Weltbote 78– Jahr der Ratte 440 n.P.
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Februar 2021
ADLERSTEIG Anfang des Jahrs der Stille Alles hatte nahezu harmlos angefangen. Fast wäre es Agok gar nicht aufgefallen, dass die "Erwachsenen" immer längere Zeit schlafend zu verbringen schienen, und wenn sie denn wachten, so musste man ihnen manches zwei- oder dreimal sagen, bevor sie darauf reagierten. Das wiederum war nichts Besonderes, gehörte es doch zu Agoks Ausbildung, dass ihre Lehrer mitunter so taten, als hätten sie sie nicht wahrgenommen. Meist geschah dies, um sie auf einen Fehler hinzuweisen, den sie gemacht hatte, ohne sie direkt zu tadeln. Doch war sie sich in letzter Zeit keinerlei Fehler bewusst geworden, und es hatte immer mehr verstohlene Entschuldigungen von seiten der anderen gegeben... Überhaupt schienen die Erwachsenen sie zunehmend als ebenbürtig zu behandeln, wenn man von ihrer zeitweiligen Geistesabwesenheit einmal absah. Aber Agok fühlte sich noch nicht bereit! Es waren doch noch fast drei Jahre bis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag! Ohnehin war dies für Agok eine Zeit unheimlicher Gefühlsanwandlungen. Ihr Mentor, Herrscher über ihre Heimat, der ihr wie ein liebender Vater gewesen war, seit sie vor über sechs Jahren nach Ter-A-took gekommen war, um ihre Ausbildung zu beginnen, schien nicht bemerken zu wollen, dass Agok ihn aufrichtig liebte... nicht wie einen Vater, sondern wie einen Mann! Zu gern hätte sie sich augenblicklich in seine starken Arme gekuschelt und sich von seinen zärtlichen Küssen verwöhnen lassen... Zumindest nahm sie an, dass seine Küsse nichts anderes als zärtlich sein konnten. Fast jede Nacht lag sie wach und erging sich in lustvollen Phantasien der Liebe, doch blieb ihre Sehnsucht unbeantwortet. Schlimmer noch, wirkte auch der Mann ihrer Träume mitunter abwesend, ja manchmal gar wie erstarrt... Es war ein regnerischer Frühlingstag im Mond des Falken, als Agok einer ihrer Phantasien als Tagtraum erlegen war, und sich plötzlich in den Armen ihres Geliebten (so betrachtete sie ihn jedenfalls, auch wenn das trotz all ihrer Sehnsüchte nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien) wiederfand, dessen offensichtlich besorgtes Gesicht über sie gebeugt war, als er sie gerade auf ihr Bett legte. Noch ehe sie richtig zu sich kommen konnte, waren ihr schon die Worte entschlüpft, die sie hätte schon viel früher sagen sollen: "Ich liebe Dich". Der Hauch eines Lächelns umspielte die Züge des Mannes, und zu ihrer größten Überraschung antwortete er ihr: "Ich weiß". Und da geschah es, was sie sich so lange gewünscht hatte: er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Lippen, sanft und liebevoll, noch viel zärtlicher, als sie sich hätte vorzustellen vermocht, während seine Hände ihren Leib liebkosten, so dass sie in einem Sturm der Lust zu vergehen drohte... Als Agok wieder zu Sinnen kam, hatte Barn-taak ihre Kammer bereits verlassen, und sie stellte fest, dass ihre eigene Hand es war, die ihre empfindsamste Stelle in liebevoller Berührung umschmeichelte. War etwa alles nur ein Traum gewesen? Oder besser gefragt: wieviel von alledem war Traum, und was war Wirklichkeit gewesen? Doch wurden diese Überlegungen unterbrochen von gedämpften Stimmen, die vor ihrer Kammer zu hören waren. Der besorgte Unterton war nicht zu überhören, auch wenn sich die einzelnen Worte nicht unterscheiden ließen. Neugierig geworden, stand Agok leise auf, und schlich sich, ihrer Nacktheit nicht achtend, zur Tür ihrer Kammer und legte ihr Ohr an das Türblatt, das kunstvoll aus Ter-briik gefügt war. Zwar immer noch gedämpft, konnte sie nun einzelne Worte ausmachen, und je mehr sie sich konzentrierte, umso mehr fügten sich diese zu ganzen Sätzen zusammen. Was sie hörte, jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein. Von "Zeitpest" war da die Rede, und dass die "Zeitstarre" nun sogar die Taadrai erfasst habe. Damit war sie gemeint. Sie riss die Tür auf und adressierte die beiden Männer mit ihrer entrüsteten Frage: "Was hat irgendeine Zeitpest mit mir zu tun?" Einen Moment lang hätte man fast meinen können, die Zeitstarre hätte nun die Angesprochenen