig zur Güte. Alles aber ist gefährdet durch Armut. Darauf gründet die Amme ihren Plan und den Hexen­pakt. Schwieriger zu deuten (und damit darzustellen) ist die Gestalt des Kaisers. Gewiss, der Ruf des Falken trifft alle und alles. Die Frau wirft keinen Schatten, der Kaiser muss versteinen! Was aber hat es auf sich mit dieser Versteinerung? Wird sie an einem Unschuldi­ gen vollzogen durch Geisterspruch, weil er wagte, das Geisterkind zur Men­ schen­frau zu machen? Dann würde grausam gespielt mit den Menschen durch unmenschliche Übermächte. So jedenfalls stellt es sich für die Amme dar, der es recht ist. Oder ist der Kaiser ein Schuldiger, der nicht nur entsühnt werden kann, sondern der sich selbst entsühnen muss? Die Antwort auf solche Frage wird im Libretto nicht gegeben: Das kann nicht bezweifelt werden. Wodurch der Darsteller des Kaisers gezwungen wird, einen hochmütigen jungen Men­ schen dar­zu­stellen, dem vom geisterhaften Schwiegervater bös mitgespielt wird, ohne dass deutlich würde, wodurch der Kaiser, in seiner Todesnot – denn die Verstei­nerung geht einher mit vollem Bewusstsein – nun wirklich zum mit­ menschlichen Verstehen gebracht worden wäre. Hofmannsthal muss gespürt haben, dass diese wichtige Zuordnung von Kaiser und Färberin im Libretto nicht ausdrücklich und glaubhaft genug gestal­ tet wurde. Sein Entschluss, die Geschichte noch einmal als eigene Prosaerzäh­ lung zu fassen, hing wohl damit zusammen, dass nunmehr die Gestalt der Färberin wie vor allem die Ursache für den Vorgang der «Versteinerung» darge­ stellt werden konnte. Die Versteinerung des Kaisers ist nämlich wesensgleich mit der Versteinerung des Ästheten in Hofmannsthals frühem Märchen von der 672. Nacht und mit der sinnlosen Gier, die den Kaiser des frühen lyrischen Dramas Der Kaiser und die Hexe an die Hexe gebunden hatte. In der Erzählung

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Hofmannsthals von der Frau ohne Schatten ist der Kaiser vor allem schuldig des Hochmuts einer bloss geniessenden und befehlenden Exi­stenz. Ausführlich wird in der Erzählung der Weg des Kaisers in die Höhle und sein allmähliches Er­ starren beschrieben. Drei Knaben aus der Zauberflöte sind zur Stelle. Sie helfen mit bei der schrecklichen Prüfung. Der Kaiser, so wird erkennbar, hat bereits ein steinernes Herz. Die Versteinerung alles übrigen ist folgerichtig. In einer einzigen Frage klärt eine der Dienerinnen in der Höhle den Sachverhalt: «Du sprichst von dem, was wir dir sind, warum fragst du niemals, was du uns bist?» Es ist die Versteinerung des eigensüchtigen Herrschers und Künstlers: abermals eine Paraphrase vom hässlichen Tod des schönheitssüchtigen Ästheten, den der Kaiser – wie im Märchen von der 672. Nacht – am Ende stirbt. Schuldig sind beide: Färberin und Kaiser. Die eine schuldig geworden durch Armut, der an­ dere im Reichtum und in der Allmacht. Dadurch werden sie unfruchtbar für die Menschen. Die Färbersfrau bekommt keine Kinder, der Kaiser kann dem Geisterkind nicht zur Mutterschaft verhelfen. Denn der Schatten bedeutet mehr als Mutterschaft: er hat zu tun mit der Menschlichkeit als einer Ehrfurcht vor den Mitmenschen. [...] Das Gerede der Rezensenten von einst, die wortreich bedauerten, dass sich ein Musiker vom Format eines Richard Strauss abermals einliess mit den wirren, unverständlichen und bildungsüberladenen Gespinsten eines Wiener Ästheten, ist zwar nicht verstummt, wird bisweilen, auch auf kleiner Flamme gewärmt, schadet aber nicht mehr. Die Frau ohne Schatten blieb im Weltrepertoire der Oper: als ein Ausnahmewerk, das schwer zu gestalten und auch schwer zu verstehen ist. Nicht wegen offenkundiger Konstruktionsfehler, wie behauptet wurde, was durchaus nicht stimmt, und was Strauss, der sich darin besser aus­ kannte als irgendeiner, stets und mit Recht bestritt. Sondern wegen der bewusst angestrebten gleichzeitigen Fortführung und Brechung der künstlerischen Tra­ dition. Faust und zugleich ein Gegenfaust. Zauberflöte und gleichzeitig auch deren Zurücknahme. Ein Nichtmehr der naiven Zauberopern und ein Noch­ nicht der menschlichen Gleichberechtigung. Der ethische Konflikt zwischen Kaiserin und Färber wurde zugunsten des Plebejers entschieden. Nicht so der gesellschaftliche. Schöne Musik kann hier nicht Antwort geben. Das wusste be­ reits Richard Wagner, als er die Schlussmusik schrieb zum Ring des Nibelungen.

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Wie also? Kann die Entscheidung, eben diese Frau ohne Schatten heute und hier zu spielen, mehr für sich anführen als den Hinweis auf ein schönes und erfolg­ reiches Werk, und auf eine gute Besetzung? Ist die Frau ohne Schatten von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss ein kulinarisches Theater, das nichts zu bieten hätte als merkwürdige Geschehnisse, schöne Bilder, tragische Konstella­ tionen und die Musik eines spätbürgerlichen Tonsetzers? So wird man nicht mehr fragen können, wenn man sich einmal, und ernsthafterweise, mit diesem Werk einliess. Hofmannsthal fasste in einem Brief an Strauss (Anfang April 1915) den Gehalt seiner Dichtung in einem Verspaar von Goethe zusammen: Von dem Gesetz, das alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet. Sie stehen bei Goethe in dem Epenfragment Die Geheimnisse; es ist in Stanzen­ form geschrieben. Liest man die vollständige Strophe bei Goethe nach, so hat man gleichzeitig den innersten Gehalt der Frau ohne Schatten – und eine Ant­ wort auf die Frage nach ihrer Bedeutung für unser Heute. Die Verse Goethes lauten: Denn alle Kraft dringt vorwärts in die Weite, zu leben und zu wirken hier und dort: dagegen engt und hemmt von jeder Seite der Strom der Welt und reisst uns mit sich fort: in diesem innern Sturm und äusseren Streite vernimmt der Geist ein schwerverstanden Wort: ‹Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet.› Diese Selbstüberwindung aber hat nichts zu tun mit ärmlichem Asketentum. Sie meint auch nicht Entsagung, sondern Ehrfurcht, um abermals einen Zent­ ralbegriff Goethes zu verwenden. Ehrfurcht vor Dasein und Würde eines jeden anderen Menschen. Das meint Hofmannsthal. Das Parabelspiel von der Frau ohne Schatten soll es verstehen machen: durch den Geist und durch die Sinne.


Glück kann nicht erkauft werden, um es zu wiederholen, durch das Unglück von anderen. Welche Botschaft wäre drängender und gegenwärtiger als diese: in unserem Tageslauf der Erpressungen und der Geiselnahmen? Nichts von den grossen Gedanken der Aufklärung, ihrer Dichter und Denker ist eingelöst worden. Moralphilosophie eines Immanuel Kant: dass kein Mensch als blosses Mittel behandelt werden dürfe? Ein jeder sei in sich selbst Zweck. Das Motiv des Schattens schliesslich meint die künftigen Generationen, die noch Ungeborenen, die aber unser aller Zukunft bedeuten sollen. Sie sind die Gewähr für das Überleben der Menschheit. Wer diesen Schatten von sich ab­tut, hat ein Urteil gesprochen über die Zukunft des Menschengeschlechtes. Darum findet sich vermutlich am Schluss des ersten Aufzugs der Frau ohne Schatten die tiefste Aussage. Nicht zufällig, dass Richard Strauss hier, seit der Elektra, seine vielleicht grossartigste Musik fand. Man spürt Ergriffenheit, die sich unmittelbar mitteilt. Es singen die Wächter der Stadt. Sie geben den Menschen, die sich zum Schlaf rüsten, eine Botschaft mit in die Nacht. Sie lautet: Ihr Gatten, die ihr liebend euch in Armen liegt, ihr seid die Brücke, überm Abgrund ausgespannt, auf der die Toten wiederum ins Leben gehn! Geheiliget sei eurer Liebe Werk! Man kann das so verstehen: die Eintracht der Gatten, als Grundlage einer jeden zwischenmenschlichen Eintracht, die den Frieden bedeutet, ist eine Brücke über dem Abgrund, «auf der die Toten wiederum ins Leben gehen»! Die von uns bewohnte Welt ist das Werk der Toten: im Guten und auch im Schlimmen. Wer Leben und Würde des anderen Menschen nicht gelten lässt, tötet die Toten zum anderen Mal. Die Frau ohne Schatten ist ein Märchenspiel, das vom Überleben der Menschheit handelt.


RICHARD STRAUSS' «LETZTE ROMANTISCHE OPER»? «Die Frau ohne Schatten» als musikalische Herausforderung Ivana Rentsch

Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal waren sich einig: Die Frau ohne Schatten sollte in einem «neuen einfachen Stil» vertont werden, um die «schö­ ne Dichtung in voller Reinheit und Klarheit den Zuhörern vorzuführen». Vor dem Hintergrund dieser Absichtserklärung, die der Komponist 1914 in einem Brief an Hofmannsthal formulierte, wirkt sein zwei Jahre später, inmitten der Abschlussarbeiten an der Frau ohne Schatten gezogenes Fazit umso bemerkens­ werter. Nicht nur konstatierte er, dass es «eben wirklich nicht» gehe, den ur­ sprünglich ins Auge gefassten Stil, «auf den wir beide zusteuern müssen», an­ zuwenden. Er gestand sogar ein, dass das Herz bei der Komposition «nur zur Hälfte dabei» sei, «und sobald der Kopf die grössere Hälfte der Arbeit leisten muss, wird ein Hauch akademischer Kälte darin wehen». Obwohl Hofmannsthal dieser Einschätzung entschieden widersprach, steht dennoch ausser Frage, dass sich die ebenso komplexe wie überströmende Klangwelt der Frau ohne Schatten schwerlich als neue Einfachheit beschreiben lässt. Aus welchen Gründen aber konnte der ursprünglich gefasste kompositorische Plan nicht realisiert werden? Woran scheiterte der Versuch musikalischer Simplizität? Immerhin konnten Strauss und Hofmannsthal, als sie sich im Winter 1910 mit dem Projekt einer neuen Oper – der späteren Frau ohne Schatten – zu be­ fassen begannen, bereits auf eine intensive Zusammenarbeit zurückblicken: Die Uraufführung von Elektra war drei Jahre zuvor erfolgt, diejenige des Rosenkava­ lier sollte im Januar 1911 stattfinden, und Ariadne auf Naxos nahm immer

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deutlichere Konturen an. An den Rosenkavalier sowie hauptsächlich an das «Neben­werk» Ariadne auf Naxos und den darin exponierten «neuen Weg» plan­ ten Strauss und Hofmannsthal mit dem «Hauptwerk» der Frau ohne Schatten denn auch ursprünglich anzuknüpfen. Weshalb sich dies jedoch musikalisch nicht verwirklichen liess, brachte Strauss folgendermassen auf den Punkt: «Da macht es nicht etwas mehr oder weniger Musik oder Text, das liegt am Stoff selbst, mit seiner Romantik, seinen Symbolen – Figuren wie Kaiser und Kaiserin nebst Amme sind nicht mit so roten Blutkörperchen zu füllen wie eine Marschal­ lin, ein Octavian oder Ochs» (Brief an Hofmannsthal vom 28. Juli 1916). Nicht die literarische Qualität der von Strauss als «glänzend» gelobten Textvorlage bildete also das Problem, sondern die mythische Dimension eines Geschehens, das nach musikdramatisch gesteigerter Tonsprache verlangte. Denn anders als das ‹vollblütige› Personal im Rosenkavalier stehen Kaiserin, Kaiser, Amme und Färberpaar als mehr oder weniger abstrakte Stellvertreter im Dienste einer über­ geordneten Botschaft. Vor diesem Hintergrund erweist sich der von Strauss 1916 vermeintlich frei gefasste, emphatische Entschluss, mit der Frau ohne Schatten «die letzte romantische Oper» zu verfassen – also das genaue Gegenteil eines «neuen Wegs» – gleichsam als nachträgliche Bejahung der einzigen Möglichkeit, den symbolträchtigen Stoff überhaupt musikalisch zu bewältigen. Den «ineinandergreifenden Motiven und Symbolen», die laut Hofmanns­ thal das Textbuch der Frau ohne Schatten durchwirken, begegnete Strauss auf der kompositorischen Ebene mit einer ähnlich ausdifferenzierten Leitmotivik. Zum einen ergab sich daraus eine klingende Analogie zur literarischen Konzep­ tion – der sprachlichen und szenischen Symbolik entsprach eine musikalische. Und indem die inhaltlichen an klingende Motive geknüpft und damit sinnfällig gemacht wurden, liessen sich zum anderen die erheblichen Anforderungen mindern, die das anspielungsreiche Textbuch ans Publikum stellte. Ohnehin war sich Strauss darüber im Klaren, dass es prinzipiell «sehr traurig, aber wahr» sei, «wie wenig Text man bei aller Sorgfalt des Komponisten in der Oper versteht». Bei der Frau ohne Schatten stellte sich das Problem jedoch in verschärfter Form, wie auch Strauss erfahren musste, als er die Intendanten der Berliner und der Dresdner Oper probeweise den Text der ersten zwei Akte lesen liess und beide «der Sache total verständnislos» gegenüberstanden. Entsprechend eindeutig war

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die Lehre, die der Komponist aus dem ernüchternden Erlebnis zog: «Ich er­sehe aus allem, dass der Stoff und seine Motive schwer verständlich sind und dass alles getan werden muss, um ihn recht klar zu machen» (Brief an Hofmannsthal vom 20. April 1914). In musikalischer Hinsicht suchte Strauss Klarheit zu schaffen, indem er sich eines vielseitigen Vokabulars von distinkten Leitmotiven bediente, die sich dank ihrer Prägnanz in das Gedächtnis des Publikums einschreiben sollten. Auch verzichtete er bezeichnenderweise am Beginn der Oper auf ein Vorspiel, um statt­dessen mit dem donnernden Motiv des Geisterkönigs Keikobad sogleich dessen musikalisches Symbol zu exponieren. Wie bereits in Elektra, wo das Motiv des toten Agamemnon wuchtig die Oper eröffnet, drückt auch in der Frau ohne Schatten ein nie in Erscheinung tretender (Über-)Vater der Klangwelt von Anfang an seinen Stempel auf. Dem kompositorischen Problem, ein musikalisch zentrales Motiv auf eine Figur zu beziehen, die niemals in Erscheinung tritt – Keikobad bleibt ebenso unsichtbar und stumm wie Agamemnon in Elektra – begegnete Strauss nicht zuletzt dadurch, dass er die betreffenden klanglichen Chiffren in beiden Opern an die Deklamation der Namen anpasste. Infolge dieser ‹sprachmelodischen› Anleihe scheinen die Leitmotive gleichsam «Kei-ko-bad» beziehungs­weise «Aga-mem-non» zu rufen.

Motiv des Keikobad (Die Frau ohne Schatten)

Motiv des Agamemnon (Elektra)

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Von der Absicht, Klarheit in die Fülle musikalischer Symbole zu bringen, zeugt auch die Bereit­schaft zu latent ‹beissenden›, jedoch markanten Klangwirkungen. Insbesondere beim Motiv des Falken, dessen charakteristische Tonrepetitionen zusätzlich durch Vorschläge geschärft sind, erweist sich die musikalische Uner­ bittlichkeit als sinnfälliger Ausdruck der drohenden Katastrophe. «Die Frau wirft keinen Schatten, der Kaiser muss versteinen, wie soll ich da nicht weinen» – von der allerersten Szene an, in der die Falkenstimme die Prophezeiung explizit macht, erscheint das bohrende Leitmotiv unweigerlich als Ausdruck der akuten Gefahr.

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Bis zu welchem Punkt Strauss gewillt war, die Komposition in den Dienst von Textbuch und dramaturgischer Klarheit zu stellen, dokumentieren schliesslich jene – ausnahmslos zentralen – Passagen, an denen der Gesang gleichsam über­ wunden scheint. Dies gilt für den «furchtbaren Schrei» der Kaiserin, «den ersten Menschenschrei, etwa wie der Schrei einer gebärenden Mutter» (Brief an Hof­ mannsthal vom 19. Juni 1915), auf dem dramatischen Höhepunkt des letzten Aufzugs. Strauss vertonte ausgerechnet diejenige Schlüsselstelle als Melodram – das heisst als gesprochene Deklamation zu Musik –, in der das menschliche Mitleid der Kaiserin über ihre egoistische Liebessehnsucht siegt.

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Melodram der Kaiserin: «Ich will nicht!» (Die Frau ohne Schatten)

So heikel die melodramatische Passage in aufführungspraktischer Hinsicht auch ist, und so kritisch Strauss der Lösung im Rückblick selbst gegenüberstehen sollte, so erweist sich die kompositorische Entscheidung doch als unmittelbare Konsequenz der oben zitierten Absicht, den «schwer verständlichen» Stoff mit allen Mitteln «recht klar zu machen». Obwohl die Sprechstimme aus physiologi­ schen Gründen nicht einmal ansatzweise an die Intensität des Gesangs heran­ reichen kann, setzte der Komponist bei der entscheidenden Passage – «ich will nicht» – ganz auf die Bedeutung des Wortes. Und genau dieser unbedingte Wille zur «Klarheit» schlägt schliesslich den Bogen zu dem ursprünglich intendierten «neuen einfachen Stil». Während die «ineinandergreifenden Motive und Symbole» von Hofmannsthals Dichtung eine Überführung ins opulente Musikdrama geradezu unausweichlich erscheinen liessen, lotete Strauss die Grenzen der musikalischen Sinnfälligkeit bis in die feinsten Verästelungen aus. Dass sein Augenmerk – selbst auf Kosten der Klang­ wirkung – ganz einer dramaturgischen Klarheit galt, trug zum einen den Kern einer künftigen Simplizität in sich und zeugte zum anderen von der Absicht, die

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endgültigen musik­dramatischen Konsequenzen zu ziehen: Dezidiert trachtete Strauss danach, die ersehnte ‹neue Einfachheit› nur noch ein einziges Mal zu verschieben und mit der Frau ohne Schatten die «letzte romantische Oper» zu komponieren. Dass es nicht die «letzte» bleiben sollte und die Einfach­heit weiter­ hin auf sich warten liess, steht auf einem anderen Blatt.

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Spielzeit 2OO9/1O Emily Magee, Birgit Remmert



«DIE FRAU OHNE SCHATTEN» Aus Sicht der Jungschen Psychologie Hanna Hadorn

Ich versuche im Folgenden, einige Hauptzüge der Oper Die Frau ohne Schatten aus der Sicht der Jungschen Psychologie zu deuten. Die beiden Paare, die im Mittelpunkt der Handlung stehen, können als verschiedene Aspekte ein und desselben Paares verstanden werden, so wie wir oft selber sich widersprechende Stimmen und Tendenzen in uns selber spüren. Die Paare agieren auf verschie­ denen Handlungsebenen und finden erst am Schluss der Oper zusammen. Bei­ de verbindet das Thema, dass die Frauen nicht schwanger und die Beziehungen nicht fruchtbar werden. Auf der symbolischen Ebene ist ein Kind Ausdruck für neue Lebensmöglichkeiten. Die Oper zeigt, dass es mitunter einen langen Weg braucht, bis sich diese entfalten können. Wenden wir uns zuerst dem Kaiserpaar zu. Der Kaiser wird als ein Mann gezeigt, der von blindem Jagdfieber getrieben ist. Es ist ein geläufiges Märchen­ motiv, dass ein Jäger einem verzauberten Tier folgt und von ihm in eine Jenseits­ welt gelockt wird, in der er sich verstrickt. In der Oper wird damit ein Muster beschrieben, das oft zu fatalen Liebestragödien führt: Der Mann ist derart von einer Frau verzaubert, genauer von dem, was er in ihr sieht, dass er ihr blindlings nachjagt und in einen Bann fällt, in dem er nicht mehr Herr seiner selbst ist. Unter­stützt wird dies durch das Bild vom roten Falken, der das gejagte Tier blen­det und dazu zwingt, sich als die schöne Frau zu zeigen, die sie eigentlich ist. Der Falke ist ein Sonnentier, er wirft Licht auf das, was dem Kaiser fehlt, nämlich die weiblich emotionale Seite. Die Gazelle ist ein Symbol für Leichtig­ keit und Inbegriff weiblicher Schönheit und Reize. Ihre weisse Farbe verrät aber, dass sie noch weit davon entfernt ist, eine im Körper verankerte Frau zu sein. Als sie sich, um ihr Leben zu retten, in eine Frau verwandelt, wirft sie keinen

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Schatten, was unter­streicht, dass sie eher ein Phantom als ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Da sie sich ihrer­seits in den Kaiser verliebt hat, versucht sie, sich in sein Phantasiebild einzupassen, um ihm zu gefallen. Sie ist noch nicht sie selbst geworden, bleibt deshalb körper- und schattenlos und so ein Spielzeug ihres Gatten. Die Beiden leben eine Beziehung, die eher in der Phantasie und im Zwie­ licht stattfindet als im realen Alltag. Der Kaiser lässt sich nur auf der sexuellen Ebene auf seine Frau ein, er verbringt jede Nacht mit ihr. Am Morgen jedoch verlässt er sie, um weiter zu jagen und das zu suchen, was er bei ihr nicht findet. Er kann sich mit nichts wirklich verbinden, und so droht der Fluch des Geister­ königs wahr zu werden, nämlich dass er versteinern wird und seine Frau ins Geister­reich zurückkehren muss. Die Kaiserin wird tagsüber sich selbst und ihrer Amme überlassen. So kann die Beziehung nicht fruchtbar werden, und die Königin verharrt in der Schatten­losigkeit. Psychologisch gesehen geht es beim Schatten sowohl um jene Aspekte, die wir an uns selbst ablehnen, als auch um jene, die wir noch nicht kennen und erst entwickeln müssen. Ein Mensch, der keinen Schatten wirft, hat keine Konturen, keine eigenständige Persönlichkeit, passt sich nur dem an, was von ihm erwartet und auf ihn projiziert wird. Einen Schatten zu erlangen bedeutet, Gefühle zu zeigen, eigene Entscheidungen zu treffen, sich dem Gegenüber nötigenfalls zu widersetzen und jene Persönlichkeits­ anteile zu entwickeln, die in uns schlummern, d.h. ein eigenständiger Mensch zu werden. In der Oper wird der Schatten der Kaiserin ein Stück weit von ihrer ruch­ losen Amme gelebt. Sie will ihrer Pflegetochter unbedingt einen Schatten ver­ schaffen, dazu ist ihr jedes Mittel recht. Es scheint zunächst, als ob die Kaiserin mit diesem fremden Schatten bei ihrem Mann bleiben könnte und dieser nicht versteinern müsste. Genau besehen bliebe sie jedoch weiter­hin ein selbstentfrem­ deter Mensch, sie würde nur in eine weitere fremde Rolle schlüpfen. Was sich im höheren Bereich des Spielfelds zuträgt, finden wir auf der un­ te­ren Ebene bei den Färbersleuten widergespiegelt. Im Gegensatz zur Kaise­rin fehlt der Färbersfrau die Fähigkeit, sich ihrem Mann hinzugeben. Sie wird äus­ serst herrisch, launisch und mit ihrem Schicksal unzufrieden gezeigt, obwohl sie offensichtlich froh sein muss, bei Barak Aufnahme gefunden zu haben. Wes­

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halb sie solche Angst hat, schwanger zu werden und sich Barak verweigert, verrät uns der Text nicht, doch scheint sie eine zutiefst Unglückliche und mit ihrer Rolle als Frau Unzufriedene zu sein. Für die Färberin wie für die Kaiserin gilt, dass es dem Mann nicht gelang «des Herzens Knoten zu lösen», wie es der Text zweimal ausdrückt. Im Gegensatz zum Kaiser wird der Färber äusserst farbig gemalt, was zu seinem Beruf passt. Er tritt als gutmütiger Mann mit fast müt­ terlichen Zügen auf. Er liebt seine Frau über alles und verzeiht ihr alle Launen. Doch je mehr er um sie wirbt, desto abweisender wird sie. So lässt sich die Frau bereitwillig von der Amme verblenden und ist gerne bereit, ihren Schatten zu verkaufen. Nur zu gern lässt sie sich von den Phantombildern täuschen, die ihr die Amme herbeizaubert. Zwischen dem Färber und seiner Frau spielt sich eine Dynamik ab, wie sie bei Paaren nicht selten zu beobachten ist. Da der Mann derart gutmütig ist und seiner Frau alles nachsieht, lebt sie in der Beziehung alle aggressiven Anteile aus. Als er sich ihr endlich entgegenstellt und zu seiner männlich aggressiven Seite findet, wird deutlich, was bisher gefehlt hat. Allerdings bricht sein Zorn in roher Kraft aus ihm heraus, da er diesen Anteil bisher nicht entwickelt hat und somit auch nicht differenziert reagieren kann. Doch seine Frau erkennt in ihm den Mann, den sie bisher vermisst hat. Sie ist bereit zur Hingabe – und wenn es der Todesstreich aus seiner Hand wäre. Als die Kaiserin die verzweifelte Liebe Baraks und seine Trauer über den Verrat seiner Frau miterlebt, vollzieht sich mit ihr eine Wandlung. Erstmals spürt sie selbst zutiefst menschliche Gefühle. Sie singt: «Gepriesen sei, der mich diesen Mann finden liess unter den Männern, denn er zeigt mir, was ein Mensch ist, und um seinetwillen will ich bleiben unter den Menschen und atmen ihren Atem und tragen ihre Beschwerden!» Damit beschreibt sie, was hier mit dem Schatten gemeint ist: Gefühle zeigen, Wut oder Trauer, Zuneigung oder Hass empfinden und vor allem lieben. Jetzt braucht die Kaiserin die Amme nicht länger und trennt sich von ihr. Sie erkennt, dass sie Schuld auf sich laden würde, wenn sie sich den Schatten einer Fremden aneignen würde. Die Kaiserin ist sogar bereit, ihren geliebten Mann zu opfern, damit wenigstens das menschliche Paar glücklich werden kann. Sie spürt, dass auf dem Boden von Schuld auch ihre eigene Beziehung unmög­

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lich glücken kann. Gestärkt durch diesen Prozess vermag sie der Versuchung zu widerstehen und sich auf das zu besinnen, was sie als Triebkraft in sich spürt: «Goldenen Trank, Wasser des Lebens, mich zu stärken, bedarf ich nicht! Liebe ist in mir, die ist mehr.» Die Kaiserin löst sich damit aus der Welt ihres Vaters, sein goldenes Lebenswasser braucht sie nicht und damit auch keine hochstehen­ den Ideale. Sie kann im entscheidenden Moment widerstehen und sagen: «Ich – will – nicht!» Daraufhin wird es hell und sie wirft ihren eigenen Schatten quer über den Boden der Höhle, das weckt den Kaiser aus seiner Erstarrung. Kaiser und Kaiserin treffen auf das Färberpaar, sie haben nun eine neue Beziehungsund Lebensmöglichkeit gefunden, ausgedrückt im Chor der Stimmen der Un­ geborenen.

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Spielzeit 2OO9/1O Emily Magee, Roberto SaccĂ



DIE FRAU OHNE SCHATTEN RICHARD STRAUSS (1864-1949) Oper in drei Akten Libretto von Hugo von Hofmannsthal Uraufführung: 1O. Oktober 1919, Staatsoper Wien

Personen

Der Kaiser Die Kaiserin Die Amme

Tenor

hoher, dramatischer Sopran dramatischer Mezzosopran

Der Geisterbote

hoher Bariton

Ein Hüter der Schwelle des Tempels Die Erscheinung eines Jünglings Die Stimme des Falken

Sopran

Eine Stimme von oben Barak, der Färber Sein Weib

Sopran

hoher Tenor

Alt

Bassbariton

hoher, dramatischer Sopran

Des Färbers Brüder: Der Einäugige

hoher Bass

Der Einarmige

Sechs Kinderstimmen

Bass

Der Bucklige

hoher Tenor

drei Sopran, drei Alte

Die Stimmen der Wächter der Stadt

drei hohe Bässe

Chor

Kaiserliche Diener. Fremde Kinder. Dienende Geister. Geisterstimmen


ERSTER AUFZUG ERSTE SZENE Auf einem flachen Dach über den kaiserlichen Gärten. Seitlich der Eingang in Gemächer, matt erleuchtet. DIE AMME kauernd im Dunkel

Licht über’m See – ein fliessender Glanz – schnell wie ein Vogel! – Die Wipfel der Nacht von oben erhellt – eine Feuerhand will fassen nach mir – bist du es, Herr? Siehe, ich wache bei deinem Kinde, nächtlich in Sorge und Pein! DER BOTE tritt aus der Finsternis hervor, geharnischt, von blauem Licht umflossen

Nicht der Gebieter, Keikobad nicht, aber sein Bote! Ihrer elf haben dich heimgesucht, ein neuer mit jedem schwindenden Mond. Der zwölfte Mond ist hinab: der zwölfte Bote steht vor dir. DIE AMME beklommen

Dich hab’ ich nie gesehn! DER BOTE streng

Genug: ich kam und frage dich: Wirft sie einen Schatten? Dann wehe dir! Weh uns allen! DIE AMME triumphierend, aber gedämpft

Keinen! Bei den gewalt’gen Namen! Keinen! Keinen! Durch ihren Leib wandelt das Licht, als wäre sie gläsern. DER BOTE finster

Einsamkeit um dich,

das Kind zu schützen. Vom schwarzen Wasser die Insel umflossen, Mondberge sieben gelagert um den See – und du liessest, du Hündin, das Kleinod dir stehlen! DIE AMME

Von der Mutter her war ihr ein Trieb übermächtig zu Menschen hin! Wehe, dass der Vater dem Kinde die Kraft gab, sich zu verwandeln! Konnt’ ich einem Vogel nach in die Luft? Sollt’ ich die Gazelle mit Händen halten? DER BOTE

Lass mich sie sehn! DIE AMME leise

Sie ist nicht allein: Er ist bei ihr. Die Nacht war nicht in zwölf Monden, dass er ihrer nicht hätte begehrt! Er ist ein Jäger und ein Verliebter, sonst ist er nichts! Im ersten Dämmer schleicht er von ihr, wenn Sterne einfallen, ist er wieder da! Seine Nächte sind ihr Tag, seine Tage sind ihre Nacht. – DER BOTE sehr bestimmt

Zwölf lange Monde war sie sein! Jetzt hat er sie noch drei kurze Tage! Sind die vorbei: – Sie kehrt zurück in Vaters Arm.


DIE AMME mit gedämpftem Jubel

Und ich mit ihr! O gesegneter Tag! Doch er? DER BOTE

Er wird zu Stein! DIE AMME

Er wird zu Stein! Daran erkenn’ ich Keikobad und neige mich! DER BOTE verschwindend

Wahre sie du! Drei Tage! Gedenk! DIE AMME leise

Er wird zu Stein! DER KAISER tritt in die Tür des Gemaches

Amme! Wachst du? DIE AMME

Wache und liege der Hündin gleich auf deiner Schwelle! DER KAISER tritt hervor, schön, jung, im Jagdharnisch; es dämmert schwach.

Bleib und wache, bis sie dich ruft! Die Herrin schläft. Ich geh’ zur Jagd. Heute streif’ ich bis an die Mondberge und schicke meine Hunde über das schwarze Wasser, wo ich meine Herrin fand, und sie hatte den Leib einer weissen Gazelle und warf keinen Schatten und entzündete mir das Herz. Wollte Gott, dass ich heute meinen roten Falken wiederfände, der mir damals meine Liebste fing! Denn als sie mir floh und war wie der Wind und höhnte meiner – und zusammenbrechen wollte mein Ross –,

da flog er der weissen Gazelle zwischen die Lichter – und schlug mit den Schwingen ihre süssen Augen! Da stürzte sie hin und ich auf sie mit gezücktem Speer – da riss sich’s in Ängsten aus dem Tierleib, und in meinen Armen rankte ein Weib! – O, dass ich ihn wiederfände! Wie wollt’ ich ihn ehren, den roten Falken! Denn ich habe mich versündigt gegen ihn in der Trunkenheit der ersten Stunde: Denn als sie mein Weib geworden war, da stieg Zorn in mir auf gegen den Falken, dass er es gewagt hatte, auf ihrer Stirn zu sitzen und zu schlagen ihre süssen Lichter! Und in der Wut warf ich den Dolch gegen den Vogel und streifte ihn, und sein Blut tropfte nieder. – Seinen Blick vergesse ich nie! DIE AMME lauernd

Herr, wenn du anstellst ein solches Jagen – leicht bleibst du dann fern über Nacht? DER KAISER

Kann sein, drei Tage komm’ ich nicht heim! Hüte du mir die Herrin und sag ihr: wenn ich jage – es ist um sie und aber um sie! Und was ich erjage mit Falke und Hund, und was mir fällt von Pfeil und Speer: Es ist anstatt ihrer! Denn meiner Seele und meinen Augen und meinen Händen


und meinem Herzen ist sie die Beute aller Beuten ohn’ Ende! Schnell ab. Morgendämmerung stärker, man hört Vogelstimmen. DIE AMME zu einigen Dienern, die sich allmählich um den Kaiser versammelt hatten

Fort mit euch! Ich höre die Herrin! Ihr Blick darf euch nicht sehn! Die Diener auf und hinab, lautlos. DIE KAISERIN tritt aus dem Gemach

Ist mein Liebster dahin, was weckst du mich so früh? Lass mich noch liegen! Vielleicht träum’ ich mich zurück in eines Vogels leichten Leib oder einer jungen, weissen Gazelle! O, dass ich nimmer mich verwandeln kann! O, dass ich den Talisman verlieren musste in der Trunkenheit der ersten Stunde! Und wäre so gern das flücht’ge Wild, das seine Falken schlagen – Sieh! – Da droben, sieh! – Da hat sich einer von seinen Falken – sieh – verflogen! O, sieh doch hin, der rote Falke, der einst mich mit seinen Schwingen – ja, er ist’s! O Tag der Freude für meinen Liebsten und für mich! Unser Falke, unser Freund! Sei mir gegrüsst, schöner Vogel, kühner Jäger! Er hat uns vergeben, er kehrt uns zurück.

O, sieh hin, er bäumt auf! Dort auf dem Zweige – wie er mich ansieht – von seinem Fittich tropft ja Blut, aus seinen Augen rinnen ja Tränen! Falke! Falke! Warum weinst du? DIE STIMME DES FALKEN klagend

Wie soll ich denn nicht weinen? Wie soll ich denn nicht weinen? Die Frau wirft keinen Schatten, der Kaiser muss versteinen! DIE KAISERIN

Dem Talisman, den ich verlor in der Trunkenheit der ersten Stunde, ihm war ein Fluch eingegraben – gelesen einst, vergessen, ach! Nun kam es wieder: Die Frau wirft keinen Schatten –

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Die Frau wirft keinen Schatten, der Kaiser muss versteinen! Wie soll ich da nicht weinen? DIE AMME dumpf wiederholend

Die Frau wirft keinen Schatten! DIE KAISERIN

Der Kaiser muss versteinen! Ausbrechend

Amme, um alles, wo find’ ich den Schatten? DIE AMME dumpf

Er hat sich vermessen, dass er dich mache zu seinesgleichen – eine Frist ward gesetzt, dass er es vollbringe. Deines Herzens Knoten hat er dir nicht gelöst,


Programmheft DIE FRAU OHNE SCHATTEN Oper in drei Akten von Richard Strauss (1864-1949) Premiere am 13. Dezember 2OO9, Spielzeit 2OO9/1O Wiederaufnahme am 22. November 2O14, Spielzeit 2O14/15

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Konrad Kuhn

Layout, Grafische Gestaltung Carole Bolli

Titelseite Visual François Berthoud Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Studio Geissbühler

Druck

Textnachweise: Die Handlung: Konrad Kuhn. – Das Gespräch mit David Pountney führte Konrad Kuhn für dieses Programmheft. – Ivana Rentsch: Neue Einfachheit oder «letzte romantische Oper» – «Die Frau ohne Schatten» als musikalische Herausforderung. Originalbeitrag für dieses Programmheft. – Hanna Hadorn: «Die Frau ohne Schatten» aus Sicht der Jungschen Psychologie. Originalbeitrag für dieses Programmheft. Die Autorin hat eine psychotherapeutische Praxis und ist Dozentin am Internationalen Seminar für Analytische Psychologie in Zürich. Hugo von Hofmansthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. XXV.1 (Operndichtungen 3.1) und Bd. XXVIII (Erzählungen 1). Frankfurt am Main 1998 und 1975. – Brief von Richard Strauss an seine Frau Pauline: Richard-Strauss-Archiv Garmisch, Transskription Stephan Kohler. In: Programmheft «Die Frau ohne Schatten» der Bayerischen Staatsoper, München

Fineprint AG

1972. – Etienne Barilier. Zurück zu den Quellen (Retour aux sources). In: Richard Strauss, La Femme sans ombre. L’Avant Scène Opéra Nr. 147, hg. von Michel Pazdro. Paris 1992. Übersetzung aus dem Französischen: Konrad Kuhn. – Hans Mayer: Versuche über die Oper. Frankfurt am Main 1981. – Abdruckrechte für Text und Musik der «Frau ohne Schatten»: © Boosey & Hawkes Music Publishers Ltd. Fototeil: Suzanne Schwiertz fotografierte das «Frau ohne Schatten»Ensemble bei der Klavierhauptprobe am 7. und 8. Dezember 2009. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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