DANDY MAGAZINE #3

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Dandy Magazine

Up on Smoke

Verglühende Gegenwart

Tristesse politique Patriotische Staatsfeinde

Ausgeträumt

Sport und Gesellschaft #3 • Sommer 2010

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Geschätzte Leserschaft,

Die Polittristesse, ausgelöst durch Partei- und Wirtschaftsschergen ohne jegliches Format und Fortune, lässt auch das «Dandy Magazine» nicht unberührt. Mit spitzer Feder rechnet der weitsichtige Damniago Cunego in seinem selbstkritischen Essay «Patriotische Staatsfeinde» mit dem Status Quo Politiciensis, ergo der Realität ab, vergisst dabei aber nicht eigene Unzulänglichkeiten, wahrlich eine seltene Gabe. Fritz Senn, Sammler von Ehrendoktortiteln, James-Joyce-Fachmann und Theoretiker der Ochlokinetik, jener fröhlichen «Wissenschaft vom Menschen als einem Wesen, das den anderen grundsätzlich im Weg steht», philosophiert auf höchstem Niveau über das «Nachlachen», ein gesellschaftliches und mediales Phänomen, bei dem einem das Lachen förmlich vergeht. Der Journalist und Radsportler Walter Aeschimann übt sich in einer Fortsetzungsgeschichte in fundamentaler Sportsystemkritik. Ein heikles Thema, siegt doch auch hierzulande oft falscher Patriotismus über Fairness, Ehre, Anstand und Ethik in einer globalen Unterhaltungsmaschinerie mit von Medien geschaffenen Idolen jeglicher Couleur. Wissenschaft gilt gemeinhin als geschlossene Veranstaltung. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Artikel «Bergankunft» zeigt, dass Darwins Urenkel durchaus volksnah und süffig argumentieren können. Sie sehen also, die Lektüre des «Dandy Magazine» bildet, weil Cave quicquam dicas, nisi quod scieris optime.

Oliver Schramm

Head «Cycling Dandys Zurich»

Impressum: Herausgeber: Cycling Dandys Zurich • Dandy Magazine • Redaktion: redaktion@dandymagazine.ch • Leitung Redaktion: Martin Müller, Oliver Schramm • Autoren: Felix Traber, Walter Aeschimann, Oliver Schramm, Hans-Peter Künzler, Benjamin Breitbild, Beda Senn, Ricco Bilger, Urs Mannhart, Luciano Camnago, Mr. Fluessig, Phillipe Amrein, Viktor Bänziger, Dr. Benedikt Hyde, Silvia Brandigi • Fotos: Christian Schwarz, Kerstin Treydte, Alain Kaiser, Hervé Falch, Oliver Schramm, Ani Antunovic, Marina Schneider, Archive • Collagen: Kunsträuberei flagranti, Paul Weixler; Dino Meier, Dinografix • Design & Art Direction: The Moser Team for www.oz-artworks.com • IT und Web: Ste Ungureanu, Pixeldev Webdesign and Development • Druck: Leinebergland Druck, Alfeld (Leine) • ISSN 1663-1005. Dandy Magazine is a quarterly publication of the Cycling Dandys Zurich. Any reproduction of the magazine or part of it is only allowed under permission of the publisher. Dandy Magazine is not responsible for the content of the articles written by the contributors.

Titelbild courtesy of Brun Dandy Fashion. Foto: Susi Bodmer.

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4| heimat Patriotische Staatsfeinde 6| entertainment The Fall 10| delinquenz Der Sport… 14| city nights Christian Schwarz 18| der dandy Bin ich etwa ein Dandy? - Oder Sing mir das Lied vom Dandy 22| fortzetzungsgeschichte Alpenglühen 26| geschichte Foto von Reto Oeschger 28| schöner liegen Le Cimetière Saint-Pierre a`Marseille … 32| Kunst Die Ballade des Baglamadaki auf die Binderwelt von Jacques Furrer 34| we got the blues Heil dir Helvetia. Volksverar­ schung, wer hat’s erfunden? 36| society Von Anstandslachen 38| haute coiffure Wo sich der ethisch stabile Dandy im Ausland pflegen lässt? 40| wissen Bergankunft 42| fluessig iis-chalt 44| up on smoke Verglühende Gegenwart 46| Prosa DJs tanzen nicht 48| literatur Eine Reise fürs Leben: Hans dampf nach Afri - od Capverdiko 50| printmedien Die “Brigitte” für Männliche Leser

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Patriotische S Von Luciano Camnago

In jedem Staatsbürger schlummert ein kleiner Anarchist. Vielleicht haben wir uns nie richtig damit abgefunden, dass wir nicht mehr in einem kleinen Verband von umherschweifenden Jägern und Sammlern leben, wo uns niemand etwas zu reglementieren hat. In der Pubertät wurde mancher nachhaltig geprägt von der ständigen Angst vor Polizeikontrollen, wegen des frisierten Töfflis oder dem Haschisch in der Tasche, oder unerlaubtem Alkoholkonsum – und wie alt war wohl das kleine Schätzchen, mit dem man beim Herumschmusen etwas zu weit gegangen war? Hier bahnte sich wohl bei manchem langsam die paranoide Vorstellung an, der Schnüffelstaat könnte einen auch noch beim Wichsen erwischen, und es entwickelte sich eine instinktive Abneigung gegen alle Vertreter der Staatsmacht. Man identifizierte sich lieber mit Robin Hood, Piraten oder Zorro – angebliche Kämpfer gegen die Unterdrückung, wie auch der offiziell anerkannte Wilhelm Tell. Linke und Aussteiger Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber dem Staat waren seit je her die Domäne der Linken. Die letzten spektakulären Vertreter dieser Haltung waren die Punks: Mit ‚Anarchy in the U.K’. kreierten die Sex Pistols die Hymne dazu, und die 80er-Bewegung in Zürich zog nach mit dem Spruch ‚Macht aus dem Staat Gurkensalat’. Dem waren die Hippies und die 68er-Bewegung vorangegangen, die sich einfach nur aus der Industriegesellschaft ausklinken wollten. Leute, die sich mit der eigenen Familie und Verwandtschaft völlig verkracht hatten, sehnten sich erstaunlicherweise nach den einfachen Strukturen von Stammesgesellschaften,

die nur auf die Verwandtschaft aufbauen. Es entstand ein grosses Interesse an egalitären Gesellschaftsformen, die man bei indigenen Völkern zu finden vermeinte. Es gab Stadt-Indianer, die im Grossstadt-Dschungel ein unabhängiges Leben führen wollten. Diese Welle von Ablehnung der Ordnung von modernen Industriegesellschaften hat sich stetig ausgebreitet und ist schon lange aus der linken Subkultur ausgebrochen. Inzwischen ist sie auch bei den klassischen Stützen unseres Staates, den bürgerlichen Parteien, angekommen. Das Kunststück der SVP Die SVP hat nun am geschicktesten reagiert und kann die Staatsverdrossenheit von immer weiteren Kreisen für sich nutzen. Sie vollbringt dabei immer wieder das ideologische Kunststück, patriotische und staatsfeindliche Bauchgefühle gleichzeitig bei ihren Anhängern anzusprechen. Das gelingt ihr mit zwei Fiktionen, die den Widerspruch vernebeln: die eine ist die Vorstellung vom Schweizervolk (quasi die Indianer) und die andere die Idee von der Politikerklasse (die Nachfahren von Gessler). Das Fiktive daran ist, dass diese beiden nichts miteinander zu tun haben sollen. So kann jeder SVP-Wähler seine staatsfeindlichen Gefühle ausleben und sich gleichzeitig immer noch als treuer Bewahrer des Vaterlands fühlen.

gen an ihre rebellischen Zeiten hervorrufen. Während die ‚Linken und Netten’ von heute diese Sachen einfach vergessen haben, repetiert sie Mörgeli wie ein Zwangsneurotiker wieder und wieder und verdeckt seine heimliche Faszination damit, dass er dieses Gedankengut zu bekämpfen vorgibt. Er kämpft aber gegen Windmühlen aus der Vergangenheit, während beim Zuschauer noch archaischere Reaktionen zum Durchbruch kommen. Wenn er mit seinem Bambi-Blick und der zustimmungserheischenden weichgespülten Softistimme seine immergleichen Sprüche rauslässt, möchte man ihm entweder über den Kopf streichen oder ihn verhauen. Und unversehens sind wir mit unseren eigenen Abgründen konfrontiert: Wir sind ja gar nicht die Kämpfer für die Schwachen und Benachteiligten (diese würden ihn streicheln wollen), sondern auch nur Radaubrüder, die einen Sonderling verprügeln wollen. Linke Randalierer würden sich selbstverständlich damit rechtfertigen, dass er die Haue für seine unsäglichen politischen Aussagen verdient habe. Aber wer ist denn da für die Prügelstrafe? Wir merken, dass der Impuls nicht vom politischen Bewusstsein kommt, sondern von ganz tief unten, wir sind ja gar nicht so lieb und so nett! Das macht uns Angst, und deswegen halten viele Mörgeli für gefährlich: er mobilisiert den Faschisten in uns, er bringt unsere zivilisierte Fassade zum Einsturz! Bockende Bürger Während SVP-Exponenten mit staatsfeindlichen Parolen die heutigen Linken – die ehemaligen Staatsfeinde – verärgern, punkten sie damit aber offensichtlich in immer weiteren bürgerlichen

Ein Erbe der Linken Besonders faszinierend sind in diesem Zusammenhang die Medienauftritte von Christoph Mörgeli, dem angeblichen Chef-Ideologen der Zürcher SVP. Wie ein linker Kampfroboter mit einer Fehlprogrammierung hausiert er mit uralten linken Sprüchen, die bei ehemaligen Revoluzzern leicht peinliche Erinnerun-

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e Staatsfeinde Kreisen. Wie kommt das? Eine banale Erklärung dafür ist, dass die Linke inzwischen zu einem Teil des Staats geworden ist (auf dem langen Marsch durch die Institutionen) und eben weiterhin von ihren alten Gegnern ganz normal bekämpft wird. Der Staat ist aber nicht nur von den Linken unterwandert worden, er hat sich auch sonst radikal verändert. In den guten alten Zeiten (als die Bürgerlichen noch unangefochten am Ruder waren) hatte ein freisinniger Politiker aus gutem Haus und mit einer guten Allgemeinbildung (städtisches Gymnasium und vielleicht Jus-Studium) ein Amt inne. Die Beamten, die ihm unterstanden, waren simple Bürolisten mit einer weniger fundierten Allgemeinbildung. Wenn sie mal selbständig etwas schreiben mussten, korrigierte ihnen der Chef die Grammatik und die Orthographie und formulierte alle Sätze um. Das hatte er gelernt! Heute gibt es in der Verwaltung überall Datenbank-Spezialisten, GIS-Experten und Kommunikationsprofis, die die Texte für den Chef schreiben. Da gibt es nichts mehr zu korrigieren für einen noch so gebildeten Laien! Die Experten orientieren sich an eigenen Autoritäten: wissenschaftliche Gremien, internationale Kommissionen, Fachverbände. Die Bildungsbürger haben die Kontrolle über die Experten verloren. Es wird ihnen unheimlich in ihrer Abhängigkeit, und langsam beginnen sie zu rebellieren, aber nicht bewusst, sondern aus einem Bauchgefühl heraus! Zusammen mit Schwarzfahrern, Haschrauchern, Sprayern, Randalierern, Chaoten und Hooligans opponieren die verunsicherten Bildungsbürger gegen die Fachleute in Verwaltung und Institutionen. Willkommen im Club! D

Robin Hood in der Nähe vom Bucheggplatz

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Mark E. Smith gilt gemeinhin als eine der letzten Bastionen «klassischer» britischer Undergroundkultur: ein Mann, der sich nicht beugen lässt – weder vom Publikum, das seine Platten nicht kauft, noch von Bandmitgliedern, die bei seiner unbändigen Kreativitätslust und wohl auch bei seinem unberechenbaren Alltagsverhalten nicht mehr mithalten können. Der Werdegang von The Fall zieht eine wilde Zickzackfährte durchs Unterholz der englischen Post-Rockgeschichte. Nein, The Fall waren nie eine Punkband (wer’s behauptet, riskiert eine Faust ins Auge). Schon eher war The Fall ein Dichter, der seine Reime von einer Kombination von Velvet Underground und Link Wray vorwärtstreiben liess. Dabei ist Mark E. Smith Experimenten in keiner Weise abgeneigt. So tat er sich in den 80er-Jahren mit dem Tänzer Michael Clarke und dem Gesamtkunstwerk Leigh Bowery zusammen, um das «Ballett» «I Am Kurious Oranj» zu schaffen. Er schrieb das eigenwillige Theaterwerk «Hey, Luciani» über die diversen Verschwörungstheorien, die den plötzlichen Tod von Papst John Paul I umrankten. Unlängst nahm er mit den deutschen Elektronika-Pionieren Mouse on Mars ein Album auf, das unter dem Gruppennahmen Von Sudenfed veröffentlicht wurde. Dabei aber sind The Fall immer eine der druckvollsten Rock’n’Roll-Bands von England geblieben. Geblieben sind auch der unverwechselbare Deklamationsstil von Mark E. Smith und seine Stream-of-consciousness-Texte, die es schaffen, Surrealität mit sarkasmustriefender Sozialkritik zu kombinieren. Das war beim ersten Album nicht anders als bei achtundzwanzigsten. Dieses heisst «Your Future Our Clutter».

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Kindern die Zukunft mit dem Müll, den wir heute produzieren? Der Titel soll verwirren. Ich selber begreife ihn auch nicht recht. Gut so. Ich erinnere mich daran, wie ich drauf kam. Vor zwei Jahren spielten wir in Belfast. Nach dem Konzert kamen wir auf die Strasse raus und sahen überall die Plakate von einer Bank mit dem Slogan «our equity is your future». What the fuck is that about? Ich erinnere mich, wie ich zum Bassisten sagte: »What the fuck does that mean?” Du wirst dafür bezahlen, dass wir reich sind? Und dann ist genau dieser Sachverhalt ziemlich wahr geworden. Sowas wird wohl für jemanden, für den Englisch nicht die Muttersprache ist, eher verwirrend wirken, oder?

Es ist Nachmittag um drei Uhr. Wir treffen uns in einer Hotelbar in Kensington. Mark E. Smith erscheint mit seiner Angetrauten, der griechischen Keyboarderin Eleni Poulou, die seit Jahren auch zur Band gehört. Smith ist nicht mehr ganz nüchtern, dabei äusserst umgänglich, immer wieder zieht ein breites Grinsen über sein Gesicht. Zum Anfang des Interviews bestellt er sich zwei Bier. Etwas später bringt ihm seine Frau noch einen Dreifach-Whiskey. Wie gehen Sie die Arbeit an einem neuen Album ab? Setzen Sie sich hin und überlegen sich, was Sie diesmal anders machen wollen? Ich habe ziemlich genau im Kopf, was ich mit einem Album machen will, bevor ich damit anfange. Von da an geht es einfach darum, mit den Aufnahmen loszulegen. Ich neige dazu, am Anfang zu beginnen. Songs und Melodien

habe ich eh immer genug. Wenn wir ins Studio gehen, ist die Musik etwa zu drei Vierteln vorbereitet. Der Rest wird improvisiert. Sie sind unglaublich arbeitsam. Wie gelangen Sie zur Entscheidung, dass der Zeitpunkt gekommen ist, ein neues Album einzuspielen? Ich bin jederzeit bereit, ein neues Album aufzunehmen. Diesmal hat sich die Sache verzögert, weil ich mir einen Hüftbruch zuzog und im Rollstuhl sass. Das hat uns nicht gehindert, Konzerte zu geben. Aber das Studio wurde verschoben. Statt im Februar fingen wir im fucking April an. Neun Monate für ein Album, das ist für The Fall sehr lang. Klingt nach nichts, aber für mich war’s ein ziemliches Ding. Der Titel ist ziemlich mysteriös. Die Interpretation hängt von der Betonung ab. Ist die Zukunft deswegen voll von Gerümpel, weil wir uns zu viele Sorgen um die Zukunft machen und uns dadurch die Gegenwart verstellen lassen? Oder versperren wir unseren

Naja, ich spreche zwar nach all den Jahren in London ziemlich gut englisch. Aber als Teenager hörte ich jahrelang Musik, ohne die englischen Texte zu verstehen. Ich nahm die Songs einzig und allein als Klang wahr. So ist das letztlich geblieben. Es geht Wochen wenn nicht sogar Monate, bis ich bei einem neuen Album über den Klang hinweg zu den Worten gelange. Das finde ich echt interessant. Das ist es genau, was uns an die Musik bindet. Als ich 15, 16 Jahre alt war, habe ich mich gar nicht besonders für Musik interessiert. Ausserdem lebte ich in einer nahezu analphabetischen Umgebung. Wahrscheinlich haben Sie mit 17 Jahren besser englisch gesprochen als die meisten meiner Freunde. Mir hat damals fast nur Soul gefallen und Ska. Und dann noch diese deutsche Gruppe, Can. Ich verstand kein Wort, und trotzdem hat mich die Musik gepackt. Dabei hat Damo Suzuki englisch gesungen! Ich weiss! Grossartig. Die Musik ist die Hauptsache. Gibt es in den Texten vom neuen Album einen thematisch roten Faden? Den gibt es schon, würde ich sagen. Allerdings bin ich ihm selber noch nicht ganz auf die Schliche gekommen. Aber ich glaube schon, dass es ihn gibt. Deswegen mühe ich mich auch endlos mit verschiedenen Reihenfolgen der Lieder ab. Und deswegen sind die Sammelalben von The Fall auch nie richtig befriedigend, denn andere Leute reihen einfach Song an Song. Bestimmt gibt es auf dem neuen Album einen thematisch roten Faden – auch wenn ich ihn nicht erkenne, und auch die Band nicht.

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ist. Nichts gegen Kinder, aber Sie verstehen schon. Verhilft Ihnen das Schreiben von Texten zu neuen Erkenntnissen über sich selber? Nein. Dient der Schreibprozess dazu, Meinungen und Perspektiven zu erkennen und auszuformulieren? Das könnte ich auch nicht sagen, nein. Es ist einfach fucking Arbeit. Die Hauptsache ist mir sowieso die Musik. Die Worte müssen sich nach der Musik richten. Es wäre reine Zeitverschwendung, clevere Worte zu Musik zu setzen, die blosser Unrat wäre. Das wäre weder der Band noch irgendjemand anders gegenüber fair. Das bedeutet, dass ich viel mehr Zeit auf die Musik verwende als auf die Worte. Das ist ziemlich ironisch, da mich ja die meisten Leute für einen «lyric man» halten. Ein bisschen wie im Fussball. Mittelmässige Spieler müssen sich intensiver mit ihrem Spiel befassen, damit sie besser werden. Darum geben mittelmässige Spieler oft sehr gute Trainer ab. Sie haben schon immer genauer und länger über ihre Methoden nachdenken müssen. Das ist sehr richtig. Sehr richtig! Genau – einer, der kein richtiger Musiker ist, muss sich mehr Mühe geben beim Musikmachen. Apropos Fussball – Sie sind ein lebenslanger Manchester-city-Supporter. Was halten Sie davon, dass Ihr Klub nun plötzlich der reichste Klub in England ist? Ich finde es lustig. Vor noch nicht so langer Zeit galt City als Abschaum des Nordens. Sie dürfen nicht vergessen, dass es im Umkreis von vierzig Minuten im Auto von da, wo ich wohne – Prestwich – acht grössere Fussball-Klubs gibt. Von denen war City immer am knappsten bei Kasse. Bolton Wanderers hatten mehr Kohle als wir. In den 60er- und 70er-Jahren hatte sogar Stockport County mehr Geld als wir. City plötzlich der reichste Klub – dafür gibt’s echt keinen Vergleich. Aber ich bin seit fünfzehn Jahren nicht mehr an einen Match gegangen. Früher war Fussball ganz ein WorkingClass-Sport. Fühlen Sie sich bestohlen, jetzt, wo der Mittelstand den Sport übernommen hat? In gewisser Weise schon. Aber ich kann mir den Gedanken nicht verkneifen, dass Fussball letztlich etwas für Kinder

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Sie gehen also nicht mit dem legendä­ ren Liverpool-Trainer Bill Shankly einig, der meinte, im Fussball gehe es nicht bloss um Leben und Tod, Fussball sei wichtiger? Oh nein, ganz und gar nicht. In meinen Augen ist Sport für viele Männer ein Weg, sich von den Realitäten des Lebens abzukehren. Früher habe ich die Sache sehr ernst genommen. Die Gewalt rund um Fussball hat mich fasziniert. Und noch in den 80er-Jahren wollte kein Rockmusiker über Fussball reden. Ich erinnere mich genau. 1985 wollte weder die Indie-Szene noch die Punkszene irgendetwas mit Soc­ cer zu tun haben. Und jetzt tönen sie alle «mein Team ist Chelsea!» und so. Fucking hell, was ist denn hier passiert? Na ja, eine schlechte Sache ist’s nicht, denn es hat den Sport wohlhabender gemacht. Angesichts der Tatsache, dass Pre­ mier-League-Fussball vom Mittelstand aufgesogen worden ist, stellen sich zwei Fragen. Erstens:Wovor will der Mittelstand flüchten? Und zweitens: Wohin flüchtet die Working Class, wenn der Fussball weg ist? Tatsächlich, das sind interessante Fragen. Naja, viele Kids aus dem Arbeiterstand werden wohl zu den alten Zeitvertrieben zurückkehren. Rumreisen. Die Welt sehen. Kriminalität halt. Eine der ganz wenigen guten Publikationen, die ich noch finden kann, ist «When Saturday Come», das Soccer-Magazin. Ein bemerkenswertes Heft, denn darin geht es, wie es mir scheint, mehr um die Zuschauer als um die Spieler. Ausserdem gibt es Berichte aus der ganzen Welt darüber, wie Fussball mit der Umwelt zusammenspielt. In jedem Land ist es anders. Mir ist der Humor von WSC sympathisch. Da wird mit der ganzen Passion eines lebenslangen Fans über einen Klub in der fünften Division reportiert – aber immer schimmert das Bewusstsein durch, dass man sich der leichten Lächerlichkeit des Unterfangens vollkommen bewusst ist. Und dabei wird viel mehr ausgesagt über das heutige Grossbritannien, als es jeder endlos lange Artikel in der Times über den Zustand der Nation

fertigbringt. Ganz zu schweigen von den Parlamentariern mit ihren Reden. Fussball ist zur Geldmaschine geworden. Genauso wie die Pubs – mehr und mehr hören sie auf, Orte des Zusammentreffens und des Austausches zu sein. Die Musik wird so laut gemacht, dass man nur noch saufen kann dort drin… Das ist gut, dass Sie das sehen können. Sie sind ein Beobachter. Die kuriose Sache mit den Briten ist die: sie sehen es nicht. Sie erfassen nicht, was da verloren geht. Dieses ganze Rauchverbot in den Pubs. Typisch britisch. Man hat’s einfach akzeptiert. Ich sage es, seit ich zwanzig Jahre alt bin: In England nimmt man die schlechten Seiten von Amerika und die schlechten Seiten von Europa, man ignoriert die guten Seiten von Amerika und die guten Seiten von Europa. Letzthin sitze ich mit einem alten Kumpel, den ich seit zehn Jahren nicht gesehen habe, in einem Pub, den ich besuche, seit ich siebzehn Jahre alt bin. Der Pub ist total leer – ausser einem Haufen blutjunger Skinheads am anderen Ende des Raumes. Draussen ist eine Affenkälte, und so denke ich mir: in die Kälte hinaus geh ich nicht, nur um eins zu rauchen. Ich rolle mir also die Zigarette, und kaum hab ich sie angezündet, kommt so ein 18-Jähriger mit breiten Schultern rübergeschlurft und sagt: «In MEINEM Pub wird nicht geraucht!» Was sagt man zu so einem Typ? «Du erfasst die Situation nicht, Freundchen! In dem Stil wird’s bald keinen Pub mehr geben!» Hätte ich sagen sollen. Dabei ist der Pub so was wie der Leim der Gesellschaft. Genauso wie der Corner Shop. Aber auch die Corner Shops weichen langsam aber sicher den anonymen Shopping Malls am Stadtrand. Statt sich Auszutauschen in dieser Alltagssituation, sitzen sie jetzt alle daheim vor dem Laptop und konsumieren amerikanische Pornos. Ja, genau so ist es! Tja, und dann sitz ich irgendwo in einem Pub, und es kommen Leute herein, setzen sich an meinem Tisch, sie haben keine Ahnung, wer The Fall ist, aber sie ahnen irgendwie, dass ich ein Songschreiber bin, den gewisse Leute schätzen, und dann geht’s los: «Sie sind ein Songschreiber, warum schreiben Sie zu dem Thema kein Lied?» Auch in London geht es mir so. Wissen Sie, was ich meine? Meine

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Antwort: «Warum the fuck sagen Sie das zu mir? Warum? Bin ich etwa Bob Geldof? Schliesslich seid ihr es, die diese Fucks ins Parlament gewählt habt! Warum geht nicht ihr hin und fucking unternehmt etwas dagegen?» Haben Sie sich jemals als politischen Songschreiber verstanden? Nein, nicht im Geringsten. Andererseits sind Sie zumindest in Grossbritannien immer als ein Mann wahrgenommen worden, der sich nicht gescheut hat, seine Meinung auszudrücken – und diese Meinung war auf politischer Ebene oft ziemlich brisant. Jedes Album reflektiert die Umgebung und die Zeit, in der es entstanden ist. Das klingt pompös. Aber es ist schon so, ein Album soll das Geschehen reflektieren. Andererseits tut es dies natürlich nie wirklich. Ist ein Album eine Seite aus dem Tagebuch in Ihrem Kopf? Ja, ja, ja. Und es muss der Sound der Zeit sein, wissen Sie. Viel Musik ist out of touch. Viel populäre Musik hat keinerlei Kontakt mit dem, was in der Gesellschaft gerade vor sich geht. Was hören Sie daheim? Gibt’s etwas, was Sie gerade besonders gut finden? Ich hab doch keine Zeit zum Radiohören! Aber gestern Morgen um neun Uhr sass ich im Bahnhof in Manchester und wartete auf den Zug. Ich ging in die Bar und trank ein Bier. Sonst war keiner da, und darum hat der Barmann wohl die Musik aufgelegt, die ihm gefiel. Und die war echt grossartig. Techno, fucking great, ehrlich! Ich hab ihn gefragt, was das sei, und er hat gesagt: «Eines von meinen Tapes». War wohl ein Kumpel, der daheim die Musik macht. Dann sind andere Leute reingekommen, und sogleich hat er die Musik gewechselt. Musik als Mittel zur Sozialkontrolle. Hier wird eine bestimmte Musik abgespielt, um den Konsum anzuregen. In einigen U-Bahnstationen in London lässt man klassische Musik erklingen, weil die so uncool ist, dass sich die Kids und damit die «Muggers» nie und nimmer dort aufhalten würden. Was, wirklich?! (brüllt vor Lachen) Das ist ja unglaublich. Ich hab davon gehört,

dass man in den USA U2 und Spring­ steen spielt, um Kids zu vertreiben. Aber klassische Musik, das glaub ich ja nicht! Schon erstaunlich – hundertzwanzig Jahre später wirkt Tschaikowski auf Teenager so provokativ, dass sie es in der Präsenz seiner Musik nicht aushalten können. Nicht zum Glauben! In Salford, Manchester, wäre das ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn da im Bus klassische Musik abgespielt würde, würden sie den Bus glatt abfackeln. Das ist halt der Unterschied zwischen London und Manchester. Wie sieht eigentlich Ihr Tagesablauf aus? Ob Sie’s glauben oder nicht, aber ich stehe meistens so um halb acht Uhr auf. Keine Ahnung, wieso. Sogar wenn ich sehr spät zu Bett gehe, sogar auf Tournee,

wenn man bis drei oder vier Uhr verhockt ist, sogar dann stehe ich um halb acht Uhr auf. Meistens fange ich um neun Uhr mit Schreiben an. Wenn da nichts rauskommt – well, dann gehe ich entweder wieder ins Bett, oder ich wasche ab, oder ich räume auf. Meiner Meinung nach ist es ausserordentlich wichtig, dass man am Morgen zum Nachdenken kommt, selbst wenn man sehr, sehr müde ist. Und dann, so etwa um die Mittagszeit – nicht, dass dies eine regelmässige Sache wäre – nimmt man vielleicht eine Dusche. So um vierzehn Uhr herum gehe ich dann langsam auf die Leute los. Per TelefonBusiness. Ich bin nicht schlecht mit Businessangelegenheiten. Dann genehmige ich mir einen Drink. Und dann genehmige ich mir noch einen Drink.D The Fall, «Your Future Our Clutter» (Domino Records)

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Der Sport … Es ist kaum mehr anzunehmen, dass im wirklich existierenden Sportsystem die Grundstrukturen noch integer sind. Wahrscheinlicher ist doch wohl, dass sie durch und durch verludert sind. Vielleicht ist alles noch viel schlimmer und die bedenklichen Notizen aus der Welt des Sports, die uns täglich zugetragen werden, sind nur die allerletzten Zuckungen eines in der Agonie gefangenen Sportgebildes. Von Walter Aeschimann Illustrationen von Monica Moser Die Behauptung gehört inzwischen ins gängige Repertoire der axiomatischen Stammtischphrasen: Der Sport widerspiegelt nur jene Auswüchse, die in der Gesellschaft gang und gäbe sind. Dabei könnte genauso gut das Gegenteil ein Ansatz sein. Sucht man Kronzeugen für dieses gegenläufige Konzept, stösst man unweigerlich auf Gunther Gebauer, Professor für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin. Seine These lautet: Am Sport kann man zuerst erkennen, wie sich die Gesellschaft entwickeln wird. Ihren Anfang genommen hat die Versportung der Gesellschaft mit der Industrialisierung. Sie brauchte einen neuen Typus Mensch, der für den repetitiven Einsatz im Räderwerk des industriellen Fliessbands taugte. Neue, sportive Bewegungsmuster lieferten die automatisierten Vorlagen für den industriellen Arbeitsmenschen. Es waren nicht mehr fliessende Gesamtfiguren, wie im höfischen Tanz, sondern mechanisierte Bewegungsmuster, zerlegt in Einzelteile und eingeübt mit einem Höchstmass an Askese und Selbstkasteiung. Sport als gesteigerte Arbeit sozusagen. Es entstanden aus heutiger Sicht scheinbar so banale Kategorien wie Wettkampf und Konkurrenz, wie Niederlagen oder Rekordbilanzen, Begriffe, ohne die heute eine Gesellschaft kaum noch zu charakterisieren wäre. Inzwischen ist der Sport auch längst über Sprache und Mode in den gesellschaftlichen Alltag eingedrungen. Als Kurt Cobain und andere Bands begannen, auf der Bühne in sportlichen Outfits loszustampfen, liessen sie sich von den Popstars aus der Welt des Sports inspirieren. Auf Maui, am Strand von Hookipa, wurde schon gesurft, bevor man online war im Internet. Das Handtuch wirft heute, wer gescheitert ist, auch wenn er nicht Betreuer eines Boxers ist, der zu Boden ging. Wer vom Vorgesetzten die Rote Karte bekommen hat, weil er zu viele Fouls beging, ist nicht unbedingt ein

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Fussballspieler. Und der Vorgesetzte ist in der Regel nicht als Schiedsrichter unterwegs. Die ersten Streetskater in Kalifornien waren in den 60erJahren auch jene, die den öffentlichen Raum zurückeroberten, als Protest gegen die Verdrängung durch den automatisierten Verkehr. Die Strassen, sagten sich die jungen Kids, gehören auch uns. Seither waren Treppen, öffentliche Parks und Bänke, Geländer oder Bordsteinkanten nicht mehr sicher vor deren Tricks. Streetskaten als Vorläufer einer weltweiten Umnutzung urbaner Nicht-Orte in sportliche Tummelfelder. Mitte der 90er-Jahre schrieb sich die Bewegung Reclaim The Streets (RTS) die Rückeroberung des öffentlichen Raumes als politische Parole auf ihre Fahne. RTS ist heute noch aktiv, wie in Zürich Anfang Februar 2010. Als ästhetisches Widerstands- und Erkennunszeichen trugen die urbanen Bewegungsakrobaten Kleider in XXXL-Format. Heute ist der kleidermodische Schlabberlook selbst in die Haute Couture eingedrungen. Parallel wurde die sportliche Avantgarde wie Streetball, Streetsoccer oder Breakdance als Bestandteil der sportlichen Wettkampf- oder Jugendkultur gesellschaftlich domestiziert. Wohl noch nicht so weit fortgeschritten wie die Versportung der Gesellschaft über Bewegung, Sprache oder Mode ist jene über die Chemie. Was die Gesellschaft hier erwarten könnte, zeigen tragische Beispiele aus dem Radrennsport. Im letzten Herbst erreichte uns die Meldung vom Tod des belgischen Radrennfahrers Frank Vandenbroucke (34). Der leblose Körper war am 12. Oktober 2009 in einem Hotelzimmer an der Petite-Côte in Senegal aufgefunden worden. Die Autopsie förderte eine doppelte Lungenembolie zutage und zahlreiche Spuren von Injektionen. «Wir betrachten ihn als Drogenabhängigen», sagte der zuständige Staatsanwalt. Man dachte sofort an den einstigen Tour-de-France-Sieger Marco Pantani, der am 14. Februar 2004 mit 34 Jahren in einem Hotel in Rimini verendete, laut Autopsie-Bericht an einer Überdosis Kokain. Sie starben einsam und depressiv, körperlich und psychisch zu Grunde gerichtet schon vor dem Siechtum, nachdem sie eine Sportlerkarriere lang alle Arzneien gekostet hatten, die erst Erfolg versprachen und später wohl nur das reine Überleben sicherten. Beide nahmen Pharmazien, die wirksam kaum an Mäusen getestet waren, und pumpten so viel Chemie in ihre Körper, die ein Organismus gerade noch ertragen konnte. Zuletzt dann halt zu viel. Die Chemisierung des Sports begann im 19. Jahrhundert, vorerst mit aufputschenden Mitteln im Pferdesport. Das Pferd wurde gedopt, um zu gewinnen oder zu verlieren. Wer davon Kenntnis hatte, tätigte den entsprechenden Wetteinsatz. Der erste offizielle Dopingfall im Radrennsport geht auf das Jahr 1860 zurück. Ein Radrennfahrer gab Äther auf einen Würfelzucker. Seit 1860 sind Mischungen mit Kokain und Morphium üblich. Später gab es entsprechende Portionen auf der Basis von Alkohol. Um 1920 wurde die Chemisierung wohl flächendeckend. Erst über staatlich geförderte und individuell angepasste Programme in West und Ost bis hin zum heute gängigen System – einer Mischung aus staatlicher Förderung und privatwirtschaftlicher Initiative, vornehmlich im Untergrund und der Halbwelt angesiedelt.

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Drogensüchtige Hochleistungsautomaten Wie weit diese Praktiken in die Gesellschaft eingedrungen sind, lässt sich vorerst nur erahnen. «Hirndoping» unter gestressten Studierenden ist unterdessen wohl die Regel. An Universitäten, im Banken- und IT-Business oder auf Redaktionen ist der Griff zu «Neuroverstärkern» zur Erweiterung der Hirnkompetenz nichts Aussergewöhnliches mehr. Gut möglich, dass bald schon Labors aus dem Untergrund den geistigen AthletInnen massgeschneiderte Dopingprogramme bieten, wie das Balco-Labor in Kalifornien, Human-Plasma in Wien oder Mediziner wie Michele Ferrari und Eufemiano Fuentes es für SpitzensportlerInnen taten. Vielleicht wirken in Banken oder an Unis bald auch jene Freaks, die heute im Sport die Regel sind: drogensüchtige Hochleistungsautomaten in einer völlig «überdrehten Szene», in der zählt, ob das «Ego durchsetzungsfähig ist und welche marktkompatiblen Fähigkeiten sonst auszuschlachten wären» (Süddeutsche Zeitung); merkantile Körperroboter, bei denen nicht die reine Leistungsfähigkeit zählt, sondern nur die Dopingtoleranz des Körpers; Hasardeure, die als austauschbare Marionetten das Getriebe einer gigantischen Wirtschaftsmaschinerie schmieren. Wir sprechen von einem Sportsystem, das ohne Einbettung in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien nicht mehr denkbar ist, von einem Organismus, der ein Massenpublikum erreicht und sich eine Parallelwelt mit einer eigenen Sportgerichtsbarkeit geschaffen hat. Wir reden von Betrie-

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ben, die ihren Milliardenumsatz nicht allein über den Werbemarkt, den Verkauf von Trikots und Sitzplatztickets erzielen, sondern über eine weit verzweigte Schattenwirtschaft. Allein im Dopingmarkt werden weltweit jährlich geschätzte 15 Milliarden Schweizer Franken umgesetzt. Mehr als 3,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts der Europäischen Union werden über den Sport erzeugt. Die Wertschöpfung der Sportindustrie in Deutschland, der Schweiz und Österreich liegt im Bereich der Nahrungsmittel-, Getränkeoder Tabakindustrie. In der Schweiz ist die wirtschaftliche Bedeutung des Sports vergleichbar mit der Maschinenindustrie, weit bedeutsamer etwa als die Chemie-, Pharma- oder Uhrenindustrie. Dies ist einer Studie des Bundesamts für Sport aus dem Jahre 2007 zu entnehmen. Wir sprechen von sportlichen AkteurInnen, bei denen Doping und dessen öffentliche Verleugnung zum täglichen Geschäft gehört. Und wir reden von Schiedsrichtern, die bestochen werden, von gekauften PolitikerInnen, Funktionären, Wissenschaftlern und Olympischen Spielen. Die üblen Kunden aus dem Sumpf des Wettbetriebs im Fussballwesen sind in ihrer wahren Tiefe noch gar nicht abschätzbar. Aber nach wie vor wird jedes sportliche Tun durch das moralische Fundament des Fairplay abgestützt. «Subversive Untergrundmoral» Früher war der Spagat zwischen realer Sportwelt und öffentlicher Moral noch bequemer. Spätestens seit der Sport an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen hat und medial in jeder Einzelheit und Echtzeit verbreitet wird, braucht es im Bereich der Vorspielung höhere Kompetenzen. Wer heute in der öffentlichen und der parallelen Welt des Sports agiert, muss nicht nur sportive Bewegungspraktiken intus haben. Er muss auch zu einem Typus Mensch mit neuer innerer Struktur mutieren. «Subversive Untergrundmoral» nennt der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette diese irre Widersprüchlichkeit von Schein und Sein. Wer noch regeltreu Spitzensport betreibe, gelte als naiv. Wer im Sportbetrieb betrüge, handle diesem Untergrundkodex gemäss normal. Dies habe zu einer «Entkoppelung von Reden und Tun», letztlich zu einer «Bigotterie» der SportlerInnen, der Verbände, der Wissenschafter oder der Vertreter aus Wirtschaft und Politik geführt. Über allem ruht die Drohkulisse des Publikums mit seiner Erwartungshaltung nach Spektakel und fairem Sport. Der Regelverstoss Thierry Henrys im entscheidenden WMQualifikationsspiel gegen Irland im November 2009 gilt dabei nicht einmal als exemplarisch. Erst stoppte der Franzose den Ball mit der Hand, dann legte er ihn mit der Hand auch noch auf den Fuss und spielte den Pass, der zum Siegestor und zur Fussball-WM 2010 führte. So etwas gilt mittlerweile als Kavaliersdelikt. Selbst FIFA-Präsident Sepp Blatter machte sich über die Proteste der Iren lustig. Henry leugnete nicht einmal, was er tat. Auch die rituelle Unschuldsmimik nach einer Regelwidrigkeit, die zum Standardrepertoire eines jeden

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Fussballprofi zählt, ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang. Am deutlichsten wird die Bigotterie am Phänomen des Dopings. Doping ist wohl unbestritten und objektiv gesehen ein integraler Bestandteil des realen Sportsystems. Der sportliche Kodex des Fairplay, in der Gesellschaft mit moralischen Kategorien angereichert und überhöht, verhindert aber, dass diese Praxis offen eingestanden wird – selbst dann, wenn im Labor das kontrollierte Wässerchen chemisch trüb, der Blutwert manipuliert und abnormal befunden worden sind oder das Vergehen schon aktenkundig ist. Die Negation der positiven Laboranalyse nimmt dann bisweilen absurde Formen an: Das Clenbuterol war für den Hund, der an Asthma leidet (Frank Vandenbroucke, Radrennfahrer); das Hackfleisch in der Spaghettisauce kam von hormonverseuchten Rindern (Lenny Paul, Bobfahrer); die Mutter schickte Bonbons aus Peru, die in Kokablättern eingewickelt waren (Gilberto Simoni, Radrennfahrer). Die deutsche Eisschnellläuferin Claudia Pechstein bekämpft bis heute durch alle juristischen Instanzen den Befund des Internationalen Eislaufverbandes. Der sperrte die mehrfache Welt- und Olympiasiegerin, weil ihr Blut just vor Wettkampfbeginn jeweils ungewöhnliche Veränderungen aufgewiesen hatte. Sie ist die erste Athletin, die auf Grund von indirekten Beweisen ein Berufsverbot erhalten hat. Fachleute streiten nach wie vor, ob die Werte genetisch erklärbar oder medizinisch gepimpt worden sind.

sen und Blutkontrollen im Kampf gegen Doping. Partner ist unter anderem der weltweit grösste Biotechnologiekonzern Amgen – jener Konzern, der EPO erfunden hat und Mehr­ etappenrennen im Profiradsport sponsert. Wer in seiner sportlich aktiven Zeit systemkonform durchund dichtgehalten hat, wird später aufgenommen. Gestählt durch diese Sozialisation, sind es viele ehemalige SpitzensportlerInnen, die im Apparat als Trainer, Funktionäre, Wissenschaftlerinnen, Richter oder JournalistInnen wichtige Ämter innehaben. Ehemalige Weltmeister berichten heute als JournalistInnen über Dopingfälle und die Sportelite, einstige Olympiasieger richten über heutige Olympiasieger, frühere Fussballprofis sind als Trainer tätig oder schlagen eine Funktionärslaufbahn ein. Warum das nicht auch andere machen könnten, ist aus fachlicher Perspektive kaum zu begründen. Das System erlaubt bis anhin nicht, dass unabhängige Experten von ausserhalb Einblick in deren Halbwelt erlangen. Das subversive Insiderwissen, im Untergrund erlernt und innerhalb der Sportfamilie tradiert, sichert bis anhin das Überleben des heute gültigen Sportsystems. Der Kampf gegen Doping oder Korruption wird in der Struktur, in der fast durchwegs Menschen mit innerer Befangenheit aktiv sind und eine unabhängige Kontrollin­ stanz fast gänzlich fehlt, nicht zu gewinnen sein. Inzucht und Selbstkontrolle sind der fatale Irrtum dieses Sportsystems. Zu behaupten, dass der Sport deshalb an sich selbst zu Grunde geht, ist nicht gewagt. Jedes gesellschaftliche System, das sich mittels Inzucht rekrutiert und kontrolliert, ist irgendwann verschwunden. Ohne Änderung des Systems steuert der Sportbetrieb auf den Abgrund zu. Kaum auszudenken sind die Folgen, wenn Gunter Gebauer mit seiner anfangs formulierten These Recht behalten sollte: Der Sport zeigt auf, was die Gesellschaft zu erwarten hat. D

Inzucht und Selbstkontrolle Für andere, die (noch) nicht mit dieser Chuzpe in der heuchlerischen Welt des Sports ausgestattet sind, kann die drohende Kulisse des Publikums zur Überforderung führen. Deutschlands Nationaltorwart Robert Enke nahm sich am 10. November 2009 mit 34 Jahren das Leben. Pantani und Vandenbroucke betäubten sich derart intensiv, bis Geist und Körper zusammenbrachen. Ehemalige Insider wie Bernhard Kohl, Patrick Sinkewitz oder Jörg Jaksche erleichterten ihr Gewissen, als sie über Teilbereiche des Radrennsports offen redeten, mit der Hoffnung, das Stigma des sauberen Sportes etwas aufzubrechen. Sie haben die Omerta, die in diesen Kreisen gilt, missachtet und wurden aus der Welt des Spitzensportes ausgestossen. Unabhängige Antidoping-Kämpfer wie der Heidelberger Molekularbiologe Werner Franke werden vom System als Fanatiker abgetan. Wenn einer wie Andre Agassi in der Autobiografie eingesteht, in seiner Karriere mehrmals das Aufputschmittel Crystal Meth konsumiert zu haben, empört das wenige, naturgemäss aber einen Boris Becker («Agassi schadet dem Tennissport»). Auf welch bigottem Terrain sich selbst scheinbar unabhängige Institutionen wie Anti-Doping Schweiz bewegen müssen, zeigt das kürzlich lancierte «Clean Water», ein Projekt mit Blutpäs-

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Christian Schwarz Der Zürcher Fotograf Christian Schwarz lebt und arbeitet im Zürcher Niederdorf. Dank seiner unermüdlichen Präsenz in diversen Lokalitäten rechts der Limmat, immer begleitet von seiner Kamera, gelingt es ihm immer wieder, Leute in nicht ganz alltäglichen Situationen bildlich in Szene zu setzen. Das «Dandy Magazine» durfte in den letzten Ausgaben einzigartige Bilder aus seinem Œuvre abdrucken. Nun liegt mit «178 Portraits» sein zweites Buch nach «Kreis 1» vor. Der Schriftsteller Martin Suter schrieb das Vorwort. Einen Auszug daraus lesen Sie im untenstehenden Text. «Die Modelle sitzen vor dem Objektiv von Christian Schwarz’ altmodischer Kamera, als hätten sie ihr normales Leben nicht unterbrochen, als wäre dieser kurze Fototermin eine ihrer vertrauten täglichen Verrichtungen. Vielleicht sind die Kamera und der Fotohintergrund die Erklärung für diese eigenartige Selbstverständlichkeit, die alle

diese Bilder gemeinsam haben. In dieser antiquierten Technik und dieser altmodischen Umgebung sind wir uns steife, hölzerne Menschen gewohnt. Aber hier lässt der Kontrast zwischen der Entspanntheit der Modelle und der Strenge der Bildsprache eine rätselhafte Unbefangenheit entstehen. Dabei befinden sich alle in einer Ausnahmesituation.

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Sie sitzen in einem Studio, sind angehalten, in die Kamera zu blicken und sich selbst zu sein und für die Dauer einer endlos scheinenden Belichtungszeit ganz still zu halten. Und sie wissen, dass der Fotograf, will sagen: der Photograph, nur einmal abdrückt, bestenfalls zweimal. Dreimal nie. Und dennoch sind sie ganz gelassen und sich selbst. Dafür habe ich keine technische Erklärung. Aber eine persönliche: Die Gelassenheit von Christian Schwarz überträgt sich auf seine Modelle.”D

Christian Schwarz, 178 Portraits, edition Stephan Witschi, 60.– ISBN 978-3-9523619-2-4

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Bin ich etwa ein Dandy? – Oder – Sing mir das Lied vom Dandy ICH ein Dandy? Maybe! Mich treibt nächtens nicht der Gedanke um, ob ich ein Dandy bin (oder war). Das Hauptmotiv für diese Zeilen ist eine Episode aus meiner frühen Jugendzeit. Also ein Souvenir, aber nicht eine Abrechnung. Doch davon hier später. Von Rolf Urs Ringger*

Jedenfalls bin ich nicht der geborene Dandy. Das Leben hat mich (schon früh) dazu gemacht. Doch Schuldzuweisungen an irgendeine Adresse wären nutzlos. Schliesslich kann man fast immer Ja oder Nein sagen. Ich habe mich (schon früh und völlig freiwillig) fürs Why not? entschieden. Zunächst etwas Allgemeineres, fast Grundsätzliches gar. Ich will’s nicht zu streng nehmen. Und gehört denn nicht zum Bild des Dandy: So strikt er in der äusseren Erscheinung sei, so locker nehme er es bei der inneren Einstellung. Doch was soll hier ein (letztlich unproduktiver) Dualismus zwischen einem Äusseren und all dem (was denn bloss sein mag) anderen? Warum soll der Dandy in unserer Vorstellung immer jung, attraktiv, geistreich, überlegen, sogar herablassend und snobistisch sein? Doch ein alternder Dandy? Damit haben wir Mühe. Ob Dandy oder nicht, wir wissen: Falten, Alter, Abhängigkeit, Zerfall, Geistesverwirrtheit gar: die Angst schlummert vom reiferen Mittelalter an zunehmend. Dazu kommt ein anderer Zweifel: Jugend – und was dazu gehört – als einzige Garantie des Selbstschutzes vor den Anfechtungen des Alters? Zu mir: Gibt’s den Dandy in der Musik? Bin ich etwa ein Musik-Dandy?

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Das Netz der Bezüge weitet sich. Der Dandy setzt sich gern ab von anderen. Gelegentlich oder eher häufig stellt er sich betont über die Umgebung. Das lässt ihn für diese nicht unbedingt ansprechend erscheinen. Doch Anrührung ist vermutlich das Letzte, was er anstrebt. Wenn schon, dann peilt er ganz konkret die anderen an: Er ist Wortführer, Richtungsgeber. Macht er seine Haltung gar zum Mass für alle anderen? Kaum! Denn er pocht doch auf seine Einzigartigkeit. Das verträgt sich schlecht mit Musik, vor allem nicht im Musikbetrieb. Was macht ein Komponist ohne die anderen? Der Maler malt, der Schreiber schreibt. Doch ohne die anderen geht’s beim Komponisten überhaupt nicht. Klar gesagt: Der Komponist braucht einen risikofreudigen Auftraggeber, zweitens: die willigen Interpreten und drittens: ein präsentes Publikum. Auf die Funktionen von Tonträgern, Medien im weitesten Sinn soll hier nicht eingegangen werden. Die ersten beiden Funktionen kann der Komponist notfalls in eigener Regie übernehmen. Doch ein Komponist, der schliesslich auf dem Konzertpodium erscheint – und ein fast leerer Saal starrt ihn an! Der grausigste Horrorfilm kann nicht bedrückender sein. Dazu braucht er kein Dandy zu sein, um dabei eine narzisstische Kränkung zu riskieren. Also: der Komponist ist zwar ein Einzelgänger – aber wiederum nicht. Er braucht die anderen: Nicht nur als Publikum mit Bewunderung oder zumindest Zustimmung. Und trifft im Musikbetrieb ein Dandy auf den Dandy? Die Prognose fällt negativ aus: Es ist kaum anders als bei Preisträgern, Primadonnen, Pultstars: ICH und nochmals ICH. Schliesslich: Das Hauptmotiv zu dieser «Erinnerung». «Dandy» war durchaus nicht nur ein persönliches Motiv in meinem Leben. Hauptsächlich zur Zeit des Dreissigjährigen. 1967/1968 weilte ich als Gast der Ford Foundation in Berlin. Da konnte ich es mir wohlergehen lassen. Eine Villa am kleinen Wannsee. Ein fixer MonatsCheck während zwölf Monaten. Das pulsierend-anregende Leben im Westberlin der späten Sechziger. Als Beleg für meine Stipendiatszeit schrieb ich das Klavierstück «Epigrammes volatiles au joueur triste de Piano». Doch geplant war für diese Zeit ein Roman: «ICH».

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Ein Vorläufer von «BefindlichkeitsLiteratur»? Nicht eigentlich. Viel eher ein Tage- und vor allem ein Werkstattbuch. Denn dieser Prosatext beschreibt minuziös sachlich vierzig Minuten im Leben eines Komponisten in Berlin. Das ist die Zeit, die der Taxifahrer braucht, um vom kleinen Wannsee Nr. 1 über die Autobahn zur Deutschen Oper an der Bismarckstrasse zu gelangen. Spannung herrscht. In dieser Zeitspanne geht dem Komponisten so manches durch den Kopf: Eine Riesenmenge an Beschreibungen, Erinnerungen, Hoffnungen, Gewichtigem und Alltäglichem. Die Zeit drängt. Den Beginn dieser Vorstellung darf er nicht verpassen. Knapp schafft er den Randplatz in der Parkettreihe vorn. Die Lichter löschen im Saal. Der Dirigent eilt zu seinem Pult. Gedämpfter Applaus. Die Scheinwerfer zum Vorhang gehen an. Das Spektakel beginnt. Es ist die Uraufführung der Oper «Der Dandy». Der Komponist rückt sich die Krawatte zurecht und schliesst die Augen. Hier hätte der «ICH»-Prosatext geendet. Doch die Handlung der Oper? Der Verlauf der Vorstellung? Die Publikumsreaktion? Das Getue bei der Nachfeier? Die Pressestimmen? Des Komponisten Seelenverfassung post festum? Alles überflüssig! Denn die ausgedehnte Hinfahrt hätte all das enthalten, was es zu reflektieren, abzuschätzen, vorauszusehen, zu befürchten oder zu erhoffen gab. Auch Dandys haben eine eigene Einbildungskraft. Weder das Prosastück noch die Oper kamen zu einem Abschluss. Skizzen,

Pläne, Ausgeschiedenes, auch einiges durchaus Brauchbares, doch Barrieren, Hemmnisse waren mannigfaltig. Ich habe den Abbruch später nie bedauert. Als Trost (oder stille Ergänzung gar) entstanden Jahre danach meine Ballette «Der Narziss», «Ikarus», «Ippolito» – alle drei Hauptgestalten sind zweifellos nicht unbelastet von dandyhaften Zügen. Es gab damals zudem einen äusserlichen Grund. Diese «ICH/Dandy»-Figur wäre in dieser Zeit nach 1967 – in Berlin, Paris, Zürich und vielerorts – bestimmtens als alles andere als zeitgeistig stimmig eingestuft worden. Wie hätte das bundesdeutsche Feuilleton aufgeheult. Kommt da einer aus der Schweiz und …! AlpenlandInnerlichkeits-Enthüllungen! Ich wäre darob nicht schlaflos geworden. Doch vor allem auch als Komponist mit einer Profession habe ich keinem Lebensalter mit masochistischen Zügen nachgehangen. Nicht ganz nebenbei: Wie wäre diese Dandy-Figur gewesen? So wie ich? Und wie war ich damals? Die Frage ist nicht mit einem Satz zu beantworten. Damals nicht und heute noch weniger. Jedenfalls: Die eindeutig dandyhafte Partitur habe ich bis jetzt nicht geschrieben. Endlich: Gibt es einen Dandyismus in der Musik? Für Literatur und bildende Kunst könnten leicht Beispiele genannt werden. Der Begriff wäre für die Musik

kompositionstechnisch und stilistisch kaum eindeutig festzumachen – wie etwa bei Impressionismus, Expressionismus, Polystilistik, Neoklassizismus und auch für die Postmoderne. Dandyhafte Züge nähme sie in der Verbindung mit einem Sprachtext an. Wollte ich ein Beispiel aus der neueren Musikgeschichte einbringen: Claude Debussys «Le Martyr de Saint Sebastien» auf den Text von Gabriele d’Annunzio. Die Erklärung in Einzelheiten könnte … nein, nicht Bände füllen, aber ausufernd werden. Postscriptum: «Sing mir das Lied vom Dandy»! – dieser Untertitel ist nicht ganz stimmig. Denn es gehört zum Wesen des Dandy, dass er nicht andere zum Singen auffordert, sondern es – wenn schon – selber tun will. Denn nichts ist ihm wichtiger als das Podium, Applaus, Scheinwerferlicht. Doch all das einem anderen überlassen – und erst noch freiwillig? Was läge für ihn näher als «Ich sing euch das Lied vom Dandy»? Aber würde er dazu nicht vollstimmig aufgefordert, die narzisstische Kränkung wäre total. D

* Publizist und Komponist, am 6.5.1935 in Zürich geboren http://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Urs_Ringger

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Alpenglühen Von K.T.Schnider. Bilder von Alain Kaiser

«Sopra la Banca la capra canta, sotto la Banca la capra crepa» Sophie sass an die Hüttenwand gelehnt und nippte an ihrem Campari Soda. Bereits fertig gemixt in ihrer grünen Thermosflasche, angenehm kühl. Ihr Sommeranfangsdrink. Sie stand auf, Becher in der Hand, schlenderte etwas talabwärts und trat unterhalb der drei Hütten − sie hatte eine allein für sich, wie sie dankbar festgestellt hatte, als sie endlich auf dem Gipfel des Berges angekommen war − an den Wegrand und lehnte an die Böschung. Vorne war der Weg mit einem Drahtseil gesichert, steil fiel dahinter die Felswand, auf der er verlief in eine tiefe, enge Schlucht ab. Aber sie brauchte nicht einmal dort hinunterzublicken, um alles, was sie unmittelbar vor sich sah, als endlosen, schwarzen Abgrund, die reine Finsternis, wahrzunehmen. Weit jenseits dieses sich gnadenlos ausdehnenden schwarzen Loches leuchteten die starren Schaumkronen des Bergmeers, übergossen von verzückend leicht rosig leuchtendem Rot. Wüsste sie es nicht besser, da sie durch die erst grüne, dann immer karger und steiniger werdende Lieblichkeit dessen, was jetzt völlige Dunkelheit war, an diesen Ort hochgestiegen war, glaubte sie, nur blickend und nicht denkend, dass tatsächlich Nichts mehr war zwischen unirdisch erscheinendem Alpenmeer und dem winzigen Weg am Abgrund. Hinter ihr drei Holzhütten, ein paar Holzbänke, strategisch in Richtung «Ausblick» platziert, darum herum müde, harte Strähnen Gras und Geröll, dahinter Felsen, die sich allmählich auch in Schwärze zu hüllen begannen. Plötzlich hörte sie Lärm. Ein lautes Röcheln, dem ein Scharren folgte, ein Poltern und Trampeln, begleitet von Lauten, die halb Gesang waren, halb Geschrei. Sie drehte sich um und sah,

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abgezeichnet gegen die Endlosigkeit des immer fahler werdenden Horizontes über, zwischen und sicherlich hinter den Hütten eine aussergewöhnlich geformte Silhouette einen kleinen Tanz aufführen – eine Tarantella? – und so schnell aus ihrem Blickfeld springen, wie sie aufgetaucht war. Es musste auch dieser – Mann? − gewesen sein, der triumphierende Schreie ausgestossen hatte, die sie am ehesten an lustigen Bocksgesang denken liessen. Sie ging mit zitternden Knien in die Hocke. Der Schatten, den sie − zwar hinter sich − gesehen hatte, schien direkt dem Abgrund vor ihr entsprungen. Tiefschwarz, der Kopf klein, darauf – ein Hut? Der Körper kompakt, die Glieder dünn. Und was war das am unteren Ende des Köpfchens gewesen, furchtbar gekrümmtes Kinn oder Bärtchen? Entschlossen leerte sie ihren Becher, stopfte ihn in die Jackentasche und begann sehr neugierig, aber vorsichtig die Böschung hochzukrabbeln anstatt auf üblichem Weg zu den Hütten, in voller Sichtweite dieser Figur, die noch irgendwo dort oben sein musste, falls sie nicht halluziniert hatte, zurückzugehen. Auf der Hälfte ihrer steinigen Kriechtour hinauf zur Kuppe, von der aus sie hoffte, ungesehen mitzubekommen, was es mit dieser Gestalt auf sich haben könnte, hörte sie Stimmen. Zwei. Die eine etwas höher als die andere − «Trotzdem nicht weiblich», dachte sie − und mit einer Intonation, als läge hinter jeder Silbe ein stossweises, kleines Lachen. Die andere Stimme: Eindeutig ein Mann, ruhig, er sprach langsam, etwas müde oder auch nur entspannt nach einer ebensolchen langen Wanderung, wie sie sie hinter sich hatte. Sie war für ein paar Tage in die Berge gefahren. Arbeit hatte sie zurzeit ohnehin keine. Die Aufträge blieben aus.

Darüber wunderte sie sich nicht. Angesichts der Massenentlassungen unter ihren früheren Kollegen und Kolleginnen bereute sie nicht, sich schon vor ein paar Jahren selbständig gemacht zu haben. Die seien auf dem Arbeitsmarkt schwer zu gebrauchen, hatte sie unlängst gelesen. Sie hatte Pech. Als Selbständige konnte sie nicht einmal die Berater und Beraterinnen auf den Arbeitsämtern anschreien und für ihre Notlage verantwortlich zu machen versuchen. Andererseits hatte sie ihre Ansprüche längst heruntergeschraubt und – käme es für sie wieder einmal hart auf hart, würde sie eben Taxi fahren oder, wenigstens eine Saison lang, servieren gehen. «… und so musste ich mich immer mal wieder für einige Jahre hier drunter, unter der Bank, verstecken», hörte sie. Das war der mit der merkwürdigen Stimme, die zwischen den Oktaven hin und her zu rutschen schien und dieses kaum hörbare abgehackte Keckern in sich versteckte. «Aber das macht nichts. Ich bin zäh, wie Sie sehen. Ich bin obenauf, sitze mit Ihnen auf der Bank. Jedes Mal, werde ich wieder für kurze Zeit verjagt, denke ich: ‹Jetzt krepierst du.› Das gehört dazu. Aber bis jetzt habe ich mich immer bestens von meinen» – er kicherte tatsächlich – ‹Depressionen› erholt.» «Das verstehe ich nicht», hörte sie den anderen sagen. «Was erzählen Sie mir da. Märchen!» Es war der mit der tiefen Stimme, die nun aber nicht mehr entspannt, sondern erbost und verwirrt klang. «Alles ging schief, weil wir die Ziege aus der Höhle und wieder ins Land liessen? Weil ausgerechnet wir nicht besser auf sie aufgepasst haben? Wofür halten Sie mich? Können Sie nicht Klartext reden?

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Sie haben nicht zugehört. Auch wenn wir ein paar Fehler gemacht haben, wie alle anderen übrigens auch, stehen wir nach wie vor besser da! Wollen Sie mich verhöhnen, weil wir ein paar Pleiten hatten?» «Ach? Da wären Sie nie drauf gekommen, dass die Ziegen jederzeit jedes «Tischlein Deck Dich» leerfressen können, ohne je genug zu haben?» «Sie machen sich lustig über mich!» «Aber nein. Sie müssen nur den Tatsachen ins Auge sehen.» «Deswegen bin ich doch hierher gekommen», sagte der andere. Er stand auf, und Sophie sah ihn, umrahmt vom immer schwächer werdenden Licht der Gegendämmerung. Seine freundlichen, runden Formen, die so sehr im Gegensatz zu der Figur des anderen standen, der es gewesen sein musste, den sie noch vor wenigen Minuten hatte tanzen sehen. «Hier», sagte er und machte eine ausbreitende Geste mit etwas kurzen Armen. «Hier komme ich immer her, um ins Land hineinzuschauen!» Sophie runzelte die Stirn und dachte nur, dass er vielleicht lange vor ihr angekommen sein musste, den Ausblick schon goutiert hatte, sonst hätte ihm doch zuallererst diese Finsternis auffallen müssen. Sie war hier hinaufgeklettert, um sich daran zu erinnern, dass es den Unterschied zwischen «Welt» und Welt noch gab. Um sich auszuklinken, gestand sie sich ein. Um sich in temporäre angenehme Distanz zur Zivilisation zu begeben, indem sie sich wenigstens für ein, zwei Tage wieder einmal der sogenannten Natur direkt an den Busen schmiss. Der fühlte sich im Moment etwas kälter und gröber an, als ihr lieb war, auch noch feucht, und sie wischte die eine Hand, die beim Kriechen und Nach-Halt-Tasten eindeutig in ein Häufchen «Geisseböhnli» gelangt hatte, angewidert an einem Grasbüschel ab. Aber die laute Stimme des rundlichen Mannes, den sie für sich bereits «Bub» getauft hatte, lenkte sie ab. «Hier bin ich ganz oben, gewinne Überblick, und, ich kann Ihnen sagen, ich sehe ein Land, das auf der ganzen Welt bewundert wird! Daran werden weder Ihr noch sonst irgendjemandes Gekrittel etwas ändern!»

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Sophie spähte vorsichtig über den Rand der Böschung und sah, wie der Mann empört auf die Hütte zuging, in der offenbar er übernachtete. Der andere blieb mit übergeschlagenen Beinen auf der Bank, auf der die beiden sich soeben noch unterhalten hatten, sitzen und wippte vergnügt mit dem Fuss. Die Hüttentüre knallte zu. Sie drehte sich um und lehnte sich einen Moment lang ans struppige Gras. Was war da los gewesen? Blöd, dass der Becher leer war, sie hätte gerne einen Schluck genommen. Andererseits wäre das doch ein guter Grund, aufzustehen, locker auf ihre Hütte zuzugehen, sich nachzuschenken aus der Flasche, die noch neben dem Eingang stand und sich dann nachbarschaftlich dem Typen auf der Bank anzunähern. Sie rappelte sich auf und kletterte, so leger es ging, auf das Weglein zurück, das zum Platz um Hütten und Bänke führte. Die Gestalt auf der Bank drehte den Kopf kurz, und es war ihr, als sähe sie nun deutlich das Kinnbärtchen im Profil. Sie nickten einander zu und sie entschloss sich, auch ohne Drink, sich zu ihm zu setzen. Er begrüsste sie mit einem Laut, der nach unterdrücktem Schnauben klang. Nun ja, dass der komisch war, hatte sie schon bemerkt. «Soso, guten Abend», sagte er. «Sicher auch hier, um Ihr schönes Land von oben herab zu bewundern?» «Au contraire», dachte Sophie. «Um aus den Nebeln hinauszukommen und zu merken, wie klein ich bin, nicht wie grossartig es – mein Land? Meins? – ist, bin ich hier.» Sie sagte nichts. «Eigenartig», fuhr er fort, «wie heftig dieser Herr auf meine Geschichte reagierte. Wo ich ihn und sein Land doch nur lobte. Sehen Sie» er wandte sich Sophie zu, die plötzlich den starken, fast würzigen Geruch bemerkte, den diese Gestalt ausströmte. «Nicht ‹unsexy›», dachte sie, etwas erstaunt − «ich sagte nur, wie bedauerlich es sei, dass ausgerechnet ihr vergessen habt, wie man mit Ziegen umgeht. Weise gehütet und in ordentlichen Herden unter Aufsicht gestellt, sind sie so vielfach nützlich wie jedes andere Tier. Auf ihr Gemecker

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hört keiner im Ernst, nein, man merkt sich die Orte genau, wo sie gerne fressen und zieht daraus seine eigenen Schlüsse. Nur der dümmste Bauer bindet ihnen Krawatten um und schickt sie in die Stadt.» «Wovon redet der», dachte Sophie. Kein Wunder, war der «Bub» böse geworden. «Nun, erstens», entgegnete sie und versuchte sofort, den gereizten Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen, «sind wir keine dummen Bauern. Und zweitens: Wer sind Sie? Sie haben sich mir noch nicht einmal vorgestellt.» «Nennen Sie mich Buck», sagte er. «Das ist wohl kaum sein richtiger Name», dachte sie. Aber wer war sie schon, darüber zu urteilen. Auch sie hatte ihren ursprünglichen Namen gewechselt. «Ich bin Sophie». Er lachte schon wieder. «Nun regen nicht auch Sie sich noch auf. Es ist doch, erstens» − und sie merkte, dass er sie nachahmte − «keine Schande, ein Bauer zu sein, und zweitens redete ich nicht ausschliesslich von Damen und Herren in Gummistiefeln und Stallgewand, sondern von allen, die dastehen und behaupten, ihr Land zu bestellen.» Sophie rückte ein wenig ab von diesem Herrn, der, wie noch knapp zu sehen war, einen tiefblauen Anzug mit feinen Nadelstreifen – auf der Alp? – trug und fragte sich, ob sie bereit sei, sich von einem Fremden einen Vortrag über die Schweiz halten zu lassen. Hatte man nicht in letzter Zeit schon genug gelitten unter dem Geblök im Blätterwald, den neuerlichen Erörterungen darüber, was «ihr» Land sei, wie die Insassen seien, zu sein hätten, und wie sehr sie doch ein Recht hätten auf ihr Sosein und Dasein, auch wenn sie sich genau darüber nie im Klaren zu sein schienen? Eigentlich ein Markenzeichen, dachte sie, diese Debatte musste schon in der tausendundzweiten Runde steckengeblieben sein, seit sie sich zurückerinnern konnte. «Ach was, » sagte sie ungehalten. «Sie reden in Rätseln, rücken Sie endlich damit heraus, worum es Ihnen geht, wenn nicht, sich einfach lustig über uns alle zu machen!» Hoppala, jetzt hatte sie sich selbst eingemeindet. «Wie schnell das doch geht», dachte sie, «aber es macht auch nichts. Selbst wenn ich mich Sophie Sayonara nenne und noch immer Wert auf gutes Schuhwerk lege − sie scharrte mit ihren Goretex in den Grasbüscheln vor der Bank, so meint der offenbar auch mich, redet er von Bauern. Nein: Landbestellern.» «Was ich dem netten Herrn klarzumachen versuchte, war nur, dass es den Landbestellern gut anstünde, ihr eigenes Lied zu variieren und ein wenig direkter zu sein. Ehrlich sogar. Das schadet dem Geschäft nicht immer. Mir selbst ginge es dann wohl etwas weniger lustig. Aber immer noch gut. In dem, was der Bauer sein Heim nennt, das sollte er sich merken, war ich von Anfang an als Haustier gedacht. Neugierig, intelligent, zäh. Meine Arbeit wirft durchaus etwas ab, aber ich sollte nicht Vorbild werden und meine märchenhaft hervorstechenden Eigenschaften niemals bestimmender Faktor im Ländchen.» Allmählich wurde es Nacht, und Sophie zog die Jacke enger um sich. Das «Ländchen». Sie seufzte.

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Die Z端rcher Berufsfeuerwehr bei einem Saubannerzug durch das Z端rcher Niederdorf. Z端ri Bar 17.12.1984. Im Hintergrund rechts der grosse Mojo Weidle R.I.P. Foto: Reto Oeschger

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Le Cimetière Saint-Pierre à … oder: Ein geistiger Monolog des Toten Louis Noilly mit dem ebenfalls Toten Claudius Prat und den LeserInnen des Dandy-Magazins. Louis Noilly und Claudius Prat beide im Cimetière St. Pierre. Von Sigi Brandigi; Bilder von Alain Kaiser Louis: «Mein lieber Claudius, hier kommen wir bestimmt nicht mehr raus. Du liegst nun schon seit 1859 im St. Pierre. Wie sich das zugetragen hat, dazu kann ich mich nicht äussern, wurde doch der Friedhof erst im Jahre 1863 offiziell eröffnet … Aber an Deine Beerdigung kann ich mich noch gut erinnern, das war ein echtes Gelage:

Tausende von Dry Martinis gingen über die Theke. Ich nehme an, wir haben Dich zuerst im Friedhof des Château d’Avignon beigesetzt. Ich liess mich nicht lange bitten und bin Dir im Jahre 1965 gefolgt. Ein Schneebrett hat mich in der Haute Savoie erwischt. Mein Transport in den St. Pierre war eisgekühlt, aber nicht geschüttelt. Als wir beide noch im Fleisch steckten… anno dazumal, … ich war ja so froh, dass Du meine Tochter geheiratet hast. Mit Dir zog Recht und Ordnung ein, Du

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e à Marseille …

hattest gute Beziehungen, Lyoner Blut und Stil! Dank Dir lebt unsere Cie. Marseillan c’est pas Marseille, aber beinahe. Ich musste die Provence zeitweise verlassen. Kaum hat unsere junge Kompanie auf den Beinen gestanden, hast Du Dich viel zu früh für ewig niedergelegt. Und dann ich, warum musste ich nur auf Brettern in 3000 Metern Höhe herumkurven, die Meeresluft wäre doch ebenso gesund gewesen. Danach haben wir meine Tochter respektive Deine Frau arbeiten lassen, ganz alleine hat sie das Unternehmen 40 Jahre lang zur Blüte geführt, pas mal.

Aber ich bin nicht da, unsere Familiengeschichte zu entblössen, ich muss den LeserInnen den Friedhof Saint-Pierre vorstellen, Deiner Hörerschaft bin ich mir gewiss, Claudius, Du magst meine Marseiller Geschichten. Der Friedhof Saint-Pierre ist mit seinen 60 Hektar einer der grössten Friedhöfe von Frankreich. Im französischen Städtevergleich hat Marseille die meisten Friedhöfe. Die Stadt zählt 21 Friedhöfe: den Zentralfriedhof, die grosse, der neuen Generation von Friedhöfen angehörige

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«Nécropole des Vaudrans» – wenn ich neu sage, meine ich das 21. Jahrhundert – und viele alte Friedhöfe von Kirchgemeinden, Klöstern und Spitälern. Der städtische Zentralfriedhof Saint-Pierre ersetzte den Friedhof SaintCharles, welcher im Jahre 1896 endgültig der Industrialisierung, der Verstädterung und der Mobilität – sprich der Eisenbahn – zum Opfer gefallen war. Bis 1893 liessen wir uns mit Pferdekutschen, Eseln oder per pedes zum Friedhof Saint-Pierre bringen, zwischen 1893 und 2004 bediente das Tram der Linie 68 den Friedhof, seit 2008 fährt das Niederflurtram dort vorbei. Eine neue Ära der Bestattungsart fand im Jahre 1909 Einzug im Saint-Pierre: die Einäscherung. Der Architekt Léonce Muller, geboren in Aigle (CH, VD), hat das Krematorium des Friedhofes errichtet. Das Krematorium stellt eine Moschee dar, sein Kamin ein Minarett. Aus verlässlichen Quellen habe ich vernommen, dass die SchweizerInnen heute niemals mehr ein Minarett bauen würden, o tempora, o mores. Angrenzend an das Krematorium folgt die «Cathédrale du silence», ein achtstöckiges Gebäude mit Arkaden, das die Urnengräber beherbergt. Im Volksmund heisst das Gebäude auch «HLM de la mort». Es verdient diesen Namen, da wir nicht umhin können, das Aussehen der umliegenden HLM der Lebenden auch im Friedhof wiederum anzutreffen gleich dem Sprichwort «Wie das Leben, so der Tod». Nebst unserer Wenigkeit befinden sich im Saint-Pierre viele Gräber alteingesessener Marseiller Familien, man kann sagen, dass der Friedhof dem regionalen und nationalen Gedächtnis entspricht. Von Fussballstars über Boxer bis zum Spezialisten der Bouillabaisse Fonfon, vom Orangenschalen-Bierhersteller Gaétan Picon – er gehörte eindeutig nicht zu unserer grande classe und von Konkurrenz kann schon gar keine Rede sein – über Toinou zu den Eltern von Fernandel ... und nicht zu vergessen Antonin Artaud, der geniale Kauz. Seine Gebeine wurden 1975 vom Pariser Cimetière d’Ivry in den Friedhof Saint-Pierre überführt, jedoch nicht ins Grab An-

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tonin Artauds, sondern im übernächsten Grab der Familie Baigneris-Catalan, das den Künstler nicht identifiziert, beigesetzt. Wer wusste davon, und warum nur wurde er nicht in sein Grab gelegt? Diese überaus pikanten Details habe ich schon bei meiner letzten Friedhofsbesichtigung vergessen. Wenn ich virtuell an den mausoleumartigen Familiengräber vorbeigehe, die aus Häusern mit Giebeln oder Kuppeln, aus Leuchttürmen, aus Skulpturen und Statuen, Engeln, Weinenden, Küssenden und exotischen Artefakten aller Art bestehen, staune ich ob der vielen streunenden Katzen, ob der ausserordentlichen Ruhe im Vergleich zum Brouhaha am Port, ob der Pineta und ob dem ausgezeichneten Überblick nicht nur über die HLM, sondern auch über die Einbettung der Stadt zwischen ihren Hügelketten und dem offenen Mittelmeer. Eine atemberaubende Aussicht, die wir hier gelassen geniessen können. Bis bald.»D

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Und sie stehen im Wasser ohne Nasen, ohne Augen, ohne Ohren, sinnlos stehen sie im Wasser – kein Kentaur – keine Nymphe lässt sich blicken – nicht jetzt, wo sie so im Wasser stehen, bikiniert und bebadehost, eigentlich möchten sie ja nur die Blase erleichtern – aber irgendwer schaut uns zu – ich bin anonym hier – ich bin keine amorphe Masse, ich bin kein gehackter, kalorienarmer Spinat, und doch stehe ich hier im Wasser oder schaue nur, wie die anderen dort stehen, und wo ist der Unterschied? Schön, dass die Nacht kommt, dann werde ich wieder spielen.

Als Baglamadaki versuchte ich Euch die Bilderwelt Jacques Furrers vorzustellen, und falls Ihr nur Bahnhof versteht, geht zur Insel! Dort findet Ihr Landratten und Skipper, Ouzo und Retsina, schwarz und weiss, neue und alte Geschichten, ab und zu Bouzouki-Klänge, meerfarbig, Colombina mia…, vor allem aber Bilder und Zeichnungen von Jacques, die Euch berühren werden. D

Die Ballade des Baglamadaki auf die Bilderwelt von Jacques Furrer

KUNST

Ich spiele für Euch in allen Farben, für alle, die Ihr etwas sucht – leben wollt. Da liege ich leuchtend im Schatten der Bäume zur Mittagssonne, Pan ruht neben mir, die Nacht ist mein Tag. Am Tag können es alle ohne mich, sie schlendern an mir vorbei, alleine oder in Gruppen, mit der Nacht aber kehrt die andere Seite zurück, die Sucht, die Einsamkeit, die Perversion, die Melancholie, die Trauer, l’amore non corrisposto und die Sehnsucht nach dem Gegenteil, Cerberus, die alte Geschichte, alte Geschichten und die neuen werden einfach nicht besser, die Hoffnung stirbt vielleicht – aber nicht mit mir, ich gebe den Takt an, aber nicht nur den Takt, ich spiele für Euch, ich, der Baglamadaki!

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KUNST

Ich singe eine neue Strophe in blau. Ich bin alt, du bist jung, und diese Nase… Ich habe eine ähnliche Nase, und diese sehenden, verklärten Augen, ich höre und singe, wie deine Augen sehen. Die klassische Schönheit und das Memento mori, das ewige Lied, das jeden trifft. Ich habe den Blues. Stolz, du bist eine Person aus Fleisch und Blut, viel blauem Blut, fliessend distanziert, erhaben wie ich – sie wollen die Geschichte nicht erleben, die ich erlebt habe – 6 x mit Würfeln aussetzen und ein Bild zurück! Ich singe nur für dich, meine Tochter.

Enthüllen – verhüllen. Striptease-nackt. Schwarzhaarige Scham, schwarze Lippen, schwarze Brustwarzen, schwarze Haare im Pagenschnitt, la Colombina nera verdeckt die ganze Wahrheit. Schwarze Nasenlöcher, den maskierten Blick auf den metaphysischen Himm el und auf den fliegenden Paradiesvogel gerichtet, der niemals auf der Bühne landen wird. Schwarze Ohs der geöffneten Münder der ergriffenen Gaffer. Es riecht eher nach Fisch als nach Vogel. Seeteufel etwa, Kraken oder Medusen? Am Donnerstag habe ich nur ein kleines Publikum, das mir, dem Bagladamaki, zuhört. Das Dorf liebt das schwarze Täubchen.

Honigsüss und bitter soll das Lied enden, ein Lied über die Macht und die Furcht vor dem Verlust der Macht. Seine schöne Frau träumt schräge Pagenträume. Der König steht da, steif und unbeweglich, eine Sonne mit blauem Trabanten, das Unheil erwartend, dass der Koch seinen Ring aus dem Magen des Fisches befreien und die Strafe der Götter gnadenlos einschlagen möge. Noch fliessen Honig und Milch, bitter ist nur die Ahnung. Sind Sie nicht versichert? Haben Sie kein Nummernkonto in der Schweiz? Das bringt nichts… Dandy Magazine #3

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WE GOT THE BLUES

Heil dir Helvetia

Volksverarschung, wer hat’s erfunden? Görgeli musste schneuzen, das Kokain war auch schon besser. Zu all dem zwickte ihn die Hose aus deutschem Filz. Er grinste sein grenzdebiles Volksverarschungsgrinsen und sagte: «Adolf, äh, Alfred, nimm die Hand herunter!» Alfred Meer litt unter extrapyramidalen Hyperkinesien. Bei Schimpftiraden gegen «Linke, Kulturschaffende und andere Drecksäue» sprang ihm jedesmal unwillkürlich die gestreckte Faust nach oben. Saurer ergriff das Wort, er, der vom Bauernpräsidenten zum Armeechef mutierte (Pflugscharen zu Schwertern), sprach also: «Wir brauchen eine Einheit von Glaube und Dummheit in diesem Land. Ein Volk von Gefühlsweichen und Willensschwachen.» «Notfalls senden wir einige getürkte Televisionen», mischte sich Tribun Flocher ein, «ist ja schliesslich nicht das erste Mal, dass wir das Volk über den Tisch ziehen.» Er schaute dabei den Ueli an, mit dem hatte er noch was offen. Sitzt der doch auf SEINEM Bundesratsthron. Und als Bauernpräsident hat er auch versagt, werden doch die Cervelathäute immer noch aus Südamerika importiert (schaffen denn unsere Bauern nicht mal das, für was werfen wir denen ständig Subventionen nach?). «Genau», brüllte Meer, seine Faust zuckte stramm nach oben. «Zuerst kürzen wir die Sozialleistungen, wie will einer, der arm ist, begreifen, dass er arm ist, wenn man ihm ständig ein Fass Bier hinterherschmeisst?» «Und dann müssen wir die bemitleidenswerte Leistungselite in der Wirtschaft und im Finanzsektor besser schützen», warf Görgeli, der Schweizermeister im Moralspagat, grinsend ein. Bei diesen Worten spürte er eine Erektion, dann zog er sich eine frische Linie vom Sitzungstisch in die Hirnrinde. «Darf ich auch mal?», fragte der Tribun, der seit der Affäre Moschacher und dem Weggang des kolumbianischen Informanten Lamos keinen freien Zugang mehr zum Pulver hat. Frisch geschneuzt hub er an: »Das

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Wenn man als Bürger dieses Landes nur noch mit der Faust im Sack rumlaufen kann oder mag, dann liegt die Ursache meist bei den Dreistigkeiten unserer endemischen Politkaste samt Wirtschafts-, Pharma- und weiss der Kuckuck was für elenden Eliten. Da bleibt einem einfachen Dandy als Alternative zur Larmoyanz nebst der gottverdammten Flucherei nur noch Zynismus und Satire. Ein höchst fiktives Sitzungsprotokoll einer selbsternannten Volkspartei. Eine Farce von Oliver Schramm

Krankenkassen bezahlten Platinnasenwänden mit eingravierter Personalia und Gletscherbrillen gegen «Schneeblindheit» (für exzessive Wehrmänner) um einiges schlanker. Auch dem einen oder anderen Unteroffizier ergäbe sich die Möglichkeit, sich mit Drogenlogistik ein lukratives Zubrot zu verdienen. Das wiederum triebe selbst unsere Altvorderen, die noch mit Stumpenrauch und Dôle-Räuschen im Reduit homoerotischen Phantasien nachhingen und ganz nebenbei unser Heimatland vor flüchtenden Juden beschützten, Tränen des Brotneides in die Augen. Peter Sellers in»Dr. Strangelove», geplagt von extrapyramidalen Hyperkinesien

Bankgeheimnis muss unbedingt gewahrt bleiben, wäre ja noch schöner, wenn ich all mein im Ausland verdientes Geld plötzlich versteuern müsste!» «Scheint gut einzufahren, das Cola», beträumte Ueli Saurer derweil die politische Alltagslage, er sah da plötzlich Möglichkeiten für sein Departement. Rettung naht in Gestalt gepuderter Militärnasen. Drogen im Militär, wer hätte das gedacht? Die Liaison des Milleniums. Endlich hat die Truppe Quote, Unterhaltungswert, Public Spirit quasi. Zudem wird sie leistungsfähiger. Mit einem Gramm in der Hirnrinde fällt der Nachtmarsch enorm viel leichter. Selbst das Budget würde durch Abgaben von Schnupflöffeln statt Sturmgewehr, von

«Jetzt, wo ich im Pensionsalter bin, könnten wir doch die AHV-Renten für schwerstreiche massiv erhöhen», weckte ihn die Stimme Flochers. Das ward nun selbst dem Meer zu sozial. «Du linke Sau, dich stech ich ab», brüllte er und schlug dem Tribun mit gestreckter Faust die Brille aus dem Gesicht. Eine wüste Prügelei hub an, deren Details wir dem geneigten Leser aus Anstand nicht näher schildern wollen. Die im Inhalt genannten Personen und Handlungen sind frei erfunden! Sollten Ähnlichkeiten mit existenten Personen oder stattgefundenen Handlungen entstanden sein oder sollte ein solcher Eindruck entstehen, so ist dies unsererseits in keiner Weise gewollt oder beabsichtigt. D

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Die Menschheit hat sich daran gewöhnt und wird es weiterhin beinahe unbeschadet überstehen, es ist nicht der Übel Übelstes, es gibt noch Schlimmeres. Es ist das gesellschaftliche Lachen (risus officialis), das für den jeweiligen Anlass fabrizierte. Es tritt überall in Gruppen auf und gehört vermutlich sogar zum guten Ton, den es nicht hervorbringt. Es verläuft mit tödlicher Regelmässigkeit: Jemand lässt in offenkundig humoriger Absicht eine Bemerkung fallen. Ob sie nun lustig, witzig, banal oder einfach forciert dümmlich ist, sie wird mit lautem Geräusch und offenem Mund quittiert. Die Einladung ist angenommen: wir gehören zusammen. Für alle wird vernehmbar attestiert, dass etwas Lustiges in die Welt gesetzt worden ist. Wobei die Lustigkeit eigentlich für sich selber sorgen könnte und keine Nachhilfe braucht. Es geht also um das öffentlich zur Schau gestellte Lachen, das mit »lauthals” charakterisiert ist, da im Hals etwas veranstaltet wird, was nicht von selber kommt. Günstigstenfalls reduziert es sich auf ein lautlos produziertes, lediglich sichtbares Grinsen. Mit dem Lachen ist das immer so eine Sache. Man tut es nicht. Man »muss”. Das echte ist unwillkürlich, es stellt sich von selber ein, man ist davon überrascht und kann nicht anders. In besonderen Situationen, eben wenn man nicht darf, lässt es sich kaum unterdrücken. Es steckt oft an, das heisst man wird angesteckt, aber produziert selber keine Ansteckung. Das Höflichkeitslachen wird kollektiv in Szene gesetzt. Vermutlich wird seine Anfertigung gar nicht mehr bewusst wahrgenommen, sondern ist längst zu einem Reflex verkommen, einer gespeicherten Routine, die als

Spontaneität ausgegeben wird. Was durchschlägt, ist die krampfhafte Anstrengung. Nicht immer ein berauschender Anblick, nicht immer wohlklingend. Gesund ist dieses Lachen nicht. Auch weil es ganz in der Nähe der Verlegenheit angesiedelt ist und dort vermutlich auch hingehört. Beobachten lässt sich das Anstandslachen, wo immer ein paar Leute zusammen sind, etwa an jeder Sitzung. Untergebene haben ihre Heiterkeit ohnehin pflichtgemäss geräuschvoll kundzugeben, wann immer ein Vorgesetzter Humor von der Leine lässt. Am widerlichsten zeigt es sich in Talkhows, zum Beispiel im »SonnTalk”, wo konfektionierter Humor überquillt. Am beifälligen Lachen, mehr Schall als Erheiterung, merkt man auf Anhieb, dass etwas Lustiges zum Besten gegeben worden ist. Dabei wird das gespielte Wohlgefallen grosszügig selbst dem politischen Gegenlager als versöhnlicher Applaus zugestanden, bevor sich die Verkünder von Parteiparolen mit voraussehbaren Klischees auf die andere politische Richtung einschiessen und den Anlass zum unvermeidlichen Wahlkampf verbiegen. Die anwesenden Neutralen brauchen sich daran nicht zu beteiligen, lachen aber, da die unterschwelligen Regeln längst verinnerlicht sind, herzhaft mit, keine Spielverderber. Weil wir gerade bei Talkshows sind, zum Beispiel Tele Züri (aber ja nicht nur). Bei der Einleitung herrscht noch eine Art Nichtstillhalteabkommen. Jede und jeder leitet ein mit einer auf Humor getrimmten Freude oder Enttäuschung (vielleicht kann jemand das Reimpaar »Lust/Frust” gerade noch aushalten),

und beim leisesten Anflug von Witz wird mechanisch losgeprustet (vom Showmaster am lautesten, selbst sein Hang zu überzogenen Metaphern erregt allerseits Bewunderung). Wenn die eigentliche Auseinandersetzung einmal voll und voraussehbar im Gang ist, kommt das hämische Begleitgelächter zum Zug, es gilt der jeweiligen Gegenseite, wenn sie gerade eine Meinung formuliert, wenn nicht ohnehin einfach dreingeredet wird. Darunter leidet das akustische Verständnis, es rührt allerdings auch daher, dass viel zu schwerfällig und umständlich formuliert und wiederholt wird. Noch häufiger und nicht minder nervend ist die negative Variante, die des Gegners Doofheit mimisch untermalt, je nachdem durch widerliches Grinsen oder eine süffisante Visage. Alle reden zu lange und kommen so nicht dazu, ihre eigenen Voten abzuschliessen, weil die Zeit nie ausreicht. Angesichts dieses Zeitdrucks bleibt dann die Übereinkunft aller Beteiligten um so seltsamer. Sie schneiden sich die nachher so notwendige Zeit selber ab, indem sie ihre jüngsten Erlebnisse erschöpfend ausbreiten. Was mit ein paar knappen Worten abgetan werden könnte, schwillt an zu langfädigen Schilderungen einer besonders gelungenen Parteiveranstaltung, eines Ausflugs mit der Enkelin oder was an Belanglosigkeit gerade anliegt. In dieser Phase wird übrigens nicht laut gelacht, sondern sympathische Anteilnahme aufgezogen. Es gibt natürlich auch gekonntes künstliches Lachen. Schauspieler müssen es draufhaben, und ältere

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So gut, so lachhaft. Bestimmt belegt eine soziologische Untersuchung, dass eben dieses inszenierte Lachen die Gesellschaft auf seine Art zusammenkittet und, wer weiss, seinen evolutionären Zweck erfüllt. Dann müssen wir es eben, wie so vieles und Schlimmeres, weiterhin mit Fassung tragen. D

www.butchersprojects.org

bekommen es ohne Anstrengung hin. In diesem Zusammenhang verdienen einige Politiker aufrichtige Anerkennung, wenn sie öffentlich parodiert oder persifliert werden. Am deutschen Karneval etwa sind sie unvermeidliches Ziel von Spott oder Nachahmung. Sie sitzen dann selber im Publikum und lachen, vom Fernsehen aufgenommen, dermassen aus vollem Herzen in die Kamera, dass sich gleich offenbart, wie leicht sie derartiges wegstecken können. In der Tat bemerkt man oft nicht, wie viel Übung dahinter stecken muss. Es gehört wohl zum Rüstzeug einer politischen Karriere und ist nicht selten ausgezeichnet vorgetragen. Immerhin könnte man nach dem Leistungsprinzip nur den gelungenen Humor belohnen und nicht dem blossen unbeholfenen Anlauf ein paar Boni zukommen lassen. Einige solch verkrampften Anläufe würden uns dadurch möglicherweise erspart, ein bisschen Zeit gewonnen. Vielleicht sollte man Aufwärmrituale mit tolerantem Achselzucken hinnehmen. In der freien Wirtschaft dürfen selbstverständlich alle so laut und so lange lachen, wie, wo und wann es ihnen passt. Auch das konfektionierte Lachen verdient demokratischen Schutz. Es tut ja auch nicht weh, körperlich jedenfalls nicht, und jeder darf sich so scheusslich geben, wie er will.

Von Fritz Senn

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Frisรถrsalon Elke, Rendsburg, Schleswig Holstein, 2008, im Besitz der Familie des Herausgebers

Salon Silaz, Mahajunga, Madagaskar, 2010, so sieht der Herausgeber von hinten aus!

m i y d n a D e l i b a t s Wo sich der ethisch

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haute coiffure

Peluqueria San Martin, Leticia, Amazonas Colombia/Brasil, 2009

t s s ä l n e g e  p d n a l y im A us

amm Bilder von Oliver Schr er eid hn Sc und Marina

Coiffeur Tsimanavaka 2, Morondava, Madagaskar, 2010

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Schibler

Wilhelm Schibler in der damals üblichen Feldkluft. Der Davoser «Landschaftsarzt» erklomm zwischen 1892 und 1930 sämtliche 66 Berggipfel und Pässe über 2600m in und um Davos und notierte die dort entdeckten Pflanzen in sein Tagebuch

Bergankunft Text von Veronika Stöckli, Sonja Wipf, Christian Rixen. Davos

Es war in einer Zeit, als die Schöpfung noch etwas galt. Die Natur der fernen Kontinente, Inseln und Ozeane war von den Erkundungsreisenden wie Humboldt, Darwin oder Camisso abgesucht und beschrieben, da gelangte das bis anhin vernachlässigte bergige Binnenland immer mehr in den Fokus der Forscher. Die gelehrten Herren erkundeten Quellen auf der Suche nach Heilwasser, untersuchten die Gesteine, massen die Berge aus

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und erforschten die Gletscher. Der Bäder-Tourismus begann zu blühen, die Eiszeittheorie wurde formuliert und die Berge erhielten Namen. Auch die wildwachsenden Pflanzen stiessen jenseits ihrer medizinischen Nützlichkeit mehr auf Interesse, ganz besonders jene zuoberst auf dem Berg. Der Glarner Oswald Heer war in den 1830er-Jahren wohl der erste, der die Berggipfel bestieg, um

herauszufinden, bis in welche Höhe welche Pflanze vorkommt. Er unterteilte den Berg in Schneestufen. Ab hier schmelze der Schnee nicht mehr vollständig ab; hier sei die oberste Grenze des Lebens erreicht und nur die Spezialisten könnten hier existieren: «Das Klima desselben [gemeint ist das Tiefland] ist so ganz anders als in der oberen Schweiz, dass der Schöpfer für dasselbe grösstentheils andere Thiere und Pflanzen schaffen musste, da er nur wenige so organisiert hat, dass sie allen Klimate zu trotzen vermögen.» Der Piz Linard war Heers bergsteigerisches Meisterstück. Kaum vorstellbar, wie anspruchsvoll ein solches Unterfangen ohne Sonnenbrille, Goretex und Notruf zu bewältigen ist! Vom Gipfel

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Berg zu studieren. Denn hier ist die Welt halt eben doch noch in Ordnung: Fern der Zivilisation lässt sich der Wandel der Pflanzenwelt studieren, ohne den Einfluss von Kunstdünger, Pflanzungen oder Gewässerkorrekturen in Betracht ziehen zu müssen.

Pflanzenbilder aus Schibler 1897

Der Gletscherhahnenfuss (Ranunculus glacialis L.) spriesst bis in Höhen über 4000m ü.M

Fortan fand die «Gipfelbotanik» immer mehr Nachahmer. Ziel war einerseits die Liste aller Pflanzen der Alpen

Buchdeckel von Schröter’s Alpine Flowers, verfasst um die vorletzte Jahrhundertwende

zu vervollständigen und andererseits festzustellen, wo welche Pflanzen entstanden sind und wo sie verblieben sind, als die Täler mit Eis gefüllt waren. Auch Herr Whimper, der Erstbesteiger des Matterhorns, brachte eine Liste von Pflanzen mit ins Tal – die allerdings etwas dürftig ausfiel. Die Berichte aus der damaligen Zeit sind Gold wert. Die Texte sind ganz entgegen den Gewohnheiten der heutigen Forschenden wunderbar blumig geschrieben und gespickt mit persönlichen Erlebnissen am Berg. Die Pflanzenlisten sind eigentliche Schnappschüsse aus der Vergangenheit. Verglichen mit der Jetztzeit bieten sie die einmalige Gelegenheit, die Veränderungen am

Bergpflanzenbild aus der Jetztzeit

des Linard notierte der nachmalige Botanik-Professor damals eine einzige Pflanzenart, den hübschen Alpen-Mannsschild. Dann kam Darwin. Seine revolutionären Theorien zur Entstehung der Arten gaben wohl den Pflanzenjägern zusätzlich Schub und machten sie begierig nach noch mehr Daten. So monierte der Botaniker John Ball, dass die Bergtouristen zu sehr nur dem Sport frönten: «…wir [würden] mehr von der Pflanzenwelt der höchsten Regionen wissen, wenn unsere Alpenclubisten nicht nur ihre Füsse, sondern auch ihre Augen bethätigen…»

Jetzt sind wir an der Reihe. In den kommenden beiden Sommern begeben wir uns auf die Spuren unserer BotanikVorgänger. Unser Ziel: Die Veränderungen der Flora zu verstehen. Denn eines steht bereits fest: Heute sind erheblich mehr Pflanzenarten auf den Berggipfeln zu finden, als unsere Vorgänger vor 100 bis 175 Jahren notiert hatten. Aber weshalb? Haben jene Forscher etwa nicht genau hingeschaut? Unvorstellbar für diejenigen, die das Jagdfieber der Pflanzensuche selbst schon angesteckt hat. Oder sind die Pflanzen etwa immer noch auf der Rückreise aus ihren EiszeitRefugien? Ist am Ende der Steinbock an allem Schuld? Er, der König der Berggipfel, der bereits im 16. Jahrhundert ausgerottet und vor weniger als hundert Jahren wieder ausgesetzt wurde. Am ehesten aber – so vermuten wir – bieten die Berge anstelle des ewigen Schnees mehr Platz für die Pflanzen. Jene zeigen sich im Klimawandel wohl noch opportunistischer als selbst wir Forschende; dies gilt es zu prüfen – in Kürze verstehen wir besser, weshalb welche Pflanze wie rasch die Bergankunft meistert.D

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Eis sollte haargenau 0°C haben, wenn dieses die Maschine verlässt. Dann verklebt es nie, bleibt locker, streufähig und umhüllt das Kühlgut so wirksam, dass es den Kühlprozess optimal beschleunigt.

iis-chalt

Text von Mr. Fluessig

Crushed Ice Wird durch Zerkleinern der Eiswürfel (Hohlkegel) hergestellt. Es ist klar wie Eiswürfel und sieht daher optisch top aus. Crushed Ice eignet sich besonders gut zur Herstellung von Longdrinks und Cocktails (Caipi`s), zum Kühlen von Dosen und Flaschen oder zur Präsentation von Lebensmitteln.

Eiswürfel (Maxi-Cube) Diese eckigen (Format ca. 7mm x 11mm x 8mm) Würfelchen ergeben ein schönes Lichtspiel und einen unübertrefflichen Kontrast.

Eis wird im Allgemeinen gefrorenes Wasser bezeichnet, das – neben flüssigem Wasser und Wasserdampf – dessen dritten möglichen Aggregatzustand darstellt. Es bildet sich im Allgemeinen bei Null Grad Celsius und zählt als natürlich vorkommender kristalliner Festkörper mit einer definierten chemischen Zusammensetzung zu den Mineralen. Aufgrund seiner chemischen Struktur H2O gehört Eis zur Stoffgruppe der Oxide. Die Eisdichte ist mit 0,9168 g/cm³ (bei 0°C) geringer als die von Wasser (1 g/cm³), weswegen das Eis auf der Wasseroberfläche schwimmt. Die Gletscher sind in den letzten 150 Jahren um einen Drittel der gesamten Fläche geschmolzen. Eiswürfel stammt vom Determinativkompositum, zusammengesetzt aus Eis und Würfel.

Eiswürfel (Hohlkegel) Aufgrund ihrer, gegenüber eckigen Eiswürfeln, grösseren Oberfläche kühlen Hohlkegel die Getränke besser und schneller. Wir empfehlen die Anwendung von Eiswürfeln, insbesondere für Erfrischungsgetränke und Longdrinks, zum Kühlen von Flaschen und Dosen sowie für Dekorationszwecke bei Veranstaltungen und Events.

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Albanisch: akull Chinesisch: /bing/ Dänisch: is englisch: ice Finnisch: jää Französisch: glace Griechisch: /paiós/ Italienisch: ghiaccio Japanisch: /kôri/ Kroatisch: led Niederländisch: ijs Polnisch: lód Portugiesisch: gelo Rumänisch: /ghiatsa/ Russisch: /ljod/ Schwedisch: is Schweizerdeutsch: iis Slowenisch: led Spanisch: hielo Türkisch: buz Ungarisch: jég

Eisblumen entstehen an dünnen Fensterscheiben, wenn die Aussentemperatur unter 0°C sinkt, die Luftfeuchtigkeit im Raum entsprechend hoch, die wärmedämmende Wirkung des Fensters relativ gering ist und Kristallisationskeime oder -kerne wie zum Beispiel Staubteilchen auf dem Glas vorhanden sind, an denen Wasser kristallisieren kann. Aufgrund ihrer, gegenüber eckigen Eiswürfeln, grösseren Oberfläche kühlen Hohlkegel die Getränke viel besser und schneller. Zudem haften die Hohlkegel nicht so leicht aneinander wie Volleiswürfel. Wer Eis selbst im Gefrierfach herstellt, sollte es möglichst weit entfernt von Lebensmitteln lagern, da ansonsten der Geruch der Lebensmittel aufgenommen werden könnte. Besonders bei längerer Lagerung über einen Zeitraum von mehr als vierzehn Tagen sollten die Eiswürfel nicht mehr verwendet werden, da das Aroma der im Gefrierfach gelagerten Lebensmittel aufgenommen wurde. Die unter Energiegesichtspunkten optimale Eistemperatur liegt direkt unter dem Gefrierpunkt bei –0,5°C. Hier liegt die volle Kälteleistung des Eises vor, ohne dass übermässig viel Energie zur Erzeugung des Eises eingesetzt werden musste. Das erste Speiseeis gab es vermutlich im antiken China, die chinesischen Herrscher hatten grosse Eislager anlegen lassen.

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fluessig

Als Schelfeis bezeichnet man eine grosse Eisplatte, die auf dem Meer schwimmt und mit einem Gletscher an Land fest verbunden ist.

Zur Herstellung von Speiseeis werden zuerst die Zutaten vermischt, dann wird die Masse unter ständigem Rühren gefroren, wodurch feine Luftbläschen in die Masse gelangen und die Eiskristalle klein bleiben. Einen cremigen Schmelz hat Speiseeis nur, wenn die Kristalle so klein sind, dass sie im Mund nicht fühlbar sind und sich sofort auflösen. Um 7 Liter Wasser um 12°C abzukühlen, werden 1,05 kg Eis benötigt – siehe Tabelle Eiswürfel kühlen ihre Umgebung, indem sie Wärme aus der Umgebung absorbieren. Die verbreitete Vorstellung, sie würden Kälte abgeben, ist falsch. Im 19. Jahrhundert begann in Nordamerika die kommerzielle Nutzung von Wintereis, zunächst als Luxusgut für Menschen in tropischen Ländern, später auch als Massengut für den Hausbedarf. Der Eismann brachte Eisblöcke, mittels derer verderbliche Nahrungsmittel, typischerweise in einem Eisschrank, länger frisch gehalten werden konnten. Mit der Elektrifizierung und Einführung des Kühlschranks fand dieses Gewerbe sein Ende. Heute wird fast das gesamte vom Menschen zu Speisezwecken genutzte Eis von Kältemaschinen oder in Kühlschränken hergestellt.

Das Meereis bedeckt im Jahresmittel etwa 6,5 Prozent (entspricht einer Fläche von 22,5 Millionen km2) der Weltmeere und spielt somit eine entscheidende Rolle im Klimasystem der Erde. Infolge der Klimaerwärmung stieg der Meeresspiegel zwischen 1993 und 2003 um 3,1 mm pro Jahr. Ohne Gegenmassnahmen würden bei einem Anstieg des Meeresspiegels um 1 m weltweit 150.000 km² Landfläche dauerhaft überschwemmt werden. Das Eis, das zum Mixen im Shaker oder im Rührglas verwendet wurde, wird weggeschmissen und für kein zweites Getränk mehr verwendet. Ein Kilogramm Crushed Ice hat ein Volumen von zirka 1,5 Liter. Durch das Schmelzen von einem Kilo Eis bei 0°C werden 80 kcal Kälteleistung freigesetzt, durch die Erwärmung von Wasser um 1°C 1 kcal, durch die Erwärmung von Eis um 1°C ½ kcal. Das heisst, die wesentliche Kälteleistung des Eises liegt im Schmelzpunkt; die Temperatur des Eises spielt für die Gesamtkälteleistung praktisch keine Rolle.

Entscheidend für das Fortbestehen eines Gletschers ist seine Massenbilanz, die Differenz von Akkumulation (wie Schneefall, Ablagerung von Triebschnee und Lawinen, Kondensation von atmosphärischem Wasserdampf und Anfrieren von Regenwasser) und Ablation (Schmelze, Sublimation sowie Abbruch von Lawinen). 1775 erschien in Neapel das erste Buch über die Kunst der Eisbereitung mit dem Titel De sorbetti von Filippo Baldini. Bei der Herstellung von Eiswürfeln werden allfällige Keime im Wasser nicht abgetötet. Bei Reisen in Länder mit einem anderen, ungewohnten hygienischen Standart wird daher oft empfohlen, auf Eiswürfel zu verzichten. Stangeneis (oder auch Blockeis) leitet sich von dem in Blockformen gegossenen zu Eis gefrorenem Wassers ab. Dieses Blockeis wurde in bis zu 270 kg schweren Stücken, entweder im Winter direkt von Gewässern oder auf dem Umweg über einen Eiskeller, von einem Eismann zum Verwender befördert. Eine Kältemaschine setzt einen thermodynamischen Kreisprozess um, bei dem Wärme unterhalb der Umgebungstemperatur aufgenommen und bei höherer Temperatur abgegeben wird. In diesem Sinne ist eine Kältemaschine einer Wärmepumpe ähnlich.D Der Luftgehalt im Wasser entscheidet über Aussehen und innere Struktur des Eiswürfels. Zuvor aufgekochtes Wasser führt zu eher durchsichtigen Eiswürfeln, da beim Aufkochen gelöste Gase aus dem Wasser entweichen. Kaltes Wasser mit einer hohen Luftsättigung ergibt milchige bis weisse Eiswürfel. D

Background image: http://emu.arsusda.gov Hexagonal snow crystal with broad branches. Image obtained using a Low Temperature Scanning Electron Microscope.

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up on smoke

Verglühende Gegenwart Die Durchsetzung des Rauchverbots besiegelt das Ende einer Kulturepoche und den Niedergang der letzten nikotingoldenen Generation. Ein Fast-zu-spät-Geborener erinnert sich – und wirft einen Blick in die Zukunft. Von Philippe Amrein Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zufrieden an kleinen Tischchen sitzen, die dekoriert waren mit verheissungsvollem und gleichzeitig verheerendem Zubehör. Einerseits natürlich die Getränke: Klassisches Lagerbier, klebriger weisser Martini, höchst fraglicher Rosé-Wein mit Pfirsichgeschmack – aber eben auch ein völlig neues Produkt, auf dessen Flaschenettikett eine grinsende Zitrone abgebildet war. Es trug den selbst aus heutiger Sicht unschlagbaren Namen «Hooch» und schmeckte eigentlich ganz okay. Dass es sich dabei um einen frühen Vertreter der später zu Teufelszeug hochhysterisierten Alcopops handelte, war uns egal. Wir mochten halt die lustige Zitrone. Und wir mochten Zigaretten. Diese leicht zerknitterten, mit sonnengereiftem Tabak gefüllten und einem leopardenfarbenen Filtermundstück versehenen Papierchen. Diese Draufgängerstäbchen, die wir aus der Werbung als Symbole für Weltläufigkeit, individuelles Lebensgefühl oder gar Freiheit kannten. Wir hätten diesen Verheissungen natürlich gerne geglaubt, doch schon damals wussten wir eigentlich alles: Dass Zigaretten der Gesundheit, der Haut und der Qualität der Atemluft schaden. Denn die Rauchenist-tödlich-Botschaft, die mittlerweile auf sämtlichen Zigarettenschachteln aufgedruckt oder sogar bebildert ist, hatten uns unsere Eltern bereits mit Nachdruck eingetrichtert. Mit zunehmender Begeisterung für die Qualmerei wuchs in der Folge auch unser Weltwissen stetig an (ein Phänomen, das Gesundheits- und Bildungspolitiker bislang sträflich vernachlässigt haben). Im Deutschunterricht beispielsweise lernten wir anhand des tragischen Schicksals der Dichterin Ingeborg Bachmann, dass man an gewissen Orten unter keinen Umständen rauchen sollte. Was zur Folge hatte, dass einige wenige von uns das Rauchen vorzeitig aufgaben, während andere einfach ihre sexuellen Aktivitäten auf vorwiegend feuerfestes Terrain verlegten.

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Schönheiten hinter blauem Dunst Zu unseren besten Zeiten war nahezu alles, was uns in öffentlichen Räumen bewegte, von Zigarettenrauch umweht. Wer argen Liebeskummer hatte, sass stundenlang in üblen Kaschemmen herum und kritzelte seine persönlichen Notstandsprotokolle mit gebotenem Pathos in kleine Notizbücher, während im Aschenbecher eine Kippe nach der anderen verglühte. Und wer zum ersten Rendezvous mit der Angebeteten antrat, griff auf seiner Seite des kleinen Tischchens dankbar zur Zigarette, um damit vielsagend herumzufuchteln, was immerhin einen Teil seiner ungeheuren Nervosität zu dämpfen vermochte. Der blaue Dunst erlaubte es ihm sogar, längeren Blickkontakt mit der Schönheit auf der anderen Seite des Aschenbechers zu halten. Und aus solch zaghaften ersten Treffen sind in der Folge Liebespaare hervorgegangen, deren Beziehung mitunter deshalb so stark ist, weil sie die Zigarettenmarke ihrer Partnerinnen kennen – und umgekehrt. Das mag bei joggenden Zweierkisten durchaus auch so sein, allerdings verströmen deren Markenpräferenzen (Nike, Asics, Puma) im Vergleich mit jenen von Raucherinnen und Rauchern (Ernte 23, Kool, Gauloises halbhellblau, American Spirit Organic) ein geradezu unromantisches Flair. Nun, solche Alltagsbeobachtungen werden wohl immer seltener werden, denn ab dem 1. Mai ist es schweizweit nicht mehr erlaubt, in Bars und Restaurants (abgesehen von ein paar Ausnahmen) noch zu rauchen. Ein endgültiger Zustand, der einem nach wie vor begeisterten Raucher wie mir natürlich gehörig an die Lungen geht. Doch es ist nicht die Lunge, die den grössten Schaden nimmt, sondern das Herz. Denn wo immer ich in Zukunft vorbeikommen werde, fällt mein Blick auf eine definitiv ausgelöschte Kultur. Und jeden dieser Blicke werden Gedanken an bessere Zeiten begleiten. An Zeiten, als sich James Garner als

Der Autor beim erfolgreichen Versuch Kunst zu fassen. Unfassbar. Zürich 2009

Fernsehdetektiv Jim Rockford noch in jeder Folge mindestens eine Zigarette ansteckte, als Lieutenant Columbo unbeeindruckt und vor allem zigarrenrauchend an den Tatorten in besseren Kreisen auftauchte, Serge Gainsbourg die langweiligsten Nächte seines Lebens kettenrauchend und liedertexteschreibend hinter sich brachte oder Jean-Paul Belmondo im grossen Spätwerkfilm «L'inconnu de la maison» ein letztes Mal den unverbesserlichen Franzosen alter Schule gab. Und diese Erinnerungen werden sich schädlich auf mein Herz auswirken. Es wird brechen. Während sich meine Lunge wohl bester Gesundheit erfreut. Die Luft ist der Raum Während ich als Fast-zu-spät-Geborener durch die nun anbrechende Gegenwart schlendere und bei jeder Reminiszenz an die Ära der Rauchergastronomie tief seufzen und damit meinem Atmungsorgan sportliche Betätigung verschaffen werde, darf die nun folgende Generation der Adoleszenten nicht vergessen gehen. Denn sie wächst in eine Gesellschaft hinein, deren Ausschweifungen sie in Form patinierter Wirtshauswände noch lange wird betrachten müssen, ohne jedoch die Gelegenheit gehabt zu haben, selbst Teil der späten nikotingoldenen Ära gewesen zu sein. Sie alle müssen sich mit EnergyDrinks, iPhones und heimlich gerauchten Joints darauf vorbereiten, dass man ihnen ein entscheidendes Stück Zukunft einfach gestrichen hat. Sie werden höchstens noch aus historischen Dokumenten davon erfahren, dass man einst in speziell gekennzeichneten Eisenbahnwagen noch seinem inhalativen Privatvergnügen nachgehen durfte. Dass Helmut Schmidt nicht nur der klügste Mann Europas, sondern auch der letzte Doyen der Zigarettenraucher war. Und dass die hochbegabte Nichtskönnerin Lady Gaga tatsächlich von «eyeliner and cigarettes» sang. Die rauchdurchschlierte Raumluft, in der wir noch beflügelt denken durften, die gibt es nicht mehr. Der Luftraum über den besten Köpfen meiner Generation ist nun gesperrt. Für immer. Doch unsere Träume (und die kleinen Tischchen) kriegen sie nicht. D

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PROSA

DJs tanzen nicht (1)

Von Beda

DJs tanzen nicht – besonders, wenn sie tot sind. Oli lag stumm und reglos, und kein Beat jagte mehr durch seinen Körper. Seinen Lebensmix hatte er sozusagen ausgeloopt, sein Sampler hing in der Endlosschlaufe, fertig mit Pump Up The Volume! Ein klassisches Fade-out – nicht schön anzuschauen, aber mausetot. Die Nadel ritzte noch in seiner Ader, die Tanzfläche war blutverschmiert. Es war 7 Uhr. Die Stadtlichter erloschen, das Tageslicht warf erste Schatten. Regenwolken zogen vorbei, vom Wind getrieben. Noch war es trocken. Auf den Gehsteigen und den Strassen lag ein eigentümlich starker Geruch der vergangenen Nacht. Max winkte einem vorbeifahrenden Taxi. Der Fahrer schaute kurz herüber, fuhr aber weiter. Max Stimmung wurde dadurch nicht besser, sein Schritt nicht leichter, sein Kopf hämmerte. Ob vom Mix des Rauches und der dröhnendem Bässe der letzten Stunden, wusste er nicht genau. Es war ihm auch gleichgültig. Weniger egal war es ihm, wohin er jetzt gehen sollte. Ins Tartuff zum Katerfrühstück? Oder nach Hause – und dann später am Nachmittag an den Fussballmatch? Cue in: «Insomnia» Faithless Wo war übrigens sein Zuhause? Home sweet home? Eine der Fragen, die Max sich oft stellte. Eigentlich immer wieder. Hinter dem DJ-Pult, umgeben und umtänzelt von Songs, mit denen er irgendeinmal in seinem Leben Freundschaft geschlossen hatte? Tiefe Freundschaft. Liebe auf den ersten Ton. Bei einigen. Mit anderen aber auch erst nach mehrmaligem Hinhören. Play it again und with a little help from my friends. Titel, mit denen er dann einmal gerne die Treppe zum Himmel erklingen lassen würde. Cue in: «Stairway to heaven» Led Zeppelin Bei vielen Sounds waren es einfach Freundschaften, wenn auch bei zahlreich und ohrenbetäubend vielen. Darunter unermesslich viele tanzoberflächige, die über kurz oder lange Max‘ Leben auch ausserhalb des DJ-Daseins untermalten. Und ohne gleich einen tiefen Eindruck zu hinterlassen. Jedoch durchaus dazu beigetragen hatten, sein Gefühlstrapez dichter zu spannen. Oder die Löcher dazwischen erträglich zu machen. Ihn aufzufangen. Affären eben. Die richtigen Liebesbeziehungen, die mit dem tiefen Abdruck, der innere Kreis, beschränkten sich naturgemäss auf

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die Top Five. Oder die Top Ten? Nach Max’ Rechnung waren es wohl eher die Top Twenty. Und wenn’s nun 50 waren? Welcher Musikliebhaber begnügt sich denn schon mit knapp einem Dutzend der beliebtesten Songs, wenn ihm das Universum aus der unendlichen Weite der Töne und Soundwelten noch weitere zauberhafte Leckerbissen präsentiert? Cue in: «Don’t look back» Peter Tosh Wie auch immer. Wenige Songs rillten und ritzten bei Max phasenweise Narben in die Erinnerung. Nicht hässliche Narben. Auch nicht Wunden. Nein, Schönheitsnarben. Wenn man Erlebnisse, die das Leben prägen, als Diamanten des Lebens betrachtet. Und mit jedem Ton eines Lieblingssongs schimmerte unverzüglich einer dieser Momente auf und funkelte ihm dabei in Bildern, Gerüchen, Gefühlen durchs Gemüt. Die Magical Mystery Tour. Wo waren wir stehengeblieben? Bei Max und der Frage nach seiner Heimat, seinem Zuhause! Doch Max blieb nicht stehen, er fragte sich gerade, wohin des Weges. Die Nacht war verstörend, wirklich. Tote DJs tönen nicht und vor allem nicht gut. Auch und vor allem auf dem Dancefloor. Der Unklang von Olis Blutstropfen hallte noch nach, zuckte kurz in Max’ Erinnerung. «Wie tönt Blut? Habe ich da was gehört?» fragte sich Max fröstelnd. Der Morgen und die Regenwolken verhängten sich und warteten bedrohlich über den Dächern, als Max ein weiteres Taxi sichtete. Doch auch dieses fuhr vorbei, da schon besetzt. Und wieso immer noch dieses nachhaltige Dröhnen im Kopf? Oft hatte Max ein leicht dumpfes Gefühl im Kopf nach solchen Abenden und seinen DJ-Einsätzen. Doch diesmal war es brutal, pulsierend, hämmernd. Brutal war auch seine plötzliche Unentschlossenheit, wohin er jetzt gehen sollte. Es war genauso wie die seltenen, aber dafür umso unangenehmeren Momente hinter dem DJ-Pult, wo er den Faden total verlor, nicht weiterwusste, mit welchem Song er die Meute auf der Tanzfläche in Bewegung halten konnte. Die Angst des DJs vor dem musikalischen Blackout. Grausam. Logisch war er gewohnt, ständig vor der unmittelbaren Frage nach dem nächstbesten Stück zu stehen. Auch wenn er den Set eingeübt hatte. Doch auch da musste man immer auf der Lauer sein. Auf der Lauer nach den Vibes auf dem Floor. «Nur nicht stur den Set herunterrasseln, nein, ständig in Bewegung sein! Voraus denken – fühlen, wie und wo das Herz der Party schlägt!» sagte Oli immer. Und wenn einer, dann hatte Oli genau das verdammt gut gekonnt. Traumwandlerisch gut. Doch jetzt, seit dieser Nacht war bei ihm der totale Blackout eingetreten, Herzstillstand, ausgetanzt. Für immer stumm. Fuck.

http://roy365fotos.wordpress.com

Cue in: «Adieu, Sweet Bahnhof» The Nits Max’ Orientierungslosigkeit vermischte sich mit den ersten Regentropfen. Taxis waren rar, und die wenigen, die vorbeifuhren, immer schon besetzt. Sitting at the railway station – got no ticket and no destination. D

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(1. Teil von «DJs tanzen nicht»/ Beda Senn 2010)

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literatur

Eine Reise fürs Leben

Hans dampft nach Afriod Capverdiko De Hansdampf im Schnäggeloch hät alles, was er will // und was er will, das hät er nöd und was er hät, das will er nöd… Kinderlied. Ich han es Buch geschribe, dringts durch Tagi-Letternebel in meinen Schädel. Das war vor der Datenmüll-Wolke, die den Himmel endlich wieder einmal für ein paar Tage ruhen liess. Es denkt: Na und? Der Alte im schwarz-weiss gemusterten Kittel und dazu passenden Hut wiederholt: Ich han es Buech gschribe. Listige Äuglein, eingefallene Wangen, Kinnbartbürste, hellwach. Ein Dandy par excellence. Kein EdelDandy, aber par excellence. Aha, ein Buch. Natürlich gebe ich ihm 20 Stutz und erhalte eins von 500 Exemplaren. Titel: Hans dampft in allen Gassen. Auf dem Umschlag Hans’ Lebensreise in angeschriebenen Nationalflaggen und Cannabis-Ästhetik auf der Rückseite. A spliff a day keeps the doctor away. Kurzfassung: Erlebnisse des Weltenbummlers Hans. Er erzählt von seinen Schuljahren, der Hippiezeit, Fahrten in den Osten, den Zeiten als selbstversorgender Bauer in Irland bis zu seinen Abenteuern auf hoher See, seinen Erlebnissen als Wirt und Fischer in Portugal und auf den Kapverdischen Inseln. - Seit der Geburt seines nun 10-jährigen Sohnes lebt er wieder in Zürich. Damit er eine gute Schule besuchen kann. Seine Frau von den Kapverden will das so. Seine Tochter Little Minoo (Bild S. 45) lebt mit ihren vier Kindern auch in Zürich. Hans wird im September 65, also pensioniert.

Die regelbestätigende Ausnahme. Aber kein Dampf, denn „Bisch en Dampf?“ heisst „Bisch schwul?“. Nöd gwüsst, hä!? Also, bevor wir das Missverstehen evozieren, wir litten an der grassierenden und heuchlerischen Schwulenphobie, beginnen wir von vorn. Und zwar so, wie jede wahre Geschichte beginnt.

Und wie wir – nach Blumentopfs Lied mit Signer’s Videos (s. R.E.S.P.E.C.T. Nr. 2, erhältlich im el Lokal) – bekanntlich alle Horsts sind, ist der Hans ein Hans.

Und hier kommt kein Alex und kein Horst, sondern Hugo. Hugo mit dem Wasser in den Beinen. En arme Siech. I go, you go, Hu go. Hans und

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Es war einmal ein rothaariger Rotz namens Hans. Ein richtiger Zürcher vom Chreis Cheib. Und Hans ist nicht nur über die Geleise quer gegangen. Dem lätzgfäderete Bengel wurde vom hellsichtigen Lehrer Michel schon in der dritten Klasse gewahrsagt, dass aus ihm mal ein Knastbruder werde. Ein pädagogisches Meisterstück. Recht hatte er, der Lehrer Michel. So fing alles an. Das war aber nicht das Ende: Hans im Glück kam dann zu einem Reallehrer, der ihn dazu brachte, wenigstens die Schule nicht zu schwänzen. Ist doch schon der erste Schritt zur Rettung einer verlorenen Seele. Und er verhalf Hans auch zu einer Lehrstelle als Rheinschiffer, die dieser später erfolgreich abschloss. Aber hopeless. Der Rotzbengel tat an Land einfach nicht recht, gesellte sich mit roter Elvistolle zu den jeansstarrigen Halbstarken im Niederdorf und schlug ein Nasenbein ein, um zu imponieren, und verschiedene Schaufenster, um zu stehlen. Da war er, der Knastbruder.

Hugo Halbstark sind wie gesagt keine Dampfs. Aber sie zocken im Bahnhofbuffet durch die Nacht, gewinnen 600 Stutz und fahren nach Griechenland. Im Zug natürlich. Das ist der Anfang von Hans’ Odyssee quer durch die Welt: Istanbul, die ersten Hippies, Kabul, Iran. Das Eine gibt das Nächste. Haschisch, Speed, Opium. Hugo mit den Wasserbeinen ist längst zurück in der Schweiz. Inzwischen sei er gestorben. Und eigentlich hatte Hans immer Afrika zum Ziel, kam aber nie über Marokko hinaus, was an den jeweiligen Lebensabschnittpartnerinnen gelegen habe. Jahrelang lebt Hans im Hausboot in Amsterdam, lernt im Selbststudium Segeln und immer wieder Frauen kennen. Hans schwimmt mit der Welle der Zeit, einer wunderbaren Zeit, wie er noch heute schwärmt, mit den aufkommenden Hippies, FriedeFreudeEierkuchen, PieceLove&Happiness, make love not war, freie Liebe, stell dir vor es ist Krieg und niemand geht hin, Drogen, Knast und grenzenlose Freiheit und und und. In Irland lebte er 15 Jahre mit der Mutter von fünfen seiner Kinder; bis zum heutigen Tag seien es insgesamt sieben, nein, ähm, acht, mit dem 10-jährigen Jusquinho, der beim ZSC spielt, in die NHL will und Portugiesisch

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literatur

nicht mag. Ob das wirklich alle sind, überlassen wir eurem Gutglauben. Immerhin musste selbst Hans einige Male nachzählen, um über die Klärung gewisser Unstimmigkeiten auf die besagte Zahl zu kommen. Aber steht alles im Buch, das Hans übrigens im Alleingang geschrieben hat. Zweifingersystem. Der Drucker habe ihm noch ein paar Fehler korrigiert, sonst hat niemand geholfen. Umso authentischer das Ganze. Chapeau, der Realschüler Hans Rotz hat sich gemacht, Herr Michel! Respekt, Respekt. Und der Weltenbummler hat auch schon einen Fan, der ihn nach der Lektüre schon einige Male getroffen hat. Einer, der auch gern nach Hans’ Fasson gelebt hätte. Die wenigen Schwarz-Weiss-Fotos im Buch zeigen den Dandy Hans Halbstark 1962 in Jeans-Montur, mit U.S. Army Sticker auf der Brust. Oder Hans und sein Haus mit Strohdach in Irland. Oder Hans mit Big Minoo, einen höchst dampfigen Beinknick vollziehend. Schon verrückt, so eine verrückte Lebensgeschichte von einem, der die schweizerische Enge flüchtete und auch im grössten Sturm mit seinem für eine

dann doch nicht vollendete Weltreise aufgerüsteten Boot ‚Alexia’ auch die fürchterlichsten Wellengänge überstanden hat. Ein Selfmade-Dandy. Autodidakt aus Leidenschaft. Das aus eisenhartem Holz gefertigte Boot sei einige Male wie eine Nussschale herumgeworfen worden. Aber er habe keine Zeit gehabt, Angst zu haben. Immer fand er einen Weg, um zu leben statt zu überleben. Mal Blut spenden für 20 Dollar, mal Autos über die Grenze fahren, mal Haschisch schmuggeln und dealen, mal Bauern und Gärtnern, Fischen, Wirten. Und vieles mehr. Alles verjährt, der Rest ist Schweigen, Herr Michel. Natürlich steckt Hansdampfs Leben voller kruder Geschichten, die längst nicht alle im Buch stehen. Erst im Gespräch fällt ihm beispielsweise wieder ein, wie er von der Geburt der ersten Tochter erfahren hat: Er verdiente Geld, indem er Pakistanis, die nach England wollten, an die persische Grenze transportierte. Im Niemandsland zwischen Pakistan und Iran, wo noch der in St. Moritz skilaufende Schah herrschte, liegt Hans unter seinem Bus, um irgendwas zu reparieren. Da hält ein Auto, jemand schaut zu ihm unter die Karre und sagt: „I know you from Copenhagen.“ Erstaunt erkennt er den Speedfreak, den er mal nackt auf den

Trümmern von dessen Zimmereinrichtung hockend vorgefunden hat. Innerhalb von zwei Minuten und ohne Atem zu holen habe der rastlose Freak ihm mitgeteilt, dass er total im Stress sei, nach China müsse, um da eine Spielzeugfabrik zu eröffnen und die Chinesen mit Spielzeug zu überschwemmen, er – also Hans – Vater einer Tochter geworden sei und er – also der Speedy – nun dringend weiter müsse. Und schon war die Fata Morgana vorüber. Nun aber genug des Gelabers. Hans muss nämlich los, um die im Bus deponierten Flyer mit Adresse und E-Mail wieder zu entfernen. Ich bin auch ein Buch. Er will keine Busse kassieren von der VBZ. Hat wahrscheinlich sowieso nix gebracht. So sieht Hans auch enttäuscht, dass die Zahl der Flyer im el Lokal immer gleich bleibt. Vielleicht eins, zwei, die fehlen. Am meisten Bücher verkauft er, indem er die potenziellen Käufer anspricht. 20 Stutz, Leute, ist doch geschenkt! Schön wäre schon ein Vertrieb in Deutschland. Ein Riesenmarkt. Aber vorläufig latscht er sich seine Sohlen ab, der Hansdampf, und zählt die Flyer nach. Er hasst übrigens Socken. Auch bei empfindlicher Kälte ist er barfuss in Lederschlüpfern unterwegs. Ein Barfuss-Dandy halt. D

Hans dampft in allen Gassen. Für CHF 20.- zu beziehen bei: Creola Verlag, Hofwiesenstrasse 285, 8050 Zürich; 079 603 16 30; pereirahans@yahoo.com

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printmedien

Benjamins Blätterteig*

Die „Brigitte“ für männliche Leser Mit Schokoladenkuchen-Genuss zum Sixpack? Kann man mit Hanteln eigentlich die Prostata trainieren? Gut, kommen im Magazin „Men’s Health“ die wirklich brennenden Fragen des starken Geschlechts aufs Tapet.

Von Benjamin Breitbild

Wie würde die bekannte deutsche Frauenzeitschrift „Brigitte“ aussehen, wenn man sie für eine männliche Leserschaft konzipiert hätte? Statt über die BH-Körbchengrösse müsste man wohl über gefährliche Unfälle mit Cockringen berichten. Statt Gärten und Balkone würde die Redaktion angesagte Fitnessstudios und die Camel-Trophy breittreten. Und es würden diesen Sommer wohl – zum gefühlten achten Mal – weisse Leinenanzüge im Fokus stehen. Es gäbe statt Testberichte über Haartönungen solche über Haarwuchsmittel und Handyakkus, und so weiter … Mal ehrlich, braucht der moderne Dandy eine derartige Publikation, um sich zu zerstreuen? Leider ist die Frage müssig, denn ein solches Heft gibt es bereits: Es heisst Men’s Health und erscheint seit Jahren erfolgreich im Monatsrhythmus. Unglaublich, welch männliche Themen schon auf der Titelseite angerissen werden. Beispiele gefällig? „Sex: Dazu kann sie nicht nein sagen. Wirkt sogar bei Streit.“ Oder fast noch besser: „Starke Arme – sichtbare Erfolge schon nach 1 Tag.“ Zur Leserschaft gehören aber offenbar nicht nur ungeduldige Schlaffis, sondern auch regelrechte Verlierertypen, wie der folgende Anriss auf dem Cover zeigt: „Clever verhandeln: So trickst sie keine(r) mehr aus.“ Auf ganze 11 Artikel wird so in der Aprilausgabe von „Men’s Health“ mit fetten roten Lettern hingewiesen, was ehrlich gesagt ein wenig beliebig wirkt. Aber wenn man halt so viele so tolle Inhalte zu verkaufen hat… Werfen wir nun einen Blick auf die Blattarchitektur. Wie in vielen Zeitschriften üblich, beginnt das Heft mit allerlei Kleinfutter: Behandelt wird beispielsweise, mit welcher Technik man Poker-

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karten möglichst weit werfen kann. Wie man am besten eine Putzfrau findet (1. Satz: „Geben Sie selbst eine Anzeige auf.“). Dass Biertrinken am Steuer in Deutschland ab 21 Jahren strenggenommen erlaubt sei. Die meisten Storys sind höchstens zehn, zwölf Zeilen lang – bevor sie langweilig werden, sind sie auch schon zu Ende. Etwas ausführlicher wirkt danach eine Doppelseite für Väter, ebenso der Vergleich diverser Backmischungen für Schokoladenkuchen. Die ausgewählten Supermarkt-Produkte werden auf Herz und Nieren geprüft, respektive auf ihren Geschmack, Preis und, jetzt kommt’s, die Kalorienzahl. Womit wir den Kreis eigentlich geschlossen haben und wieder bei der Frauenzeitschrift „Brigitte“ wären. In der „Brigitte“ werden seit Kurzem nur noch Models abgebildet, die einen „natürlichen“ Body-Mass-Index vorweisen. Es wird also auch mal ein Pölsterchen da, eine Rundung dort fotografisch in Szene gesetzt. Beim Frauenmagazin gehören damit magermilchsüchtige Models der Vergangenheit an. So weit ist man bei „Men’s Health“ noch nicht: Nach wie vor prangt auf dem Titelblatt Monat für Monat ein Mann mit nacktem Oberkörper und Sixpack zum neidisch werden. Der Coverboy wird intern „Titelheld“ genannt. Bei Benjamin Breitbild taucht da halt irgendwie schon die Frage auf, ob sich das Heft nicht in erster Linie an gleichgeschlechtlich orientierte Männer richtet. D *An dieser Stelle werden Zeitschriften und Magazine unter die Lupe genommen, die auch in Zeiten von Internet und iPhone einen zweiten, vertiefenden Blick rechtfertigen. Vierte Folge: „Men’s Health“, erscheint monatlich und ist für 8.20 Franken am Kiosk erhältlich.

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Size matters. And so does colour, format, typeface, balance, rhythm, photography or illustration. It's Editorial Design. Perhaps you thought we were talking about sex?

Oz Artworks Editorial Design Zurich • Barcelona • The World www.oz-artworks.com

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