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online das Gefühl von Gemeinschaft habe. Ein wachsender Organismus, mit dem ich alles teile. Etwas, das ganz neu war, war die Art Musik zu schreiben und aufzunehmen, denn da keine Bandproben möglich waren, habe ich das eigentlich alles alleine gemacht und ganz viel Neues gelernt. Ich würde vermutlich nicht so weit gehen zu sagen, dass ich versiert genug wäre, einen anderen Künstler oder eine andere Band aufzunehmen und deren Musik abzumischen. Aber für mich selbst kann ich jetzt so viel aufnehmen und so lange daran herumbasteln, bis ich zufrieden bin. Und dabei Welten und Atmosphären zu schaffen, die es so in meiner Musik vorher noch nicht gab. Nach über zwanzig Jahren Musikkarriere! Da bin ich schon ... ja, stolz drauf, haha.“

DIES IST EIN ENDLOSES PROJEKT, EIN ENDLOSES VERSUCHEN, DIE KÜNSTLER­ SEITE SO WEIT WIE MÖGLICH FALLEN ZU LASSEN, UND NUR NOCH DIE PERSON ZU SEIN.

KEVIN DEVINE

Foto: Erik Tanner

WER BIST DU. Wem der Name Kevin Devine nichts sagt, der kann ihn jetzt mal bei

Spotify eingeben und bekommt 23 Alben aus 22 Jahren angezeigt, Originale sowie Liveund Coveralben. Seit mehr als der Hälfte seines 42-jährigen Lebens ist er auf Tour. Wer ist dieser Mann? „Du wirst merken, ich bin angestrengt, die richtigen Worte zu finden, um auszudrücken, was ich sagen will.“

K

evin lebt in Brooklyn, NYC, und hat sein Zuhause – wie so viele von uns – in den letzten zwei Jahren nicht verlassen, obwohl er eigentlich an einen vollen Tourkalender gewöhnt ist. Auch wenn der seit der Geburt seiner sechsjährigen Tochter etwas weniger gefüllt ist – zur Ruhe kam er trotzdem nicht. Die Pandemie kam, der erste Lockdown, und Kevin startete seinen Patreon-Account, ging regelmäßig live auf Instagram, spielte Wohnzimmerkonzerte vor seiner Handy-Kamera, nahm alte Stücke neu auf, veröffentlichte Coversongs und -videos und mehrere Jubiläumsalben. Und jetzt gibt es eine ganz neue Platte: „Nothing’s Real, So Nothing’s Wrong“. Während andere Bands und Musiker:innen sich zurückzogen, sich ganz und gar auf das Schreiben konzentrierten oder einfach erst mal mit dieser absolut veränderten Situation klarzukommen versuchten. Woher nimmt er die Energie? „Ich liebe Musik. Das war mein Weg, einfach so viel Musik wie möglich zu machen und zu spielen, auch wenn Touren oder Bandproben nicht möglich waren. Ich habe angefangen, ganz viele Künstler und Songs nachzuspielen, die ich noch nie so richtig ausprobiert hatte. Wie früher, als ich Gitarre spielen gelernt habe: Kassettenspieler an, selbst versucht, hm, das war die falsche Note, zurückspulen, stop, hm, war’s die? Noch mal zurückspulen, noch mal versuchen. Das war ein ganz toller neuer Weg wieder zurück zu etwas Ursprüngli-

chem. Das war das eine. Dann haben wir die Jubiläumsalben rausgebracht, und alte Songs von mir neu aufgenommen und mit einem neuen Konzept veröffentlicht. Ich habe es mit meinem Team irgendwie geschafft, während der Pandemie sehr produktiv zu sein! Ich habe es geschafft, sehr viel Musik zu veröffentlichen, die völlig unterschiedlich ist, die neue Platte ist total anders als alles, was ich bisher rausgebracht habe, ich habe das Gefühl, ich habe es geschafft, das Projekt ‚Kevin Devine‘ maßgeblich zu erweitern. Ich konnte davon sogar meine Miete zahlen. Alles von meinem Schreibtisch aus. Das Einzige, was ich kaufen musste, war ein Tripod-Stativ für mein Handy, haha.“ Wie fühlt es sich an, so viel Maßgebliches zu tun – und dann keine Tour zu spielen, keine Party zu feiern? Wie fühlt es sich an, Musik per Knopfdruck zu veröffentlichen und sich dann einfach wieder auf die Couch zu setzen, auf der man sie auch geschrieben und aufgenommen hat? Fühlt man den gleichen Stolz auf sein Werk? „Stolz ist ein seltsames Wort, das ich nicht so gern benutzen möchte, es hat einen merkwürdigen Beigeschmack, haha. Aber ich habe schon eine Art Gefühl von Errungenschaft. Obwohl es keine Tour gibt, bin ich nicht alleine, ich habe mein Team, ich habe meine Familie und Freunde, ich habe meine Fans, mit denen ich mittlerweile eine tolle Community aufgebaut habe und

Kevin Devine teilt in seiner Musik sehr persönliche Gefühle und auf seinen Shows sehr private Dinge. Das ist es, was die Auftritte von Kevin Devine so unglaublich besonders macht, diese Atmosphäre, die an ein Wohnzimmer mit Freunden erinnert, zufällig spielt einer von ihnen Gitarre und singt gerne, man kennt sich, man hat Jahre miteinander verbracht, man weiß, welche Krisen die Familien durchmachen mussten und mit wie vielen Mädels der Kumpel geschlafen hat, bis er sich zum ersten Mal richtig verliebte. „Oh, das ist schön, dass sich das so anfühlt! Ja, das ist schon ein großer Teil, ich denke, es kommt natürlich von meiner Persönlichkeit, aber auch daher, dass ich in Europa meistens alleine toure, alleine auf der Bühne stehe mit meiner Gitarre, und es oft sehr intime Shows sind, so von 20 bis 200 Leuten. Und ja, ich denke es gibt ein paar Menschen, auch Musiker:innen auf der Welt, die eher ‚cool‘ und unnahbar sind. Ich war nie cool. Ich rede gerne und sage alles!“ Das war schon vor der Pandemie so. Doch durch Corona verwischen mehr und mehr Grenzen. Arbeitsplatz und Lebensraum werden eins, man wacht im Bett auf, in dem man auch den Laptop aufklappt, das Album wird auf der eigenen Couch aufgenommen und auch von da aus veröffentlicht. Gibt es noch eine Grenze zwischen Person und Künstler? Kevin sucht lange nach den richtigen Worten. „Ich denke ... dies ist ein endloses Projekt, ein endloses Versuchen, die Künstlerseite so weit wie möglich fallen zu lassen, und nur noch die Person zu sein. Wahrscheinlich gibt es da Aspekte, die unmöglich sind. Also es wird immer ein bisschen Schauspielern und Performen dabei sein. Wo und wann ist man überhaupt vollständig man selbst? Auch in anderen Berufen nimmt man unterschiedliche Persönlichkeiten an und performt, je nach Situation. Also vielleicht ist man als Musiker, der seine eigenen Songs und Texte schreibt, sogar näher dran, immer man selbst zu sein, als jemand, der seine Persönlichkeit nicht in die Ausübung seines Berufes stecken muss. Oder macht man das automatisch? Ich weiß auch nicht ... niemand heilt Krebs, wenn er auf der Bühne steht. Man bringt nicht mal den Müll raus. Aber die Leute, die Krebs heilen und die den Müll rausbringen, hören selber auch Musik. Ich brauche mein Ich und mein Künstlerpersönlichkeit, um zu sein, wer ich bin, und ich brauche, die, die es hören wollen ... Jeder braucht immer alles, um existieren zu können.“ Christina Kiermayer

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