Lohengrin

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LOHENGRIN

R ICHAR D WAGNER


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LOHENGRIN RICHARD WAGNER (1813-1883)

Unterst端tzt von den Freunden der Oper Z端rich




DIE HANDLUNG Erster Aufzug König Heinrich ist nach Antwerpen gekommen, um ein Heer für den Kampf gegen die Ungarn auszuheben. Doch zuvor muss er Gerichtstag halten: Fried­ rich von Telramund verklagt Elsa, die Tochter des verstorbenen Herzogs von Brabant, ihren Bruder Gottfried ermordet zu haben. Elsa schweigt zu den An­ schuldigungen. Stattdessen erzählt sie von einem Ritter, der ihr im Traum er­ schien und Hilfe versprach. Ein Gottesgericht soll den Streit entscheiden. Elsa bestimmt den geträum­ ten Ritter zum Kämpfer für ihre Unschuld. Er wird zweimal gerufen aber nur tiefes Schweigen ist die Antwort. Endlich wird Elsas Gebet erhört. Von einem Schwan geleitet, erscheint der Erträumte. Er will für Elsa kämpfen und bietet ihr seine Hand, unter der Bedin­ gung, dass sie ihn nie nach Namen und Herkunft fragt. Elsa verspricht es. Der Fremde besiegt Friedrich von Telramund und schenkt ihm das Leben.

Zweiter Aufzug Telramund und seine Frau Ortrud sind in Acht und Bann getan. Während im Schloss der Sieg des fremden Ritters gefeiert wird, überzeugt Ortrud ihren Gatten erneut von der Rechtmässigkeit seiner Klage und gewinnt ihn für die gemeinsame Rache. Telramund soll den Fremden der Zauberei und des Betrugs anklagen, Or­ trud ihrerseits wird Elsa verleiten, an der Richtigkeit des Frageverzichts zu zweifeln. Mit geheuchelter Freundlichkeit erschleicht sie sich das Vertrauen der arglosen Elsa. Am folgenden Morgen wird Elsa zur Hochzeit geleitet. Ortrud stört die Feier und macht der jungen Frau das Recht auf den Vortritt streitig: Telramund habe in Brabant höchstes Ansehen genossen, bevor ihn ein falsches Gericht ver­ bannte. Elsa hingegen könne nicht einmal den Namen ihres künftigen Gatten nennen.


Telramund beschuldigt den fremden Ritter der Zauberei und fordert ihn auf, seinen Namen preiszugeben. Doch der Ritter weist ihn ab: Einzig Elsa muss er diese Frage beantworten. Diese jedoch bekräftigt ihr unbedingtes Vertrauen in den Unbekannten.

Dritter Aufzug Im Brautgemach finden sich die Liebenden zum ersten Mal allein. Doch die von Ortrud geweckten Zweifel lassen Elsa nicht ruhen. Der Wunsch, Name und Geheimnis ihres Mannes zu ergründen, wird immer mächtiger. Trotz aller War­ nungen stellt sie schliesslich die verhängnisvolle Frage. Telramund dringt mit gezücktem Schwert ein und wird von dem unbe­ kannten Ritter getötet. Am nächsten Morgen beschuldigt der Fremde Telramund des Mordver­ suchs und klagt Elsa an, ihr Versprechen gebrochen zu haben. Nun ist er ge­ zwungen, sein Geheimnis preiszugeben: Er ist Lohengrin, der Sohn des Grals­ königs Parzival. Schon nähert sich der Schwan, um ihn zurückzubringen. Ortrud triumphiert und offenbart, sie selbst habe Elsas Bruder in den Schwan verwan­ delt. Lohengrin befreit Gottfried aus der fremden Gestalt und ernennt ihn zum neuen Herrscher.




ES GIBT EIN GLÜCK Andreas Homoki über seine Inszenierungskonzeption

Lohengrin ist vermutlich das populärste von Wagners Werken, gleichzeitig aber wohl auch das rätselhafteste. Die Geschichte der Elsa von Brabant, die von einem Ritter aus grosser Not erlöst wird, der ihr im Traum erschien, mutet in der Tat seltsam an. Kann man das überhaupt ernst nehmen? Ja, warum denn nicht? Die Geschichte mutet tatsächlich sehr märchenhaft an, aber Märchen können doch durchaus wichtige und bedeutende Inhalte transportieren. In diesem speziellen Fall kommt allerdings noch hinzu, dass die märchenhafte Handlung in einem konkreten historisch-geografischen Zu­sammenhang steht und einen genau beschriebenen politischen Hintergrund hat: Wagners Lohengrin zeigt uns das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch: Wir befinden uns in Brabant, wo erst vor kurzer Zeit eine alte Ordnung durch eine neue abgelöst worden ist. Das Herrschergeschlecht des heidni­ schen Friesenfürsten Radbod wurde entmachtet, und an seine Stelle trat eine neue Dynastie, die das Christentum in Brabant durchgesetzt hat. Das ist ein heftiger Umbruch, der mit Problemen verbunden ist, einerseits weil die Be­völkerung in Ihrer Identität verunsichert ist, und andererseits weil die Verlierer nicht bereit sind, die Veränderungen zu akzeptieren. Konkret heisst das, dass eine Frau, Ortrud, die letzte Nachfahrin des alten Herrscher­ge­ schlechts, versucht, die verlorene Macht zurückzugewinnen. Um das zu e­r­­rei­chen schaltet sie erst einmal die rechtmässigen Erben des verstorbenenen Herzogs aus, indem sie den Sohn beiseite schafft und die Tochter beschuldigt, ihn umgebracht zu haben. Ausserdem zieht sie den Mann auf ihre Seite, den der Herzog zum Statthalter und Vormund seiner Kinder eingesetzt hatte. Der kauft ihr die Mordgeschichte tatsächlich ab und hofft, an Ortruds Seite den Thron besteigen zu können. Was eigentlich kein schlechter politischer

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Schachzug wäre, denn auf diese Weise könnten sowohl die Anhänger der alten Ordnung als auch die der neuen an den Thron gebunden werden. Wir er­fahren im Verlauf des Stücks allerdings, dass Ortruds Ziele viel weiter gehen, denn es geht ihr nicht nur um den Thron sondern vielmehr um eine voll­ständige Wiederherstellung der alten vorchristlichen Ordnung. Wie passt in diese Konstellation, die eher an ein shakespearsches Königs­ drama erinnert, die Wundergeschichte vom geträumten Ritter, der von einem Schwan gezogen daherkommt? Dieser Ritter hat mit den politischen Utopien zu tun, die Wagner beschäf­­tig­ ten. Elsa, die Tochter des alten Herzogs droht zum Opfer der Machtkämpfe zu werden. So wie wir die Situation am Anfang des Stücks erleben, kann ihr wirklich nur ein Wunder helfen, und Wagner lässt dieses Wunder tatsäch­ lich geschehen. Wir finden in seinen Werken und seinen Schriften immer wieder die Idee, dass es eine Art «natürliche» Gerechtigkeit gibt, die sich schliesslich durchsetzt. Konkret politisch hat er gehofft, dass die Revolution von 1848, während der er in Dresden auf den Barrikaden gestanden hat, diese Gerechtigkeit bringen würde. In seinen drei Romantischen Opern, die er vor der Revolution komponiert hat, ist dieser Gedanke in die Form des Phantastischen gekleidet, also zum Beispiel in die des geheimnisvollen Ritters, der kommt, um die Unschuldige zu retten. Dahinter steckt seine Idee, dass die Revolution einen gesellschaftlichen Zustand hervorbringen wird, in dem es keine Ungerechtigkeit und Unterdrückung mehr gibt, und dass dieser Zustand sozusagen mit Naturnotwendigkeit eintreten muss. Diese Vorstellung mag heute etwas naiv anmuten, aber die Utopie, die dahintersteht ist in ihrer Radikalität beachtenswert. Allerdings scheitert das Rettungswerk ziemlich katastrophal… Ja, weil Wagner eben doch nicht so naiv ist, zu glauben, die Probleme liessen sich so einfach aus der Welt schaffen. Die Liebe, davon ist er überzeugt, kann diese Welt erlösen, vielleicht auch die Kunst. Diese beiden Ideen hängen bei ihm eng zusammen. Wie Wagner es in den Meistersingern thematisiert, kann man keine Kunst hervorbringen, wenn man nicht liebesfähig ist. Und

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wenn man aus diesem Grund kein Künstler sein kann, das ist Wagners Über­­­ zeu­­­gung, kann man der Welt auch nichts Gutes tun. Dargestellt hat Wagner das an Ortrud, die, wie er sagt, die Liebe nicht kennt. Aber die Liebe ist etwas sehr Gefährdetes, sie kann scheitern, weil die Kräfte, die ihr ent­gegen­ stehen, den Kampf aufnehmen und sehr stark sind. Das Stück führt uns den schönen Traum vor, aber es zeigt auch, wie ungewiss seine Verwirklichung ist. In erster Linie scheitert die Sache aber daran, dass der Held eine uner­ füllbare Forderung stellt. Wie soll eine Frau mit einem Mann leben, den sie nicht fragen darf, wer er ist und woher er kommt? Wie kommt er überhaupt dazu, so etwas zu verlangen? Er muss es verlangen, weil er dem Gesetz des Grals unterworfen ist. Und das legt fest, dass der Ritter nur so lange unter den Menschen bleiben darf, wie er unerkannt ist. Der entscheidende Punkt, den man nicht aus den Augen verlieren darf, ist, dass Lohengrin sich diese Forderung nicht willkürlich ausgedacht hat, etwa um seine Frau auf die Probe zu stellen. Wenn er von Elsa den Verzicht auf die Frage verlangt, ist das nicht, wie man zunächst denken könnte (und wie es oft interpretiert wird), ein Akt, mit dem sich der Mann die Frau untertan machen und sie zum willenlosen Werkzeug erniedrigen will. Ich glaube vielmehr, dass hier eine ganz andere Dimension ins Spiel kommt, dass sich für Wagner in diesem Zwang, unerkannt zu bleiben, ein Problem des Utopischen, das Lohengrin mit sich bringt, kristallisiert: Die Region, aus der Lohengrin kommt, steht für das ganz Andere, für die ideale Welt (der man sich vielleicht durch die Revolution nähern kann). Das bedeutet aber, dass der Bote aus dieser idealen Welt nicht in den normalen Alltag, wie er nun einmal ist, integriert werden kann. Er muss fremd bleiben, weil er nur so sein Besonderes, sein utopisches Potenzial bewahren kann. Und er muss aus dem Bereich der Menschen verschwinden, wenn er erkannt ist. Damit formuliert Wagner natürlich auch ein grundsätzliches Problem aller utopischen Gesellschaftsentwürfe: Sie sind mit den Gegebenheiten nicht kompatibel und damit im Grunde nicht zu verwirklichen. Tatsächlich spricht das nicht gegen die Utopie, sondern ist vielmehr ihr definierendes Charakteristikum.

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Dennoch besteht Wagner darauf – und geht dafür buchstäblich auf die Barri­kaden –, dass wir das utopische Idealbild als Orientierungspunkt im Auge behalten müssen, den wir vielleicht nie erreichen werden, der uns aber den Weg zeigt, auf dem wir die vielen kleinen Schritte machen müssen, welche die Welt nach und nach verbessern. Nun spitzt er diese Konstellation aber extrem zu, indem er die Liebe zwi­schen den beiden Protagonisten mit diesem Frageverbot belastet. Wagner war ein genialer Dramatiker mit einem todsicheren Theaterinstinkt. Deshalb wusste er genau, dass das Theater zu seiner vollen Entfaltung solche extremen Zuspitzungen, solche die Figuren zerreissenden Konflikte braucht. Was in dieser extremen Zuspitzung aufscheint, ist ein grosses Ideal: Was Lohengrin verlangt, verlangen muss, und was Elsa ihm zu geben bereit ist, ist unbedingtes Vertrauen ohne die geringste Spur von Zweifel, so dass die Frage, wer er eigentlich sei, gar nicht gestellt werden muss. Nun sagt uns schon der gesunde Menschenverstand, dass so etwas nicht gutgehen kann. Die Welt, in der wir leben, ist nun einmal so eingerichtet, dass wir gut daran tun, nicht allzu vertrauensselig zu sein. Weil wir immer die Möglichkeit mit ein­­berechnen müssen, dass der andere, mit dem wir zu tun haben, Ziele verfolgt, die er uns verschweigt. Und weil diese Ziele uns schaden könnten, müssen wir uns vergewissern, dass wir uns in ihm nicht täuschen. Zu dieser Erkennt­ nis kommt auch Elsa schliesslich: Es geht so nicht, sie muss wissen, wer dieser Mann ist. – So ist die Welt, aber – das ist es anscheinend, worauf Wagner hinauswill, und was jeden Revolutionär antreibt – so wie die Welt ist, muss sie ja nicht bleiben. Sie könnte doch auch anders sein. Zumindest ist doch eine Gesellschaft denkbar, die nicht auf Macht, Gewalt, Betrug basiert, in der man tatsächlich sicher sein kann, dass niemand mit irgendwelchen Gedanken hinter dem Berge hält, weil es nichts gibt, was er so gewinnen könnte. Solch eine Vision kann man leicht als naive Vorstellung belächeln, und auch Wagner hat sicherlich nicht geglaubt, dass sich eine solche ideale Welt einfach verwirk­ lichen lässt. Aber er hat den Gedanken für wichtig gehalten, und er hat mit Elsa eine Figur geschaffen, die fest an diese Möglichkeit glaubt. So bilden Elsa und Lohengrin ein utopisches Paar: Er verkörpert die höhere Gerechtigkeit,

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die nicht zulässt, dass Unrecht geschieht, und das Ideal einer durch Liebe und unbedingtes Vertrauen geprägten Gesellschaft. Aber kann man Elsas Haltung denn ernstlich als utopisch bezeichnen? Da kommt einer daher, erklärt sich bereit, sie zu heiraten, wenn sie nicht fragt, wer er ist, und sie sinkt vor ihm in die Knie und nimmt das freudig auf sich. Steckt denn dahinter nicht ein durch und durch reaktionäres Frauenbild? Dass Wagners Frauenbild reaktionär sei, hört und liest man oft. Angeblich unterwerfen sich seine Frauenfiguren immer bedingungslos dem Willen des Mannes und lassen sich willenlos von ihm führen. Ich weiss nicht, woher diese Auffassung stammt, denn die Stücke sprechen für mich eine ganz andere Sprache. Wenn man sich Wagners Frauenfiguren einmal vorurteilslos anschaut, stellt man doch fest, dass es immer sehr starke Persön­lichkeiten sind, die sehr selbstbewusst ihren Weg gehen. Fast immer sind sie auch seelisch stärker als ihre männlichen Partner. Man muss nur einen Blick auf Senta und Elisabeth werfen, um das sofort zu sehen. Elsa macht da keine Ausnahme. Sie weiss ganz genau, was da von ihr verlangt wird, und sie nimmt diese Forderung ganz bewusst auf sich, weil sie das für richtig hält. Und sie weiss auch ganz genau, dass alle anderen sie für sehr unver­nünftig halten werden. Das wird in ihrem Gespräch mit Ortrud im zweiten Akt ganz deutlich. Sie weiss, dass Ortrud nach den Regeln des «gesunden Menschen­ verstands» vollkommen recht hat, wenn sie sagt, dass es nicht klug ist, dem fremden Mann blind zu vertrauen. Aber sie glaubt und will, dass es etwas Höheres als den gesunden Menschenverstand gibt, und sie will zeigen, dass man so leben kann: «Es gibt ein Glück, das ohne Reu’.» Das mag Elsa so sehen, aber es bleibt doch dabei, dass Lohengrin ihre be­ dingungslose Unterwerfung fordert, und sie zur Bedingung für ihre Befreiung und die Ehe macht. Das könnte man so sehen, und es könnte auch so gestaltet sein. Aber Wagner hat es allem Anschein nach anders verstanden, denn der zarte, fast zaghafte, ängstliche Ton, mit dem sich Lohengrin in diesem ersten Dialog äussert, klingt

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ganz und gar nicht nach einem herrischen Befehl zur Unterwerfung. Man kann es nicht oft genug betonen: Er hat diese Regel nicht erfunden, sie ist ihm auferlegt, und er muss sich an sie halten. Seine Musik in dieser Szene erzählt vor allem davon, in welcher Not er ist: Er möchte aus seiner göttlichen Region ausbrechen und Mensch werden, weiss aber, dass seine Mensch­ werdung an eine letztlich unerfüllbare Bedingung geknüpft ist. In den Mythen vieler Kul­turen findet sich das Motiv der göttlichen Wesen, die Menschen werden wollen und dafür auch die Sterblichkeit in Kauf nehmen, weil die Menschen etwas haben, was den Göttern fehlt: die Liebe. Und immer ist dieser Übergang an eine unerfüllbare Bedingung geknüpft. Dahinter steckt wohl das Empfinden, dass die Endlichkeit des menschlichen Lebens zwar eine Quelle des Leids ist, dass aber der Gedanke an ein endloses Leben noch viel uner­ träglicher ist, weil es letztlich ohne Liebe auskommen müsste. Also ist Lohengrin nicht dieser von bläulichen Schimmern umwallte strah­lende Held in silberner Rüstung, der keine Not kennt und den Men­schen das Gute bringt, sondern ein Bedürftiger, der von den Menschen etwas erbitten will? Dieser strahlende Held, als den man ihn oft gezeigt hat, würde mich überhaupt nicht interessieren. Ich glaube auch nicht, dass ein Held, der unverwundbar ist, auf dem Theater viel Kraft entfaltet. Wenn ich ein Stück lese und im Hinblick auf eine Inszenierung analysiere, suche ich immer nach Möglich­ keiten, die Geschichte so plastisch und spannungsvoll wie irgend möglich zu erzählen. Das bedeutet, dass ich die Widersprüche zuspitzen und die Kontu­ ren schärfen muss. Und das wiederum erfordert, dass ich jeder Figur das Profil zu geben suche, durch das sie im Verlauf der dramatischen Handlung dem Zuschauer am nächsten kommt. Und dieser geheimnisvolle Ritter interessiert uns natürlich viel mehr, wenn wir von Anfang an sehen, dass er ein Mensch wie wir ist, den dieselben Ängste und Hoffnungen bewegen wie uns, und nicht einer, der Gutes tut, weil dies eben seine Natur ist, und der nahezu unbeschädigt durch das Geschehen wandelt. Das hat Wagner auch nicht komponiert. Sicher kommt Lohengrin als gottgesandter Held, und seine Ankunft wird entsprechend gefeiert. Aber allem Anschein nach muss erst eine

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wichtige Bedingung erfüllt sein, damit er den Kampf tatsächlich aufnehmen kann: Er bedarf der Liebe. Erst nachdem Elsa ihn ihrer Liebe versichert hat, gewinnt er die nötige Kraft. Ich sehe darin den Kern dieser ersten Szene zwischen den beiden, und das muss man deutlich zeigen: Dieser Lohengrin ist ein zerbrechliches, schwaches Wesen, das erst durch die Liebe Elsas stark wird und hoffen kann, der unmenschlichen, liebelosen Existenz als Grals­ritter zu entrinnen. Es wird nichts darüber erzählt, wie es im Gralsbereich aussieht, aber wir hören schon im Vorspiel die Musik des Grals: Sie ist von grosser Schönheit und sehr zart, aber mutet zerbrechlich, gläsern an und es liegt eine gewisse Kälte und Leblosigkeit darin. Man hört: Das Glück ist dort nicht, das suchen die Ritter bei den Menschen. Um noch einmal auf die eingangs skizzierte politische Situation zurück­ zu­kommen: Was hat der deutsche König Heinrich der Vogler in Ant­ werpen verloren? Im Stück wird das sehr einfach erklärt: Brabant gehört zum deutschen Reich, und dieses Reich wird militärisch bedroht. Ausserdem gibt es in Brabant politische Probleme, also kommt der oberste Herr des Reiches, um sie zu lösen und die Truppen zur Heerschau zu holen. Streng historisch betrachtet, ist das natürlich Unsinn. Heinrich der Vogler war nicht der König des deutschen, sondern der ostfränkischen Reichs, von Deutschland war da noch keine Rede. Das ist eine Projektion des 19. Jahrhunderts, das in der Zeit des frühen Mittelalters nach Figuren suchte, die in den aktuellen politischen Krisen als vorbildhaft funktionieren könnten. In der Zeit des Vormärz träumten die progressiven Kräfte von der Überwindung der deutschen Kleinstaaterei, und als Vorbildfigur für eine solche Reichseinigung nahm man sich u.a. diesen König. Das war keine historische, sondern eine politische Auswahl, die ge­­schicht­liche Wahrheit spielte dabei gar keine Rolle. Was Wagner gereizt hat, war sicherlich die Ausgangssituation: Der König kommt nach Brabant, also in den äussersten Nordwesten des Reiches, um Truppen auszuheben gegen einen Feind, der im äussersten Südosten eingefallen ist. Diese Konstellation ist bestens geeignet, um beispielhaft zu zeigen, dass die Deutschen lernen müssen, den engstirnigen regionalen Egoismus zu überwinden und im grossen,

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nationalen Zusammenhang zu denken. Wagner lässt also die Geschichte von Lohengrin und Elsa und vom gescheiterten Glauben an das unbedingte Vertrauen, vor einem politischen Hintergrund spielen, der einen ganz un­­mittel­baren Bezug zu den Ereignissen seiner Zeit hat. Es ist bemerkenswert, dass die Fragen, die er hier aufwirft, auch heute höchst aktuell sind. Denken wir nur an den europäischen Einigungsprozess und die Frage, wie bei­ spielsweise ein Land wie die Schweiz sich dazu verhalten soll. Denn bei allen möglichen Vorteilen gehen die Meinungen auch bei den Mitgliedsländern der EU weit auseinander, sobald in diesem Prozess die Souveränität der einzelnen Staaten eingeschränkt werden soll. Und ganz kompliziert wird es, wenn Solidarität mit anderen, weiter entfernten Angehörigen der Gemein­ schaft gefordert wird, wie zum Beispiel mit Griechenland. Die Geschichte ist voll solcher Situationen und Wagner hat diese mit erstaunlicher Präzision in sein Stück integriert. Allerdings geht es eben nicht um die Auflösung des Nationalstaats, son­ dern um seine Gründung. Gerade die nationale Rhetorik und die damit verbundene militante Musik hat dem Stück einen unguten Ruf eingetragen. Wie immer das im 19. Jahrhundert gemeint gewesen sein mag, kann man das heute, nach zwei verheerenden Weltkriegen, die von diesem deutschen Reich ausgingen, noch ertragen? Man darf nicht den Fehler machen, geschichtliche Erfahrungen auf die Ver­gangenheit zu projizieren. Wir verbinden mit dem Begriff «Deutsches Reich» vor allem den Gedanken an Chauvinismus, Militarismus und eine ausge­ sprochen aggressive Politik. Das war es aber nicht, wovon Wagner und seine revolutionären Zeitgenossen träumten. Wir dürfen ausserdem nicht ver­ gessen, dass der König keinen Eroberungs-, sondern einen Verteidigungskrieg führen will. Nun kann man leicht sagen, dass jeder Eroberungskrieg als Verteidigung getarnt wurde, aber in diesem Falle sprechen die historischen Tatsachen für sich: Es stimmt einfach, dass Henrich der Vogler sein Reich ständig gegen die Überfälle der Ungarn verteidigen musste. Dieses deutsche Reich betreibt also keine aggressive Politik. Der entscheidende Punkt ist aber der schon skizzierte, der von grosser Aktualität ist: Die Frage, wie der

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Übergang von kleinen staatlichen Einheiten in eine grössere zu bewerk­ stelligen ist. Das ist eine Frage, deren Dimension über die deutsche Realität weit hinausgeht. Und diese Dimension gilt es zu betonen. In Ihrer Inszenierung lassen sie die Geschichte in der kleinen Welt eines Bergdorfs im 19. oder frühen 20. Jahrhundert spielen. Ist das ein geeig­ netes Mittel, diese grössere Dimension deutlich zu machen? Davon bin ich überzeugt. Natürlich ist das nicht die einzige Möglichkeit, aber es ist die, die uns am geeignetsten scheint. Ich glaube grundsätzlich, dass es im Theater nötig ist, die Geschichten so zu erzählen, dass sie dem Zuschauer nahekommen und sich mit seiner Lebenserfahrung hier und heute verbinden. Das frühe Mittelalter mit seinen komplizierten Ritualen und Hierarchien sagt uns sehr wenig. Wir haben uns daher entschieden, die Konflikte sozusa­ gen zu verkleinern, und die grossen politischen Fragestellungen in eine Dorfgemeinschaft zu verlegen, wo letztlich die gleichen politischen Prozesse ablaufen, wie in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats, nur viel direkter und emotionaler. Auch ist ein Dorf eine politische Einheit, in der die Zuge­ hörigkeit zu einem Familienclan wichtiger ist als zu einer politischen Partei aus der Stadt, was einem weiteren Aspekt der Situation zwischen dem kleinen Brabant und dem grossen Reich entspricht. Der Vorteil eines solchen theatralischen Verfremdungsverfahrens ist, scheinbar bekannte Dinge in einen unerwarteten Kontext zu setzen, so dass sie fremd wirken, dadurch neu erkannt und besser durchschaut werden können. Würden wir Figuren in irgendwelchen Rüstungen auf die Bühne stellen, die vielleicht exakt aussehen wie brabantische oder sächsische des 10. Jahrhun­ derts, würden wir nie zu der Plastizität gelangen, die das Theater meiner Ansicht nach braucht, weil uns diese Rüstungen einfach nichts sagen, und wir mit den Erfahrungen unseres heutigen Lebens nirgends andocken können. Hingegen weiss jeder, wie es ist, wenn man als Fremder in ein Dorf­gasthaus kommt, wie man da möglicherweise misstrauisch beäugt und beobachtet wird, und man versteht sofort, in welcher Situation sich dieser König – der bei uns vielleicht eher ein Landrat ist – befindet, wenn er in dieses Dorf kommt. Und noch ein Punkt kommt hinzu: Ich glaube an das phan­tastische

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Element in diesem Stück, und darum muss man glaubhaft machen, dass dieses Wunder tatsächlich stattfinden kann. Und bei so einem von der städtischen Welt abgelegenen Dorf ist es gut vorstellbar, dass man dort so sehr an Wunder glaubt, dass Leute auch immer wieder solche Wunder persönlich bezeugen. Dort gibt es – oder gab es jedenfalls bis vor nicht allzu langer Zeit – noch diesen ganz naiven Glauben, wie er sich in Elsa ausdrückt: dieses Vertrauen in den lieben Gott, der die Menschen nicht verlässt. Bei unserer Vorbereitung stiessen wir auf Votivbilder in denen sich genau dieser einfache Gottesglaube auf sehr einfache Weise ausdrückt. Manche mögen diese naive Malerei belächeln, aber mich rührt diese Heilsgewissheit sehr an. Da­r um haben wir ein solches Element auch aufgenommen und Elsa zugeordnet. Wir erhoffen uns mit der Ansiedlung in diese kleine ländliche Welt eine Grif ­fi gkeit und Anschaulichkeit, die dem Betrachter die Geschichte wirklich nahe kommen lässt. Wenn der Vorhang aufgeht, mag kurz der Verdacht aufkommen, als würden wir eine Ironisierung der Geschichte und der Figuren beabsichtigen. Nichts liegt mir ferner: Ich liebe all diese Figuren und ich fühle mit ihnen, und ich will dass es dem Zuschauer ebenso geht. Das Gespräch führte Werner Hintze









DAS HEILIGE MANIFESTIERT SICH Mircea Eliade

Der Mensch erhält Kenntnis vom Heiligen, weil dieses sich manifestiert, weil es sich als etwas vom Profanen völlig Verschiedenes zeigt. Diese Manifestation des Heiligen wollen wir mit dem Wort Hierophanie bezeichnen. Dieser Aus­ druck ist brauchbar, weil er nichts anderes ausdrückt als das, was seine etymo­ logische Zusammensetzung enthält, nämlich dass etwas Heiliges sich uns zeigt. Man könnte sagen, dass die Geschichte der Religionen – von den primitivsten bis zu den hochentwickelten – sich aus einer Vielzahl von Hierophanien, d.h. Manifestationen heiliger Realitäten, zusammensetzt. Von der elementarsten Hierophanie (etwa der Manifestation des Heiligen in irgendeinem Gegenstand, einem Stein oder einem Baum) bis zur höchsten Hierophanie (für einen Chris­ ten die Inkarnation Gottes in Jesus Christus) gibt es keinen Bruch. Es handelt sich immer um denselben geheimnisvollen Vorgang: das «ganz Andere», eine Realität, die nicht von unserer Welt ist, manifestiert sich in Gegenständen, die integrierende Bestandteile unserer «natürlichen», «profanen» Welt sind. Der moderne Abendländer empfindet ein gewisses Unbehagen gegenüber manchen Manifestationsweisen des Heiligen: Es fällt ihm schwer; zu begreifen, dass für gewisse menschliche Wesen das Heilige sich in Steinen oder in Bäumen manifestieren kann. Wir werden jedoch bald sehen, dass es sich nicht um eine Anbetung des Steines oder des Baumes als solche handelt. Der heilige Stein, der heilige Baum werden nicht als Stein oder als Baum verehrt; sie werden verehrt, weil sie Hierophanien sind, weil sie etwas «zeigen», was nicht mehr Stein oder Baum ist, sondern das Heilige, das Ganz Andere. Man kann nie genug hervorheben, dass jede Hierophanie, auch die ele­ mentarste, ein Paradoxon darstellt. Indem ein beliebiger Gegenstand das Hei­ lige offenbart, wird er zu etwas anderem und hört doch nicht auf, er selbst zu sein, denn er hat weiterhin teil an seiner kosmischen Umwelt. Ein heiliger Stein

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bleibt ein Stein; scheinbar (genauer: von einem profanen Gesichtspunkt aus) unterscheidet ihn nichts von allen anderen Steinen. Für diejenigen aber; denen sich ein Stein als heilig offenbart, verwandelt sich seine unmittelbare Realität in eine übernatürliche Realität. Mit anderen Worten: für die Menschen, die ein religiöses Erlebnis haben, kann sich die ganze Natur als kosmische Sakralität offenbaren. Der Kosmos in seiner Totalität wird dann zur Hierophanie, Der Mensch der archaischen Gesellschaften hat die Neigung, im Heiligen oder sehr nahe bei geheiligten Gegenständen zu leben. Diese Neigung ist ver­ ständlich, denn für die «Primitiven» wie für den Menschen der vormodernen Gesellschaften bedeutet das Heilige soviel wie Kraft und letztlich Realität schlechthin. Das Heilige ist gesättigt mit Sein. Heilige Kraft heisst Realität, Ewigkeit und Wirkungskraft in einem. Der Gegensatz heilig-profan erscheint oft als Gegensatz zwischen real und irreal oder pseudoreal. Man darf natürlich nicht erwarten, in den archaischen Sprachen diese philosophische Terminologie zu finden: real-irreal usw., aber die Sache ist vorhanden. Es ist deshalb begreif­ lich, dass der religiöse Mensch sich danach sehnt, zu sein, an der Realität teil­ zuhaben, sich zu sättigen mit Kraft. Unsere Untersuchung soll vor allem zeigen, dass der religiöse Mensch immer bemüht ist, solange wie möglich in einem heiligen Universum zu leben, und dass folglich sein ganzes Erleben anderer Art ist als das Erleben des Men­ schen ohne religiöses Gefühl, des Menschen, der in einer entsakralisierten Welt lebt. Hier sei jedoch gleich gesagt, dass die in ihrer Totalität profane Welt, der gänzlich entsakralisierte Kosmos, eine neue Entdeckung in der Geschichte des menschlichen Geistes ist. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu zeigen, durch welche geschichtlichen Prozesse und infolge welcher Veränderungen in der geistigen Einstellung der moderne Mensch seine Welt entsakralisiert und eine profane Existenz angenommen hat. Uns genügt die Feststellung, dass die Entsakralisie­ rung die totale Erfahrung des nicht religiösen Menschen der modernen Gesell­ schaften kennzeichnet, und dass es für ihn infolgedessen immer schwieriger wird, die existentiellen Dimensionen des religiösen Menschen der archaischen Gesell­ schaften wiederzufinden.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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DAS FERNE REICH DER ROMANTIK Gerd Rienäcker

I. Ein seltsames Vorspiel geht der Oper voran: Es beginnt mit gleissend hellem, über vier Takte hinweg sich erneuerndem Klang in A-Dur. Drei InstrumentenGruppen stehen dafür ein: Violinen, in vier Stimmen aufgeteilt, Flöten und Oboen, schliesslich vier Solo-Violinen im Flageolett. Der Einsatz dieser Grup­ pen ist ineinander verschachtelt: Aus dem leise anschwellenden Akkord der Violinen wächst der Bläser-Klang, aus ihm der Klang der Solo-Violinen. Unmerk­ lich setzt eine jede Klang-Schicht ein; gedeckt von der vorangehenden wird sie sich entfalten, bis jene sie frei gibt. Unüberhörbar die Zunahme der LeuchtKraft, gepaart dem Aufwärts, dem symbolisierten Blick nach oben. In lichter Höhe rührt sich ein langsam schreitender, feierlicher Marsch: Der zentrale Gedanke des Vorspiels. Seine Initiale – der Vordersatz – besteht aus einer Drehung zwischen A-Dur und fis-Moll. Was der Drehung folgt – der Nachsatz –, erinnert an Gesänge; sie jedoch weisen nach unten – soll der Auf­ schwung zurück genommen werden? Es greifen die Gesänge um sich. In ihnen weitet sich der Raum, auch der harmonische Kreis: War zuvor A-Dur nur durch die parallele Moll-Tonart flankiert, so werden, nach und nach, neue harmonische Felder besetzt: E-Dur, D-Dur, h-Moll, ja, Cis-Dur. Soweit die erste Strophe des instrumentalen Gesanges! Ihr folgt die Gegenstrophe; sie leitet über ins Kom­ mende. Die zweite Strophe, in E-Dur, eine Quinte tiefer als die erste, ist den Holz­ bläsern übergeben: den Flöten, Oboen, Klarinetten, dem Englischhorn, später auch den Fagotten – ineinander gemischt, so dass der Klang gleichsam abgeblen­ det wirkt – Violinen umspielen sie. Wieder folgt die Gegenstrophe, erneut die Überleitung.

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Die dritte Strophe, wiederum in der Tonika, jedoch eine Quinte tiefer, ange­ siedelt nunmehr in der Mittellage und darunter, gehört den Bratschen, Violon­ celli, Hörnern: Sie bedarf der festen Stütze, des gewichtig schreitenden BassFundamentes, überdies kommen hier fast alle Streich- und Blasinstrumente zum Einsatz, mit Ausnahme der Trompeten und Basstuba. Wohltönend das Ganze, in mittlerer Lautstärke – erinnernd an Gesänge von Männerchören! Hat der feierliche Marsch mitsamt der Kantilene, haben seine Gegenstim­ men sich nahezu alle Klangregister erobert, so ist die Voraussetzung gegeben für die äussere Steigerung: Sie lässt nicht lange auf sich warten. Blechbläser, ge­stützt vom Streicher-Tremolo, intonieren den Vordersatz der vierten Strophe, diesmal in D-Dur – gewaltsam, als Fanfare. Auf dem Höhepunkt setzt, vom gellenden Beckenschlag eingeleitet, der Nachsatz ein: Ein zweimaliger Anlauf, dann sinkt das Geschehen in sich zusammen. Ein lang gedehnter Abgesang der Violinen, gewonnen aus dem Nachsatz, führt zum Ausgangspunkt zurück: Nicht zu überhören ist der klagende Ton, das Kreisen in Moll-Tonarten, unüberhörbar das Absinken über mehre Oktaven hinweg! Unten angelangt, soll eine neue Kantilene intoniert werden: Ihr Ton ist zart, jedoch starr, ausdruckslos, und sie kann den Weg nach unten nicht aufhalten. Endlich die Rückkehr zum Anfang des Vorspiels: Rasch – beklemmend rasch! – werden A-Dur-Klänge aufgeschichtet – Posauen, Trompeten, Holzblä­ ser, Violinen. Und ein letztes Mal intonieren die Violinen den Anfang des feier­ lichen Marschs.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben II. Die Idee des Vorspiels lässt auf einen Begriff sich nicht bringen. Es gibt mehre­re Bedeutungs-Ebenen; sie alle werden für die Vorgänge der Oper wichtig sein. Ein Bedeutungs-Feld – gewiss: eines von mehreren! – kann festgemacht werden daran, was der Strophe und ihrer Gegenstrophe widerfährt: Daran, wie der Marsch, der ihm innewohnende Gesang, zunächst schattenhaft, unwirklich an­ hebt, wie er an Gewicht, d.h. an Ton, Raum, Stärke gewinnt, wie dem Vorder­ satz endlich der singende Ton abhanden kommt, ihm statt dessen Panzer der Macht zugesellt werden – und wie dies nach wenigen Augenblicken zurückge­

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nommen wird, wie der Marsch sich endlich auflöst – nicht anders der Abgesang! Unüberhörbar ist die Anstrengung, den Marsch, den Gesang festzuhalten, ja, mit Fleisch auszukleiden, schliesslich mit Panzern zu versehen: Jedoch schlägt sie ins Leere. Aber nicht nur festzuhalten gilt es, was nicht festzuhalten ist: Hebt der Marsch in lichten Höhen an, so muss, wofür er einsteht (was das sein kann, wird gleich noch erörtert), heruntergeholt werden auf die Erde – und zwar von denen, die sehnsüchtig nach oben blicken. Die zentrale Idee, an unsichtbaren Fäden wird sie hinabgezogen. Aber: Je tiefer, je erreichbarer sie ist, desto mehr offenbart sie innere Span­ nungen, Risse, Widersprüche. Nicht nur machen beide, Marsch und Kantilene, sich kenntlicher, sondern sie treiben zunehmend auseinander. Der Höhepunkt bringt es an den Tag: Dem Vordersatz gehört der Marsch allein; getilgt ist die Kantilene. Dem Nachsatz gehört die Kantilene; sie aber löst, absinkend, den Marsch auf, danach wird auch sie verstummen. Dem Auseinanderbrechen, schliesslich dem Zerfall der Substanz folgt die Auflösung des Klanges. Überdies lässt sich, im Inneren des Vorspiels, die zentrale Idee – der Marsch, die Kantilene – nicht festhalten ohne zusätzliche Stütze: Die jeweilige Strophe nicht ohne Gegenstrophe, die Hauptsache nicht ohne Überleitung. Und führt die Überleitung zum Eigentlichen zurück, so gleichzeitig von ihm weg. Strophen und Gegenstrophen: An einem Faden spinnen sie; der Faden soll nie abreissen, und doch reisst er ab. Dicht ist das Klang-Gewebe, aber nicht auf Dauer. Fast scheint es, als werde das Geschehen des Prologs zur Götterdämmerung, die Nornen-Szene vorweggenommen: Spinnen Erdas Töchter ihren Faden, um daraus zu entwickeln, was geschah, was geschieht, so reisst das Seil, wenn sie fragen, was geschehen wird. Erschreckt verstummen sie und verlassen ihr nächtliches Gefilde: «Der Welt melden Weise nichts mehr.»

III. Völlig anders tönt es, wenn der Vorhang zum ersten Aufzug sich öffnet: Lär­ mende Fanfaren, die den Gesang des Heerrufers einleiten, massive Chorblöcke, die kräftige Ansprache des Königs, unüberhörbar militant: Musik des Krieges, bevor stehender oder erinnerter Krönung: Sie gilt dem Einzug des Königs,

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sei­ner Kriegs-Erklärung, um die Bevölkerung zu disziplinieren, einzustimmen ins Unabänderliche – nämlich in ihre Bestimmung als Kanonenfutter für die Herrschenden, für deren Raubzüge! Dem wiederum kann Telramunds zuneh­ mend heftiges Gebaren sich nicht fügen: Den verordneten Akklamationen ver­ quer, klagt er Elsa an, und seine Anklage, ihre zunehmende Heftigkeit macht Zwänge offenbar, denen er nicht entrinnen kann. Nichts, so scheint es, hat der­lei, die Akklamation im Zeichen der Krönungs- und Kriegsmusik ebenso wie Telra­ munds verbitterte Anklage, mit dem Vorspiel zu tun. Näher rückt ihm schon Elsas Klage: In ihr nämlich wird das Geschehen der Gegenstrophen aufgenommen, ins Konkrete, d.h. ins Erlebbare, Erlebte über­ setzt. Hier wie dort strebt das musikalische Geschehen nach oben – und wieder­ um nach unten! Für Elsa heisst das: Durchbruch zur Hoffnung, Zurücknahme. Noch bleibt das Eigentliche des Vorspiels unausgesprochen. Erst in Elsas Vision kommt der zentrale Gedanke zu Worte. Wofür er jedoch einsteht, wird viel später offenbar: Im dritten Aufzug, wenn Lohengrin die Leute wissen lässt, wer er ist und woher er kommt. Vom wunder­ tätigen Gral ist die Rede, vom Heil, das seine Ritter der Welt bringen, von einer Idee also, die die Welt in Ordnung bringen soll – oder, in Wortwendungen von E. T. A. Hoffmanns Novelle Dichter und Komponist übersetzt: Vom «fernen Reich der Romantik», von dessen «Wundern, Verwandlungen». Vom «fernen Land, unnahbar euren Schritten», hebt Lohengrin zu erzählen an. Begreifbar ist (oder scheint) endlich, was der feierliche Marsch, was die Strophen artikulieren, begreifbar aber auch, was der Idee widerfährt: Dies aber hängt nun doch mit jenen Innenspannungen, inneren Wider­ sprüchen zusammen, die nach und nach ans Tageslicht kommen: All die Risse, Spannungen, Widersprüche nämlich, die fast allen Träumen, Visionen der Frühund Hochromantik innewohnen: Das ersehnt «Andere», Bessere trägt, mehr oder weniger erkennbar die Züge dessen, wovon es sich angestrengt abhebt. Wer also mit grosser, grösster Anstrengung sich auf den Weg macht ins ersehnt «Andere», findet unerwartet, unverhofft das Eigene wieder – freilich verzerrt, verfremdet: «Einkehr als Aufbruch» oder «Aufbruch als Einkehr». Solche Spannungen, solche Widersprüche, sind auch dem «fernen Land», dem Gral selbst und seinen Abgesandten eingeschrieben: In beidem wohnt das

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Licht, der Glanz, aber auch die Einsamkeit, das unerschütterliche Zeremoniell, mit dem der Gral sich bestätigt und von der Welt abriegelt, zugleich aber auch die Suche nach den Menschen, mithin die abweisende Geste und die ausgestreck­ te, der Menschenwelt entgegen gestreckte Hand – Zuwendung und Abschied ineins! An solcher Last – sie birgt Segen und Fluch! – trägt Lohengrin schwer. Was er den Menschen bringt, ist wunderbar und gefährlich, zugleich gefährdet und verwundbar; so wie es, und wie er beschaffen ist, kann es, kann er sich unter den Menschen nicht behaupten. Darin erweist sich Lohengrin als ein Verwand­ ter des Geisterfürsten Hans Heiling aus Heinrich Marschners gleichnamiger Romantischer Oper: Als Meister versucht jener bei den Menschen zu leben, und er scheitert darin, weil er den Abstand zu ihnen nicht preisgeben kann. Lohen­ grin wiederum besteht darauf, nicht erkannt, nicht beim Namen genannt zu werden – mithin auf seiner Besonderung, Abgeschiedenheit. Nicht nur erkennen Telramund und Ortrud die Wundstelle, auch Elsa kann sich Lohengrins Frageverbot nicht beugen. Nach Lohengrins Namen würde sie fragen, auch wenn Telramund und Ortrud ihr dies nicht eingeblasen hätten. Denn sie begehrt den liebenden Menschen, auch um ihn zu schützen vor an­ deren – nicht einen Heiligen, nicht einen Gott. Damit gibt sie den Geliebten preis: «Erkennt ihr ihn, so muss er von euch zieh’n.». Dass Elsa nicht anders kann, hat Wagner in seinem Bericht Eine Mitteilung an meine Freunde unver­ blümt festgehalten. Im Zwange lebt, handelt auch sie, die doch den Zwängen zu entrinnen sucht. All den Zwängen zufolge löst, bereits im, Vorspiel die zentrale Idee, Marsch und Kantilene, sich auf, kommt zuvor ihre thematische Homogenität abhanden, laufen die triumphalen Gebärden ins Leere! Soll Lohengrins Herrlichkeit laut­ stark, gepanzert kundgetan werden, so bricht dies nach wenigen Takten ab – im Vorspiel und aufs Neue in der Erzählung des Schwanenritters. Er nun lüftet, gehorchend eigenen Zwängen, im dritten Aufzug, sein Ge­ heimnis. Solcher Preisgabe antwortet das volle Orchester, hernach nimmt der Chor den klagenden Abgesang auf. Ergriffenheit angesichts des Wunderbaren, Erschütterung, Betroffenheit, unsägliche Wehmut einer Gemeinschaft, die Ab­ schied zu nehmen hat. Und auch der Gralsritter kann den Schmerz nicht länger

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verbergen, ist ihm doch das Beieinander mit den Menschen versagt. Einsam, ge­brochen wird er zurückkehren dahin, woher er gekommen ist. Dafür nun steht der Abgesang im Vorspiel ein: Zart, aber ausdruckslos muss er gespielt werden – ausdruckslos, weil gebrochen, jedoch zart! Könnte von hier aus der Gesang aufs Neue beginnen, jenseits des Vorspiels? Etwa in Elsas Visio­ nen, hernach in den betroffenen Gesängen des Chores, darin die Edlen ihre Panzer wenigstens für Augenblicke ablegen, leise, wehmütig vor sich singen? Für die Vorgangsfiguren der Romantischen Oper Lohengrin ganz zentral: Sehnsucht und Gewalt, Herkunft und Abschied, Ideale, ihre Gefährdung, ihr Zusammenbruch – dies alles im Angesicht einer Welt, die der Veränderung dringend bedarf, und sei es durch Wunder von aussen; im Angesicht von Men­ schen, die zwar gepanzert sind auf dem Wege in den Krieg, aber nun doch emp­ fänglich sind für irgendein «Anderes», weil Sehnsucht sich nicht verdrängen lässt. Aufs Ungewöhnliche, Wunderbare einer Idee und auf deren Risse, aufs Ungewöhnliche ihrer Wege – bis hin zum Scheitern, zur Auflösung – konzen­ triert sich das Vorspiel; eben daher sind ihm Erschütterung, Wehmut nicht fremd. Mehr noch, es spricht vom Abschied-Nehmen.

IV. Von Ortruds nächtlichem Treiben, von Telramunds unbändigem Zorn, von den Gebärden des Königs will das Vorspiel nichts wissen – auf dem ersten Blick. Der zweite Blick offenbart anderes, nämlich Zusammenhänge mit all dem, was sich ereignen wird, Zusammenhänge auch mit Ortruds Welt. Nach fis-Moll wendet sich der jeweilige Beginn der Strophen, um nach A-Dur zurück zu kehren. In fis-Moll aber ist Ortrud, ist ihr nächtliches Treiben angesiedelt – vor allem im zweiten Aufzug, im nächtlichen Gespräch zwischen Ortrud und Tel­ ramund, im gemeinschaftlichen Racheschwur. Ganz in Lohengrins Nähe jedoch: Die Parallele seiner Tonart A-Dur! In der Drehung zwischen A-Dur und fis-Moll liegt der thematische Kern jenes Rituals, in dem Lohengrin dem Schwan zwei­ mal (bei seiner Ankunft und bei seinem erzwungenen Abschied) sich zuwendet. Nicht anders des Schwanes stumme Klage: Sie jedoch macht hörbar, was ihm durch Ortrud widerfuhr – also auch durch ihre Tonart.

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Fis-Moll ist, wir erinnern uns, die Tonart der Wolfsschlucht, jener zerklüfteten Landschaft, darin Caspar mit dem wilden Jäger Samiel um sein Weiter-Leben ringt, dahin er Max, den unglücklichen Jagdgesellen gelockt hatte, um ihn Samiel zu opfern an seiner Statt, die Tonart jenes Ortes, an dem nachts Frei­ kugeln gegossen werden, jede Kugel aber eine Katastrophe hervorruft: Die Tonart der Wolfsschlucht als Ort der Verstrickung, äusserster Not, äusserster Verzweiflung, als Ort bevorstehender und endlich ausbrechender Katastrophe – als Ort des Unheils, das jedoch, bei genauerem Hinsehen, die Kehrseite ist der wohlgeordneten, Gott gefälligen Welt, des Heils also. Kein Zufall, dass in der Nacht-Welt der Wolfsschlucht die Tag-Welt wiederkehrt, verfremdet, ver­ zerrt, in alldem vergrössert! Kein Zufall, dass Weber die Wolfsschlucht als Fi­ nale be­zeichnet, darin das davorliegende Geschehen gebündelt, zum Abschluss gebracht werden soll. Unheil, so scheint es, bringt sie, bringt auch Ortrud, bringt ihre Tonart den Menschen. Und gerade darin ist sie, ist ihr Sinnen, Trachten, Handeln notwendig, Gegenpol zur Gralswelt und zur Welt des Königs, zugleich mit ihnen verquickt, Kehrseite. Denn Eines nämlich hat Ortrud, hat ihre Welt mit Lohengrin, mit dem Gral gemeinsam: Das Anders-Sein. Darin jedoch gleicht sie Caspar, dem Verachteten, Gebrandmarkten, dessen Tod mit den Worten kommentiert wird, er sei von je ein Bösewicht gewesen – ist er das wirklich?. Als «Reaktionärin» wollte Richard Wagner jenes «fürchterliche Weib», wie Lohengrin seine Gegenspielerin im zweiten Aufzug tituliert, doch sehen. Dies aufzunehmen wird freilich aller bloss negativen Konnotation des Begriffs sich entledigen müssen. Denn «reaktionär» ist Ortrud zuvörderst im Blick zurück und im Versuch, Einstiges zurück zu gewinnen – hat sie darin Unrecht? Nicht ohnmächtig ist sie in ihrem Handeln, nicht ohnmächtig die Finsternis, in der sie das Ihre treibt. Es ist denn auch kein Zufall, dass ihre Tonart die Grundtonart der Wolfsschlucht in Webers Freischütz ist, kein Zufall übrigens, dass die Wolfsschlucht und der zweite Aufzug Lohengrin jeweils nach den ersten Takten harmonischem Dick­icht, tonaler Halb-, ja, Ungewissheit ausgeliefert sind: Ein Quartsextakkord ohne Fundament in den Posaunen, nachträglich der Fundament-Ton fis, pianissi­ mo in den Bässen, hernach schattenhafte, chromatisch ineinander verschraubte

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verminderte Septakkorde mit Vorhalt, sekundiert von chromatisch absinkenden Bässen, angeführt von Samiels Teufelsintervall, der verminderten Quint! Im zweiten Akt Lohengrin ein Paukenwirbel, darauf, nach einleitend zerlegtem fisMoll, seltsam ziellose Gebärden der Violoncelli im tonal Halbgewissen, und wiederum gibt die verminderte Quint, der verminderte Septakkord den Rah­ men! Dann, endlich, die Ankunft in klarem fis-Moll, bei Weber dem Geisterchor überantwortet, bei Wagner den Holzbläsern, allerdings nur als Zwischen-Auf­ enthalt und ans erinnerte Frageverbot gekoppelt – danach geht die Irrfahrt weiter! Auffallend ähneln sich die Anfänge auch szenisch: Am Boden kauernd, stumm bereitet Caspar die Beschwörung des wilden Jägers vor; stumm kauert Ortrud am Boden, ausgeschlossen von der Festmusik im Palast: Ist sie Caspars Nachfahre? Natur steht auch ihr, wie Caspar und Samiel, zur Seite. Darin wie­ derum gleicht sie den naturkundigen «Zauber»- Frauen, die nicht nur im Mittel­ alter als Hexen verfolgt wurden: Frauen, die in der Natur lebten, sich in ihr denn auch besser auskannten als ihre Verfolger. Damit kommt jene heidnische Naturreligion ins Spiel, die das Christentum zu überwinden glaubte – sie lässt sich nicht überwinden, ja, sie wird um sich greifen, fast unkenntlich noch, merklich aber im zweiten Aufzug: Wohl sind Ortrud und Telramund des Landes verwiesen, dennoch anwesend als Illegale; ihnen wird Elsa, wird Lohengrin nicht entkommen. Und scheitern ihre Intrigen (ob sie, Ortrud, wirklich scheitert, bleibt freilich offen, so offen wie der Katastro­ phen-Schluss der Oper!), so lassen sie doch gebrochene Menschen zurück. Mehr noch: Mitnichten ist, was Ortrud treibt, den Menschen fremd – auch und gerade Elsa nicht, weil sie durch die Andere nun doch zu sich, also zur ein­ dringenden Frage nach dem Geliebten kommt. Nicht als böser Geist, nicht als Ungeziefer, das ausgerottet werden muss, lebt Ortrud in ihren Gegenspielern; nicht äusserlich ist sie, ist ihre Welt all den Menschen ringsum, sondern Teil ihrer selbst. So wie die heidnischen Religionen sich durchs Christentum nur partiell verdrängen liessen – längst hatte es sich des Verdrängten bemächtigt, ja, wesent­liche Züge davon aufgenommen, wie der Blick in mittelalterliche – poin­ tiert: christliche! – Volksreligionen offenbart. Auch die Wolfsschlucht mitsamt ihren Katastrophen nistet in der wohl geordneten Welt Gottes, der Fürsten und

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ihrer Untertanen, in der Tageswelt der «Wälder und Auen»: Wehe, wenn die Nacht hereinbricht! Dass Verdrängtes über all jene kommt, die ihm zu Leibe rückten und rücken, bewahrheitet sich hier wie allerorten, diesseits und jenseits unsäglicher Kämpfe um Macht und Glauben!. Dafür nun, für das Ineinander von Gral und seinem Widerpart, von wunder­ tätigem, gepanzertem Christentum und naturmächtigem Heidentum, für das Ineinander von Lohengrin und Ortrud, für Elsas Handeln im Schraubstock beider Welten, könnte die Dur-Moll-Drehung des Beginns einstehen: Dergestalt gleicht sie einem Menetekel.

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DAS HEILIGE UND DAS UTOPISCHE Werner Hintze

Im Zentrum steht, was man nicht sieht, nur hört, vielleicht weil es für immer unsichtbar, nur dem träumenden Gehörsinn zugänglich ist: Der Gral und sein entlegener Bereich, der das Ganz Andere repräsentiert, das Reich des Heiligen, des absolut Guten, des Utopischen. Nicht einmal genannt, mit Worten der abstrahierenden Vernunft übergeben werden, darf er. Darum liegt die Passage, in der die Gralswelt aufscheint, vor dem Beginn der szenischen Handlung, im Orchestervorspiel; innerhalb der eigentlichen Handlung erscheint sie nur im sehnsuchtsvollen Traum. Dass es sich bei dieser instrumentalen Einleitung um ein aussergewöhnliches Stück Musik handelt, steht seit der Uraufführung des Werkes ausser Frage. Vor allem die für Wagners Zeit vollkommen neue und im Wortsinne «unerhörte» Orchesterbehandlung wird immer wieder gerühmt. Die Instrumentation in Verbindung mit der vollendet auf sie abgestimmten gleiten­ den Harmonik bewirkt, dass es dem Zuhörer nahezu unmöglich ist, die Instru­ mente, die im jeweiligen Moment aktiv sind, mit Sicherheit zu identifizieren, selbst der Zeitpunkt zu dem sie eintreten, ist schwer auszumachen. Meist wird der Einsatz einer neuen Instrumentengruppe dadurch vorbereitet, dass einige Mitglieder der Gruppe bereits vorher, aber nicht thematisch, am Geschehen beteiligt werden, so dass die neue Farbe gleichzeitig überraschend und bereits bekannt wirkt. Indem auf diese Weise die Hervorbringung des Klanges, die technische Seite des Musizierens verschleiert wird, soll der Eindruck entstehen, eine «himmlische», nicht irdische, eine göttliche, nicht von Menschen gemach­ te Musik zu hören. Die hypnotische Wirkung dieses Vorspiels ist immer wieder beschrieben worden, aber ein wesentlicher Aspekt seiner Gestalt und seiner Funktion im dramaturgischen Gefüge der Oper scheint doch oft ausser Acht gelassen worden zu sein: Trotz aller hochartifiziellen Verschleierung hat man den Eindruck, einen durchsichtig und überaus klar komponierten musikalischen

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Verlauf zu vernehmen, der aber ein komponierter szenischer Vorgang ist. Der Besucher der Oper Lohengrin wird an ihrem Anfang einer paradoxen Situation ausgesetzt: Er erlebt einen unsichtbaren szenischen Vorgang. Richard Wagner hat diesen in seiner programmatischen Erläuterung zum Vorspiel sehr plastisch als die Überbringung des Grals an die Menschen beschrieben. Diese Deutung könnte zu der Annahme verleiten, es handele sich hier um Programm-Musik im Sinne sinfonischer Dichtungen von Franz Liszt oder Richard Strauss, in denen Vorgänge, Geräusche, Gegenstände usw. so in Musik gesetzt werden, dass der Zuhörer eine Geschichte identifziert und verfolgt, wobei der eigentlich musikalische Gehalt des Werkes hinter dem Verweis auf Aussermusikalisches zurücktritt. Wagner aber «malt» in diesem Stück kein aussermusikalisches Ge­ schehen nach, sondern die Musik selbst wird zum szenischen Vorgang – den man freilich nicht sehen, sondern nur hören kann. In diesem Heft findet sich eine eingehende Analyse des Vorspiels von Gerd Rienäcker (S. 30 ff.), darum sollen hier einige kurze Bemerkungen zu einem ein­zelnen Aspekt der musikalischen Struktur ausreichen: Gleich nach der ersten Aufstellung des Gralsthemas tritt eine neue und mit diesem Thema nicht ver­ wand­te melodische Linie in den ersten Violinen hinzu, die bis zum dynamischen Höhepunkt des Stückes das musikalische Gewebe selbständig und nahezu bezie­ hungslos zum übrigen Geschehen durchzieht. Während sich das Gralsthema in einem langen Crescendo aller anderen Gruppen des Orchesters zu immer grös­ serer Pracht entfaltet, schreibt Wagner für diese Stimme ausdrücklich immer wie­ der «piano» und «immer piano» vor. Um diese Linie dennoch hörbar zu ma­­chen, ist sie fast durchgehend so gesetzt, dass ihre metrischen Schwerpunkte gegen die des übrigen Orchesters verschoben sind. Am Höhepunkt, wenn das Gralsthema im wuchtigen Bläsersatz erklingt und das Tremolo in den Streicherbässen den Eindruck einer heftigen Erschütterung hervorruft, stürzt diese Stimme um zwei Oktaven in die Tiefe. Unmittelbar darauf folgt eine heftig auf­streben­de Linie, die direkt zum dynamischen Höhepunkt des Stücks führt, der zusätzlich mit einem Beckenschlag markiert wird. Danach verlischt der Glanz rasch und das Stück endet mit jenem fernen, unbegreiflichen Leuchten in den höchsten Lagen des Orchesters, mit dem es begonnen hat.

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Der Befund verblüfft. Bei genauer Betrachtung des musikalischen Geschehens stellt sich heraus, dass der Eindruck von klanglicher und kinetischer Homoge­ nität, den das Stück vermittelt, Schein ist. Im subtilen Stimmen-Gewebe lassen sich zwei einander widersprechende, wenn auch aufeinander bezogene Schich­ ten ausmachen. Diese Dualität steht für den szenischen Vorgang ein, dessen Wesen nach Wagners Überzeugung der Dialog ist. Die erneute Lektüre der Wagnerschen programmatischen Erläuterung ergibt, dass es um das Erlebnis eines Subjekts geht, jenes Menschen, dem das heilige Gut übergeben wird. Die seltsame, die Homogenität störende Linie der ersten Violinen steht für dieses Subjekt. Die fast ausdruckslose Linie beschreibt in Gesten, die vor dem inneren Auge des Hörers entstehen, das sprachlose Staunen dieses Menschen, der die Manifestation des Heiligen inmitten der profanen Welt erlebt, sein ergriffenes Starren auf das, was sich ihm da nähert, bis er, im Augenblick der vollen Ge­ genwart des Unbegreiflichen in die Knie bricht und in heftiger Erregung die Arme zum Himmel, dem Heiligtum entgegen, streckt. Und von dort her kommt Antwort: Der Wiedereinsatz des vollen Orchesters, der mit dem er­ wähnten Beckenschlag verbunden ist, steht hierfür ein. Gleich darauf sinkt die Linie der Violinen wieder zurück – der Kniende lässt die Arme sinken, das Licht schwindet, der Augenblick ist vorüber. Es bleibt der sehnsüchtige Blick in die Ferne, wo das Geschaute sich noch durch ein schwaches Leuchten kundgibt. Es liegt auf der Hand, dass eine szenische Darstellung dieses Vorgangs unmöglich ist. Man muss sich nur für einen Augenblick vorstellen, wie als Engel verkleidete Kleindarsteller auftreten, und einen kaschierten Goldkelch in den Händen überbringen, um diese Unmöglichkeit einzusehen. Diese Schwierigkeit und die Lösung, die Wagner für sie gefunden hat, indem er ein Stück «unsicht­ baren Theaters» komponierte, verweist nun aber direkt auf die Grundproble­ matik des Werkes. Das Stück hat seinen Dreh- und Angelpunkt in der Sehnsucht nach dem Heiligen, nach der Beglaubigung des Irdischen durch seine Vereini­ gung mit dem Himmlischen, und es beschreibt den Versuch, diese Vereinigung zu realisieren. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. In der desolaten Welt der deutschen Ritter erscheint Lohengrin als der ersehnte Heilsbringer. Elsa, die in dieser Welt eine Fremde ist, hat bereits von ihm geträumt, sie weiss, was alle anderen kaum zu denken wagen: Dass es das

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Ganz Andere gibt, und dass es in das Bestehende hineinwirken kann. Sie irrt sich nicht: Das Wunder geschieht, Lohengrin kommt tatsächlich nach Antwer­ pen, von der geheimnisvollen Aura des Grals umgeben. Nun aber geschieht etwas Unerwartetes: Elsa, und mit ihr die Ritter, versuchen, dem Wunder Reali­ tät zu verleihen, den Gralsboten in einen Heerführer und Landesfürsten zu verwandeln. Wagner komponiert schon in der Auftrittsszene des Schwanenritters sehr genau, dass dieser Versuch zum Fehlschlag verdammt ist: Nachdem Lohengrin sich vom Schwan verabschiedet und sich dem König und seinen Getreuen, schliesslich auch Elsa zugewandt hat, verschwindet mehr und mehr die Musik des Grals aus der Partitur, ja, sie kommt im weiteren Verlauf nur noch als ferner Nachklang, als Erinnerungsmotiv wieder: Das Ganz Andere hat seine Aura ver­ loren. Diese Entwicklung ist abgeschlossen, wenn Lohengrin das Frageverbot ausspricht. Man muss annehmen, dass in den Regeln des Gralsordens eigentlich vorgesehen ist, der Ritter habe, nachdem er seine gute Tat vollbracht hat, um­ gehend in das Gebiet des Grals zurückzukehren. Deshalb das Gebot, die eigene Herkunft nicht zu verraten: Bleibt der Ritter, wird die Frage nach seiner Her­ kunft früher oder später notgedrungen gestellt werden. Das Frageverbot aber zwingt ihn zur Rückkehr. Lohengrin aber bleibt. Was veranlasst ihn zu diesem Schritt, der, selbst wenn kein Regelverstoss, doch jedenfalls unklug ist? Der Vorgang reisst den fundamentalen Widerspruch, an dem sich das Stück abarbeitet, von der anderen Seite her auf und lässt seine Beziehung zu dem Paradoxon erkennen, das nach Mircea Eliade jeder Hierophanie, also jeder Ma­ nifestation des Heiligen eigen ist: Das Objekt, in dem sich das Heilige manifes­ tiert, erhält in diesem Prozess eine doppelte Natur, es wird zu etwas anderem (Heiligem) und hört doch nicht auf, zu sein, was es war (ein profaner Gegen­ stand). Wenn nun dieses «Objekt» ein Mensch ist, ergibt sich die Situation, dass die anderen in ihm die Verwirklichung des Heiligen sehen, während er sich selbst ein «profaner» Mensch, in diesem Falle ein liebebedürftiger Mann, ist. Lohen­ grin, der Mensch, aber sehnt sich aus dem Bereich des Grals zu den Menschen, weil nur dort Liebe ist, die er sucht. Hier spiegelt sich ohne Zweifel das romanti­

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sche Bild des Künstlers, dem auch Wagner anhing: der unlösbare Zwiespalt zwi­ schen dem Bewusstsein der eigenen Besonderheit und dem Wunsch, dazuzuge­ hören, Wärme zu empfangen. Freilich tut sich hier ein Problem auf: Das Andere, das Fremde, das Besondere ist eben nicht mehr das Besondere, wenn es alltäglich wird. Der Künstler, der sein Künstlertum aufgibt, ist kein Künstler mehr. Das Heilige, das profaniert ist, ist nicht mehr heilig – die in den Alltag integrier­te Verheissung ist keine Verheissung, die verwirklichte Utopie keine Utopie mehr. Das Utopische fordert, so stellt sich im Lohengrin die Lösung dar, den Glauben an seine Wahrheit, nicht das Forschen danach. Im Frageverbot drückt sich somit nicht die reaktionär-patriarchalische Haltung einer lieblosen Män­ nerwelt aus, sondern vielmehr die Unvereinbarkeit von Realität und Utopie. Das Wesen der Utopie ist – um es noch einmal auszusprechen –, dass sie fern ist, die Bewegung zu einem Ziel herausfordert, aber dabei selbst unerreich­ bar bleibt. Nun treffen jedoch zwei Menschen aufeinander, die eine Sehnsucht verbindet: Elsa träumt vom »Höheren«, dem Heiligen, das aus ihrer Welt ver­ schwunden ist. Lohengrin wiederum drängt es zum »Irdischen«, zur Wärme des Lebens unter Menschen. Die Verwandtschaft des thematischen Materials, mit dem die beiden Figuren ausgestattet sind, macht deutlich, dass sie zusammen­ gehören. Sie können aber doch nicht zueinander finden, da die Erfüllung der Sehnsucht unabdingbar auch das Ende des Traumes ist. Der Traum aber, der schöne Traum, dass diese Vereinigung des Himmli­ schen und des Irdischen möglich sein könnte, ist das Thema des Stücks – und die Tatsache, dass dieser Traum (noch?) nicht Wirklichkeit werden kann. Die Hochzeitszeremonie am Ende des zweiten Aufzugs ist der «traumhafte» Hö­ hepunkt des Werkes. Der sakrale Charakter dieser Musik macht unüberhörbar, dass hier Aussergewöhnliches vorgeht: Die Heilige Hochzeit von Himmel und Erde, die die Erfüllung aller Wünsche ist. Zweimal wird die Zeremonie gestört, durch Ortrud und Friedrich, und zweimal kommt die Musik wieder zu sich, findet, wenn auch mühevoll, den sakralen Ton wieder, am Schluss gar gesteigert und übergipfelt durch den voluminösen Klang der Orgel. Für einen Moment scheint das Wunschbild in seiner ganzen Schönheit auf. Und doch bleibt da eine Kluft: Kurz vor dem Schluss des Aktes reisst eine plötzliche Mollwendung die Musik auf, das Orchester intoniert in schockierender Nacktheit noch einmal das

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Motiv des Frageverbots: Ortrud richtet sich auf und blickt siegesgewiss auf Elsa. Es ist bezeichnend, dass Wagner an dieser Stelle nicht ein Motiv aus Ortruds Themenkreis im Orchester erscheinen lässt, sondern ein Motiv, das Lohengrin selbst eingeführt hat. Denn es würde keineswegs alles gut gehen, wenn Ortrud sich nicht einmischte. Vielmehr liegt der Fehler im System selbst, im Versuch, den Traum Wahrheit werden zu lassen, der notwendig das Frageverbot mit sich bringt. Der Versuch, das Unvereinbare zu vereinen, lässt eine Lücke, einen Riss im Gemäuer, durch den die Kraft der Zerstörung eindringen kann. Hierin er­ kennt Ortrud ihre Chance – und nutzt sie… Vielen Betrachtern erscheint Lohengrin als Wagners pessimistischstes Werk. Doch ist die Hoffnungslosigkeit des Schlusses nicht das letzte Wort. Wagner will den Zuschauer nicht zur Resignation verleiten. Indem er zeigt, dass das Scheitern nur in dieser Welt, so wie sie jetzt ist, zwangsläufig ist, und indem er gleichzei­ tig die Sehnsucht nach dem Gelingen des Erträumten weckt, hofft er vielmehr einen Impuls zu geben, nach einer Welt zu suchen, in der das Erträumte gelingen kann. Zeit seines Lebens blieb Wagner überzeugt, dass diese Welt, so wie sie eingerichtet ist, nicht bleiben kann, dass sie «erlöst» werden muss. «Erlösung» aber ist für Wagner synonym mit «Revolution». «Erlösung» ist ihm nichts Gerin­ geres, als der vollständige Umsturz, das radikale Ausserkraftsetzen der bestehen­ den Ordnungen, Gesetze und Regeln, nach denen die Welt funktioniert. Eine Welt, das blieb Wagners Überzeugung bis zum Ende, in der die Vielen leiden, damit die Wenigen die Güter dieses Lebens geniessen können, ist nicht akzep­ tabel. Nach der Enttäuschung über die gescheiterte Revolution suchte er rastlos weiter nach Lösungen dieses Problems. Mag er bei dieser Suche auch entweder lächerlichen Ideen, wie der Rettung der Welt durch den Vegetarianismus, auf den Leim gegangen sein, oder unheilvollen wie den rassistischen Spekulationen des Grafen Gobineau, mag der politisch letztlich Unwissende auch keine wirklich praktikablen Lösungen gefunden habe – darin liegt seine Grösse: dass er sich nicht abfinden wollte mit der Einrichtung der Welt, dass er die Qual, die Wirklichkeit mit vollem Bewusstsein zu sehen, immer wieder auf sich genommen hat und sich nie mit dem Bestehenden zufrieden geben konnte.

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DER FRIESEN BEKEHRUNG Aus Ludwig Bechsteins «Deutschem Sagenbuch»

Nach Friesland kam der heilige Wolfram, der wurde des Volkes und Landes erster Apostel. Ein Traumgesicht hatte ihm offenbart, dass er das werden solle, und so kam er zum Hofe des Friesenherzogs, der hiess Radbot, und wie der Heilige kam, da sollte dem Götzen nach der heidnischen Landessitte eben wieder ein Opfer durch den Strang gebracht werden, ein durch das Los erwähl­ ter Knabe des Namens Occo. Da bat Wolfram für den Knaben und um dessen Leben im Namen seines Gottes und Heilandes bei Herzog Radbot, und Radbot sprach: «Siehe, ob dein Christus ihn vom Tode erretten kann, dann soll er dein sein.» – Wie nun der Knabe zum Strange geführt und aufgeknüpft ward, da betete Wolfram, und da riss der Strang, der Knabe fiel zur Erde und wandelte unversehrt, und Wolfram taufte ihn. Da erkannte Radbot die Macht des Hei­ landes und dachte, sich auch zum Christenglauben zu bekehren. Ehe Radbot aber dazu schritt, erschien ihm in der Nacht der Teufel in Engelsgestalt und in herrlichem Geschmuck und flüsterte ihm zu: «Warum willst du abfallen von deines Landes Gott? Tust du das nicht, so wirst du künftig wohnen in einem goldnen Hause, das will ich dir zeigen morgen des Tages. Nun frage aber auch Wolfram, wo denn sein Himmel sei, den er dir verheisst. Er soll ihn dir auch zeigen, so er das vermag.» Das sagte Radbot andern Tages dem heiligen Wolfram an und verhiess, er wolle kein Christ werden, wenn der Friesen Gott ihm nicht das goldne Haus zeige, Wolfram aber sagte, und wenn dem Herzoge auch solches Haus gezeigt werde, so werde es ein Gaukelspiel des Satans sein. – Da wurde nun ein Friese erwählt für Radbot und ein Diakon für Wolfram, die gingen aus zusammen, das Haus zu finden, und alsbald gesellte sich ein Dritter zu ihnen als ein Wegweiser. Sie kamen unvermerkt auf einen herrlichen Weg, der war mit Marmor geplattet, und von fern leuchtete ihnen das goldene Haus entgegen, herrlich und voller Glast, und darin stand auch ein Thron von Elfenbein mit Edelsteinen geziert

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und mit Purpur ausgeschlagen. Und der Führer sprach zu dem Diakon und zu dem Friesen: «Sehet, das ist Herzog Radbots ewiges Haus.» – Und der Diako­ nus sprach: «Ja, wenn Gott es gebaut hat, so wird es ewig stehen», und schlug ein Kreuz gegen das Haus: hui, da schwand es dahin, und war ein stinkender Kothaufen, und der Marbelweg war eine Sumpflache, und der Führer war der Teufel selber, der verschwand mit Gestank und Zorngebrüll. Schnell waren der Friese und der Diakon zum Hause gelangt, aber drei Tage lang mussten sie mühsam durch Binsen und Geröhrig schreiten, ehe sie die Stadt des Herzogs wieder erreichten. Der Friese sagte seine Botschaft an, und was er gesehen, und liess sich taufen. Sein Name hiess Sugomar. Und Herzog Radbot, als er diese Mär vernommen, wollte sich auch taufen lassen, und da er in das grosse steiner­ ne Taufbecken treten wollte und schon einen Fuss hineingestellt hatte, fragte er, wo die Schar seiner Vorfahren sich befinde, bei den Seligen im Himmel oder bei den Teufeln in der Hölle. – Darauf antwortete der Bischof: «Wer nicht glaubet und getauft wird, der wird nicht selig.» – Da zog Radbot den Fuss wieder aus dem Becken und sprach: «Wo meine Voreltern sind, will ich auch sein, bei meiner Magschaft und Sippschaft; was soll ich allein im Paradiese bei den wenigen Christenleuten?» – Und liess sich nicht taufen. Aber am dritten Tage starb Herzog Radbot und fuhr hin zu seiner Sippschaft und Magschaft. Da der heilige Bonifazius zu den Friesen kam und sie auch bekehren woll­ te, liess wohl ein Teil sich taufen, aber nachher erschlugen sie ihn samt seinen Gefährten Adolar und Theoban und fielen wieder in das Heidentum zurück.

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KÖNIG HEINRICH I. den man auch den «Vogler» nennt Herfried Münkler

Heinrich der Vogler, so der Historiker von Sybel, sei «der erste König der deut­ schen Nation» gewesen. Das war die Sicht des 19. Jahrhunderts, als man vor der Reichsgründung von 1871 sehnsuchtsvoll nach historischen Gestalten Ausschau hielt, die man zu politischen Vorbildern stilisieren und entsprechend im kollek­ tiven Gedächtnis der Nation platzieren konnte. König Heinrich aus dem Ge­ schlecht der Liudolfinger und der Ottonen hat sich aus mancherlei Gründen für diese Rolle angeboten, und so tritt er auch in Richard Wagners Lohengrin auf. In seiner Person wird das sagenhafte Geschehen in Brabant historisch ver­ ortet: Es spielt in der Regierungszeit König Heinrichs zwischen 919 und 936, genauer: im Vorfeld eines neuerlichen Krieges gegen die immer wieder zu Raubund Beutezügen ins Reich einfallenden Ungarn, also um das Jahr 933. Heinrichs Sorge um die innere Einheit des Reichs, seine in dessen äussers­ tem Westen ergehende Aufforderung, Truppen für den Krieg im Osten zu stel­ len, schliesslich sein Agieren als Streitschlichter in den innerbrabantischen Aus­ einandersetzungen – all das sind Verbindungen des Wagner’schen Heinrich zum historischen Heinrich. In einer geschickten, eher auf Verhandlungen als auf Eroberungen gegründeten Politik ist es dem König gelungen, Lotharingien, das bei der Aufteilung des Karolingerreichs entstandene Zwischenreich Kaiser Lothars, das die Herrschaftsgebiete der Westfranken von denen der Ostfranken trennte, das also, anachronistisch gesprochen, zwischen Frankreich und Deutsch­ land lag, auf seine eigene, auf die «deutsche» Seite zu ziehen. Insofern ist ein Auf­tritt des Königs in Brabant, wie er im Zentrum von Wagners Lohengrin steht, durchaus plausibel, wenngleich es ihn historisch wohl nicht gegeben hat. König Heinrich ist eine historische Gestalt, über die wir wenig Gesichertes wissen – trotz der Chronisten Widukind von Corvey, Liudprand von Cremona und Thietmar von Merseburg, deren Berichte freilich erst lange nach Heinrichs

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Tod abgefasst worden sind, also auf dem Hörensagen beruhen. Dementspre­ chend sind Leben und Wirken des Königs schon früh von allerhand volkstümli­ chen Erzählungen umrankt worden. Das gilt auch für den Beinamen «der Vog­ ler», mit dem Heinrich in die Geschichte eingegangen ist. Der Legende nach sass er nämlich in Quedlinburg, einer seiner Burgen im Harz, am Vogelbauer, beschäftigt mit dem Einfangen und Halten kleiner Singvögel, als ihm die Ab­ gesandten des verstorbenen Frankenkönigs Konrad die Botschaft überbrachten, er sei zu dessen Nachfolger, zum König im Reich der Ostfranken, ausersehen. Zwei auf unterschiedliche Weise bemerkenswerte Vorgänge werden hier «zusam­ menerzählt»: Zunächst, dass der Frankenkönig Konrad den Sachsenherzog Heinrich zu seinem Nachfolger bestimmt und keinen der Grossen seines eigenen Volksstamms dafür ausersehen hat. Und sodann, dass Herzog Heinrich, dem die Position des mächtigsten Mannes im Reich angesonnen wird, darauf gänz­ lich unvorbereitet ist: Statt mit politischen Projekten beschäftigt zu sein, treffen ihn die Boten bei einer gänzlich unköniglichen, eher bäuerlichen Art waidmänni­ scher Tätigkeit an. Die Botschaft von Heinrichs Voglertum ist klar: Es ist ein Mann aus der Mitte des Volkes, der hier zum König bestimmt worden ist, zum «Stern des reinsten Lichts am weiten Firmament unserer Vergangenheit», wie Heinrich von Sybel schreibt. Der «erste König der deutschen Nation», so der politische Mythos des 19. Jahrhunderts, ist zwar ein Adliger, doch zugleich ein fest im Volk verwurzelter Mann. Das Bild vom König aus dem Volk, vom volkstümlichen König passte nur zu gut in die politische Vorstellungswelt Richard Wagners, als der sich im Som­ mer 1845 in Dresden und Marienbad mit dem anonymen Epos Lohengrin, dem Schwanenritter Konrads von Würzburg, den Werken Wolframs von Eschenbach sowie den Sagensammlungen der Brüder Grimm und Ludwig Bechsteins sowie den Niederländischen Sagen Johann Wilhelm Wolfs beschäftigte. Das dem spä­ ten 13. Jahrhundert entstammende Epos Lohengrin, stellte selbst die Verbindung zum frühen 10. Jahrhundert her: Es handelt sich um eine politische Dichtung zum höheren Ruhm des deutschen Königs, in der vordergründig Rudolf von Habsburg gehuldigt wird, aber wovon berichtet wird, sind die Kämpfe und Feld­ züge des Sachsenkönigs Heinrich. Die Stilisierung König Heinrichs zum politi­ schen Vorbild beginnt also keineswegs erst im 19. Jahrhundert als eine Sehn­

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suchtsprojektion des deutschen Vormärz, sondern tritt Richard Wagner bereits in den Quellen seines Werks entgegen: In Zeiten der politischen Schwäche des Reichs, der äusseren Bedrängnis und des inneren Zerfalls, erinnert man sich an Heinrich den Vogler und stellt ihn als Vorbild heraus, an dem man sich bei der Be­wältigung der gegenwärtigen Aufgaben orientieren kann – und orientieren soll. Die Erzählung vom Antreffen Heinrichs am Vogelherd steht aber nicht nur für dessen Volkstümlichkeit und Volksverbundenheit, sondern vermittelt auch die Vorstellung von einem Mann, der ohne jedwedes Intrigenspiel und politische Rancune an die Macht gekommen ist. Die Erzählung von Heinrich dem Vogel­ bauern ist ein Mythos der politischen Lauterkeit, die Erzählung von einem Mann, der sein Amt als Dienst und nicht als Selbsterhöhung begreift. Das ist eine Geschichte so recht nach dem Geschmack derer, die mit Politik als einem «schmutzigen Spiel um Macht und Einfluss» nichts zu tun haben wollen, die an den positiven Effekten von Politik, wie Frieden und Wohlstand im Innern und machtvolle Selbstbehauptung nach aussen, aber sehr wohl interessiert sind. An sie ist der politische Mythos von König Heinrich I., dem Vogler, adressiert. Er ist der reine König, der sich nicht nach der Macht gedrängt hat, sondern dem sie angetragen wurde und der diese Aufgabe übernommen, auf sich ge­ nommen hat. Die Erzählung von König Heinrich dem Vogler ist ein politischer Mythos für Antipolitische. Aber grosse politische Mythen sind nie einsinnig, sondern enthalten vie­ lerlei Schichten; dadurch sind sie den sich wandelnden Konstellationen, auf die sie reagieren und für die sie Antworten bieten sollen, anzupassen. Das gilt auch für den Mythos von König Heinrich, der neben dem Mann am Vogelbauer auch vom «ungesalbten König» handelt: Auf der Heeresversammlung in Fritzlar, wo Heinrich von den Grossen des Reichs offiziell zum König erhoben wurde, sollte er auch durch den Erzbischof von Mainz zum König gesalbt werden. Heinrich lehnte die Königssalbung jedoch ab. Dem Bericht Widukinds zufolge begründe­ te er dies so: «Es genügt mir, dass ich meine Ahnen dadurch überrage, dass ich dank Gottes Gnade und eurer Huld den Königlichen Namen trage. Salbung und Krönung mögen einem Würdigeren vorbehalten bleiben. Einer solchen Ehre fühle ich mich nicht würdig.» Widukind zufolge sei die Menge daraufhin in Heilrufe ausgebrochen und habe immer wieder Heinrichs Namen gerufen.

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Erneut taucht hier das Bescheidenheitsmotiv auf: Durch die Verweigerung der Salbung verzichtet Heinrich auf eine Weihe, die ihn allen anderen überheben und zum «Gesalbten des Herrn» machen sollte. Er bleibt denen verbunden, aus deren Reihen er kommt; die Legitimation seiner Herrschaft durch Adel und Volk genügt ihm. Das war der Ansatzpunkt, über den sich später der Protestan­tismus Heinrich als «seinen» König aneignen konnte: Er war kein «Pfaffenkönig» und hatte sich den Machenschaften der Bischöfe und Priester verweigert. Er wollte seine Herrschaft nicht auf der Gunst des Papstes und der Kirche, sondern auf der Zustimmung des Volkes und der Mitwirkung des Adels begründet wissen. Dadurch sei er frei und unabhängig geblieben gegenüber den Intrigen und Machenschaften Roms und seiner Päpste, die sich so oft zum Nachteil der Deutschen in deren Angelegenheiten eingemischt hätten. – Das war ein durch­ weg politischer Mythos mit einer klar antirömischen Spitze, der Heinrich I. mit Heinrich IV., dem Büsser von Canossa, verband, indem er die beiden einander entgegensetzte. Weil Heinrich I. auf die kirchliche Salbung verzichtet hatte, war er für kirchliche Attacken nicht so leicht verwundbar wie Heinrich IV. Dass er auf die sakrale Weihe seiner Position verzichtete, hat ihn stark gemacht. Das Mythem vom «ungesalbten König» machte Heinrich für die politischen Mythen des 19. Jahrhunderts anschlussfähig, als königliches Charisma aus ganz anderen Quellen erwuchs als denen kirchlicher Salbung. Das kam Richard Wagner sehr entgegen, wie sich in dem durch das Frageverbot geschützten Charisma des Schwanenritters Lohengrin zeigt. Mit der Kirchen- und Romdistanz Heinrichs verbindet sich ein weiteres Element seines Mythos, und das ist der Verzicht auf den Zug nach Süden, nach Rom, der, so der politische Mythos, dem Reich der Deutschen zum Verhängnis geworden sei. Seit dem 19. Jahrhundert, zumal seit der Reichsgründung von 1871, verband sich damit die Frage der Ostkolonisation, die als machtpolitische Alternative zu den Italienzügen der Kaiser aufgebaut wurde: Während man in den wiederkehrenden Italienzügen die Kraft des Volkes verschwendet habe, hätte man sie im Kampf gegen die Slawen nutzen können, um das Reich nach Osten auszuweiten und sich hier dauerhaft festzusetzen. Zusammen mit Hein­ rich dem Löwen, dem Welfenherrscher in der Zeit Kaiser Barbarossas, wurde Heinrich I. zum Protagonisten der Ostexpansion. Dieser Strang des politischen

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Mythos um König Heinrich fand 1936 seinen Höhepunkt, als sich der Tod des Königs zum tausendsten Mal jährte und ein anderer Heinrich, nämlich Himm­ ler, die Gelegenheit nutzte, die politische Ideologie des Nationalsozialismus, zumal die vom «Kampf um Lebensraum im Osten», in die Gestalt Heinrich I. hineinzuprojizieren. Aus dem «ersten König der deutschen Nation» wurde jetzt der erste Nationalsozialist der deutschen Geschichte. Das alles hat mit dem historischen König Heinrich wenig bis nichts zu tun. Der Mönch Widukind schreibt in seiner Chronik, Heinrich habe sehr wohl vorgehabt, einen Romzug zu unternehmen, um sich dort nach dem Vorbild der karolingischen Herrscher vom Papst zum Kaiser krönen zu lassen – ein Projekt, das dann von Heinrichs Sohn und Nachfolger Otto I. erfolgreich betrieben wurde. Der Schlaganfall, den Heinrich 935 bei einer Jagd im Harz erlitt und der Tod im darauffolgenden Jahr, haben ihn an der Verwirklichung des Italien­ projekts gehindert. Insofern ist es eher dem Kontingenten als dem Geplanten geschuldet, dass Heinrich in der Frage der Italienzüge aus der Reihe der deut­ schen Herrscher herausfällt und zum Exponenten der Ostexpansion gemacht werden konnte. Tatsächlich hat er Kriegszüge zur Havel und zur Mittelelbe unter­nommen, die slawische Festung Brandenburg erobert und an einem strate­ gisch wichtigen Elbübergang die Stadt Meissen gegründet, aber das war nur eine von vielen Komponenten seiner Politik, und unter denen stand die Einver­ leibung Lotharingiens in sein Königreich und die Abwehr der Ungarn im Vor­ der­grund. Die Kriegszüge gegen die Slawen waren ein Seitenstrang von Hein­ richs Politik, mit dem Kampf gegen die Normannen in Nordfriesland auf eine Ebene zu stellen. Insofern ist der Heinrich Richard Wagners im Lohengrin dem historischen König sehr viel näher als der Heinrich bei Himmler und den Natio­ nalsozialisten. Überhaupt muss man sich Heinrich als einen geschickten Politiker vorstel­ len, der die Klaviatur der Machtpolitik wohlüberlegt zu bespielen wusste. Das gilt auch für die Verweigerung der erzbischöflichen Salbung in Fritzlar. Dort waren nämlich nur die Repräsentanten der Franken, Sachsen und Thüringer erschienen, während sich Schwaben und Bayern von der Königserhebung fern­ hielten. Sie standen einer Verlagerung des Reichszentrums in den Harz skeptisch bis ablehnend gegenüber und fühlten sich bei König Konrads Entscheidung,

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Heinrich als seinen Nachfolger auszuwählen, schlichtweg übergangen. Bei der Wahl eines Franken als König wäre das vielleicht anders gewesen, aber bei der Entscheidung für den Sachsen Heinrich hätte man sie in die Beratung einbinden müssen. So kam, was unter diesen Umständen kommen musste: Bayernherzog Arnulf liess sich zum Gegenkönig wählen. Unter diesen Umständen wollte Hein­ rich seinem Gegenspieler nicht als der «Gesalbte des Herrn» gegenübertreten, sondern setzte auf Verhandlungen und Interessenausgleich. Er war damit erfolg­ reich und konnte sowohl die Schwaben als auch die Bayern in seine Herrschaft einbinden, indem er sie an deren Aufgaben und Befugnissen teilhaben liess. In heutiger politiktheoretischer Sicht kann man König Heinrich I. als einen Meister der Konfliktbearbeitung durch Inklusion und Integration bezeichnen. Intuitiv dürfte Richard Wagner etwas davon verspürt haben, denn er lässt den König im Lohengrin nicht als Befehlsgeber und Letztentscheider auftreten, son­ dern als einen, der auf Ausgleich und Schlichtung aus ist. Erst vor diesem Hin­ tergrund entfaltet der Konflikt zwischen Ortrud und Elsa seine ganze Dynamik und macht das Eingreifen des Schwanenritters Lohengrin erforderlich: Die Zurückhaltung des Königs öffnet den Weg zum Gottesurteil. Eine entschlossen ausgeübte Herrschaft und Rechtsprechung dagegen macht Gottesurteile über­ flüssig. Wo der historische Heinrich sich in dem offenen Feld des Ungewissen bewegte, agierte er ausgesprochen vorsichtig und zurückhaltend und versuchte nicht zu erzwingen, was sich schwerlich erzwingen liess. Er selbst hätte wohl davon gesprochen, dass er den Fortgang der Ereignisse Gott anheimstelle. So hielt Heinrich es auch bei der Zugehörigkeit Lotharingiens zum Reich der West- oder Ostfranken. Das Zwischenreich war ökonomisch und kulturell fort­ geschrittener als das ostfränkische Gebiet, es wies grössere Städte und reichere Bistümer auf, und wer es besass, konnte Anspruch auf die europäische Hege­ monie erheben. Vor allem aber hing der zur damaligen Zeit vakante Kaisertitel an der Verfügung über Lotharingien. Es gab somit starke Anreize für Heinrich, dieses Gebiet, das sich zunächst dem Westfrankenreich angeschlossen hatte, wo es aber immer wieder zu Aufständen und Rebellionen kam, mit Gewalt zu er­ obern, zumal Karl der Einfältige, der Westfrankenkönig, in seinem Reich von aussen wie innen bedrängt wurde. Heinrich hat darauf verzichtet. Im Gegenteil:

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Bei Bonn traf er sich mit Karl auf einem in der Mitte des Rheins verankerten Floss und handelte mit ihm einen Vertrag aus, in dem sich beide Seiten als Gleiche anerkannten. Heinrich spielte auf Zeit, und die Zeit spielte ihm in die Hände: Karl geriet in immer grössere Bedrängnis und wurde schliesslich von einem treulosen Gefolgsmann festgesetzt, während Heinrich eine seiner Töch­ ter mit dem mächtigsten der Unruhestifter in Lotharingien verehelichte, diesen so an sich band und das Zwischenreich nicht nur auf seine Seite ziehen, sondern auch in seinen Herrschaftsverband eingliedern konnte. Auch im Innern betrieb König Heinrich eine überaus erfolgreiche Politik, die man in heutiger Terminologie unter die Leitbegriffe Integration, Konsoli­ dierung und Kontinuität stellen würde. Wie erwähnt, verzichtete er darauf, die verschiedenen Volksstämme des Reichs und deren selbstbewusste Herzöge unter seine Botmässigkeit zu zwingen, sondern integrierte sie in den Reichsverband, indem er ihnen ehrenvolle Ämter und Aufgaben übertrug. Gleichzeitig beende­ te er die karolingische Praxis, beim Tod des Königs das Herrschaftsgebiet unter dessen Brüdern und Söhnen aufzuteilen, was zu Machtzerfall, Rivalität und ständigen Konflikten geführt hatte, sondern setzte einen der Söhne als Nach­ folger für das gesamte Herrschaftsgebiet ein. Damit war das Rivalitätsproblem zwar nicht beseitigt, aber der Fortbestand des Reiches als Ganzes war gewähr­ leistet. Und schliesslich reformierte Heinrich die Wehrverfassung und stellte einen Verband gepanzerter Reiterei auf, der den bis dahin militärisch überlege­ nen Ungarn Paroli bieten konnte. Auch liess er im Osten Burgen bauen sowie die Klöster und Kirchen befestigen, so dass sie burgähnlich wurden. Als die Ungarn nach den neun Jahren Ruhe, die sich Heinrich durch Tributzahlungen erkauft hatte, zu einem neuen Raub- und Beutezug ins Gebiet der Thüringer und Sachsen einfielen, trafen sie auf einen wohlvorbereiteten Gegner und erlit­ ten am Fluss Unstrut eine schwere Niederlage. Damit war der Ruf der Unbe­ siegbarkeit zerstört, in dem die Ungarn bis dahin gestanden hatten. Heinrichs Prestige wuchs weiter. Als er 936 im Kloster Memlingen starb, hinterliess er seinem Sohn Otto ein wohlbestelltes Reich. Richard Wagner hat seinen Lohengrin in diesen Konstellationen angesiedelt. Die Versuchung, den Auftritt des Königs in Brabant nationalistisch zu inszenie­ ren und ihn zu einer Manifestation nationalen Selbstbewusstseins zu machen,

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war sicherlich gegeben, und so mancher Regisseur ist dem erlegen. Aber man muss Heinrich nicht in die chauvinistische Ecke stellen. Das hat der enge Blick des 19. Jahrhunderts getan. Aus heutiger Sicht ist Heinrich eher ein Mann des Ausgleichs und der Versรถhnung; sein Auftritt in Brabant, wie Wagner ihn zeigt, ist ganz in diesem Sinne zu verstehen.

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DER UNTERTAN IM «LOHENGRIN» Heinrich Mann

Die schöne Laune, die mit ihrem Dasein spielte, führte sie eines Abends in den Lohengrin. Die beiden Mütter hatten sich dazu verstehen müssen, zuhause zu bleiben; es war der feste Wille des Brautpaares, der Schicklichkeit zum Trotz allein in einer Proszeniumsloge zu sitzen. Der Vorhang ging auf, und schon kicherte sie verachtungsvoll. »Gott, die Ortrud! Sie hat einen Schlafrock und ein Frontkorsett!« Diederich hielt sich mehr an den König unter der Eiche, der sichtlich die prominenteste Persönlich­ keit war: Sein Auftreten wirkte nicht besonders schneidig, aber was er äusserte, war vom nationalen Standpunkt aus zu begrüssen. «Des Reiches Ehr’ zu wahren, ob Ost, ob West.» Bravo! So oft er das Wort «deutsch» sang, reckte er die Hand hinauf, und die Musik bekräftigte es ihrerseits. Auch sonst unterstrich sie einem markig, was man hören sollte. Markig, das war das Wort. Überhaupt ward Diederich gewahr, dass man sich in dieser Oper sogleich wie zuhause fühlte. Schilde und Schwerter, viel passendes Blech, kaisertreue Gesinnung, Ha und Heil und hochgehaltene Banner und die deutsche Eiche: Man hätte mitspielen mögen. Beim Auftreten Elsas war ohne weiteres klar, auf welcher Seite man Klasse voraussetzen durfte. Der biedere König hätte es nicht nötig gehabt, die Sache dermassen objektiv zu behandeln: Elsas ausgesprochen germanischer Typ, ihr wallende blondes Haar, ihr gutrassiges Benehmen boten von vornherein gewis­ se Garantien. Diederich fasste sie ins Auge, sie sah herauf, sie lächelte lieblich. Darauf griff er nach dem Opernglas, aber Guste entriss es ihm. «Also die Merée ist es?» zischte sie; und da er vielsagend lächelte: «Einen Geschmack hast du, ich kann mich geschmeichelt fühlen. Die ausgemergelte Jüdin!» – «Jüdin?» – «Die Merée, selbstredend, sie heisst doch Meseritz, und vierzig Jahre ist sie alt.» – Betreten nahm er das Glas, das Guste ihm höhnisch anbot, und überzeugte sich.

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Na ja, die Welt des Scheins. Enttäuscht lehnte Diederich sich zurück. Dennoch konnte er nicht hindern, das Elsas keusche Vorahnung weiblicher Lustempfin­ dungen ihn geradeso sehr rührte wie den König und die Edlen. Das Gottesge­ richt schien auch ihm ein hervorragend praktischer Ausweg, auf die Weise ward niemand kompromittiert. Dass die Edlen sich auf die faule Sache nicht einlassen würden, war freilich vorauszusehen. Man musste schon mit etwas Ausserordentli­ chem rechnen; die Musik tat das Ihre, sie machte einen geradezu auf alles ge­fasst. Diederich hatte den Mund offen und so dummselige Augen, dass Guste heimlich einen Lachkrampf bekam. Jetzt war es so weit, alle waren so weit, jetzt konnte Lohengrin kommen. Er kam, funkelte, schickt den Zauberschwan fort, funkelte noch betörender. Mannen, Edle und der König unterlagen alle derselben Ver­ blüffung wie Diederich. Nicht umsonst gab es höhere Mächte… Ja, die aller­ höchste Macht verkörperte sich hier, zauberhaft blitzend. Ob Schwan- oder Adlerhelm: Elsa wusste wohl, warum sie plumps vor ihm auf die Knie fiel. «So soll es sein!» sagte Diederich und nickte auf die kniefällige Elsa hinab – indes Guste, die Lider gesenkt, in reuevoller Unterwerfung gegen seine Schulter fiel. Das weitere konnte man an den Fingern abzählen. Telramund machte sich einfach unmöglich. Gegen die Macht unternahm man eben nichts. Zu ihrem Repräsentanten Lohengrin verhielt sich sogar der König höchstens wie ein bes­ serer Bundesfürst. Er sang seinem Vorgesetzten die Siegeshymne mit. Der Hort der guten Gesinnung ward schwungvoll gefeiert, die Umstürzler mochten den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schütteln. Der zweite Akt brachte zunächst in erhebender Weise den Gegensatz zur Anschauung zwischen dem glanzvollen, ohne Misston verlaufenden Fest der Gutgesinnten in den vornehmen erleuchteten Räumen des Palastes und den beiden dunklen Empörern, die stark heruntergekommen auf dem Pflaster lagen. «Erhebe dich, Genossin meiner Schmach», meinte Diederich bei passender Ge­ legenheit selbst schon angewendet zu haben. Er verband Ortrud mit gewissen persönlichen Erinnerungen. Vor Elsa, der dummen Gans, mit der sie machte, was sie wollte, hatte Ortrud das gewisse Etwas voraus, dass die energischen und strengen Damen haben. Elsa freilich konnte man heiraten. Er schielte nach Guste. «Es gibt ein Glück, dass ohne Reu», bemerkte Elsa; und Diederich zu Guste: «Das wollen wir hoffen.»

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Den frisch ausgeschlafenen Edlen und Mannen wurde sodann durch den dicken Delitzsch eröffnet, dass sie dank Gottes Gnade einen neuen Landesfürsten be­ kommen hatten. Gestern standen sie noch treu und bieder zu Telramund, heu­ te waren sie biedere, treue Untertanen Lohengrins. Sie erlaubten sich keine Meinung und schluckten jede Vorlage. «Den Reichstag bringen wir auch noch so weit», gelobte Diederich. Wie aber Ortrud vor Elsa in das Münster treten wollte, empörte sich Guste. «Das hat sie nun nicht nötig, darüber ärgere ich mich immer. Wo sie doch nichts mehr hat, und überhaupt.» – «Jüdische Frechheit», murmelte Diederich. Über­ haupt konnte er nicht umhin, Lohengrin, gelinde gesagt, unvorsichtig zu finden, als er es glatt in Elsas Hand legte, ob er seinen Namen verraten und dadurch das ganze Geschäft infrage stellen sollte oder nicht. Soviel durfte man Weibern nicht zumuten. Und wozu? Den Mannen brauchte er nicht erst zu beweisen, dass er, trotz dem Nörgler Telramund, reine Hände und keinen Fleck auf der Weste habe: Ihre nationale Gesinnung war durchaus unverdächtig. Guste verhiess ihm, im dritten Akt käme das Allerschönste, aber dafür müsse sie durchaus noch Pralinés haben. Als man sie hatte, stieg der Hochzeits­ marsch, und Diederich sang ihn mit. Die Mannen im Festzuge verloren ent­ schieden ohne Blech und Banner, auch Lohengrin hätte sich besser nicht im Wams gezeigt. Diederich ward bei seinem Anblick wieder einmal von dem Wert der Uniform durchdrungen. Lohengrin und Elsa machten sich auf dem Sofa an die «Wonnen, die nur Gott verleiht». Zuerst umschlangen Sie sich nur oben, die unteren Körperteile sassen nach Möglichkeit voneinander entfernt. Je mehr sie aber sagen, umso mehr rutschten sie heran – wobei ihre Gesichter sich häufig auf Hähnisch rich­ teten. Hähnisch und sein Orchester schienen ihnen einzuheizen: Es war begreif­ lich, denn auch Diederich und Guste in ihrer stillen Loge schnauften leise und sahen einander an mit erhitzten Augen. Elsa war im Begriff sich alles zu verderben, weil sie es nicht lassen konnte, ihren Mann nach seinen politischen Geheimnissen zu fragen. Der Umsturz ward vollends zerschmettert, denn Telramunds feiges Attentat misslang durch Gottes Fügung; aber die Weiber, dies musste Diederich sich sagen, wirkten, wenn man ihnen nicht die Kandare fest anzog, eher noch subversiver.

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Nach der Verwandlung ward dies vollends klar. Eiche, Banner, alles nationale Zubehör war wieder da; und «für deutsches Land das deutsche Schwert, so sei des Reiches Kraft bewährt»: bravo! Aber Lohengrin schien nun wirklich ent­ schlossen, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. Nacheinander klagte er den toten Telramund und die ohnmächtige Elsa an. Da keiner von beiden ihm widersprach, würde er ohne weiteres Recht behalten haben; dazu kam aber noch, dass er tatsächlich in der Rangliste obenan stand. Denn jetzt gab er sich zu erkennen. Die Nennung seines Namens rief bei der ganzen Ver­ sammlung, die noch nie von ihm gehört hatte, eine ungeheure Bewegung her­ vor. Die Mannen konnten sich gar nicht beruhigen; alles andere schienen sie erwartet zu haben, nur nicht, dass er Lohengrin hiess. Umso dringlicher er­ suchten sie den geliebten Herrscher, von dem folgenschweren Schritt der Ab­ dankung diesmal noch abzusehen. Aber Lohengrin blieb heiser und unnahbar. Übrigens wartete schon der Schwan. Eine letzte Frechheit Ortruds brach ihr zur allgemeinen Genugtuung den Hals. Leider deckte gleich darauf auch Elsa das Schlachtfeld, das Lohengrin, statt des entzauberten Schwans von einer kräf­ tigen Taube gezogen, hinter sich liess. Dafür war der junge, soeben eingetrof­ fene Gottfried in drei Tagen der dritte Landesfürst, dem Edle und Mannen, treu und bieder wie immer, ihre Huldigung darbrachten. «Das ist die Kunst, die wir brauchen!» rief Diederich aus. «Das ist deutsche Kunst!» Denn hier erschienen ihm, in Text und Musik, alle nationalen Forde­ rungen erfüllt. Empörung war hier dasselbe wie Verbrechen, das Bestehende, Legitime ward glanzvoll gefeiert, auf Adel und Gottesgnadentum der höchste Wert gelegt, und das Volk, ein von den Ereignissen ewig überraschter Chor, schlug sich willig gegen die Feinde seiner Herren. Der kriegerische Unterbau und die mystischen Spitzen, beides war gewahrt. Auch wirkte es bekannt und sympathisch, dass in dieser Schöpfung der schönere und geliebtere Teil der Mann war. «Ich fühl das Herze mir vergehn, schau ich den wonniglichen Mann», sangen auch die Männer samt dem König. So war denn die Musik an ihrem Teil der männlichen Wonne voll, war heldisch, wenn sie üppig war und kaisertreu noch in der Brunst.

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LOHENGRIN RICHARD WAGNER (1813-1883) Romantische Oper in drei Aufzügen Libretto vom Komponisten Uraufführung 28. August 1850, Weimar

Personen

Heinrich der Vogler, deutscher König Lohengrin

Bass

Tenor

Elsa von Brabant

Sopran

Friedrich von Telramund, brabantischer Graf Ortrud, seine Gemahlin

Bariton

Sopran

Der Heerrufer des Königs

Bass

Herzog Gottfried, Elsas Bruder

stumm

Sächsische und thüringische Grafen und Edle Brabantische Grafen und Edle Edelfrauen, Edelknaben, Mannen, Knechte Ort der Handlung: Antwerpen Zeit der Handlung: Erste Hälfte des 10. Jahrhunderts


ERSTER AUFZUG ERSTE SZENE Eine Aue am Ufer der Schelde bei Antwerpen: Der Fluss macht dem Hintergrund zu eine Biegung, so dass rechts durch einige Bäume der Blick auf ihn unterbrochen wird und man erst in weiterer Entfernung ihn wieder sehen kann. Im Vordergrund sitzt König Heinrich unter einer mächtigen alten Eiche; ihm zunächst stehen sächsische und thüringische Grafen, Edle und Reisige, welche des Königs Heerbann bilden. Gegenüber stehen die brabantischen Grafen und Edlen, Reisige und Volk, an ihrer Spitze Friedrich von Telramund, zu dessen Seite Ortrud. Die Mitte bildet einen offenen Kreis. Der Heerrufer des Königs und vier Heerhornbläser schreiten in die Mitte. Die Bläser blasen den Königsruf. DER HEERRUFER

Hört! Grafen, Edle, Freie von Brabant! Heinrich, der Deutschen König, kam zur Statt, Mit euch zu dingen nach des Reiches Recht. Gebt ihr nun Fried’ und Folge dem Gebot? DIE BRABANTER

Wir geben Fried’ und Folge dem Gebot. Willkommen, willkommen, König, in Brabant! KÖNIG HEINRICH erhebt sich

Gott grüss’ euch, liebe Männer von Brabant! Nicht müssig tat zu euch ich diese Fahrt! Der Not des Reiches seid von mir gemahnt! Soll ich euch erst der Drangsal Kunde sagen, Die deutsches Land so oft aus Osten traf? In fernster Mark hiesst Weib und Kind ihr beten: «Herr Gott, bewahr’ uns vor der Ungarn Wut!» Doch mir, des Reiches Haupt, musst’ es geziemen, Solch wilder Schmach ein Ende zu ersinnen; Als Kampfes Preis gewann ich Frieden auf Neun Jahr – ihn nützt’ ich zu des Reiches Wehr; Beschirmte Städt’ und Burgen liess ich bau’n, Den Heerbann übte ich zum Widerstand. Zu End’ ist nun die Frist, der Zins versagt – Mit wildem Drohen rüstet sich der Feind. Nun ist es Zeit, des Reiches Ehr’ zu wahren; Ob Ost, ob West, das gelte allen gleich! Was deutsches Land heisst, stelle Kampfesscharen, Dann schmäht wohl niemand mehr Das Deutsche Reich!

DIE SACHSEN UND THÜRINGER an die Waffen schlagend

Mit Gott wohlauf für deutschen Reiches Ehr’! DER KÖNIG nachdem er sich wieder gesetzt hat

Komm’ ich zu euch nun, Männer von Brabant, Zur Heeresfolg’ nach Mainz euch zu entbieten, Wie muss mit Schmerz und Klagen ich erseh’n, Dass ohne Fürsten ihr in Zwietracht lebt! Verwirrung, wilde Fehde wird mir kund; Drum frag’ ich dich, Friedrich von Telramund: Ich kenne dich als aller Tugend Preis, Jetzt rede, dass der Drangsal Grund ich weiss. FRIEDRICH

Dank, König, dir, dass du zu richten kam’st! Die Wahrheit künd’ ich, Untreu’ ist mir fremd. – Zum Sterben kam der Herzog von Brabant, Und meinem Schutz empfahl er seine Kinder, Elsa, die Jungfrau, und Gottfried, den Knaben: Mit Treue pflag ich seiner grossen Jugend, Sein Leben war das Kleinod meiner Ehre. Ermiss nun, König, meinen grimmen Schmerz, Als meiner Ehre Kleinod mir geraubt! Lustwandelnd führte Elsa den Knaben einst Zum Wald, doch ohne ihn kehrte sie zurück; Mit falscher Sorge frug sie nach dem Bruder, Da sie, von ungefähr von ihm verirrt, Bald seine Spur – so sprach sie – nicht mehr fand. Fruchtlos war all Bemüh’n um den Verlor’nen; Als ich mit Drohen nun in Elsa drang, Da liess in bleichem Zagen und Erbeben Der grässlichen Schuld Bekenntnis sie uns sehn. Es fasste mich Entsetzen vor der Magd; Dem Recht auf ihre Hand, vom Vater mir Verlieh’n, entsagt’ ich willig da und gern Und nahm ein Weib, das meinem Sinn gefiel, Ortrud, Radbods, des Friesenfürsten Spross. Ortrud verneigt sich dem König. FRIEDRICH

Nun führ’ ich Klage wider Elsa von Brabant: Des Brudermordes zeih’ ich sie. Dies Land doch sprech’ ich für mich an mit Recht, Da ich der Nächste von des Herzogs Blut, Mein Weib jedoch aus dem Geschlecht, das einst Auch diesen Landen seine Fürsten gab. Du hörst die Klage! König, richte recht!


ALLE MÄNNER in feierlichem Grauen

DIE MÄNNER

Ha, schwerer Schuld zeiht Telramund! Mit Grau’n werd’ ich der Klage kund!

Seh’t hin! Sie naht, die hart Beklagte! Ha! Wie erscheint sie licht und rein! Der sie so schwer zu zeihen wagte, Wie sicher muss der Schuld er sein!

DER KÖNIG

Welch’ fürchterliche Klage sprichst du aus! Wie wäre möglich solche grosse Schuld?

DER KÖNIG

Bist du es, Elsa von Brabant?

FRIEDRICH

O Herr, traumselig ist die eitle Magd, Die meine Hand voll Hochmut von sich stiess. Geheimer Buhlschaft klag’ ich drum sie an: Sie wähnte wohl, wenn sie des Bruders ledig, Dann könnte sie als Herrin von Brabant Mit Recht dem Lehnsmann ihre Hand verwehren Und offen des geheimen Buhlen pflegen.

Elsa macht eine bejahende Bewegung. DER KÖNIG

Erkennst du mich als deinen Richter an? Elsa blickt dem König in das Auge und bejaht dann wiederum.

DER KÖNIG

DER KÖNIG

Ruft die Beklagte her! – Beginnen soll Nun das Gericht! Gott lass’ mich weise sein!

So frage ich weiter: Ist die Klage dir bekannt, Die schwer hier wider dich erhoben?

Er hängt mit Feierlichkeit seinen Schild an der Eiche auf. Die Sachsen und Thüringer stossen ihre entblössten Schwerter vor sich in die Erde; die Brabanter strecken die Waffen vor sich nieder.

Elsa erblickt Friedrich, erbebt, wendet schüchtern das Haupt und bejaht traurig.

Das vollständige Libretto können Sie im gedruckten Programmbuch nachlesen. www.opernhaus.ch/shop DER KÖNIG

Was entgegnest du der Klage?

DER HEERRUFER in die Mitte tretend

Soll hier nach Recht und Macht Gericht gehalten sein?

ELSA durch eine Gebärde sprechend:

DER KÖNIG

So bekennst du deine Schuld?

«Nichts!»

DER KÖNIG

Nicht eh’r soll bergen mich der Schild, Bis ich gerichtet streng und mild!

ELSA nachdem sie eine Zeitlang traurig vor sich hingeblickt

Mein armer Bruder!

ALLE MÄNNER

Nicht eh’r zur Scheide kehr’ das Schwert, Bis ihm durch Urteil Recht gewährt!

ALLE MÄNNER flüsternd

Wie wunderbar! Welch’ seltsames Gebaren!

DER HEERRUFER

Wo ihr des Königs Schild gewahrt, Dort Recht durch Urteil nun erfahrt! Drum ruf ich klagend laut und hell: Elsa, erscheine hier zur Stell’!

DER KÖNIG

Sag’, Elsa! Was hast du mir zu vertraun? Langes Schweigen.

ZWEITE SZENE

ELSA in ruhiger Verklärung vor sich hinblickend

Elsa tritt auf in einem weissen, sehr einfachen Gewande; ein langer Zug ihrer Frauen, sehr einfach weiss gekleidet, folgt ihr. Die Frauen bleiben im Hintergrunde an der äussersten Grenze des Kreises stehen, während Elsa lang­sam und verschämt in die Mitte des Vordergrundes vorschreitet. 77

Einsam in trüben Tagen Hab’ ich zu Gott gefleht, Des Herzens tiefstes Klagen Ergoss ich im Gebet. Da drang aus meinem Stöhnen


Programmheft LOHENGRIN Romantische Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner Premiere am 21. September 2014, Spielzeit 2014/15

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Textnachweise: Das Gespräch mit Andreas Homoki erschien zuerst im «Lohengrin»-Programmheft der Wiener Staatsoper. Die Aufsätze von Herfried Münkler, Gerd Rienäcker und Werner Hintze entstanden für diese Programmheft. Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Leipzig, Breitkopf & Härtel o. J. Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt /:, Suhrkamp Verlag 1984. Onno Klopp: Aus der Zeit der Frankenherrschaft. Nach den

Studio Geissbühler Fineprint AG

Quellen erzählt. Freiburg i. Br., Friedrich Ernst Fehsenfeld 1907. Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Hrsg. von Karl Martin Schiller. Merseburg und Leipzig, F. W. Hendel Verlag 1930. Heinrich Mann: Der Untertan. Roman. Berlin, AufbauVerlag 1951. Bildnachweise: Monika Rittershaus fotografierte die Klavier­hauptprobe am 10. September 2014.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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Wenn es um Nachwuchsf旦rderung in der klassischen Musik geht, engagiert sich die Credit Suisse nachhaltig. Deshalb unterst端tzen wir als Partner des Opernhauses Z端rich die Orchester-Akademie am Opernhaus Z端rich sowie den Club Jung.

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