perspektive21 - Heft 49

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HEFT 49 SEPTEMBER 2011 www.perspektive21.de

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

WIE IN BRANDENBURG DIE AUFARBEITUNG GELANG

Geschichte, die nicht vergeht MATTHIAS PLATZECK: Nur Rückspiegel reicht nicht ALEXANDER GAULAND: Land zwischen Oder und nirgendwo RICHARD SCHRÖDER: Orientierung und Konsens bieten CHRISTOPH KLEßMANN: Die zweite Chance GESINE SCHWAN: Zukunft braucht Vergangenheit NORBERT FREI: 1989 und wir? ANDREAS KUHNERT: Mit Schaum vor dem Mund geht es nicht MARTINA GREGOR-NESS & KLAUS NESS: Nicht das gelebte Leben ausgrenzen WOLFGANG HUBER: Ruhig und bestimmt FRIEDRICH SCHORLEMMER: Frei und unbefangen? MARTIN GORHOLT:

Der Glücksfall

ROBERT DAMBON: Sachsens Glanz und Brandenburgs Weg?


Eine persรถnliche Bestandsaufnahme

20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?

224 Seiten, gebunden

| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen


vorwort

Geschichte, die nicht vergeht as passiert eigentlich seit zwei Jahren in Brandenburg? Ein Klick zu Wikipedia und schon sind wir etwas schlauer: „Geschichtspolitik ist die aus politischen Gründen gewählte, das heißt, parteiische Interpretation der Geschichte und der Versuch, eine breite Öffentlichkeit von dieser Interpretation zu überzeugen“. Seit Bildung der rot-roten Großen Koalition in Brandenburg erleben wir ein Trommelfeuer dieser Geschichtspolitik, um diese Regierung zu bekämpfen. Mit großem publizistischen Aufwand wird von großen Teilen der Opposition und ihnen nahestehenden Publizisten und Wissenschaftlern versucht, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass der von Manfred Stolpe, Regine Hildebrandt und der SPD geprägte „Brandenburger Weg“ in den neunziger Jahren die Aufarbeitung der DDR-Geschichte behindert und Brandenburgs Ankommen in der westlichen Welt verhindert habe. Eine – Achtung Ironie! – interessante Sichtweise, mit der offensichtlich auch die miesen Wahlergebnisse seit 1990 der sich selbst „bürgerlich“ nennenden Parteien in Brandenburg erklärt werden sollen. Als jemand, der selbst 1991 aus Westdeutschland nach Brandenburg gekommen ist, befremdet mich dieser verspätete Versuch, die Brandenburger umzuerziehen, weil damit ein Bild von den Brandenburgern als ostalgische Hinterwäldler kultiviert wird, die einfach nicht die Segnungen der westlichen Demokratie erkennen wollen.

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Diese Art von Geschichtspolitik, die wir gegenwärtig in Brandenburg erleben, beschädigt eine ernsthafte und notwendige Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit. Mit diesem Heft der Perspektive 21 wollen wir deshalb einen Beitrag zu einer ernsthaften Auseinandersetzung leisten. Wir klammern dabei natürlich auch nicht die Rolle des Brandenburger Gründungsministerpräsidenten Manfred Stolpe aus. Mit Wolfgang Huber und Friedrich Schorlemmer haben wir zwei Autoren gewonnen, die interessante Einsichten zur Rolle Manfred Stolpes beisteuern können. Besonders an Herz legen möchte ich Ihnen aber das Interview mit dem ehemaligen DDR-Oppositionellen und heutigen Landtagsabgeordneten Andreas Kuhnert, der eindrücklich schildert, wie in den Nachwendejahren in Brandenburg Aufarbeitung praktisch betrieben wurde und was die damals Aktiven umtrieb. Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre und bin auf die Reaktionen auf dieses Heft sehr gespannt. IHR KLAUS NESS



inhalt

Geschichte, die nicht vergeht WIE IN BRANDENBURG DIE AUFARBEITUNG GELANG

MAGAZIN

Nur Rückspiegel reicht nicht ............................................ 7 Warum die Brandenburger Sozialdemokraten eine große Debatte zur Zukunft unseres Landes vorantreiben wollen MATTHIAS PLATZECK:

THEMA

Land zwischen Oder und nirgendwo .............................. 13 Der „Brandenburger Weg“ ist kein Rückgriff auf die DDR – sondern auf preußische Traditionen ALEXANDER GAULAND:

Orientierung und Konsens bieten ..................................... 21 Warum die Bezeichnung Brandenburgs als „kleine DDR“ falsch ist RICHARD SCHRÖDER:

Die zweite Chance ........................................................ 25 Oder: das Recht auf politischen Irrtum CHRISTOPH KLEßMANN:

Zukunft braucht Vergangenheit ............................................. 33 Wie wir mit der Vergangenheit ehrlich umgehen können GESINE SCHWAN:

1989 und wir? ............................................................................ 39 Der Umgang mit der DDR-Vergangenheit ist geprägt von Erinnerungspolitik im Übermaß – nötig wäre Geschichtsbewusstsein NORBERT FREI:

Mit Schaum vor dem Mund geht es nicht ........................... 47 Über das flaue Gefühl bei Stasi-Überprüfungen, vermeintliche Spitzel in der SPDFraktion, den Rechtsstaat und eine zweite Aufarbeitung sprach Thomas Kralinski mit Andreas Kuhnert ANDREAS KUHNERT:

Nicht das gelebte Leben ausgrenzen ..... 55 Sechs Erfahrungen aus 20 Jahren Brandenburg MARTINA GREGOR-NESS & KLAUS NESS:

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Ruhig und bestimmt ........................................................... 63 Wie Manfred Stolpe half, die Eigenständigkeit der DDR-Kirche zu sichern und so einen Betrag zum Sturz des SED-Regimes leistete WOLFGANG HUBER:

Frei und unbefangen? ............................................ 67 Der politische Journalismus als Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln FRIEDRICH SCHORLEMMER:

Der Glücksfall ..................................................................... 75 Eine Einordnung der Diskussion um Manfred Stolpe MARTIN GORHOLT:

Sachsens Glanz und Brandenburgs Weg? ............................. 81 Die Unrechtsaufarbeitung in den ostdeutschen Bundesländern ROBERT DAMBON:

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Nur Rückspiegel reicht nicht WARUM DIE BRANDENBURGER SOZIALDEMOKRATEN EINE GROSSE DEBATTE ZUR ZUKUNFT UNSERES LANDES VORANTREIBEN WOLLEN VON MATTHIAS PLATZECK

ir in Brandenburg haben uns in den letzten Jahren viel mit unserer Vergangenheit beschäftigt. Wir haben 2009 und 2010 bewegende 20. Jahrestage gefeiert, und wir haben in jüngerer Zeit engagierte Debatten zu Fragen angemessener Geschichtsaufarbeitung geführt. Das alles war sinnvoll, und selbstverständlich wird der Blick zurück auch weiterhin notwendig sein. Die Vergangenheit des eigenen Landes zu kennen – und zwar in ihren problematischen Aspekten genauso wie in ihren erbaulichen –, ist völlig unabdingbar, damit alte Fehler nicht erneut begangen werden. Zukunft braucht Herkunft, dabei bleibt es. Aber allein mit dem Blick in den Rückspiegel werden wir eine gute Zukunft für unser Land nicht gewinnen. Wir brauchen auch den aufmerksamen Blick nach vorn, wir brauchen gute Ideen, tragfähige Konzepte und die Bereitschaft zur Erneuerung. Denn heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR haben wir es in Brandenburg weit überwiegend mit Aufgaben und Problemen zu tun, bei deren Lösung uns selbst genaueste Geschichtskenntnis und gewissenhafteste Aufarbeitung nur sehr begrenzt weiterhelfen können. Darum muss es der Politik auch in Brandenburg noch intensiver um die Bewältigung von Gegenwart und Zukunft gehen als um die Bewältigung der Vergangenheit.

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Wie die neuen Fragen der Zeit aussehen Als die DDR zu Ende ging und das Land Brandenburg gegründet wurde, zeichneten sich die großen Fragen, die im 21. Jahrhundert über unsere Lebensqualität und unseren Wohlstand entscheiden werden, noch nicht einmal in Umrissen ab. Viele der Themen, die heute völlig zu recht ganz weit oben auf der politischen Tagesordnung stehen, galten bestenfalls als Steckenpferde einiger Experten: „Demografie“, „Globalisierung“, „Digitalisierung“, „Klimawandel“, „Energiewende“ oder „Wissensgesellschaft“ – alle diese Schlagwörter benennen Entwicklungen, deren enorme perspektive21

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Bedeutung wir erst nach und nach begriffen haben. Und sie alle betreffen uns hier in Brandenburg ganz direkt. Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, ob wir auf der Höhe der Zeit sind. Um ein für unser Land besonders wichtiges Beispiel zu nennen: Ich wenigstens hätte mir 1990 noch nicht sehr viel unter dem Begriff „demografisches Echo“ vorstellen können. Das hat sich geändert. Denn inzwischen bekommen wir in aller Deutlichkeit zu spüren, worum es sich bei diesem Echo handelt: In Ostdeutschland halbierten sich – als Folge existenzieller Verunsicherung – nach 1990 schlagartig die Geburtenzahlen. Das wiederum hat eine Generation später, also heute und in den nächsten Jahren zur Folge, dass die Zahl der möglichen Eltern nochmals drastisch schrumpft – wer nicht geboren wurde, kann auch keinen Nachwuchs in die Welt setzen. Eine Partei für alle Gruppen und Regionen Während in Brandenburg derzeit noch 18.000 Kinder pro Jahr zur Welt kommen, werden es um das Jahr 2030 herum voraussichtlich nur noch 10.000 sein. Wie werden wir dieser Entwicklung gerecht? Wie werden wir beispielsweise unser Schulsystem umbauen müssen? Wie kriegen wir es hin, dass jedes einzelne Kind die bestmögliche Förderung erhält? Und wenn es immer mehr Ältere gibt als Jüngere, wie werden wir dann sicherstellen, dass Gesundheitsversorgung und Pflege funktionieren? Und mit welchem Personal? Was müssen wir also tun, um Brandenburg zu einem attraktiven „Einwanderungsland“ zu machen, das zunehmend auch junge Leute und Fachkräfte aus anderen Teilen Deutschlands und Europas anzieht? Diejenige Partei in unserem Land, die ernsthafter als andere Ideen und Konzepte entwickeln muss, mit denen wir die Zukunft bewältigen können, ist die Brandenburger SPD. Wir stehen in der Pflicht. Auf uns blicken die Leute, von uns vor allem erwarten sie konkrete Lösungen. Das ist in Ordnung so. Unserem ganzen Selbstverständnis nach sind wir seit über 20 Jahren Fortschritts- und Gestaltungspartei. Und unser Ruf als „Brandenburgpartei“ rührt daher, dass die Bürger wissen: Diese Brandenburger SPD begreift sich als Partei für das gesamte Land, für alle Schichten, für alle Gruppen und alle Regionen, für Einheimische ebenso wie für neu Hinzukommende, für jetzige wie für künftige Generationen. Genau diese Idee von Gemeinsinn, Gerechtigkeit und gleichen Lebenschancen für alle meinen wir, wenn wir „Ein Brandenburg für alle“ sagen. Wer das gesamte Brandenburg und seine Zukunft im Blick zu behalten versucht, der darf sich nicht – zu Lasten des Gemeinwohls – vor den Karren irgend8

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welcher Spezialinteressen spannen lassen. Klientelparteien tun aber genau das. Sie setzen sich rücksichtslos als politische Schutzmächte bestimmter Gruppen in Szene. Deren Wünsche und Interessen sind ihnen wichtiger als die Entwicklungsperspektiven des Landes insgesamt. Dagegen müssen – und wollen – wir Brandenburger Sozialdemokraten immer wieder möglichst kluge Kompromisse erarbeiten, die für möglichst viele Beteiligte verträglich sind. Populär ist solch eine „Politik des Zusammenhalts“ keineswegs immer, schließlich verlangt sie allen Seiten Zugeständnisse ab. Und leichter wird das Kompromisseschmieden in den kommenden Jahrzehnten auch nicht werden. Als Bundesland sind wir in der einzigartigen Lage, mit Berlin einen „Großmagneten“ in unserer Mitte zu haben. Dieser bewirkt, dass sich die berlinnahen und die berlinfernen Teile unseres Landes demografisch, ökonomisch und sozial sehr unterschiedlich entwickeln. Darum werden wir in Zukunft eher noch mehr innerbrandenburgische Disparitäten zu bewältigen haben. Und gerade weil das so ist, braucht Brandenburg eine solidarische „Politik des Zusammenhalts“: eine Politik, die das Land zusammenführt und nicht spaltet. Ich möchte nicht missverstanden werden: Damit meine ich ausdrücklich keine Wohlfühlpolitik der „faulen“ Kompromisse auf kleinstem gemeinsamem Nenner. Zukunftsfestigkeit für Brandenburg werden wir nur mit viel Bereitschaft zu Wandel und Erneuerung erlangen. Alle müssen sich bewegen, aber nicht jeder tut das gerne. Keineswegs nur begeisterte Zustimmung erntet deshalb, wer konkrete Vorschläge dazu vorlegt, welche Schritte nötig sind, damit Brandenburg auch noch in den kommenden zwei, drei oder mehr Jahrzehnten ein lebenswertes und erfolgreiches Land mit Perspektiven für alle sein kann. Wir Brandenburger Sozialdemokraten bekommen das gerade anhand einiger aufgeregter Reaktionen auf unser aktuelles Diskussionspapier „Brandenburg 2030“ (www.brandenburg2030.de) zu spüren. Einladung zum Dialog Zum Glück wird dieser erste Entwurf einer langfristigen Richtungsbestimmung bereits überall im Land als das diskutiert, was er ist: als erster Aufschlag einer gründlichen Debatte, als Einladung an alle Bürgerinnen und Bürger zum gesellschaftlichen Dialog. Genau den wollen wir ja bewirken, und viele sagen mir: „Gut, dass ihr diese Diskussion jetzt auf den Weg gebracht habt.“ Aber manche reagieren auch ablehnend. Einige haben konkrete Einwände, andere erwarten von Veränderungen grundsätzlich vor allem Nachteile. Wo die demografischen Verhältnisse komplizierter werden und die öffentlichen Einnahmen schrumpfen, perspektive21

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wollen sie lieber in Deckung bleiben und sich so fest wie nur irgend möglich am Bestehenden festklammern. Das ist menschlich verständlich, aber es ist die falsche Strategie, denn der Wandel kommt so oder so. Die Frage ist nur, ob wir ihn aktiv, offensiv und vorsorgend gestalten – oder ob er über uns hereinbricht. Unsere Brandenburger Gemeindereform aus dem Jahr 2003, von der Bevölkerungsentwicklung schon jetzt wieder überholt, ist ein Beispiel dafür, dass wir Themen dieser Art besser nicht noch einmal zu zögerlich angehen sollten. Wir brauchen zupackende Lösungen, die in ihrer Größenordnung den vorhersehbaren großen Entwicklungstrends der kommenden Jahrzehnte angemessen sind. In diesem – und nur in diesem – Sinne sind übrigens auch die im Diskussionspapier der Brandenburger SPD vorgeschlagenen Mindestgrößen für die Kreise und Gemeinden von 200.000 und 12.000 Einwohnern zu verstehen. Die genannten Zahlen bedeuten selbstverständlich keine Vorfestlegung; sehr wohl aber sollen sie die Dimension der Aufgaben verdeutlichen, die vor uns liegen. Die zentrale Botschaft lautet: Für welche Lösungen und Strategien wir uns in Brandenburg am Ende entscheiden – auf keinen Fall dürfen wir zu kurz springen, auf keinen Fall dürfen wir zu unentschlossen und zu mutlos agieren! Politik ist für jeden beeinflussbar In Medienberichten über den Diskussionsprozess „Brandenburg 2030“ war zu lesen, ich hätte „eingeräumt“, bei der Umsetzung unserer Vorschläge werde es zu Zielkonflikten kommen. Nein, genau umgekehrt wird ein Schuh daraus: Zielkonflikte gibt es immer, und gerade weil die ganz normale Wirklichkeit des Lebens voll von ihnen ist, brauchen wir die klärende Diskussion! Wünsche haben wir Menschen viele, aber wir können nicht alle unsere Ziele mit derselben Dringlichkeit verfolgen, und teilweise schließen sie sich sogar wechselseitig aus. Alles gleichzeitig geht nicht. Darum müssen wir Prioritäten setzen und Entscheidungen treffen. Wenn wir beispielsweise wollen, dass bei uns in Brandenburg (wie übrigens in Deutschland insgesamt) weiter verlässlich Strom aus Steckdosen fließt, dann können wir eben nicht Atomenergie, Kohlekraftwerke, Windräder, Biomasse und Stromleitungen zugleich ablehnen – wie also machen wir es? Wenn wir uns für Brandenburg weiterhin Wohlstand und Arbeitsplätze wünschen, dann dürfen wir nicht zugleich vom Ausstieg aus der industriellen Wertschöpfung träumen – welche Industrien wollen wir also? Und wenn wir finden, dass es erreichbare Schulen weiterhin auch in dünn besiedelten Regionen geben soll, dann können wir nicht 10

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matthias platzeck – nur rückspiegel reicht nicht

zugleich der Idee eines vielfältig gegliederten Schulsystems anhängen – aber wie machen wir es dann? Ich meine, wir müssen ein ebenso einfaches wie durchlässiges zweigliedriges Schulsystem anpeilen: ein System, in dem allen Schülerinnen und Schülern ein Höchstmaß von individueller Förderung garantiert wird; ein System, in dem die Hochschulreife sowohl auf dem gymnasialen wie auf dem nichtgymnasialen Weg erlangt werden kann; und schließlich: ein System, dass keinen einzigen jungen Menschen mehr ohne Abschluss und Perspektiven ins Leben entlässt. Es sind konkrete Fragen und Zielkonflikte wie diese, mit denen wir es in Brandenburg zu tun haben. Unser Diskussionsprozess „Brandenburg 2030“ wird sich dann als nützlich und wegweisend erwiesen haben, wenn er uns hilft, gemeinsam eine klare Diagnose der Lage unseres Landes zu gewinnen. Nur auf dieser Grundlage können wir Lösungen entwickeln, die zum einen in der Sache stimmig sind und zum anderen auch öffentliche Akzeptanz finden. Bequem sind die Debatten mit Sicherheit nicht, die wir in Brandenburg miteinander zu führen haben. Wir haben uns trotzdem entschieden, sie energisch voranzutreiben – aus demokratischer Verantwortung für unser Land und seine gute Zukunft. Wir Brandenburger Sozialdemokraten haben jetzt einen ersten Stein ins Wasser geworfen. Aber wir sind ausdrücklich keine geschlossene Gesellschaft: Wir wünschen uns, dass viele Bürgerinnen und Bürger unsere Einladung zur Debatte aufgreifen. Von ihrer Beteiligung, ihrem Engagement und ihrer Sachkenntnis hängt die Zukunft unseres Landes ab. Sie alle sollten mitmachen. Olof Palme, der so tragisch ums Leben gekommene ehemalige Premierminister Schwedens, schrieb die folgenden Sätze: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß und zu kompliziert seien. Die Politik ist zugänglich, beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“ In genau diesem Sinne ist die Diskussion um Brandenburgs Zukunft eröffnet. I

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Vorsitzender der Brandenburger SPD. perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

Land zwischen Oder und nirgendwo DER „BRANDENBURGER WEG“ IST KEIN RÜCKGRIFF AUF DIE DDR – SONDERN AUF PREUSSISCHE TRADITIONEN VON ALEXANDER GAULAND

on Metternich stammt das böse Wort, dass Italien nur ein geografischer Begriff sei. Von Brandenburg, so der Preußen-Biograph Christopher Clark, lässt sich nicht einmal das behaupten. Das Kernland jenes Staates, der später unter dem Namen Preußen in die Geschichte eingehen sollte, besitzt weder natürliche Grenzen noch einen Zugang zum Meer oder nennt gar herausragende landschaftliche Schönheiten sein eigen. Die Böden sind sandig und die Bodenschätze vernachlässigenswert. Deshalb sind hochwertige landwirtschaftliche Produkte selten, und wo in anderen gesegneteren Landschaften aus dem natürlichen Reichtum Schlösser erwuchsen, baute der märkische Adel seine „Katen“ wie der alte Stechlin alias Theodor Fontane die bescheidenen Herrenhäuser der Mark liebevoll-ironisch nannte. Umso erstaunlicher bleibt es, dass und wie jene Landstriche von etwa 40.000 Quadratkilometern rund um Berlin deutsche und europäische Geschichte gemacht haben. Wenn man

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das größte ostdeutsche Flächenland, das nach seiner Amputation durch die Siegermächte 1945 noch immer 30.000 Quadratkilometer umfasst, heute betrachtet, so fallen seine Kontinuitäten stärker auf als seine Wandlungen. Brandenburg ist nach wie vor ein dünn besiedeltes, vorwiegend agrarisch geprägtes Land, es ist ein Land ohne Mitte, dessen geografische Mitte – Berlin – eben nicht Brandenburg ist. Von Persönlichkeiten gemacht Es verblüfft bis heute, dass ein Land am Rande des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, also weit weg von den römisch geprägten und mit natürlichem Reichtum gesegneten Landstrichen an Rhein, Main und Donau so wirkungsmächtig wurde. Der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels liegt in der Dynastie der Hohenzollern, jener Burggrafen von Nürnberg, die 1415 von Kaiser Sigismund Brandenburg als Dank für ihre Unterstützung seiner Bewerbung um die römische perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

Königskrone erhielten. Es ist in einer Zeit, die alles von Strukturen und objektiven Faktoren erwartet, nicht sehr zeitgemäß festzustellen, dass brandenburgisch-preußische Geschichte im Guten wie im Schlechten von Persönlichkeiten gemacht wurde. Denn längst vor den Ikonen einer national-deutschen Geschichtsschreibung, dem Großen Kurfürsten, dem Soldatenkönig und dem großen Friedrich gab es in diesem Land kluge Herrscher, die zwischen Schweden, Polen und Habsburg, später zwischen Frankreich und Russland, aber auch zwischen dem katholischen Kaiser und dem neuen protestantischen Glauben balancieren mussten, die gezwungen waren, zwischen Optionen zu wählen, die sich zwischen den Fronten wiederfanden und daher die Qual der Wahl zwischen Bündnis, bewaffneter Neutralität und unabhängigem Handeln hatten. Am Ende war nur Brandenburg Jene vorsichtig tastende Politik, die nach 1701 mit der Erhebung der brandenburgischen Kurfürsten zu preußischen Königen von dieser preußischen Dimension überschattet wurde, lebte später, nach 1989, im sogenannten Brandenburger Weg einer vorsichtigen Systemumstellung unter Mitnahme möglichst vieler wieder auf. Was damals oft belächelt wurde und Brandenburg im alten Westen den Vorwurf 14

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einer kleinen DDR einbrachte, war nichts weiter als die Rückkehr zu den brandenburgischen Traditionen vor ihrer preußischen Inanspruchnahme. Denn auch diesmal kam es darauf an, sich als Schwacher hindurchzulavieren zwischen sozialer Besitzstandswahrung und wirtschaftlicher Erneuerung. Nur dass jetzt an die Stelle des Kurfürsten Joachim, der selbst eher zögerlich protestantisch geworden war, im Schmalkaldischen Krieg zum katholischen Kaiser stand und seinen Untertanen keinen Glauben aufzwingen mochte, der ostdeutsche Kirchenmann Stolpe trat, der diese Tradition – bewusst oder unbewusst – fortsetzte, indem er den Bruch mit der DDR möglichst sanft vollzog, auch dort, wo die Falken einer schnellen Verwestlichung Entschiedenheit und Klarheit forderten, bei der Aufklärung der Stasi-Vergangenheit – der eigenen wie der kollektiven. Denn am Ende war nur Brandenburg geblieben, nachdem Preußen erst im Reich aufgegangen und schließlich mit ihm untergegangen war. Es ist eines der erstaunlichsten Phänomene der Entwicklung nach 1945, wie gering die Anziehungskraft Preußens als deutscher Sehnsuchtsort und Fokus einer kollektiven Identität war. Ganz anders als das Habsburger Reich Franz Josephs, das heute in Wien wie in Budapest, in Pressburg wie in Laibach freundlich erinnert wird, und dessen schwarz-gelbe Traditionen selbst noch


alexander gauland – land zwischen oder und nirgendwo

in gemeinsamen Hotelführern der ehemaligen Kronländer der Monarchie fortleben, tauchte Preußen nicht einmal bei den Vertriebenenorganisationen als wiederzugewinnende Heimat auf. Man war Ostpreuße, Schlesier und Pommer oder eben vertriebener Brandenburger, wenn man jenseits der Oder zu Hause gewesen war. Mythos und Identität Dass Brandenburg überdauerte, als Preußen unterging, verdankte es einem Dichter, der für Brandenburg das schuf was die Hohenzollern – so lange es dauerte – für Preußen geschaffen hatten, einen Mythos, eine Identität. Es war nicht die große Erzählung der preußisch-deutschen Geschichte, es waren die kleinen lokalen Geschichten – Kattes Tod, Marwitzens Stolz und Prinz Heinrichs Rheinsberg – die übrig blieben, als die große verschwunden war. Als ob er geahnt habe, dass das Große nicht dauern werde, schuf Fontane das Kleine zum Großen und Dauerhaften um. Hatte doch schon der alte Stechlin sich geweigert, die Preußenfarben durch das neumodische Schwarz-Weiß-Rot zu ersetzen. „Das alte Schwarz und Weiß hält gerade noch, aber wenn du was Rotes drannähst, dann reißt es gewiss“, beschied er seinen Diener Engelke. Als nach 1989 das Land zwischen Oder und nirgendwo, wie es der Pu-

blizist Wolf Jobst Siedler genannt hat, neu erstand, blickte es nur auf wenige Jahre einer angefochtenen Selbstständigkeit zwischen 1945 und 1952 zurück. In der Weimarer Republik war es bloß preußische Provinz gewesen und erst nach 1947, dem Jahr von Preußens amtlichem Tod, selbstständig geworden, um danach für fast 40 Jahre erneut in die Bezirke Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus zu zerfallen. Bürgertum gab es nicht Es hat später viel politischen Streit darum gegeben, welche Prägungen tiefer, nachdrücklicher waren, die historisch überkommenen oder die aus 40 Jahren DDR. Es ist eine ironische Volte, dass ausgerechnet ein bekennender Konservativer wie Jörg Schönbohm die Prägungen der DDR über die historisch tradierten stellte und alle möglichen Verwahrlosungserscheinungen der Entbürgerlichung im Arbeiter- und Bauernstaat anlastete. Doch gerade das ostelbische Brandenburg kannte wohl Rittergut-besitzenden Adel, aber kaum Bürger. Denn dass sich die Pfahl- und Ackerbürgerstädtchen nicht mit bürgerlichen Zentren wie Dresden, Leipzig, Erfurt oder selbst Weimar vergleichen ließen, macht die Kontinuität so offensichtlich. Das Bürgertum musste in Brandenburg nicht abgeschafft und vertrieben werden, es gab es einfach nicht, sieht perspektive21

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man einmal vom verbürgerlichten „Etagenadel“ in Potsdam und einigen anderen Garnisonsstädten ab. Aus dem adeligen Grundbesitz wurden über die Zwischenstation der Bodenreform landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, und in wenigen industriellen Ballungszentren wie Rathenow, Eisenhüttenstadt, Schwedt oder Schwarzheide entstanden neue Industriearbeitsplätze. Doch dazwischen blieb das Land was es war, eine leere Fläche von Kiefern, Birken und Föhren bestanden und von ein paar Ackerbürgern, Kleinbauern und Landarbeitern dominiert. Damit aber hatte zu keiner Zeit nach 1989 eine bürgerliche Alternative wie in Sachsen oder Thüringen eine Chance – Brandenburg hatte keine bürgerliche Geschichte und also auch keine bürgerliche Tradition. Rückgriff auf Traditionen Manfred Stolpe hat das, anders als die vielen ephemeren CDU-Führungen vor Schönbohm erkannt und zusammen mit seiner Sozialministerin Regine Hildebrandt einen sozialpaternalistischen Kurs gesteuert: vom Staat initiierte und zum Teil auch finanzierte Großprojekte und ein Netzwerk sozialer Wohltaten aus dem Bestand der DDR. Doch das war anders als viele meinten nicht die Wiederherstellung der DDR im Kleinen, sondern ein Rückgriff auf alte Brandenburger Tra16

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ditionen, eingebettet in ein wenig preußische Folklore und institutionell abgesichert durch eine Verfassung, die mit ihrem umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte weitgehenden Staatszielbestimmungen und Formen der unmittelbaren Demokratie theoretisch weit über das Grundgesetz hinaus weist und zu Beginn von ihren Gegnern als „Weg in eine andere Republik“ beschrieben wurde. Die CDU wurde überflüssig Man hat sich vor allem im Westen der Republik, besonders nach dem Aufkommen der Stasi-Vorwürfe und dem Scheitern fast aller seiner Projekte vom Lausitzring über die Chipfabrik bis zum Cargolifter immer wieder gefragt, weshalb die SPD Stolpes von der Ampelkoalition über die absolute Mehrheit bis zur großen Koalition immer die dominierende Brandenburger Partei geblieben ist und teflongleich alle wirtschaftspolitischen Misserfolge des Ministerpräsidenten an ihr abperlten. Die Antwort liegt wieder einmal wie schon so oft in der brandenburgischpreußischen Geschichte in Personen und nicht in Strukturen. Der ehemalige Konsistorialpräsident war alles in einem: konservativ und sozial, preußisch-pflichtbewusst, christlich, bodenständig mit DDR-Vergangenheit und zugleich offen genug, den zurückkehrenden Adel in seine Obhut zu neh-


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men. Neben der Figur Stolpe waren CDU und FDP als bürgerliche Gralshüter überflüssig, und das Ein-PunktThema Stasi, das dem Bündnis 90 seine Anfangsberechtigung gab, interessierte immer weniger, je heftiger die sozialen Schmerzen wurden. Erst mit Jörg Schönbohm fand sich für die CDU ein ebenso preußisch-konservatives Gesicht, mit dem man – in gehörigem Abstand zur SPD – Wähler gewinnen und Themen besetzen konnte. Doch auch ihm gelang es nicht, aus der alten Ost-CDU und den bürgerlichen Rebellen um Petke, Reiche, Ehlert, Ludwig und Dombrowski einen politischen Kampfverband zu formen. Zu unterschiedlich war die politische Sozialisation, zu unterschiedlich waren die Lebensläufe. Streit wirkt bis heute fort Denn während einige noch den Sozialismus gelobt hatten, waren andere schon mit der verfallenden Staatsmacht der DDR aneinandergeraten. Und so verbarg sich hinter der persönlichen Auseinandersetzung um Illoyalität und angeblich rechtswidrig kontrolliertem E-Mail-Verkehr auch eine kulturelle Differenz zwischen den Anhängern des Brandenburger Weges und den westlich oder bürgerrechtlich geprägten Christdemokraten, die tiefer ging, als es der Anlass des Streites ahnen ließ und die bis heute fortwirkt. Und nur der Ge-

neral aus dem Westen mit den Brandenburger Wurzeln vermochte es wenigstens eine Zeit lang diese kulturelle Differenz mit konservativer Kantigkeit zu überdecken. Wie Brandenburg wirkt Der heutige Ministerpräsident Matthias Platzeck ist eine jüngere, leicht modernisierte Ausgabe des Erfolgsmodells Stolpe, eine Mischung aus sozialem Engagement, Bürgerbewegtheit und DDR-Erbe. Denn nicht Programm und Inhalte zählen in Brandenburg, sondern ob jemand das Lebensgefühl der Mark – Beharren, Skepsis und ein bisschen Wunderglauben – verkörpern kann, und das kann Platzeck wie keiner sonst. Wie hartnäckig das traditionelle Brandenburger Lebensgefühl sein kann, zeigt sich 1990 als die Bezirke abgeschafft und die Länder wiedererrichtet wurden. Der Kreis Perleberg in der Prignitz war seit dem 14. Jahrhundert Teil der Mark Brandenburg gewesen. 1952 wurde er in den Bezirk Schwerin eingegliedert. Als sie schließlich im Jahre 1990 gefragt wurden, wohin sie gehören wollten, stimmten 80 Prozent der Wähler in Perleberg für die Rückkehr ins Brandenburgische, während drei kleine Dörfer, die erst 1952 Perleberg zugeschlagen worden waren, dem Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin die Treue hielten. perspektive21

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Was man den Perlebergern gern gewährte, verweigerte man den Berlinern. Die Volksabstimmung über die Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes Berlin-Brandenburg endete 1996 mit der Ablehnung des Fusionsvertrages. Zwar votierten 53,4 Prozent der Berliner dafür, aber 62,7 Prozent der Brandenburger waren dagegen. Auch hier war die Brandenburger Identität stärker als das gemeinsame preußische Erbe. Den Ausschlag für das Nein gab die Sorge, diese gerade erst wiedergewonnene Identität erneut zu verlieren, die Umbruchsituation bis auf den Sanktnimmerleinstag zu verlängern und obendrein für die Berliner zahlen zu müssen. Nicht die alte DDR, die Kurmark hatte triumphiert. In den letzten Jahren ist der Brandenburger Weg mehr Folklore als Realität. Nur wenige Abweichungen Zwar tauchen immer einmal wieder Abweichungen von anderen ostdeutschen Bundesländern auf, so bei den eher laxen Stasi-Überprüfungen im öffentlichen Dienst und hier besonders bei der Polizei, wozu auch der bisherige Verzicht auf einen Stasi-Beauftragten gehört oder die Art und Weise, wie die Brandenburger Verwaltung Bodenreformflächen für den Staat reklamierte, doch sind das letztlich eher Peanuts, die noch keinen deutlich unterscheidbaren Brandenburger Weg konstituie18

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ren, wozu, anders als in Bayern oder Baden-Württemberg die wirtschaftliche Kraft nicht ausreicht. Auch die Verfassung ist, soweit sie über das Grundgesetz hinausgeht, mehr ein Erinnerungsposten als gelebte Realität. Die Schwierigkeiten, die auf das Land zukommen, haben wenig oder nichts mit der DDR-Vergangenheit, dafür viel mit dem alten Brandenburg zu tun; sie liegen in der zunehmenden Entvölkerung der Berlin-fernen Gebiete. Zwei Geschwindigkeiten Doch während der Große Kurfürst nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges das Land mit Hugenotten aus Frankreich „peuplieren“ konnte, ist der Trend heute unumkehrbar und macht es mittel- wie langfristig erforderlich, ein Land der zwei Geschwindigkeiten zu erfinden. Staatliche Vorsorge, aber auch individuelle Versorgung und medizinische Betreuung werden künftig in der Prignitz und in der Uckermark anders aussehen als im Speckgürtel um Berlin und Potsdam. Das war wohl auch der Grund, weshalb Platzeck die Union in der Koalition durch Die Linke ersetzte. Rot-Rot bewahrt die SPD davor, in stürmischer See ihre Stellung als Brandenburg-Partei an Die Linke zu verlieren. Während in Thüringen oder Sachsen eher Die Linke als die SPD


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die Repräsentantin der Mühseligen und Beladenen, der im Wiedervereinigungsprozess zu kurz Gekommenen ist, hat die Partei Stolpes, Hildebrandts und Platzecks trotz aller linken Wahlerfolge das Image einer BrandenburgPartei bewahren können. Der konservative Charakter des Landes hilft auch

hier, konservative und soziale Elemente zwanglos unter dem Dach einer eher linken Partei zu vereinen. Mag der Brandenburger Weg auch längst keinen realen wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund mehr haben, für die SPD bleibt er als symbolische Bezugsgröße ihrer Politik unverzichtbar. I

ALEXANDER GAULAND

ist Publizist und ehemaliger Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung. perspektive21

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Orientierung und Konsens bieten WARUM DIE BEZEICHNUNG BRANDENBURGS ALS „KLEINE DDR“ FALSCH IST VON RICHARD SCHRÖDER

n Brandenburg ist ein Streit über die Entwicklung des Landes seit 1990, über den „Brandenburger Weg“, entbrannt. Alexander Gauland, langjähriger Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung, hat erklärt, dieser Brandenburger Weg sei eine Fortsetzung der vorpreußisch-brandenburgischen Politik vor 1701. Dagegen haben der ehemalige CDU-Vorsitzende Jörg Schönbohm und die jetzige CDU-Vorsitzende Saskia Ludwig für diesen Weg vor allem die DDR-Erbschaft verantwortlich gemacht. Brandenburg als „kleine DDR“, das ist ja auch geradezu zum geflügelten Wort geworden. Gaulands ansonsten beobachtungsreicher Artikel scheitert mit seiner Hauptthese schlicht an Geografie und Demografie. Ein Drittel des heutigen Brandenburgs war bis 1815 sächsisch, nämlich Belzig, Baruth, Lübben, Fürstenberg, Neuzelle, Guben und alles südlich davon. Zudem ist Brandenburg wahrscheinlich stärker noch als andere Teile der DDR seit 1945 durch Fluchtbewegungen entvölkert und durch Flücht-

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linge aus den verlorenen deutschen Ostgebieten bevölkert worden. Und überall in Brandenburger Plattenbauten hört man auch Sächsisch. Sachsen war nun mal der volkreichste Teil der DDR und die beruflich bedingte Mobilität war in der DDR sehr hoch. Aber ohne Generationenkontinuität gibt es auch keine Kontinuität der Ideen, Überzeugungen und Haltungen. Reine Politrhetorik Die Floskel von Brandenburg als der „kleinen DDR“ ist ein Produkt WestBerliner Frontstadtnostalgie aus der Zeit der Diskussion um die Fusion beider Bundesländer. West-Berlin werde im „roten Meer versinken“, hieß es damals, als wäre man noch in den Zeiten der „Insulaner“. Da war noch nicht ganz angekommen, dass seit 1990 auch rings um Berlin das Grundgesetz gilt. Gemeint war mit „rot“ die SPD, im Osten eine oppositionelle Gründung des Herbstes ’89 ohne DDRVorgeschichte, wie sie die Blockparteien perspektive21

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mit sich schleppten. Die „kleine DDR“, das war damals und ist heute Politrhetorik ohne diagnostischen Wert, auch wenn Manfred Stolpe den Tadel einmal zum Lob umgedeutet hat. Man mag das in Brandenburg vorherrschende DDR-Bild kritisieren. Es dürfte sich übrigens kaum relevant von dem in anderen östlichen Bundesländern unterscheiden. Weder Brandenburger noch Sachsen fragen bei ihrer Landesregierung nach, was sie von der DDR halten sollen. Es gibt aber jedenfalls keinerlei institutionelle Kontinuität zwischen dem Land Brandenburg und der DDR. Da bleibt es bei den fundamentalen Unterschieden zwischen Demokratie und Diktatur. Selbst diejenige Partei, die in der Rechtsnachfolge der SED steht, und der manche bestreiten, dass sie eine demokratische Partei ist, ist jedenfalls eine Partei in der Demokratie, muss nach deren Regeln agieren. Gauland und Schönbohm streiten um Brandenburgs Bürgertum. Es sei nach 1945 vertrieben worden und diese Entbürgerlichung macht Schönbohm für Verwahrlosungserscheinungen verantwortlich. Gauland hält dagegen, ein Bürgertum habe es in Brandenburg nie gegeben und deshalb hatte in Brandenburg „zu keiner Zeit nach 1989 eine bürgerliche Alternative wie in Sachsen oder Thüringen eine Chance“. Auch diese Diskussion liegt schief. Was soll denn unter Bürgertum verstanden werden? Man muss unterscheiden. Der 22

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Bourgeois, der Besitzbürger, ist durch die verschiedenen Enteignungswellen tatsächlich in der DDR verschwunden. Wirtschaftlich selbständig waren am Ende nur noch handwerkliche Kleinbetriebe. Dagegen hat sich ein Bildungsbürgertum, das am kulturellen Leben interessiert ist und an eigener Urteilsbildung, nämlich Hoch- und Fachschulberufe, im DDR-Deutsch „Intelligenz“ genannt, durchaus erhalten und ständig neu gebildet, in den südlichen Residenzstädten (und Leipzig) vielleicht etwas kräftiger als in den Landstädten der nördlicheren Bezirke. Und schließlich der Citoyen, der seine Bürgerrechte einfordert. Er hat massenhaft die DDR verlassen, aber es kamen immer wieder neue auf, wurden mutiger und wagten schließlich sogar zu demonstrieren. Der kleine Unterschied Es gab in der DDR einen anderen regionalen Unterschied. Meine Schwester war Pastorin in zwei Dörfern, einem ehemaligen Bauerndorf und einem ehemaligen Landarbeiterdorf eines Ritterguts. Inzwischen hatten beide Dörfer ihre LPG. In dem einstigen Bauerndorf sagt der Vorsitzende des Gemeindekirchenrats: Wir müssen das Kirchendach reparieren und ich weiß auch schon, wie man das Material beschaffen könnte. In dem Landarbeiterdorf sagt die Pastorin: Der Kirchturm muss repariert werden –


richard schröder – orientierung und konsens bieten

und bekommt zur Antwort: Darum hat sich früher immer der Patron gekümmert. Mit „Bürgertum“ hat der Unterschied nichts zu tun, aber mit Knechtsgesinnung und der eines freien Menschen, der sich um seine Angelegenheiten selbst kümmert. Im Süden der DDR gab es wenig Großgrundbesitz, oder: Da war der Großgrundbesitz viel kleiner als in Brandenburg oder Mecklenburg. Soziale Verwahrlosungserscheinungen gab es in solchen Landarbeitersiedlungen deutlich häufiger als in ehemaligen Bauerndörfern. Die SPD war schneller Dass die Mehrheitsfähigkeit der SPD in Brandenburg und die Mehrheitsfähigkeit der CDU in Sachsen etwas mit hier mehr und dort weniger „Bürgertum“ zu tun habe, möchte ich bezweifeln. Was wäre aus der CDU Sachsens ohne Biedenkopf geworden? Oder wenn Stolpe 1990 CDU-Mitglied geworden wäre? Denn auf die Frage, warum er der SPD beigetreten ist, hat Stolpe einmal geantwortet: weil die mich zuerst gefragt haben. Dieselbe Antwort hat übrigens ein anderer sehr populärer ostdeutscher Ministerpräsident, Wolfgang Böhmer, auf die Frage gegeben, warum er 1990 der CDU beigetreten ist.

Wer 1990 in die Politik ging, wollte jedenfalls etwas für die Demokratie tun – fast könnte man sagen: egal in welcher Partei. Denn selbst in der PDS sind 1990 sehr viele politisch aktiv geworden, die bis dahin zwar SED-Mitglieder waren, aber keine politischen Funktionen innehatten. Obwohl Stolpe aus dem Osten und Biedenkopf aus dem Westen kam, obwohl sie konkurrierenden Parteien angehören und auch verschiedene politische Prioritäten gesetzt haben, beruhte ihr Erfolg wohl auf demselben Phänomen. Wenn Menschen Orientierungsprobleme haben, etwa weil sie sich verlaufen haben, sind sie in der Regel weder zu langen Diskussionen noch zu Experimenten bereit, sondern verlassen sich gern auf jemanden, von dem sie glauben, dass er sich auskennt. Wenn Schönbohm den „Brandenburger Weg“ als den des Konsenses und der streitfreien Entscheidung charakterisiert, dann trifft das für den „sächsischen Weg“ zu Biedenkopfs Zeiten fast ebenso zu. Die allen ostdeutschen Bundesländern gemeinsame post-totalitäre Situation hat diese seit 1990 viel stärker geprägt als die lokalen Besonderheiten und in die Tiefe der Geschichte reichende Unterschiede. I

PROF. DR. RICHARD SCHRÖDER war 1990 Vorsitzender der SPD-Fraktion in der frei gewählten Volkskammer und lehrte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. perspektive21

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Die zweite Chance ODER: DAS RECHT AUF POLITISCHEN IRRTUM VON CHRISTOPH KLEßMANN

nfang 1947, als Nachkriegsdeutschland noch in Trümmern lag, in vier Besatzungszonen aufgeteilt war und die Deutschen sich politisch und mental nolens volens mit dem Erbe der Nazidiktatur auseinandersetzen mussten, schrieb der Buchenwald-Häftling und renommierte Publizist Eugen Kogon in den „Frankfurter Heften“ einen bemerkenswerten Artikel: „Das Recht auf politischen Irrtum“. Angesichts der wachsenden öffentlichen Erregung über die Praktiken der alliierten Entnazifizierung war das ein nobles Plädoyer für ein Mindestmaß an Fairness im Umgang mit der Lebenswirklichkeit der deutschen Bevölkerung in und unter einer fürchterlichen, aber zunächst auch mehrheitlich bejahten Diktatur. Es war freilich auch ein nachdrücklicher Appell an eben diese Bevölkerung, sich die Sache nicht zu einfach zu machen. „Seit uns die demokratische Sonne bescheint, werden wir immer brauner“ war ein böser Spruch, der damals umging und das Dilemma der Entnazifizierung zynisch auf den Punkt brachte. Seit dem Herbst 1989, als sich das Ende der DDR abzuzeichnen begann,

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ist der Diktaturvergleich populär geworden. Zuvor hatte kaum noch jemand den Begriff Diktatur für die DDR verwendet, obwohl jeder Besucher des „Arbeiter- und BauernStaates“ diesen Charakter erkennen konnte und die SED schließlich selber eine „Diktatur des Proletariats“ auszuüben beanspruchte. Was vor allem nach der Erstürmung der regionalen und zentralen Stasi-Zentralen und der Veröffentlichung geheimer Partei-Materialien zu Tage kam, war in der Tat erschreckend und revidierte schnell das verbreitete Bild eines moderaten Regimes. Dennoch erschien vielen DDRBürgern jeder Vergleich von NS- und SED-Diktatur, der ja keineswegs eine Gleichsetzung bedeutete, zunächst wie eine Beleidigung, gehörte doch der Antifaschismus zum Markenzeichen des zweiten deutschen Staates. Dass dieser offiziöse Antifaschismus nun schnell und gründlich als Legitimationsideologie entzaubert wurde und auch entzaubert werden musste – nicht nur wegen der zynisch-grotesken Etikettierung der Berliner Mauer als antifaschistischer Schutzwall – gehörte (und gehört vielleicht immer noch?) zu perspektive21

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den Startproblemen der ostdeutschen Gesellschaft ins überraschend wiedervereinigte Deutschland. Übers Ziel hinaus Ohne Frage schossen damals etliche Kommentatoren in West und Ost übers Ziel hinaus. Denn die Unterschiede zwischen den beiden deutschen Diktaturen waren nicht nur in den Verbrechensdimensionen so eklatant, dass ein Vergleich an sich schon wie eine Trivialisierung der Nazidiktatur erscheinen konnte. Insofern hielt die linke Wochenzeitung „Freitag“ provokant dagegen, wenn es dort am 22. November 1991 hieß: „Die Stasi war, verglichen mit der Gestapo, harmlos; die DDR unter Honecker, verglichen mit Nazideutschland, eine Operettendiktatur.“ Eine solche Formulierung würde heute wohl niemand mehr wählen, weil sie eine Beleidigung für die Opfer ist, sie unterstreicht aber pointiert die beträchtliche Differenz zwischen beiden Diktaturen. Gleichwohl ist der innere Zusammenhang der beiden Aufarbeitungsphasen in Ost und West nach 1945 und im Osten nach 1989 von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Chancen und Schwierigkeiten der Ost- und Westdeutschen, sich gemeinsam im neuen Gesamtdeutschland zurechtzufinden: Ohne 1945 ist der Umgang mit 1989 26

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nicht zu verstehen. Es sollte sich nicht wiederholen, was in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik, auf andere Weise aber auch in der DDR versäumt worden war – darüber gab es Konsens in der politischen Klasse. Das ist ohne Frage auch gelungen. Wer heute die angeblich unzureichende Aufarbeitung der SED-Diktatur kritisiert, sollte sich die frühen neunziger Jahre in Erinnerung rufen, als die Enquete-Kommission des Bundestages entstand, die Zeitungsspalten mit Stasi-Enthüllungen gefüllt waren, etliche neue Forschungsinstitutionen und Gedenkstätten gegründet und Lehrstühle mit dem Schwerpunkt DDR-Geschichte geschaffen wurden. Man mag der Meinung sein, dass vieles schief lief – eine ähnliche „gewisse Stille“, wie sie Hermann Lübbe 1983 in einem Aufsehen erregenden, weil apologetisch argumentierenden Aufsatz für die Bundesrepublik der fünfziger Jahre konstatierte, gab es jedoch mitnichten. Die fünfziger Jahre waren anders Auch nicht im viel kritisierten Land Brandenburg. Jeder Vergleich in dieser Hinsicht mit den fünfziger Jahren im Westen verbietet sich. Denn damals begann eine umfassende kritische Auseinandersetzung in Politik und Gesellschaft erst fast 20 Jahre nach Hitlers Ende. Zugleich aber hatten Millionen


christoph kleßmann – die zweite chance

eine „zweite Chance“ bekommen und auch genutzt, ohne dass zuvor eine große politisch-moralische Säuberung stattgefunden hätte. In der SBZ/DDR war die Konstellation anders, der Elitenaustausch rigider, aber im Ergebnis durch die Ausrichtung an der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie auch einseitig und unzureichend: Die Mitläufer blieben weitgehend verschont, wenn sie sich den neuen Herren anpassten. Die Skandale der Bonner Republik Der mit Skandalen gepflasterte Weg der Bonner Republik in die Demokratie ist bekannt. Wieweit es unter den erschwerten Bedingungen des Kalten Krieges auch anders hätte laufen können, ist hier nicht zu erörtern. Das Thema verliert vermutlich nie seine Aktualität, solange es diktatorische Regime gibt, die gestürzt werden. Wie soll man nach deren Ende mit den Tätern von gestern, den großen, aber auch den kleinen Fischen, umgehen? Ist ein politisches und gesellschaftliches Pendant zur Resozialisierung im Strafrecht im demokratischen Staat nicht selbstverständlich und damit auch eine zweite Chance für jeden? Wie weit aber soll sie reichen und wovon sollte sie abhängig gemacht werden? Die Parallele zum Strafrecht setzt eine Bestrafung voraus, wie auch immer diese aussehen mag. Das for-

derte auch Egon Kogon unzweideutig. Der Althistoriker Christian Maier hat darauf hingewiesen, dass seit den alten Griechen Amnestie und Vergessen in der Regel die häufigsten Formen waren, in der nach verheerenden Kriegen und nach dem Ende brutaler Regime ein Neuanfang versucht wurde. Das mag ein richtiger historischer Befund sein, er kann jedoch keine Norm für gegenwärtiges politisches Verhalten sein. Aufdecken unbequemer Wahrheiten muss vor Amnestie und Versöhnung stehen. Der tiefe Bruch von 1990 Als Schüler und Student habe ich mich wie viele meiner Generation über Adenauers Kaltschnäuzigkeit entsetzt, mit der er Leute wie Hans Globke (Staatssekretär im Bundeskanzleramt) oder Theodor Oberländer (Vertriebenenminister) in hohe politische Ämter einsetzte und dort auch gegen massive öffentliche Kritik hielt. Dass dies nur die Spitze eines Eisbergs war, ist lange bekannt. So ist beispielsweise erst sehr spät, nämlich auf dem Frankfurter Historikertag 1998, die fatale politische Belastung führender westdeutscher Historiker überhaupt diskutiert worden. Bonn wurde jedoch anders als Weimar schnell eine gut funktionierende parlamentarische Demokratie mit breiter gesellschaftlicher Akzeptanz. Die Integrationsstrategie auf nahezu perspektive21

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allen Ebenen war offenkundig erfolgreich. Auch in der DDR finden sich Beispiele. So war etwa Ulbrichts Pressesprecher Kurt Blecha 1941 in die NSDAP eingetreten und ein nicht unbelasteter „Ostforscher“ engagierte sich ausgerechnet im Ostberliner Schau-Prozess gegen Oberländer. Aber solche Fälle blieben vereinzelt. Die Kritik an der Kontinuität vieler Funktionseliten verstummte auch nach dem Ende der DDR 1990 nicht. Wie berechtigt sie ist, darüber wird nun 20 Jahre danach in Potsdam wieder heftig gestritten. Ein genauer Blick zeigt jedoch, dass die Kontinuität deutlich geringer als in der alten Bundesrepublik war und der Bruch von 1990 in dieser Hinsicht viel tiefer ging als der von 1945/49. Zudem war die Konstellation gravierend anders: Die DDR war in ihren Entstehungsjahren kein genuin deutsches Gewächs, sondern ein sowjetisches Implantat mit geringem gesellschaftlichen Rückhalt; sie hatte 40 Jahre existiert, war seit den siebziger Jahren international anerkannt, vielfältig vernetzt, hatte keine Kriege angezettelt oder Massenmorde verübt – und war dennoch eine schlimme Diktatur, die in ihrer letzten Phase im Westen oft als solche gar nicht mehr wahrgenommen wurde. Westdeutsche Politiker und Wirtschaftsbosse hatten sich in den achtziger Jahren bei Honecker die Klinke in die Hand gegeben und dass dieser bald in 28

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Moabit einsitzen und sein Leben im Exil beenden würde, konnte sich niemand vorstellen. Diese relative „Normalisierung“ im Verhältnis beider deutscher Staaten machte nach der Vereinigung den Neubeginn und das ohnehin schwierige Problem des Umgangs mit einer „Teilvergangenheit“ noch schwerer. Welche geglückten Übergänge? Gibt es historische Beispiele für einen gelungenen Übergang von einem diktatorischen in ein demokratisches System, der verbunden ist mit intensiver politisch-moralischer Aufarbeitung der Lasten der Vergangenheit? Lässt man den verordneten Antifaschismus der kommunistischen Staaten beiseite, weil dieser allzu einäugig und insofern unglaubwürdig blieb, ist wohl überwiegend Fehlanzeige zu vermelden. Japans Nachkriegsdemokratie hat sich sehr wenig um die Aufhellung der verbrecherischen japanische Kriegsführung in China und Korea gekümmert, ohne dass darunter das politische und kulturelle Leben sonderlich gelitten zu haben scheint. In Portugal und Spanien gibt es verspätete Ansätze, aber kaum mehr. Zu den wenigen überzeugenden Beispielen gehört am ehesten Südafrika, das mit seiner Wahrheitsund Versöhnungskommission ein Modell für künftige Aufarbeitungs-


christoph kleßmann – die zweite chance

konstellationen sein könnte. Aber selbst hier gab es aus politisch-pragmatischen Gründen Defizite und Grenzen. Nicht Schwarz und Weiß Die Schwierigkeiten des Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit, der die Gemüter in Brandenburg wieder stark erhitzt, liegen nicht zuletzt in der Vorstellung von „Aufarbeitung.“ Man kann Vergangenheit nicht wie einen Aktenstapel auf- und abarbeiten. Der englische Ausdruck „coming to terms with the past“ ist zumindest insofern treffender, als er zu Begriffen und zum „Begreifen“ auffordert. Denn die Probleme liegen zu einem erheblichen Teil in der bemerkenswerten Unfähigkeit vieler Zeitgenossen, nicht auflösbare Widersprüche im gesellschaftlichen Leben und politischen Verhalten zu akzeptieren und auszuhalten. Wenn diese „konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR“ (Detlef Pollack), die auch das Verhaltensdilemma in einer Diktatur spiegelt, als solche akzeptiert wird, lässt sich besser mit einer komplizierten und nicht auf schwarz oder weiß zu reduzierenden Situation umgehen. Das bringt keine Schlagzeilen, wird aber vielleicht eher einer Konstellation gerecht, die nur von wenigen Helden und Schurken bestimmt wird, aber von vielen „Normalverbrauchern“, die zu Recht eine zweite Chance erwartet

haben, sie aber oftmals aufgrund des Tempos und der Besonderheiten der Wiedervereinigung nicht bekamen. Daraus resultiert viel Überdruss an plakativer Aufarbeitung. Die dreisten Rechtfertigungsversuche hoher Stasioffiziere sind nicht dazu zu rechnen. Man kann sie kaum verbieten. Aber man muss sich dezidiert mit ihnen auseinandersetzten. Und das geschieht auch. Generell sollte Richard Schröders Diktum „Wir gehen anders mit euch um als ihr mit uns“ ein wichtiger Orientierungsmaßstab bleiben, ohne dass damit politische Kriminalität einfach entsorgt wird. Eine Frage der Distanz Dieses Plädoyer für Differenzierung und Vorsicht statt medialer Paukenschläge, aber auch für Nüchternheit gegenüber menschlichen Verhaltensweisen unter repressiven Bedingungen ist kein „Weichspülen“ der SED-Diktatur, wie uns manche wackeren altlinken Kämpfer nach ihrem politischen Pauluserlebnis seit langem weismachen wollen. Es geht hier primär um eine Frage, die sich im Grunde nur als genaue Einzelfallprüfung beantworten lässt und die wohl auch in Grenzfällen vielfach umstritten bleiben wird. Wie nah durfte man in der DDR dem Regime stehen, um nach 1990 trotzdem für hohe politische Funktionen noch akzeptabel zu sein? Welche Forperspektive21

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men der individuellen Distanzierung und politischer „Umkehr“ waren glaubwürdig? Wer dem Regime nahestand, kannte nicht zwingend das ganze Ausmaß des Unrechts. Vielfach wollte man es auch nicht sehen oder befand sich im Irrtum darüber. Im Westen war das kaum anders. Schlägt hier das von Kogon angeführte Recht auf politischen Irrtum zu Buche? Die christliche Ethik hat das Bild vom reuigen Sünder formuliert, das im Kern auch weithin in die säkularen Diskussionen um Aufarbeitung der Vergangenheit eingegangen ist. Individuelle und kollektive politische Sündenbekenntnisse und Bußrituale lassen sich jedoch nicht „von oben“ verordnen. Wer nach selbstkritischer Prüfung zur Einsicht in seine Verfehlungen gekommen ist, seine Irrtümer öffentlich bekennt und vielleicht auch noch bereit ist, in materieller Form Buße zu tun und Opfern zu helfen – dem sollen die Türen zur Reintegration und zum Wiederaufstieg weit offenstehen. Das ist sicher eine richtige Maxime. Eines der markantesten Beispiele aus der Frühgeschichte der Bundesrepublik für eine „zweite Chance“ war Herbert Wehner. Als führendes Mitglied der KPD in der Weimarer Republik und im Moskauer Exil, stellvertretender Parteivorsitzender der SPD in Bonn und ihr legendärer Fraktionschef im Bundestag ist er wohl der bekannteste, aber zeitgenössisch und bis heute auch umstritten30

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ste Fall eines radikalen Positionswechsels in einer besonders herausgehobenen Funktion. Klare Distanzierungen gegenüber seiner kommunistischen Vergangenheit haben Wehner jedoch nie vor offenen oder verdeckten Verdächtigungen geschützt. Diese Prognose hat er sich ohne Illusionen selber früh gestellt. Gibt es zu dieser Rolle Parallelen nach 1990? Aus dem politischen Führungspersonal fällt mir kein treffendes Beispiel ein. Lassen sich Stolpe oder der für die Häftlingsfreikäufe unentbehrliche Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in diesem Kontext anführen? Mit dem langen Löffel beim Teufel Im „Fall Stolpe“ argumentieren seine publizistischen Widersacher, er hätte sein Amt niederlegen müssen, nachdem seine engen Stasi-Kontakte – die er im Übrigen als erster selber offengelegt hat – bekannt wurden. Niemand hat Stolpe, dessen große Verdienste für die Menschen in der DDR nicht ernsthaft bestritten werden, eine weitere Berufsausübung als Jurist oder Kirchenfunktionär verweigern wollen, aber an der Spitze einer Landesregierung schien er vielen Bürgerrechtlern und anderen Kritikern nicht mehr tragbar. Dass lässt sich als Argument sehr gut nachvollziehen. Das Gegenteil aber eben auch. Wer unter den Bedingungen einer Diktatur etwas erreichen will, muss sich ein Stück weit auch auf ihre Bedingun-


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gen einlassen und macht sich die Finger schmutzig. Sogar jede Widerstandsbewegung benötigt ein gewisses Maß an „Kollaboration“. „Wer mit dem Teufel am Tische saß, musste einen langen Löffel haben“, hat Günter Gaus formuliert. Vermutlich hat sich Stolpe überschätzt und der Löffel war zu kurz. Zumindest hätte man eine deutlichere Selbstkritik post festum erwarten können. Und Wolfgang Vogel? Er machte in der DDR als Jurist einen rasanten Aufstieg, wurde zeitweilig von der Stasi als Informant geführt. Er war Honeckers Beauftragter für humanitäre Fragen und die (berechtigte) Hoffnung für zahllose politische Häftlinge in der DDR. Er verzichtete 1991 freiwillig auf eine Zulassung als Anwalt und wurde mehrfach verhaftet und angeklagt. Hätte er, wäre er jünger gewesen, eine „zweite Chance“ verdient? Die Antworten werden unterschiedlich ausfallen. Der hohe Grenzoffizier als Gärtner – das ist die „zweite Chance“ auf niedrigem Niveau in der harmlosen Variante. Ein hübsches Beispiel findet sich in der Berliner Ausstellung „Glienicke. Vom Schweizer Dorf zum Sperrgebiet“. Major Pateley diente dort bis 1975 als Grenzoffizier und danach als Zivilbeschäftigter im Wehrkreiskommando Potsdam.1990 wurde er aus der Armee entlassen. Er erzählt, wie er sich bei einem Westberliner Millionär als Gärtner bewarb. Nach dem Vorstellungsgespräch, in dem er wie gefordert aus

seinem Leben berichtete, hieß es: „Tja, 40 Jahre SED, 40 Jahre Armee, das interessiert mich nicht, wichtig ist: Trauen Sie sich zu, meinen Garten zu pflegen?“ Ich sagte nur ‚jawoll!‘. Und er hat mich eingestellt. Das hat mir imponiert.“ Offener Diskussionsprozess In Brandenburg hat man sich stärker als in anderen Ländern um hohe Sozialverträglichkeit und Kontinuität beim Übergang in die „neue Zeit“ bemüht. Dies sollten Kritiker anerkennen, bevor sie die Keule gegen die „kleine DDR“ schwingen, die Stolpe 1999 in einer zweifellos höchst unglücklichen und peinlichen Formulierung beschwor. Dass jedoch die notwendige und auch mögliche, halbwegs konsequente Überprüfung des gesamten öffentlichen Dienstes auf MfSKontakte unterblieb bzw. sehr selektiv ausfiel, hat sich bitter gerächt. Zwar ist auch im Umgang mit IM’s Differenzierung und Einzelfallprüfung vonnöten, wie Ulrike Poppe zu Recht festgestellt hat. Dazu gehört aber die Frage nach den Grenzen der Zumutbarkeit einer Weiterarbeit hoher ehemaliger Partei- und MfS-Funktionäre in öffentlichen Ämtern. Wer oben war, sollte in der Regel nicht wieder oben sein. Was noch vertretbar ist und was nicht mehr, muss letztlich in einem offenen und kontroversen politischen Diskusperspektive21

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sionsprozess entschieden werden. Und hier gibt es leider keine eindeutigen Normen. Eine Frage der Ehre SED-Parteimitgliedschaft allein hat selten den Weg zur Fortsetzung des früheren Berufsweges verstellt. Das gilt zumindest für Lehrer und andere Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. In den Geistes- und Kulturwissenschaften der Akademien und der Universitäten der DDR haben dagegen nur wenige in den früheren Positionen weiterarbeiten können, weil entweder die ideologische Ausrichtung der Fächer das kaum erlaubte oder die Qualifikation in der Konkurrenz mit westdeutschen Wissenschaftlern in Frage stand. Hier hätte ohne Frage eine phantasievollere Organisation der Vereinigung zu besseren Chancen für Ostdeutsche, sofern sie nicht offenkundig politisch belastet waren, führen können. Das damals vom Wissenschaftsrat vorgelegte und von den ostdeutschen Ländern übernommene „WIP“ (Wissenschaftlerintegrationsprogramm) war letztlich ein Schlag ins Wasser und brachte viele Fälle von menschlich demütigenden Arbeitsverhältnissen mit sich, die

keine wirkliche Chance zum Neuanfang darstellten. Es kann letztlich keine befriedigende generelle Antwort auf die Frage nach der zweiten Chance geben. Das Problem ist moralisch diffus und strukturell nicht lösbar, es ist nur graduell zu entschärfen, weil es in jeder Diktatur einen „strukturellen Opportunismus“ (Hans Buchheim) gibt, der sich nach ihrem Ende nicht wegdiskutieren lässt. Gerichte haben in NS-Prozessen seit den sechziger Jahren Recht zu finden versucht – allzu oft mit höchst unbefriedigendem Erfolg, aber nie nach dem Modell des „kurzen Prozesses“. Nach 1990 wiederholte sich in anderer Form dasselbe. Das auf diese Situation gemünzte Diktum der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ ist oft zitiert worden. Dieses Dilemma ist bitter, aber es ehrt ein demokratisches System mit einer entwickelten politischen Kultur. Aus historischer Perspektive ist es illusorisch, auf den Erfolg einer konsequenten „Säuberung“ zu setzen, weil das nicht funktioniert. Wer für das Recht auf politischen Irrtum plädiert, plädiert auch für Integration. Die sorgfältige Einzelfallprüfung schließt das jedoch nicht aus. I

PROF. DR. CHRISTOPH KLEßMANN ist Historiker und war von 1996 bis 2004 Direktor des Zentrums für Zeitgenössische Forschung in Potsdam.

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Zukunft braucht Vergangenheit WIE WIR MIT DER VERGANGENHEIT EHRLICH UMGEHEN KÖNNEN VON GESINE SCHWAN

enn wir als private Individuen oder als politische Bürger in die Zukunft schauen, können wir von unserer Vergangenheit nicht absehen. Wer immer sich mit dem vielfach thematisierten „Umgang mit der Vergangenheit“ beschäftigt hat, weiß das. Und wenn wir uns persönlich erinnern, läuft immer ein „Film“ mit, in dem wir uns fragen, wie wir in dieser Vergangenheit dastehen: Haben wir eine gute Figur gemacht? Sind wir hinter unserem Anspruch zurückgeblieben? Leistungsmäßig? Moralisch? Denn das zentrale Problem beim Umgang mit der Vergangenheit liegt darin, dass wir vermeiden möchten – bewusst oder unbewusst – unser Selbstwertgefühl durch die Erinnerung an Fehler oder Versagen zu beeinträchtigen. Andererseits werden wir eine nicht geklärte Vergangenheit nicht los, sie beeinträchtigt unsere Fähigkeit, unsere Zukunft frei und gut zu gestalten. Deshalb ist es um einer guten – individuellen wie gesellschaftlich-politischen – Zukunft willen wichtig, die

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individuellen wie die sozialen Voraussetzungen für einen ehrlichen Umgang mit der Vergangenheit zu schaffen. Wie sieht Ehrlichkeit aus? Was gehört zu einem ehrlichen Umgang mit der Vergangenheit? Das Thema ist schwierig, weil eben nicht abstrakt theoretisch, sondern existenziell und emotional engagierend. Deshalb brauchen wir sowohl Klarheit und Offenheit, als auch Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, Uneindeutigkeit, manche sagen Ambivalenz, bei uns wie bei anderen einzuräumen und zu ertragen. Anknüpfen können wir dabei an der zweiten Maxime, die Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ für den Gemeinsinn formuliert: „Sich jederzeit an die Stelle des anderen setzen“ (die anderen beiden Maximen heißen: „Selbst denken“ und „Jederzeit mit sich einstimmig denken“, also nicht nach dem Motto zu verfahren: „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an“). Die Philosophin Hannah Arendt hat darüber ausführlich geperspektive21

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schrieben, dabei aber allerdings vor allem die Einbildungskraft – im Unterschied zum Gefühl – gepriesen. Der für ein freiheitliches Gemeinwesen erforderliche Gemeinsinn braucht jedenfalls die Bereitschaft der Bürger, von sich aus die Brücke zum anderen zu schlagen, sich nicht ängstlich oder überheblich zu isolieren. Ich bin im Zweifel darüber, ob wir gegenwärtig in Brandenburg, in Deutschland und in Europa genügend Gemeinsinn praktizieren. Was nun ist ein angemessener Umgang mit der Vergangenheit? Wenn es um einen nicht verdrängenden, möglichst angemessenen Umgang mit der Vergangenheit, auch mit der in den letzten öffentlichen Debatten immer wieder im Vordergrund stehenden IMHypothek geht, müssen wir uns fragen: Woran misst man diese „Angemessenheit“, wo legt man die Elle an? Wer ist Täter, wer Opfer? Mein Vorschlag lautet: Erstens, an der Wahrhaftigkeit der Täter und Opfer (manche waren beides zugleich oder nacheinander); zweitens, an der heilenden Hilfe für die Opfer; drittens an der heilenden Hilfe für die Täter, sofern sie zugänglich sind; und viertens, an der Chance, in der neuen demokratischen Gesellschaft Vertrauen aufzubauen und eine demokratische politische Kultur zu entwickeln. 34

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Hier geht es um das, was Karl Jaspers nach dem Zweiten Weltkrieg in Bezug auf die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands die moralische Schuld genannt hat. Daneben gibt es ihm zufolge die juristische, die politische und die methaphysische. Die juristische Aufarbeitung von systemisch bedingter schuldhafter Vergangenheit ist unverzichtbar, bleibt aber notwendig Stückwerk, weil sie nicht flächendeckend erfolgen kann und daher dem Gleichheitsgrundsatz notwendig zuwider läuft – um nur eines der Defizite zu nennen. Ihr folgt auch nicht notwendig innere, vertrauensbildende Umkehr. Ein Dreischritt Jaspers’ Kategorie der politischen Schuld hat in der gegenwärtigen Diskussion um systemische Schuld in der DDR insofern keine Rolle gespielt, als die DDR nicht mit Waffen besiegt wurde, wie Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Deshalb ist auch der manchmal auf das Verhalten Westdeutschlands angewendete Begriff der „Siegerjustiz“ irreführend – wie immer sich manche Westdeutschen aufgeführt haben mögen. Als metaphysische Schuld bezeichnet Jaspers eine innere Verpflichtung zur Solidarität mit verfolgten Mitmenschen. Ohne sie gäbe es keinen Grund sich um verfolgte Opfer zu kümmern.


gesine schwan – zukunft braucht vergangenheit

Die beiden bekanntesten Wege des öffentlichen Umgangs mit Schuld sind Rechtsprozesse und Wahrheitskommissionen. Sie haben beide klare Mängel, die sie jedoch zum Teil komplementär angehen können. Ohne die Drohung von Rechtsprozessen finden sich die Menschen nicht zureichend bereit, ihren Opfern in Wahrheitskommissionen gegenüberzutreten. Ohne Wahrheitskommissionen kommt es nicht zu einer öffentlich wahrnehmbaren Tiefe des Schuldeingeständnisses und der Umkehr. Die Gegenüberstellung mit dem Opfer löst häufig eine unersetzbare Katharsis aus. Welcher Umgang mit moralischer Schuld bietet die Chance, mit ihr ohne Verdrängung ins Reine zu kommen? Ich bin nach wie vor aus philosophischen, psychologischen und theologischen Gründen Anhängerin des Dreischritts: I

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reuevoll In-sich Gehen (contritio cordis) Bekennen in der 1. Person singularis (confessio oris) Wiedergutmachen (satisfactio operis).

Ob das immer möglich ist, welche Defizite trotzdem bleiben, kann ich hier nicht näher erörtern. Im Übrigen kann es Jahre dauern, bis man in der Lage ist, die eigene Schuld klar zu begreifen und sich einzugestehen. Und:

Letztlich kann nur jeder für sich seine Schuld (als moralische Schuld) feststellen, weil es um die Klärung des Willens und der Motive zur Zeit der Tat geht. Freilich kann ein vertrauter Gesprächspartner dabei wertvolle Hilfe leisten. Dieses „contritio cordis“ ist schwierig und braucht Zeit. In die Enge treiben hilft nicht Ein erfolgreicher Umgang mit der eigenen moralischen Schuld ist im Übrigen auf Freiwilligkeit angewiesen. Man kann Menschen nicht dazu zwingen, und je mehr man sie unter Druck setzt oder in die Ecke treibt, desto geringer ist die Chance zur aufrichtigen freiwilligen Klärung. Deshalb muss eine Gesellschaft, wenn sie an einer wahrhaftigen Aufarbeitung der Schuld zum Wohl der individuellen Person wie des demokratischen Gemeinwesens interessiert ist, ihren eigenen Beitrag dazu leisten, dass sich Schuldige öffnen können und nicht an die Wand gedrückt fühlen. Rechthaberei oder pharisäerhafte Selbstgerechtigkeit vergeht sich an diesem Ziel und macht sich selbst an Demokratie und Menschen schuldig. Der aus Berlin geflohene israelische Psychoanalytiker Dan Bar On, der sich sein Leben lang mit dieser Problematik befasst hat, betonte immer wieder, dass man sich selbst als potenziell ebenso Schuldigen begreifen muss, um wirklich bei der ehrlichen Selbstprüfung von Tätern zu helfen. perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

Hermann Lübbe hat 1983 im Reichstag die berühmt gewordene These vertreten, dass das kommunikative Beschweigen der so genannten braunen Biographie-Anteile der Deutschen nach 1945 in Westdeutschland die Bedingung dafür war, dass die Mehrheit der Deutschen, die Anhänger oder Mitläufer Hitlers gewesen waren, zu Demokraten wurden. Er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass In-die Enge-Treiben einer Umkehr nicht zugutekommt. Ihm schien darüber hinaus aber eine innere Umkehr für die Stabilität der Nachkriegsdemokratie nicht erforderlich (auf die „Binnenbefindlichkeiten“ der Bürger käme es dafür nicht an), weil die Demokratie im Wesentlichen von guten Institutionen lebt. Diese These halbiert die „Demokraten“ auf ihr äußeres Verhalten. Indem sie die innere Befindlichkeit bewusst ausblendet, begünstigt sie Scheinheiligkeit als „politische Korrektheit“, die Demokratien nicht zu tragen vermag. Ossis unter Generalverdacht Ein wichtiges Problem bei der Behandlung von IM-Vergangenheiten von DDR-Bürgern ist die Asymmetrie von West- und Ostdeutschland. Unter Generalverdacht stehen nur die Ostdeutschen, Westdeutsche mit IM-Vergangenheit sind Ausnahmen. Hier gibt es zwei Arten von Fallen: Überheblich36

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keit von Westdeutschen und Abwehrstrategien von Ostdeutschen, die wegen dieser Asymmetrie jede Frage und Antwort verweigern. Auch hier ist großes Einfühlungsvermögen erforderlich. Instrumentalisierung der Schuld Ein weiteres wichtiges und zugleich besonders heikles Problem ist der auch von Hannah Arendt unterstrichene Unterschied zwischen den Motiven, die dem Nationalsozialismus einerseits und dem Stalinismus andererseits zugrunde lagen (vgl. „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“): Der Kommunismus steht theoretisch in der Tradition des europäischen Humanismus, der Nationalsozialismus nicht, weil er die fundamental gleiche Würde der Menschen prinzipiell nicht anerkennt. Zu den schwierigsten Folgen dieses Umstands gehört, dass einerseits im Stalinismus im Namen des europäischen Humanismus gemordet und verraten worden ist, dass andererseits eine schematisch auf die Analogie der Strukturen verkürzte TotalitarismusTheorie zu erheblich verzerrenden Schlussfolgerungen führen kann. Entweder man versucht wegen dieses Unterschieds pauschal den Stalinismus seiner „guten Absichten“ wegen zu salvieren oder man ebnet diesen Unterschied aus Gründen aktueller politischer Präferenzen oder Instrumentalisierungen ein.


gesine schwan – zukunft braucht vergangenheit

Die größte Versuchung besteht in der politischen (oder auch individuellpersönlichen) Instrumentalisierung von Schuld. Wer ihr erliegt, macht sich selbst schuldig, denn er verhindert den aufrichtigen Umgang mit ihr. Einen Indikator in dieser Hinsicht ergibt die Prüfung, ob, wer anschuldigt, den „Balken im eigenen Auge“ sieht. Konkret politisch heißt das: Jede Partei hat die gleiche Aufgabe, die Verstrickung ihrer Mitglieder in schuldhafte Vergangenheiten aufrichtig zu prüfen. Erst

danach kann man in ein ehrliches, nicht politisch instrumentalisierendes Gespräch kommen. Für die Zukunft stellt sich gerade in der neuen deutschen Demokratie die Frage: Wie gehen wir mit der alten Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“ um? Sie hat im Kommunismus oft zur Rechtfertigung schuldhaften Verhaltens gedient, aber sie wird auch in Demokratien oft zur Rechtfertigung dubioser Handlungen herangezogen. I

PROF. DR. GESINE SCHWAN ist Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin und war von 1999 bis 2009 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). perspektive21

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1989 und wir? DER UMGANG MIT DER DDR-VERGANGENHEIT IST GEPRÄGT VON ERINNERUNGSPOLITIK IM ÜBERMASS – NÖTIG WÄRE GESCHICHTSBEWUSSTSEIN VON NORBERT FREI

in Gedankenspiel, nichts weiter. Aber es kann vielleicht die Konkurrenzgefühle ein wenig drosseln, mit denen wir in Deutschland seit Jahren über den vermeintlich so ungleichen Umgang mit „zweierlei Vergangenheiten“ streiten: Blendete man die beiden Verläufe auf einer imaginären Zeitachse übereinander, so wäre unser heutiger Stand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR am bundesrepublikanischen NSDiskurs des Jahres 1965 zu messen. Die Vorstellung trägt aus vielen Gründen nicht sehr weit, aber eines macht sie doch schlagartig klar: Mehr als zwei Jahrzehnte Jahre nach dem Fall der Mauer eignet der immer wieder geführten Klage über ein zu geringes Interesse an der Geschichte der DDR auch eine alarmistische Note.1 Im Gegensatz zu dem, was heute vielfach suggeriert wird, begann die historisch-kritische Auseinandersetzung

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1 Aktualisierter Nachdruck aus: Die Zeit vom 26.3.2009; eine längere Fassung in Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München 2009, S. 7-21, 200ff.

mit der DDR nicht erst, als diese aufgehört hatte zu existieren. In ihren Möglichkeiten zwar ungleich eingeschränkter als die Zeitgeschichtsschreibung über die Bundesrepublik, hatte es im Westen doch stets auch eine ernstzunehmende DDR-Forschung gegeben. Und trotzdem änderte sich im Winter 1989/90 alles. Nur ein paar Tage nach dem „Sturm“ auf die StasiZentrale in Ost-Berlin am 15. Januar 1990 überschlugen sich vor allem die westdeutschen Medien mit Berichten über das bis dahin unbekannte Ausmaß der Bespitzelung, die menschenverachtenden Praktiken und die Allgegenwart der sogenannten Sicherheitsorgane, und schon in den frühen neunziger Jahren füllte die Literatur zu diesem Thema eine kleine Bibliothek. Mag auch der Gestus des Sensationellen und des Skandals, in dem damals über Täter und Opfer (und über deren gar nicht so seltenen Rollentausch) verhandelt wurde, im Rückblick ein wenig an das halb aufklärerische, halb apologetische Sprechen über Gestapo und SS in der Bundesrepublik der perspektive21

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frühen fünfziger Jahre erinnern: Die Tatsache, dass eine intensive öffentliche Debatte über die DDR-Vergangenheit entstand und sich schnell über den Kreis der Bürgerrechtler hinaus entfaltete, muss nicht zuletzt als ein kritischer Reflex auf die Geschichte des bundesdeutschen Umgangs mit der NS-Vergangenheit verstanden werden. Kein Schlussstrich nach 1989 Vier Jahrzehnte nach dem Neubeginn in Bonn waren die Westdeutschen wohl mehrheitlich der Auffassung, dass die Realität des „Dritten Reiches“ in der Bundesrepublik lange Zeit „verdrängt“ worden war; die im Zeichen des eisernen Antifaschismus erzogenen Ostdeutschen hatten ohnehin nie anderes vermutet. Dieses Bewusstsein von der skandalösen Schonung der nationalsozialistischen Täter und der Ignoranz gegenüber ihren Opfern, das seit den sechziger Jahren – nicht allein in den Achtundsechzigern, aber gleichsam mit ihnen – herangewachsen war, kam jetzt mit Blick auf die DDR-Vergangenheit zum Tragen: Was nach dem Ende der „ersten Diktatur“ irreparabel falsch gelaufen war, namentlich bei der strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen, das sollte sich bei der „zweiten Diktaturbewältigung“ nicht wiederholen. Ein deutliches Indiz dafür, dass nicht nur Westdeutsche so dachten, 40

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waren die noch in der Endphase der DDR eröffneten Verfahren vor allem wegen Wahlfälschung und Amtsmissbrauch, die oft auf Anzeigen aus der Bevölkerung basierten. Die meisten Ermittlungen kamen allerdings erst nach der Vereinigung in Gang, und sie zielten keineswegs nur auf die Spitzen des verflossenen Regimes. In Berlin ging eine eigens eingerichtete Staatsanwaltschaft II in etwa 21.000 Fällen (Stand Ende 1997) dem Verdacht auf „Regierungskriminalität“ und Justizunrecht nach (sie war außerdem zuständig für „vereinigungsbedingte Wirtschaftskriminalität“); alles in allem kam es in den neuen Bundesländern zu rund 62.000 Ermittlungsverfahren gegen schätzungsweise 100.000 Personen. Zwar standen im Laufe dieser Anstrengungen insgesamt weniger als 1.000 Personen vor Gericht, und lediglich etwa die Hälfte davon wurde (meist zu Bewährungsstrafen) verurteilt. Dennoch machten die Prozesse gegen Honecker, Krenz und weitere Mitglieder des Politbüros, gegen einen Teil der militärischen Führung und gegen etliche mutmaßliche „Mauerschützen“ unmissverständlich klar, dass der Rechtsstaat Bundesrepublik die schweren Menschenrechtsverletzungen in der DDR nach deren Ende nicht einfach auf sich beruhen lassen wollte. Mehr noch als die mühseligen Gerichtsverfahren, in denen erlittenes Unrecht vielleicht nicht angemessen ge-


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sühnt, wohl aber deutlich benannt und öffentlich anerkannt werden konnte, signalisierte die Gründung der rasch so genannten Gauck-Behörde, dass ein „Schlussstrich“ nicht in Frage kam. Denn im Tauziehen um die Akten setzten sich die Bürgerrechtler durch, jedenfalls in Bezug auf jenen Teil des gewaltigen Datenbestandes der Staatssicherheit, der nicht schon in den ersten Tagen und Wochen nach der Maueröffnung gezielt vernichtet oder beiseite geschafft worden war: Nachdem die Regierung Kohl bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag einem Gesetz der Volkskammer nicht hatte folgen wollen, das eine dezentrale Lagerung und Verwaltung der geretteten Stasi-Akten gewährleisten sollte, war im September 1990 im ehemaligen Mielke-Ministerium eine Gruppe von Archivbesetzern in Hungerstreik getreten. Als Ergebnis hektischer Verhandlungen wurde der Rostocker Pfarrer und Bürgerrechtler Joachim Gauck am Tag der Deutschen Einheit zum Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen ernannt. Damit begann der Aufbau einer Behörde, deren Dimensionen und Aufgaben auf Jahre hinaus nirgendwo in Osteuropa eine Parallele fanden. Die Präsenz der Vergangenheit Schon wenig später lief die Überprüfung Hunderttausender auf eine frühere Stasi-Tätigkeit an. Sie betraf vor

allem Ostdeutsche, die im Staatsdienst waren oder in diesen aufgenommen werden wollten – und addierte sich bis zur Einschränkung des Verfahrens im Dezember 2006 auf etwa 1,75 Millionen Anfragen. Hinzu kamen die persönlichen Anträge auf Akteneinsicht, die seit dem Inkrafttreten des StasiUnterlagen-Gesetzes vom 20. Dezember 1991 rund 1,6 Millionen Menschen stellten. Insgesamt führte diese Praxis in den ersten Jahren nach dem Ende der DDR zu einer politischen und gesellschaftlichen Präsenz der Vergangenheit, die durchaus mit jener während der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen ist. Opfer der Verhältnisse? Anders als damals spielten Mitgliedschaft und Rang in der SED für sich genommen zwar keine Rolle – und das war, wie sich bald zeigen sollte, ein folgenreicher Unterschied. Aber die Dimensionen des Durchleuchtungsverfahrens produzierten historisch bekannte Reaktionen: Denn von denen, die aus diesen Überprüfungen als enttarnte Zuträger oder Mitarbeiter der Geheimdienste hervorgingen, betrachteten sich bald etliche als Opfer der neuen politischen Verhältnisse. Dabei waren jene, die zwar wichtige Parteifunktionen bekleidet, sich aber nicht der Stasi verpflichtet hatten, vielfach ohnehin völlig unbehelligt geblieben. perspektive21

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Ähnliches galt anfangs auch für die zahlreichen Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi im Westen. Einer breiten Entfaltung nachträglicher Beschönigungen und verniedlichender Erinnerungen, wie sie nach 1945 zu beobachten war und wohl nach jedem politischen Umsturz zu gewärtigen ist, standen allerdings bereits kurz nach der friedlichen Revolution vielerorts aufblühende zeitgeschichtliche Initiativen entgegen. Dazu trug sehr bei, dass ostdeutsche, westdeutsche und auch ausländische Historiker praktisch schon im Moment des Untergangs der DDR Zugang zu deren Nachlass suchten und erhielten. Denn anders als nach dem Ende des NS-Regimes, als die Siegermächte, nicht zuletzt zur Vorbereitung des Nürnberger Prozesses, die deutschen Akten erst einmal beschlagnahmten, waren viele Bestände des SED-Staates und seiner sogenannten Massenorganisationen sofort offen. Umfangreiche Aufarbeitung Hinzu kam, und auch das reflektierte vor allem die westdeutschen Erfahrungen im Umgang mit der NS-Vergangenheit: Die politische Klasse der größer gewordenen Bundesrepublik war bereit, die materiellen Rahmenbedingungen für eine eingehende wissenschaftliche Erforschung der DDRGeschichte zu gewährleisten. Ja mehr 42

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noch, mit Einsetzung der EnqueteKommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ begab sich der Bundestag im Frühjahr 1992 unter dem Beifall aller Fraktionen, wenn auch gegen den Willen der PDS/Linken Liste, selbst in die Rolle des historischen Erkenntnisstifters. Eine Aufgabe der Gesellschaft Drei Jahre später lag ein buchdicker Abschlussbericht vor, dazu Anlagen in 17 weiteren Teilbänden auf mehr als 15.000 Druckseiten. Ungeachtet etlicher Sondervoten vor allem von Seiten der oppositionellen SPD, die das Werk durchzogen und den Eindruck verstärkten, dass hier Geschichte offiziell fixiert worden war, hatte der Bundestag im Sommer 1995 bereits eine weitere Enquete-Kommission beschlossen. „Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozess der deutschen Einheit“ lautete, grammatikalisch etwas rätselhaft, ihr Titel. Auch wer die (selbst-)aufklärerischen Intentionen der beiden Großprojekte und die damit wohl erhofften edukatorischen Wirkungen anzuerkennen bereit ist, kommt nicht umhin, einige Fragezeichen hinter die fast sechsjährigen Anstrengungen der Legislative zu machen: Ist es wirklich Aufgabe des Parlaments, Geschichte zu schreiben oder auch nur zu dokumen-


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tieren? Was genau war dabei das Erkenntnisziel? Und hatte man mit den raumgreifenden Erkundungen bis hinein in das „Alltagsleben in der DDR“ nicht einen Weg eröffnet, der seitdem immer weiter in die Sackgasse staatlich eingehegter „Erinnerungskultur“ geführt hat? Die Zweifel an der Berechtigung einer Geschichtsdeutung von Amts wegen sind prinzipieller Natur; doch auch in einer so besonderen Situation wie in den ersten Jahren nach 1989 hätte es Möglichkeiten gegeben, das öffentliche Gespräch über die DDRVergangenheit anders als durch den Bundestag zu organisieren. Demokratiepolitisch spricht jedenfalls alles dafür, die Auseinandersetzung mit der Geschichte als Aufgabe der Gesellschaft, nicht des Staates, zu betrachten. Und Skepsis gegenüber einer forschenden Legislative drängt sich auch deshalb auf, weil weder damals Anlass bestand – noch heute besteht –, die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft ernsthaft in Frage zu stellen. Gesamtdeutscher Blick fehlt Tatsächlich erlebte die historisch-empirische SBZ- und DDR-Forschung Mitte der neunziger Jahre einen Boom, wie es ihn in Bezug auf die Geschichte der westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik niemals gegeben hatte. Auf dem Höhepunkt

dieser Konjunktur, die durch Sonderförderprogramme und durch die Einrichtung völlig neuer Forschungszentren (sogar innerhalb der Gauck-Behörde) angeheizt wurde, machte die Zahl von etwa 1.000 laufenden Projekten zur DDR-Geschichte die Runde. Nicht jede dieser Arbeiten suchte Antworten auf die Fragen eines lesenden Arbeiters respektive Bürgers, manches kam arg kleinteilig daher, und bis heute ist der „gesamtdeutsche“ Blick auf die Jahrzehnte gemeinsamer Getrenntheit die seltene Ausnahme. Aber im Ganzen handelte es sich um einen einsamen Rekord: Soviel an wissenschaftlicher Durchdringung ihres Gegenstands, jedenfalls in so kurzer Zeit, hatte in den Jahrzehnten zuvor nicht einmal die zeitgeschichtliche NS-Forschung zustande gebracht, die nun auf den Historikertagen entsprechend deutlich ins Hintertreffen geriet. Konkurrenz mit den Medien? Doch unbeeindruckt von allem Erreichten fühlte sich die Politik im Vorfeld der Feiern zum 20. Jahrestag des Mauerfalls zu neuen Anstrengungen berufen. Nicht nur glaubte man, via Bundeszentrale für politische Bildung und „Stiftung Aufarbeitung“, die 1998 aus der zweiten Enquete-Kommission hervorgegangen war, mit den Medien konkurrieren zu müssen. Spätestens seitdem die „Fortschreibung der perspektive21

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Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ Ende 2008 im Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedet wurde, war eine neue Runde staatlicher Geschichtsbemächtigung eröffnet. Im Kanzleramt, aber nicht nur dort, war man der Meinung, „Erinnerungspolitik“ machen zu sollen, ja machen zu müssen. Im Zentrum stand – und steht – dabei der Glaube, auf administrativem Wege Interesse für die „Aufarbeitung im Bereich des SEDUnrechts“ herstellen zu können, das „wegen des Zeitablaufs noch nicht angemessen im öffentlichen Bewusstsein verankert“ sei. Demgegenüber begreift die „Gedenkstättenkonzeption“ das Feld der NS-Erinnerung nicht nur als im Grunde arrondiert, sondern es schwingt in ihr nach wie vor der Konkurrenzgedanke mit: die Vorstellung, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit stehe einer stärkeren Beachtung der DDR-Geschichte irgendwie im Wege. Ein „Geschichtsverbund“ soll dieses postulierte Ungleichgewicht beheben. Neben der Birthler-Behörde und der „Stiftung Aufarbeitung“, die seit ihrer Gründung schon mehr als 23 Millionen Euro für Ausstellungen und Publikationen, Konferenzen und Stipendien einsetzen konnte, sollen die Gedenkstätten, Erinnerungsorte und Museen zur DDR-Geschichte stärker gefördert werden. Erklärtes Ziel der „Gedenkstättenkonzeption“ ist es, die „histori44

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sche Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur“ als „gesamtdeutsche Aufgabe“ auch auf die „westdeutschen Länder“ auszudehnen. Solche Formulierungen suchen den längst vielfach enttäuschten Erwartungen von Teilen der Bürgerrechtsbewegung zu entsprechen – und überdehnen damit zugleich doch wohl alle vernünftigen Möglichkeiten. Erfahrungen von ’89 sind wichtig Unter dem Tugendgebot der Erinnerung scheint weiten Teilen der politischen Klasse, freilich nicht allein in der Bundesrepublik, jeder Begriff von den Vorzügen einer Geschichtsschreibung, die sich unabhängig von politischen Identitätsstiftungsversuchen und Nützlichkeitserwägungen entfaltet, abhanden gekommen zu sein. Wem als Politiker oder als Bürger jedoch daran liegt, dass nicht nur „gedacht und erinnert“, sondern gewusst und verstanden wird, der kann sich nicht, wie dies gegenwärtig nur allzu oft geschieht, auf die Frage beschränken, wie viele seiner Zeitgenossen ein historisch gewordenes Ereignis noch erlebt oder nicht mehr erlebt haben. Und dem muss es am Ende nicht bloß darum gehen, Vergangenheit irgendwie „lebendig zu halten“ – wohl aber um Chancen, sie sich begreifend anzueignen. Eine Politik, die dafür realistische Perspektiven eröffnen will, wird das


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Faktum nicht ignorieren, dass die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit „jüngster Vergangenheit“ in hohem Maße an persönliche Erfahrung oder zumindest familiär tradierte Erinnerung gebunden ist. Aber sie wird sich nicht alleine davon leiten lassen. Für die überwiegende Mehrheit der heute lebenden Deutschen ist die DDR kein Teil ihrer „eigenen“ Vergangenheit – und sie wird es auch nicht mehr wer-

den. Das heißt nicht, einer immer wieder irritierenden Ignoranz das Wort zu reden und den oftmals beklagenswerten Mangel an Empathie zu rechtfertigen. Aber es heißt vielleicht, stärker als bisher auf die Reflexion der Erfahrungen von „1989“ und der Zeit danach zu setzen: Auch deshalb, weil das „Wir“ seitdem in sein Recht gesetzt, mithin eine reale Möglichkeit geworden ist. I

PROF. DR. NORBERT FREI lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. perspektive21

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Mit Schaum vor dem Mund geht es nicht ÜBER DAS FLAUE GEFÜHL BEI STASI-ÜBERPRÜFUNGEN, VERMEINTLICHE SPITZEL IN DER SPD-FRAKTION, DEN RECHTSSTAAT UND EINE ZWEITE AUFARBEITUNG SPRACH THOMAS KRALINSKI MIT ANDREAS KUHNERT PERSPEKTIVE 21: Sie waren in DDR-Zeiten als Pfarrer tätig, kamen zur Umweltund Bürgerrechtsbewegung. Haben Sie geahnt, dass Sie von der Stasi überwacht wurden? ANDREAS KUHNERT: Wir sind immer davon ausgegangen. Das macht die Stasi nicht besser. Aber uns war immer klar, wir leben in einem Überwachungsstaat – und haben uns darauf eingestellt. Wenn wir als Gruppe zusammensaßen, war immer klar, hier bleibt nichts unter uns. Ich war in der Schülerarbeit aktiv. Wir wollten älteren Schülern, heute würde man sagen Gymnasiasten, Horizonte öffnen – im Philosophischen, Ethischen, Politischen, in Themen, die in der DDRSchule oder -Uni nicht vorkamen. Wir wussten, das sind spätere Verantwortungsträger und deshalb sollten sie einen weiteren Horizont haben, als es der Staat normalerweise zugelassen hat. Zweimal im Jahr hatten wir unsere Treffen im evangelischen Jugendheim bei Storkow. Uns war immer klar, dass irgendeiner mitschreiben würde, dass

da Wanzen wären. Niemand der Anwesenden hat irgendwas gesagt, von dem er nicht wollte, dass es die Verantwortlichen im Staat wissen. Die Stasi war immer dabei Die Stasi war immer dabei? KUHNERT: Wir haben uns immer bewusst gemacht, dass wir überwacht wurden. Wenn wir was ganz Heimliches hatten, sind wir in den Wald gegangen – und dann musste man natürlich sicher sein, dass derjenige mit dem man redete, „sauber“ war. Das war nicht die eigentliche Bedrohung. Wir haben ja auch unsere Meinung wie zum Jugendweihezwang oder Wehrunterricht in Positionspapiere gefasst und an die staatlichen Stellen gesandt. Was war denn die Bedrohung? KUHNERT: Die grundsätzliche Bedrohung war, dass man als Oppositioneller mehr oder minder mit einem Bein im Knast stand. Weil Opposition im perspektive21

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DDR-System nicht vorgesehen war! Die Partei hatte ja immer recht. Ich bin regelmäßig zum Rat des Kreises einbestellt worden. Dort hat mir der Ratsvorsitzende in rauem Ton oft klar gesagt, dass das, was ich machte, staatsfeindliche Tätigkeit sei. Und ich wusste ja, das ist ein Straftatbestand. Das war eine offene Drohung. Jede unbedachte Äußerung konnte eine harte Strafe nach sich ziehen. Hat Sie das vorsichtiger werden lassen? KUHNERT: Man hat mehr taktiert, so dass wir gesagt haben, über das Thema reden wir jetzt besser nicht mehr, sondern besprechen das auf einem Waldspaziergang. Bedrohlich fand ich die Gefahr, wenn ich mich frei äußere, kann mir das berufliche Nachteile bringen, im schlimmsten Fall auch Gefängnis. Das hat Sie nicht eingeschüchtert? KUHNERT: Ich hatte ja erst eine Berufsausbildung mit Abitur beim damaligen VEB Carl Zeiss Jena gemacht und bin dann durch „Ulbrichts Studienplatzlenkung“ wegen „gesellschaftspolitischer Unreife“ nicht zum MathematikStudium zugelassen worden und in der Theologie gelandet. Damit war man in einem geschützten Raum, niemand konnte einem mehr die Karriere verbauen, nur weil man seine Meinung offen sagte oder an Demos teilnahm oder „Schwerter zu Pflugscharen“ ans 48

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Kirchenfenster gehängt hat. Das war ein großer Unterschied zu Leuten, die in der Wirtschaft, in Schulen oder Unis gearbeitet haben und bei kritischen Äußerungen auch Gefahr liefen, nicht nur gemaßregelt sondern auch entlassen zu werden. In den achtziger Jahren wurde man auch vorsichtiger, Kirchenleute einzusperren. KUHNERT: Ja. Bei mir stand zwei mal in den Stasi-Akten, dass von einer Verhaftung abgesehen worden sei, weil zum Beispiel der 11. Parteitag der SED bevorstand und man keine Negativschlagzeilen gebrauchen konnte. Das war ja die Zeit, als die West-Medien von OstBerlin aus darüber berichteten. Da wurde zum Beispiel Rainer Eppelmann verhaftet, der am nächsten Tag wieder frei kam, weil in der Tagesschau darüber berichtet worden war. Schließlich war die DDR-Führung auch zunehmend von Krediten und vom Wohlwollen des Westens abhängig. Freudenfeuer oder Öffnung? Nach der Wende war sehr umstritten, wie mit den Stasi-Akten umzugehen ist. Friedrich Schorlemmer wollte sie am liebsten verbrennen. Fanden Sie in Ordnung, die Akten zu öffnen? KUHNERT: Friedrich Schorlemmers Grundidee war: Lasst uns jetzt ein Freudenfeuer machen, wir haben gesiegt und verbrennen alles aus lauter


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Freude. Diesen Gedanken konnte ich zuerst gut nachvollziehen. Aber dann wurde mir, wie vielen anderen auch, klar: Das öffnet Spekulationen Tür und Tor. Man kann behaupten, jemand sei ein Spitzel gewesen, aber man kann es weder beweisen noch widerlegen. Deshalb finde ich den eingeschlagenen Weg der staatlichen Regulierung und geordneten Einsichtnahme das Sinnvollste. Ich war öfters in Litauen. Dort passierte es regelmäßig, dass politische Gegner denunziert wurden. Da die Akten aber in Moskau liegen, kommt keiner ran, niemand kann etwas beweisen oder widerlegen. Deshalb war ich auch einer der ersten, der Akteneinsicht genommen hat, weil ich das wirklich gut und richtig fand. Wie stark war die Akte denn? KUHNERT: Mehrere hundert Seiten, auch mit viel Redundanz. Ich hatte den Eindruck, die hatten wie immer in der DDR ein Soll zu erfüllen. Das wirkte manchmal, als ob jede Woche zehn Seiten geliefert werden mussten. Da wurden auch Zustand oder Einrichtung der Wohnung beschrieben, ob der Teppich gesaugt oder die Fenster geputzt waren. Gab es Überraschungen in den Akten? KUHNERT: Das einzige, was mich wirklich überrascht hat, waren die drei KGB-Spitzel. Das mag naiv gewesen sein, aber man wollte ja nicht so einge-

sperrt leben, wie man wirklich gelebt hat und leben musste. Wir hatten eine sowjetische Offiziersfamilie kennengelernt. Eigentlich hätte uns das stutzig machen müssen, denn die durften zu DDR-Bürgern nur Kontakte über die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft haben. In den Akten fand ich dann den Grund für die „Freundschaft“. Die waren auf uns angesetzt und sollten uns bespitzeln. So wurde unsere ganze Wohnung ausspioniert, während wir zum Kindergeburtstag von deren Tochter eingeladen waren. Keiner hat sich entschuldigt Haben Sie sich später mal mit Leuten getroffen, die Sie überwacht haben? KUHNERT: Nachdem ich meine Akten 1992 gesehen hatte, habe ich darüber in mehreren Zeitungen berichtet. Ich habe keine Namen zitiert, aber schon gehofft, dass sich einige vielleicht melden würden. Nicht mal der CDUPfarrer, der mich bespitzelt hat, hat sich gemeldet. Der Einzige, der noch vor der Einsichtnahme zu mir gekommen ist, war ein Klassenkamerad. Er sagte: Wundere dich nicht, wenn du was von mir in den Akten findest. Er hatte 1968 in Telefonzellen Zettel in Telefonbücher gelegt, mit dem Hinweis, dass man bei dem anstehenden Verfassungsreferendum auch mit Nein stimmen könne. Dabei ist er erwischt perspektive21

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worden, woraufhin die Stasi ihn vor die Wahl gestellt hat, entweder wegen staatsfeindlicher Hetze vor Gericht zu landen oder mit ihr zusammenzuarbeiten. Und da hat er sich für die „Zusammenarbeit“ entschieden, sich aber zwei Jahre später dekonspiriert. Die Ironie war, dass in meinen Akten von ihm nichts zu finden war, denn vieles ist ja auch vernichtet worden. Kein Hardliner Sind Sie denn auf die Spitzel zugegangen? KUHNERT: Nicht alle waren aus den Akten heraus zu identifizieren. Ein Pfarrer und ein Arzt waren dabei, die sich aber leider bei mir nicht gemeldet haben obwohl ich es erwartet hatte. Ich bin von mir aus auf niemanden zugegangen, weil ich nicht abrechnen wollte. Daran hatte ich kein Interesse. Sie haben dann mehrere Stasi-Überprüfungskommissionen geleitet. Welche Kriterien gab es dabei? KUHNERT: Erstens eine Unterschrift zur Zusammenarbeit, zweitens Berichte – handgeschrieben oder mit Unterschrift. Drittens Geschenke oder Geld. Viertens die Frage, ob jemandem geschadet wurde, diese Frage war immer die Schwierigste. Fünftens ging es um die Frage, in welchem Alter derjenige war und wie lange es gedauert hat. Und schließlich die Frage, ob man sich selbst dekonspiriert hat. Ich fand, das 50

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war ein sehr wichtiges Kriterium, denn dazu hat sehr viel Mut gehört. Wie oft gab es eine Differenz zwischen der Aktenlage und dem, was die Betroffenen erzählten? KUHNERT: Ich habe bei den Überprüfungen immer nur mit Leuten zu tun gehabt, die offen reden wollten und auch froh waren, sich endlich mal erklären zu können. Häufig gab es Erpressungssituationen. Eine Frau, der ich ab und an begegne, hat heute noch Tränen in den Augen, weil sie mit dem Thema nicht fertig wird. Und dass, obwohl die Überprüfungskommission sie „frei gesprochen“ hatte. Ihr Bruder war wegen versuchter Republikflucht verhaftet worden. Die Stasi kam zu ihr mit der Alternative, dass er am nächsten Tag freikommen könnte, wenn sie unterschreibt – oder dass er eben drei Jahre Haft bekommt. Sie hat unterschrieben, merkte aber bald, dass sie mit der Idee, nur harmlose Berichte zu schreiben, nicht durchkommt. Sie hat sich dann ihrem Pfarrer anvertraut und sich mit dessen Hilfe auch dekonspiriert. Aber ihr hängt das bis heute an. Das war ein Fall, der durchaus typisch war und mich in der Einstellung bestärkt hat, sehr vorsichtig in der Beurteilung zu sein. Ich war kein Hardliner. Und war das immer richtig? KUHNERT: Ja. Ein Fall hat mich besonders nachdenklich gemacht. Und er hat


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mich in meiner Einstellung, sehr behutsam zu sein, bestärkt. Da war einer in der Überprüfungskommission, der sich ganz sicher war, dass man eine Unterschrift und Verpflichtung als IM nicht vergisst. Der junge Mann, über den wir zu beraten hatten, hatte keine Chance. Genau dieser „Hardliner“ kam ein Dreivierteljahr später zu mir. Er saß ganz kleinlaut auf meinem Sofa und erzählte: ‚Du wirst es nicht glauben, jetzt ist meine Akte aufgetaucht und ich habe auch unterschrieben. Und habe es nicht mehr gewusst!‘ Der, der am lautesten getönt hatte, so was vergesse man nicht, hatte es selbst verdrängt. Friedrich Nietzsche hat es gesagt und die Tiefenpsychologie hat ihn längst bestätigt: Vergesslichkeit ist die „Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung“. Gab es bei den Überprüfungen auch Enttäuschungen? KUHNERT: Es bleibt immer das flaue Gefühl, dass man denkt, wie soll man herausfinden, ob hier nicht jemandem, der namentlich genannt wurde, am Ende doch ein Schaden erwachsen ist. Wenn das nicht rauszukriegen war, galt immer das Prinzip: Im Zweifel für den Angeklagten. Auch mit flauem Gefühl. Aber für mich ist das auch ein Stück Rechtsstaat. Haben sich denn heute, 20 Jahre später, die Maßstäbe verschoben? KUHNERT: Die Kriterien haben sich

nicht verschoben. Aber einige, meist Leute die damals nicht dabei waren, haben das Gefühl, wir wären damals zu locker und zu leichtfertig mit dem Thema Stasi umgegangen und man müsse heute nochmal viel schärfer rangehen. Zum Beispiel bei den Richtern. KUHNERT: Bei der Richterin, deren Fall vor kurzem durch die Presse ging, ist es so, dass sie sich mehrmals geweigert hat zu berichten, laut Akten niemandem geschadet hat, sehr jung war und sich selbst dekonspiriert hat. Ich hätte sie als Überprüfer auch entlastet. Aber bei manchen Kritikern drängt sich wohl die Parallele zu 1945 auf. Eine Frage des Menschenbildes Ist die denn falsch? Ja, und zwar völlig. Hier galt das Prinzip „Übernahme nach Überprüfung“. Das war im Einigungsvertrag festgeschrieben und von Volkskammer und Bundestag mit über 80 Prozent Zustimmung beschlossen. Nach 1945 im Westen lief das als „Übernahme ohne Überprüfung“.

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Sie haben nie Zweifel gehabt, dass man damals zu nachsichtig war? KUHNERT: Nein, gar nicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute eher erleichtert waren, endlich reden zu können. Es ist für mich eine Frage des perspektive21

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Menschenbildes. Gehe ich davon aus, dass mir jemand immer nur das sagt, was die Aktenlage gerade hergibt? Oder habe ich das Vertrauen, dass Menschen aus Fehlern zu lernen bereit sind? Gezielte Täuschungen habe ich jedenfalls nie erlebt. Ich habe den Leuten immer gesagt: Sagen Sie lieber alles, damit es nicht später noch viel schwierigere Situationen gibt. Warum die SPD irrte Die SPD-Fraktion hatte 1991 ja bereits einen Abgeordneten wegen IM-Tätigkeit ausgeschlossen und den Beschluss dann wieder zurückgenommen. Warum? KUHNERT: Wir hatten – wie andere damals auch – den Grundsatz: Jeder der belastet ist, wird ausgeschlossen. Wir haben keine Einzelfallprüfung gemacht, haben uns weder Umstände noch Schwere der Mitarbeit angeschaut. Wer einem System wie der Stasi gedient hat, hat schon mal Dreck am Stecken. Und dann gab es einen Kollegen, bei dem sind Berichte von Dienstreisen für seinen Betrieb von der Stasi gesammelt worden – ohne dass er es wusste, von dem es auch keine Verpflichtungserklärung gibt. Der sich laut Aktenlage sogar zweimal geweigert hatte, als IM mit der Stasi zusammenzuarbeiten. Ein zweiter Kollege hatte unterschrieben und Berichte geliefert, also musste er ausscheiden. So dachten wir damals jedenfalls. 52

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Ohne dass darüber in der Fraktion gesprochen wurde? KUHNERT: Erst nach dem Ausschluss hat er uns die ganze Situation geschildert, wie er im Knast erpresst wurde. Von der Stasi gab es dann einen Schlussbericht, den er uns gezeigt hat, wonach sie die Zusammenarbeit mit ihm aufgibt, weil er partout keine brauchbaren Berichte schreiben wollte und zu keiner wirklichen Zusammenarbeit bereit war. Der Ausschluss wurde daraufhin wieder zurückgenommen. Das war für uns ein Lernprozess. Welche Folgen hatte diese Diskussion? KUHNERT: Wir haben gelernt, dass man Leute nicht über einen Kamm scheren kann, sondern den Einzelfall und die Umstände prüfen muss, gerade wegen dieser hinterhältigen Erpressungssituationen. Daraus wurde dann das Prinzip „Mit menschlichem Maß“, das wir mit einem Landtagsbeschluss aller Fraktionen dokumentiert haben. Bei allem, was ich bei Überprüfungen gemacht habe, hat sich die Einzelfallprüfung bewährt. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum von der Opposition in der EnqueteKommission diese Fälle jetzt noch mal vom „grünen Tisch“ aus bewertet werden und den Betroffenen vorgeworfen wird, sie hätten damals ihr Mandat zurückgeben müssen. Das Problem ist doch, dass die reine Aktenlage noch lange nichts erklärt. Es war eben manchmal ganz schön kompliziert, weil biswei-


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len Täter auch Opfer waren. Weil wir nicht genau wussten, wie es zu Unterschriften gekommen war. Aber warum wurde 1994 die Überprüfung der Landtagsabgeordneten eingestellt? KUHNERT: Der wichtigste Grund für uns war ein berechtigtes ostdeutsches Selbstbewusstsein: entweder alle Parlamentarier zwischen München und Kiel, Düsseldorf und Potsdam. Oder keiner. Wir wollten keine Abgeordneten zweiter Klasse sein. Dazu stehe ich auch heute noch. Und erst recht, nachdem deutlich geworden ist, wie viele in Westdeutschland freiwillig der Stasi zugearbeitet haben. Das war nicht nur Dieter Dehm, der jetzt für die Linke im Bundestag sitzt. Der Fehler war sicher, dass wir das nicht mit den anderen ostdeutschen Parlamentariern abgesprochen haben. Der Rechtsstaat gilt für alle Nun ist aber auch die Justiz in den Fokus gekommen. Ist es nicht nötig, Richter und Staatsanwälte nochmal zu überprüfen? KUHNERT: Zunächst einmal hat die frei gewählte Volkskammer 1990 mit großer Mehrheit ein Richtergesetz beschlossen. Das Gesetz sieht ein ordentliches Verfahren vor, nachdem jeder einzelne Richter durch von der Volkskammer eingesetzte Richterwahlausschüsse überprüft werden sollte. Über-

nahme nach Überprüfung und Wahl durch ein demokratisch legitimiertes Gremium mit Zwei-Drittel-Mehrheit – das war das Prinzip und das finde ich noch heute in Ordnung. Aber hat das Brandenburg nicht zu lasch angewendet? KUHNERT: Nein. Brandenburg war im Vergleich zu anderen neuen Ländern eher vorbildlich! Nur hier gab es einen klaren Kriterienkatalog für die Befragung, Beurteilung und Entscheidungsfindung im Wahlausschuss. Die Richter mussten einen detaillierten Fragebogen mit 28 Fragen beantworten, während es in Thüringen acht und in Sachsen sieben Fragen waren. Nur in Brandenburg wurde nach SED-, PDS-Mitgliedschaft und -Austritt gefragt, nach Bemühungen, die Diktatur zu liberalisieren, und nach dem Engagement während des Herbstes 1989. Und dann wurde mit Zwei-Drittel-Mehrheit in den Richterwahlausschüssen entschieden, in denen zum Beispiel drei Richter und fünf Abgeordnete saßen – übrigens natürlich viele von CDU, FDP und Bündnis 90, die heute so gerne die Saubermänner spielen. Daran sieht man: Wir brauchen eine sachliche Debatte. Mit Schaum vorm Mund läuft gar nichts… Ist die Stasi nicht eher das kleinere Problem bei Richtern und Staatsanwälten? KUHNERT: So ist es. Wir haben unter den 846 Richtern noch 13 Stasi-belasperspektive21

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tete, von denen neun lediglich ihren Wehrdienst beim Wachregiment Feliks Dzierzynski abgeleistet haben. Das größere Problem sind diejenigen, die Leute verurteilt haben wegen Republikflucht, wegen politischer Witze oder Marschieren mit einem Plakat, das nicht erlaubt war. Und da hatten die Richterwahlausschüsse zu entscheiden, wer weniger belastet war und wem man den Neuanfang zutraute. Nun ist das politische Klima in den vergangenen zwei Jahren deutlich rauer geworden. Ist in so einem Klima Versöhnung überhaupt möglich? KUHNERT: Wir haben bisweilen ein Jagd-Klima und das ist für Aufarbeitung von Geschichte wenig hilfreich. Versöhnung setzt zweifellos Reue und Schuldbekenntnis des „Täters“ voraus, der mit der Diktatur kollaboriert hat. Es setzt aber auch voraus, dass man dem „Täter“ gegenüber bereit ist, ihn anzuhören, Entschuldigungen anzunehmen und ihm die Reumütigkeit auch zu glauben. Es ist schade, dass das Klima dies derzeit kaum zulässt. Denn so war das nach der Wende eigentlich angedacht als wir vom „Freudenfeuer mit den Stasi-Akten“ zum Prinzip „Übernahme nach Überprüfung“ übergegangen sind: aufein-

ander zugehen und einander besser verstehen können. Waren wir schon mal weiter? Ja. In den Gemeindevertretungen waren und sind ja viele Leute, die schon in einer Blockpartei Mitglied waren. Mit denen haben wir uns ausgesprochen. Die CDU-Leute bei mir vor Ort verstehen nicht, was die CDU auf Landesebene mit der Hau-draufAufarbeitung erreichen will. KUHNERT:

Ist denn in den anderen neuen Bundesländern anders aufgearbeitet worden? KUHNERT: Soweit ich erkennen kann nicht. Es gab selbstverständlich Unterschiede, aber eher gradueller Natur. In Sachsen regieren doch die Blockpartei CDU und Bauernpartei von Anfang an. Die haben jetzt einen Ministerpräsidenten, der war Stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises. Matthias Platzeck als Ministerpräsident unseres Landes war immerhin Bürgerrechtler! Ich billige Herrn Tillich einen Lernprozess zu, und er macht seine Arbeit für Sachsen sicher gut. Es gibt keinen Grund für die ehemaligen Blockparteien anderen diesen Lernprozess nicht zuzugestehen! Sie haben keinen Grund, mit Fingern auf andere zu zeigen. I ANDREAS KUHNERT

war Jugendpfarrer in der DDR und sitzt seit 1990 für die SPD im Brandenburger Landtag. 54

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Nicht das gelebte Leben ausgrenzen SECHS ERFAHRUNGEN AUS 20 JAHREN BRANDENBURG VON MARTINA GREGOR-NESS UND KLAUS NESS

it diesem Text möchten wir einige eigene Erfahrungen aus den vergangenen 20 Jahren reflektieren, die helfen können zu verstehen, warum manche bisherigen Debatten in der Enquete-Kommission des Landtages zur Geschichtsaufarbeitung von vielen Brandenburgern nur mit Kopfschütteln oder mit völligem Desinteresse wahrgenommen werden. Wir sind ein OstWest-Paar, die eine in der Lausitz geboren und groß geworden, der andere in Westdeutschland aufgewachsen und im Sommer 1990 zunächst nach Thüringen und im Herbst 1991 nach Brandenburg gegangen. Wir haben beide also als „teilnehmende Beobachter“ die Nachwendezeit und die unmittelbaren Reaktionen der Menschen auf die Veränderungen der ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationen miterlebt. Auch durch diese Erfahrungen ist das wiedererstandene Land Brandenburg unsere Heimat geworden. Unser Eindruck ist, dass in der gegenwärtigen Debatte um die EnqueteKommission einigen Diskutanten, „Experten“ und Wissenschaftlern diese

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Erfahrungen fehlen. Oder sie diese Erfahrungen – ob bewusst oder unbewusst – ausblenden. Die Wendezeit war für viele Ostdeutsche ein Wechselbad der Gefühle. Die friedliche Revolution im Herbst 1989 löste für viele Ostdeutsche in den Folgemonaten, wenn nicht sogar Jahren ein ständiges Wechselbad der Gefühle aus. Freude, ja sogar Euphorie, aber auch neue Ängste und Verunsicherungen lösten sich pausenlos ab. Aufstiegshoffnungen, aber auch Abstiegsängste lagen dicht beieinander. Der Begriff der Freiheit hatte in der einen Minute etwas Hoffnungsvolles, konnte in der nächsten aber auch etwas Beängstigendes auslösen. Neben dem Gefühl, erstmals in seinem Leben ohne Angst seine eigene Meinung sagen zu können, stand innerhalb kürzester Zeit die Erfahrung, dass der Arbeitsplatz, der soziale Sicherheit gewährleistet, in Gefahr war. Der Hoffnung, erstmals seine eigenen Fähigkeiten richtig einbringen zu können, stand innerhalb kürzester Zeit die Erfahrung gegenü-

ERFAHRUNG NR. 1:

perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

ber, dass sicher geglaubtes Wissen unter veränderten Bedingungen nichts mehr wert ist. Dem Versprechen auf „blühende Landschaften“ stand die Erfahrung der Abwicklung des eigenen Betriebes gegenüber. In den Nachwendejahren waren Hunderttausende Ostdeutsche im ABM damit beschäftigt, ihre eigenen – teilweise Jahrzehnte lang vertrauten – Arbeitsstätten im wahrsten Sinnes des Wortes dem Erdboden gleichzumachen, ohne dabei eine eigene neue berufliche Perspektive in ihrer Heimat erkennen zu können. Fast alle in neuen Berufen Millionen erwachsene Ostdeutsche mussten erleben, dass ihre alten beruflichen Qualifikationen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen keinen sicheren Arbeitsplatz mehr garantierten und sie – teilweise mehrjährig – einen neuen Beruf erlernen mussten. Um die Dimension der – in den seltensten Fällen freiwilligen – Anpassungsnotwendigkeiten zu verstehen, muss zur Kenntnis genommen werden, dass heute etwa 80 Prozent der Ostdeutschen einem anderen Beruf nachgehen als zu DDR-Zeiten. Die Transformation ist von vielen Ostdeutschen dabei als ein sehr ambivalenter Prozess der – teilweise als zwangsweise empfunden – Individualisierung wahrgenommen worden. Der neuen Freiheit, ohne staatliche Gängelung seinen eigenen 56

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Weg finden zu können, stand das Gefühl gegenüber, jetzt in vielen Fragen auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Die Zwischenzeit Dem Aufbruch des Wendeherbstes, der viele Menschen zum gesellschaftlichen Engagement führte, folgte im Augenblick der Gefährdung des eigenen sozialen Status deshalb vielfach der Rückzug ins Private, die Konzentration auf die eigenen Belange und des engsten privaten Umfeldes. In dieser Phase nahm bei vielen Ostdeutschen auch das Interesse an gesellschaftlichen und politischen Debatten ab. Ablesen lässt sich das etwa an den dramatisch sinkenden Auflagen der Tageszeitungen, dem im Vergleich zu Westdeutschland größeren Erfolg der – fast völlig politikfreien – Privatfernsehsender, den stagnierenden bzw. rückläufigen Mitgliederzahlen der politischen Parteien und auch der sinkenden Beteiligung an Wahlen. ERFAHRUNG NR. 2: Nicht mehr DDR, noch nicht BRD: Warum die Länder Heimat wurden. Der 3. Oktober ist der Feiertag, mit dem wir heute den formalen Vollzug der Deutschen Einheit begehen. Dieser Tag löst bis heute bei den meisten Deutschen nicht die Emotionalität aus wie der 9. November, der Tag der Maueröffnung. Im Kern ist das nachvollziehbar, denn er war Tag


martina gregor-ness und klaus ness – nicht das gelebte leben ausgrenzen

eines letztlich fast nur noch bürokratischen Vorganges: Des Endes der DDR, der Wiedergründung der neuen Bundesländer und ihres Beitritts zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Viele Ostdeutsche haben die Nachwendejahre als eine „Zwischenzeit“ empfunden. Die DDR existierte nicht mehr, in der Bundesrepublik fühlten sich viele aber noch nicht angekommen. Und das hatte bei weitem nicht nur emotionale und kulturelle Gründe, sondern durchaus auch materielle. Einige von ihnen sind teilweise bis zum heutigen Tage nicht vollständig ausgeräumt: Angefangen von Rentenrecht bis zum Lohnniveau in vielen Berufsgruppen. Menschen brauchen Heimat Menschen sind aber emotional auf „Heimat“ angewiesen. In der „Zwischenzeit“ haben deshalb die Bundesländer diese Repräsentationslücke ausgefüllt. In Sachsen und Thüringen, die auch zu DDR-Zeiten ihre landsmannschaftliche Besonderheit gepflegt hatten, war das nicht überraschend. In Brandenburg, dessen Traditionen und Historie als verschüttet galten, war es aber fast ein kleines Wunder, dass sich hier sehr schnell ein gleich starker Regionalpatriotismus herausbildete. Erklären lässt sich das nur durch ein Bedürfnis nach Halt in einer unruhi-

gen Zeit. Die Politiker in Sachsen, Thüringen, aber auch in Brandenburg waren gut beraten, dieses Bedürfnis aufzugreifen und zu pflegen. Es hat den Menschen geholfen, besser durch die schwierigen Jahre der Transformation zu kommen. In Brandenburg ist das das große Verdienst von Manfred Stolpe. Die Wiedervereinigung war nicht der ständige Wunschtraum aller Ostdeutschen. Die einzigen freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 haben ein Ergebnis gebracht, das den Wunsch einer schnellen Vereinigung der Mehrheit der Bürger der DDR mit der Bundesrepublik dokumentierte. Dieses Ergebnis darf aber nicht dazu verführen, zu glauben, dass die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen, die in der DDR gelebt haben und groß geworden sind, zu jedem Zeitpunkt immer nur die Vereinigung mit der Bundesrepublik angestrebt haben. Es gab einen relevanten Teil der Bevölkerung, die sich zur DDR loyal verhalten haben, sich aber in den Wendemonaten von der DDR abwandten und auf die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse einlassen wollten. Dieser Teil der Bevölkerung, der zum Teil SED-und BlockparteiMitglieder umfasste, aber auch parteilose Menschen, die sich nun in den Bürgerbewegungen engagierten, wollten zunächst eine – wie auch immer – reformierte DDR, strebten zunächst

ERFAHRUNG NR. 3:

perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

aber keine Vereinigung mit der Bundesrepublik an. Erst als zum Jahreswechsel 1989/1990 immer deutlicher wurde, dass eine eigenständige DDR ökonomisch keine Perspektive hatte, orientierte auch dieser Teil der DDRBevölkerung aus rationalen Überlegungen auf eine schnelle Vereinigung. Viele von diesen Menschen standen aber der gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik (Massenarbeitslosigkeit, Umgang mit der Nazivergangenheit, Reichtumsverteilung etc.) nach wie vor kritisch gegenüber. Wer dieses ausblendet, kann bei der folgenden vierten Erfahrung nicht erfolgreich sein. ERFAHRUNG NR. 4: Die Stärke einer Demokratie misst sich an ihrer Integrationsfähigkeit. Nach der friedlichen Revolution wollte die Mehrheit der Ostdeutschen die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik. Ein relevanter Anteil der ostdeutschen Bevölkerung stand diesem Vereinigungsprozess aber mit einer gewissen Reserviertheit gegenüber. Viele Menschen hatten Angst, dass ihre Erfahrungen und Lebensleistungen missachtet werden, dass sie „Kohlonialisiert“ werden sollten. Die Aufgabe der Vereinigung wird heute viel zu oft auf ihre ökonomischen Notwendigkeiten reduziert. Es ging nach 1990 aber auch darum, Menschen für Rechtsstaat und Demokratie zu begeistern und sie dabei mit ihren Erfahrungen mitzunehmen.

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Die Überlegenheit einer Demokratie gegenüber einer Diktatur zeigt sich eben darin, dass sie auch Menschen, die ihr zunächst kritisch gegenüberstehen, die Hand reicht und ein Angebot zur Integration macht. Vor dieser Aufgabe standen die Alliierten beim Aufbau der westdeutschen Demokratie nach 1945, vor dieser Aufgabe standen die westdeutschen Demokraten auch nach der 68er Revolte der Studenten. Und vor dieser Aufgabe stand auch das vereinigte Deutschland nach 1990. Eine wichtige Erfahrung des Untergangs der Weimarer Republik lautet, dass sie nicht an zu vielen Nazis, sondern an zu wenigen Demokraten gescheitert ist. Diesen Fehler darf eine deutsche Demokratie nie wieder machen. Deshalb ist sie gut beraten, eine Politik der Integration zu betreiben. Von dieser Maxime hat sich die Brandenburger Landespolitik nach 1990 leiten lassen. Wer guten Willens war, beim Aufbau der Demokratie mitzuwirken, der sollte seine Chance erhalten. Die Alternative zu dieser Politik hätte Ausgrenzung bedeutet. Eine Demokratie aber, die Menschen ausgrenzt, schafft sich dauerhaft ihre eigenen Feinde und destabilisiert sich damit selbst. ERFAHRUNG NR. 5: Die Dominanz der westdeutschen Interpretationshoheit löst Abwehrreflexe aus. Mit der Vereinigung ist eine Minderheit, die 40 Jahre lang


martina gregor-ness und klaus ness – nicht das gelebte leben ausgrenzen

in einem anderen Staat lebte, einer selbstbewussten westdeutschen Mehrheitsgesellschaft beigetreten. Die Mehrheitsgesellschaft hat ihre eingeübten politischen, kulturellen, medialen Muster nach 1990 beibehalten und durchgesetzt. Diese westdeutsche Interpretationshoheit stößt in der ostdeutschen Gesellschaft an der einen oder anderen Stelle noch auf leichten Widerspruch. Ein Beispiel ist die historische Chiffre „68“. Ein Westdeutscher denkt sofort an Rudi Dutschke, ein Ostdeutscher eher an den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag. Richtiges Leben … Auf hinhaltenden Widerstand stößt die westdeutsche Interpretationshoheit aber, wenn sie sich auch anmaßt, das gelebte Leben in der DDR zu interpretieren. Im Herbst 1989 beendeten die Menschen in der DDR aktiv die Existenz ihres Staates und des diktatorischen Systems. Sie beendeten aber nicht ihr gelebtes Leben. Sie warfen auch nicht ihre individuellen Werthaltungen komplett über Bord. Warum denn auch? Menschen, die in der DDR gelebt haben, haben nicht 40 Jahre lang ein falsches Leben gelebt. Sie haben nur unter anderen Bedingungen gelebt. Sie haben Erfahrungen gesammelt, die auch am 3. Oktober 1990 nicht vollständig auf den Müllhaufen der Geschichte gehörten. Viel

zu viele Westdeutsche haben nach der Vereinigung eine Dankbarkeit der Ostdeutschen ihnen gegenüber erwartet, jetzt endlich das richtige Leben im richtigen System leben zu dürfen. Sie haben erwartet, dass die Ostdeutschen werden wie sie selbst und ihre Interpretationen teilen. Das ist wahrscheinlich der Grundfehler in der bisherigen Debatte, der eine simple Grunderkenntnis negiert: Wer sich vereinigt, der bleibt nicht alleine. Wir Deutschen müssen lernen, dass wir jetzt gemeinsam in einem Land leben, in dem beide Seiten ihre Erfahrungen gleichberechtigt einbringen können. Die Ostdeutschen haben 1989 nicht verloren, die Westdeutschen nicht gewonnen. … im falschen System Dass viele Ost- und Westdeutsche beim Thema Vergangenheit aneinander vorbeireden, hat auch damit zu tun, dass sehr viele Westdeutsche sich zu wenig für alle Facetten des gelebten Lebens in der DDR interessieren. Und es hat damit zu tun, dass versucht wird, ein von vielen Ostdeutschen als einseitig empfundenes Deutungsmonopol des Lebens in der DDR durchzusetzen. In Brandenburg haben wir das in der ersten Hälfte der neunziger Jahre im Zusammenhang mit der Diskussion um Manfred Stolpe erleben müssen. Mit einer breiten Kampagne wurde damals versucht, einen beliebten perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

Ministerpräsidenten wegen seiner Rolle in der DDR aus dem Amt zu drängen. Die Brandenburger spürten, dass diese Sichtweise nichts mit ihren Erfahrungen mit und ihrem Bild von diesem Menschen zu tun hatte. Deshalb scheiterte diese Kampagne am Eigensinn der Brandenburger. Die Diskussion, die heute einige Akteure im Umfeld der Enquetekommission – teilweise die Gleichen wie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre – inszenieren, löst bei vielen Brandenburgern ein deja vuErlebnis aus. Und erntet verständnisloses Kopfschütteln. Und erzeugt Abwehrreflexe, sich überhaupt noch mit dem Thema Vergangenheitsbewältigung auseinanderzusetzen. ERFAHRUNG NR. 6: Eine ehrlich und ernsthaft gemeinte Vergangenheitsdebatte, die die Köpfe und Herzen der Menschen erreichen will, darf nicht ihr gelebtes Leben ausgrenzen. Manche holzschnittartigen Diskussionen in der Brandenburger Enquete-Kommission, die zum Schluss immer wieder die Auseinandersetzung um die DDR nur auf den Focus Stasi orientieren, werden dabei den Erfahrungen vieler Menschen nicht gerecht. Das gelebte Leben in der DDR und in der Nachwendezeit und die dabei gemachten Erfahrungen sind vielfältig. Es gibt bei vielen Brandenburgern die Überzeugung, in der DDR trotz aller Widrigkeiten der Diktatur ein anständiges Leben geführt zu ha-

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ben. Die friedliche Revolution des Herbstes 1989 hat diese große Mehrheit der Brandenburger als Selbstbefreiung erlebt, trotzdem wollen sie ihr individuell gelebtes Leben in der DDR heute nicht als Mitläufertum diskreditiert sehen. Die Überheblichkeit, die einige „Experten“ bei der Beurteilung von Lebensläufen unter Bedingungen der Diktatur an den Tag legen, grenzt die große Mehrheit der Menschen aus, die unter jeglichen gesellschaftlichen Bedingungen in erster Linie das Ziel verfolgen, ihr kleines privates Glück zu finden. Das ist nicht nur überheblich, sondern wird als Arroganz wahrgenommen. Eine Vergangenheitsdebatte, die aber von der Mehrheit der Menschen als losgelöst von ihren Lebenserfahrungen wahrgenommen wird, muss scheitern. Das Ansehen leidet Erst recht wird sie scheitern, wenn sie so offensichtlich – wie derzeit – in der tagespolitischen Auseinandersetzung gegen eine mit großer Mehrheit gewählte Landesregierung instrumentalisiert wird. Die Diskussion um die Brandenburger Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der ersten Jahre unseres Bundeslandes ist auch eine Auseinandersetzung um die politische und kulturelle Hegemonie in Brandenburg. Mit Bildung der rot-roten großen Koalition nach der Landtagswahl 2009


martina gregor-ness und klaus ness – nicht das gelebte leben ausgrenzen

haben sich große Teile der Oppositionsparteien auf den Weg gemacht, die im Land Brandenburg strukturelle Mehrheit für SPD und Linke anzugreifen. Als Kampfthema haben sie sich für die De-Legitimierung der unter der Überschrift „Brandenburger Weg“ erfolgreichen Aufbauarbeit der Brandenburger SPD entschieden. Grundüberlegung dieser Strategie ist es offensichtlich, dass SPD und Linke erst von der Regierung verdrängt werden können, wenn ihre kulturelle und gesellschaftliche Basis im Lande destabilisiert wird. Dazu muss auch das Ansehen wichtiger Repräsentanten der Brandenburger Landespolitik der Nachwendejahre – etwa Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt – systematisch herabgewürdigt und die Arbeit der letzten

20 Jahre jenseits aller Erfolge einseitig auf das Thema Stasi verengt werden. Bei dieser Vorgehensweise wird zumindest billigend in Kauf genommen, dass das Ansehen des Landes Brandenburg jenseits seiner Landesgrenzen dauerhaft beschädigt wird. In Brandenburg wird dieser Versuch der nachträglichen Geschichtsumschreibung aber scheitern, weil er an den Lebenserfahrungen und -realitäten der Menschen vorbeigeht. In den vergangenen 20 Jahren in Brandenburg haben wir eins gelernt: Brandenburger sind hochsensibel, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen eine Meinung von oben quasi übergeholfen werden soll. Oder anders ausgedrückt: Belehrung kommt gegen den Brandenburger Eigensinn nicht an! I

MARTINA GREGOR-NESS ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion im Brandenburger Landtag. KLAUS NESS

ist Generalsekretär der Brandenburger SPD. perspektive21

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Ruhig und bestimmt WIE MANFRED STOLPE HALF, DIE EIGENSTÄNDIGKEIT DER DDR-KIRCHE ZU SICHERN UND SO EINEN BETRAG ZUM STURZ DES SED-REGIMES LEISTETE VON WOLFGANG HUBER

m 1. August 1975 war die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichnet worden. Sie hatte die Grenzen bestätigt, die in Europa infolge des Zweiten Weltkriegs gezogen worden waren. Im Gegenzug hatten die osteuropäischen Staaten in aller Form die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit anerkannt. Genau ein Jahr später, im August 1976, am Tag nach der Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz, haben Manfred Stolpe und ich uns persönlich kennengelernt. Das waren dramatische Tage in der Nähe von Genf. Auf der einen Seite war Stolpe ganz konzentriert auf den Rat, den er aus der Ferne den kirchlich Verantwortlichen dazu gab, wie die Kirche auf die Selbsttötung des evangelischen Pfarrers Brüsewitz reagieren soll. Keine Mahlzeit vergeht ohne die Durchsage: „Ein Telefonat für Herrn Stolpe.“ Welche Folgen diese „Republikflucht in den Tod“ (Wolf Biermann) haben würde, können wir in diesen Tagen allenfalls ahnen. Doch

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die Notwendigkeit, dass die Kirchen an jedem Ort für die Menschenrechte eintreten, wird uns auch durch dieses Geschehen ins Gewissen gebrannt. Auf der anderen Seite nahm Manfred Stolpe mit ungeteilter Aufmerksamkeit an den Überlegungen Anteil, wie der Gedanke der Menschenrechte, der in die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Eingang gefunden hatte, im Osten Deutschlands und Europas genauso verbreitet werden könne wie im Westen. Das eine war ihm so wichtig wie das andere. Ein Leben vor der Politik Das war 1976. Die verlässliche Verbundenheit über 35 Jahre bewegt mich noch heute; und ich bin froh darüber, dafür öffentlich Dank sagen zu können. Und deshalb möchte ich etwas zu Manfred Stolpes Wirken in der evangelischen Kirche und für diese Kirche sagen. Es gibt ein Leben von Manfred Stolpe vor der Politik und über sie hinaus. Freilich trägt auch dieses Leben einen durchaus politischen Charakter. perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

Drei Jahrzehnte, nämlich von 1959 bis 1989, stand er im unmittelbaren Dienst der Evangelischen Kirche. Vor zehn Jahren habe ich es für einigermaßen kühn erklärt, sich vorzustellen, dass er als Ministerpräsident eine vergleichbar lange Amtszeit erreichen werde. Dass er schon 2002 das Amt des Ministerpräsidenten an Matthias Platzeck weitergeben würde, habe ich damals natürlich nicht geahnt – und auch nicht, dass er noch im selben Jahr Bundesminister im Kabinett von Gerhard Schröder würde. Heute stellen wir mit großer Dankbarkeit fest: Manfred Stolpe ist auch danach eine wichtige öffentliche Person in unserem Land geblieben, ein verlässlicher Ratgeber und Brückenbauer, ein Anreger und Mahner. Er hat auch in den anderthalb Jahrzehnten, die ganz durch politische Ämter bestimmt waren, die Verbindung zu kirchlichen Aufgaben aufrechterhalten. Und ich freue mich darüber, dass er gegenwärtig solche Aufgaben mit verstärkter Intensität wahrnehmen kann. Für zwei derartige Zusammenhänge kann ich in persönlicher Verantwortung sprechen: Für das Domkapitel des Domstifts Brandenburg gratuliere ich heute dem aktiven und hilfreichen Domherrn. Und für das Kuratorium der Stiftung Garnisonkirche Potsdam sage ich dem Kurator von Herzen Dank und füge hinzu: Wir brauchen Sie auch weiterhin; die Wiedererrich64

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tung der Garnisonkirche hier in Potsdam wird nicht nur eine Lücke im Stadtbild schließen, sondern sie wird ein Stück DDR-Unrecht wiedergutmachen. Sie wird nicht nur zum kritischen Umgang mit der Geschichte anleiten; sie kann auch Glaubensmut und Dialogbereitschaft fördern. Nicht der einfache Weg 1959, also mit 23 Jahren, hat Manfred Stolpe seine Tätigkeit für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg begonnen. In dieser Zeit hatte die SED die ersten Angriffe auf die evangelische Kirche und ihre Eigenständigkeit schon unternommen. Der Religionsunterricht war aus den Schulen verbannt worden, Engagierte aus den Jungen Gemeinden hatten schon Erfahrungen im Gefängnis hinter sich. Wer sich als Jugendlicher zur Kirche hielt, musste schon damals mit erheblichen Nachteilen in Schule, Ausbildung und Beruf rechnen. Die Protagonisten der SED waren davon überzeugt, dass der christliche Glaube unter kommunistischer Herrschaft innerhalb einer Generation verschwinden werde; und sie taten das Ihre dazu, dass es so kommen sollte. Wer in einer solchen Situation als Jurist in den kirchlichen Dienst ging, wählte nicht den einfachen Weg. Wer ihn trotzdem ging, dem lag daran, der Kirche trotz allen Gegenwinds einen eigenständigen Ort zu erhalten. Dass


wolfgang huber – ruhig und bestimmt

dies gelungen ist, betrachte ich als den wichtigsten Erfolg derer, die in der DDR-Zeit kirchliche Verantwortung trugen, allen voran Manfred Stolpe. Nur weil die Kirchen in der Zeit der DDR ein beachtliches Maß an Eigenständigkeit bewahrten und unter ihrem Dach kritischen Gruppen Raum gaben, konnten sie ihren Beitrag zum Ende der SED-Herrschaft und zur Einheit in Freiheit leisten. Zu dieser Rolle gerade der evangelischen Kirche hat Manfred Stolpe maßgeblich beigetragen. Dazu halfen ihm Eigenschaften, die 1961, in der ersten dienstlichen Beurteilung des damals Fünfundzwanzigjährigen folgendermaßen eingeschätzt wurden: „Nach unseren Beobachtungen fühlt sich Herr Stolpe seiner Evangelischen Kirche innerlich verbunden. Mit seinem bescheidenen, stets taktvollen Auftreten verbindet sich eine ständige Arbeitsbereitschaft, die ihn auch größere, umfangreiche Arbeitsaufgaben pünktlich und zuverlässig erledigen hilft.“ Besonders hervorgehoben wurde aber seine Fähigkeit, „auch schwierige Verhandlungen in ruhiger, bestimmter Weise zu führen.“ Gesamtsituation im Blick Schon seit 1963 war er für die „Ostkirchenkonferenz“ verantwortlich, die sich nach dem Bau der Mauer bilden musste. Aus ihr entstand der Bund der evangelischen Kirchen in der DDR,

dessen Sekretariat er von 1969 an dreizehn Jahre lang leitete. Von hier aus bereitete er das legendäre Gespräch zwischen Staat und Kirche vor, das am 6. März 1978 stattfand. Mit diesem Gespräch anerkannte der SED-Staat, dass aus dem Absterben der Religion in einer Generation nichts geworden war – wie stark auch immer die Kirchenmitgliedschaft zurück gegangen und der christliche Glaube aus der Öffentlichkeit verdrängt worden war. Manfred Stolpe behielt die Gesamtsituation der evangelischen Kirchen in der DDR auch in den folgenden Jahren im Blick, in denen er seit 1982 die Kirchenverwaltung der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburg als Konsistorialpräsident leitete. Ein Mann der Kirche In all diesen Phasen hat man sich auf seine schon 1961 anerkannte Fähigkeit verlassen, „schwierige Verhandlungen in ruhiger, bestimmter Art zu führen“. Wenn es heikel wurde, hieß es nun: „Das lassen wir Bruder Stolpe machen“. Ob es um Ausreisewillige ging, die sich an die Kirche wandten, oder um Angehörige kritischer Gruppen, die auf staatliche Repression stießen – sehr oft war es Stolpes Aufgabe, die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Dabei muss man bedenken: Gerade er hatte sich dafür eingesetzt, dass Bürger der DDR die Schlussakte von Helsinki von 1975 perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

kennen und etwas über Reise- und Meinungsfreiheit als Menschenrechte wissen konnten. Aber er sah es zugleich als seine Aufgabe an, Menschen vor persönlichen Risiken zu bewahren und sie aus gefährlichen Sackgassen zu befreien. Man brauchte damals Bürgerrechtler, für deren Mut wir auch heute gar nicht dankbar genug sein können. Aber man brauchte auch einen, der die Leute wieder aus dem Knast holte. Und auch Manfred Stolpe kann man nicht dankbar genug sein. Der eine war nämlich genauso notwendig wie die anderen.

Wie Manfred Stolpe das tat, wollten manche der damals Verantwortlichen nicht allzu genau wissen. Rückfragen hätten sie nicht gestellt, bekennen manche von ihnen bis zum heutigen Tag freimütig. Manfred Stolpe blieb – wie später auch – mit seiner Verantwortung so manches Mal allein. Genau deshalb zolle ich ihm meinen uneingeschränkten Respekt und sage ohne Wenn und Aber: Was er tat, das tat er als Mann der Kirche. Ich danke ihm für einen kirchlichen Dienst, der, wie wir heute deutlich sehen, zugleich ein Dienst an unserem Land im Ganzen war und bleibt. I

PROF. DR. WOLFGANG HUBER war Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg sowie Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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Frei und unbefangen? DER POLITISCHE JOURNALISMUS ALS FORTSETZUNG DES KALTEN KRIEGES MIT ANDEREN MITTELN VON FRIEDRICH SCHORLEMMER

992 war ich beim ORB zu einer Fernsehdiskussion mit Gerhard Löwenthal und Marlies Menge über Karl-Eduard von Schnitzler eingeladen. Ich meinte damals, dass Schnitzler kein Gegner sei, der es lohnt, und fuhr fort: „Einer meiner großen Lehrer, Karl Barth, ein Sozialdemokrat und Theologe hat gesagt: Gott, gib mir gute Feinde. Das ist kein guter Feind. Das ist ein ganz gefährlicher Demagoge für eine kleine Minderheit, die uns beherrscht hat. Diese Minderheit hat ihm auch geglaubt mit seinen furchtbaren Vereinfachungen, die er rhetorisch geschickt präsentiert hat. In meinen Augen ist er eine pervertierte Persönlichkeit, wirklich eine verdrehte Persönlichkeit, die ihre eigenen Lügen auch noch heute glaubt. Man könnte also sagen: Der hat das geglaubt, er glaubt das immer noch. Ich sehe bei ihm ein Gemisch aus Überzeugung, Verblendung und Zynismus. Ich möchte Ihnen folgende absurde Vorstellung vortragen: Ich halte es für denkbar, dass Karl Eduard von Schnitzler einer der Topagenten der CIA-Zeit war, eingeschleust im Kalten Krieg zur publizistischen Zerrüttung des sozialis-

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tischen Systems, zur intellektuellen und moralischen Zersetzung eines Menschheitstraums. Er ist dabei erfolgreicher gewesen als Sie, Herr Löwenthal. Er hat so abstoßend für den Sozialismus argumentiert, dass er einer der glänzendsten Antikommunisten ist. Mein Problem ist heute, dass im Kalten Krieg Formen von Gehässigkeiten aufkamen, wobei sich manche Medien in Ost und West durchaus glichen. Die Tonart, die ich bisweilen erlebt habe, (ich vergleiche jetzt nicht die Position, sondern die Tonart!), auch im ZDF-Magazin erlebt habe, hatte, was die Gehässigkeit gegeneinander anlangte, durchaus etwas Vergleichbares. Journalismus hat aber die Pflicht zu differenzieren, auch in Zeiten äußerster Konfrontation. Von solcher Differenzierung hat Herr von Schnitzler keinen Deut gehabt. Ich will Sie nicht vollständig mit Schnitzler vergleichen, meine nur, dass die Gehässigkeit Teil eines furchtbaren Medienkrieges war, seinerseits ein Teil des Kalten Krieges.“ Gerhard Löwenthal antwortete, ohne irgendwie beleidigt oder empört zu sein: „Also zunächst mal, Herr Schorlemmer, ich bin ein Journalist gewesen, der alles, perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

aus Überzeugung und aus eigener Einsicht und geleitet von einem einzigen Grundgedanken, nämlich dem Gedanken der Freiheit für alle Deutschen, getan hat. Im Grunde muss ich sagen, verbitte ich mir im Grunde jede Art von Vergleich, weil wir von zwei völlig verschiedenen Positionen dabei gewesen sind. Ich habe das vorhin schon gesagt: Er war der bezahlte Agitator eines kriminellen Regimes, und ich war ein freier Journalist in einem freien Lande und habe das gesagt, was ich wollte und was ich für richtig hielt. Der Kalte Krieg ist ja nun nicht von uns ausgegangen, sondern ist uns ja von den Herren drüben aufgezwungen worden. Darum, gebe ich gerne zu, habe ich kräftig mitgemischt, gar keine Frage, weil ich den Sturz dieses Systems wollte im Interesse der Menschen, auch von Ihnen. Zweitens: Ob der Schnitzler wirklich ein Überzeugter war… Ich meine, ich habe Sie bewundert. Ich habe nicht geglaubt, dass ein Pfarrer zu einer so fabelhaften Satire fähig ist, wie Sie sie hier mit dem CIA-Agenten vorgetragen haben. Das ist schon Spitze. Nur, ob er wirklich ein Überzeugter war oder nur ein Zyniker oder was auch immer. Wissen Sie, ein überzeugter Kommunist, der in den Westen fährt, sich unentwegt auf dem Kurfürstendamm mit Delikatessen versorgt, einen Porsche fährt und eine Westberliner Absteige besessen hat usw., ist das eigentlich ein überzeugter Kommunist, in einer Zeit, in der er auf dem 68

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Bildschirm versucht hat, dieses Bild des überzeugten Kommunisten-Sozialisten den Menschen vorzuspielen? Ich weiß es nicht. Also ich finde, wir sollten uns auch nicht mehr länger mit diesem Fossil beschäftigen. Ich meine, der ist ja nun da, wo er hingehört. Er ist im Mülleimer der Geschichte gelandet. Da sollten wir ihn auch wirklich lassen. Viel faszinierender ist ja die Frage nach dem Journalisten in der Diktatur. Aus der Geschichte wissen wir ja, wenn ein Volk überleben will in einer Diktatur, dann passt sich die Mehrheit an. Die übergroße Mehrheit passt sich an. Helden hat es immer nur sehr wenige gegeben. Das haben wir schon alles einmal erlebt. Das war in dieser Diktatur auch nicht anders. Deshalb habe ich mich immer bemüht zu differenzieren. So sollte man das auch bei den Journalisten tun.“ Kalter Krieg in neuer Auflage Ich hätte nicht geglaubt, dass nach der wunderbaren Selbstbefreiung der Kalte Krieg in neuer Auflage wieder beginnen würde. Am hässlichsten fand ich dabei Klaus Mertes in einer „Report München“-Sendung gegen Manfred Stolpe. Zuvor gab es einen aufwühlenden Beitrag über das Abschlachten von Walen in einer norwegischen Bucht als bluttriefendes Ritual und dann einen tendenziösen, um nicht zu sagen verurteilenden Beitrag gegen Manfred Stolpe


friedrich schorlemmer – frei und unbefangen?

und ein geradezu inquisitorisches Gespräch mit ihm, in dem Klaus Mertes ihm dringend riet, er könne viel zur Aufklärung beitragen, wenn er zurücktreten würde. Tribunal über den Osten Im SFB-Rundfunk hatte ich kurz darauf einen äußerst heftigen Disput mit Herrn Mertes. Ich warf ihm vor, dies sei ein Tribunal eines Westlers über einen Ostler gewesen. Er aber fand, dass man eine Sendung zu einem so schwierigen Komplex gar nicht machen könne und Stolpe sei doch sehr mediengewandt und wirklich „ein Kaliber“. Ich befand – immer noch sehr erregt –, dass der „Amtssessel“ für Herrn Stolpe Schwerstarbeit sei und dass es wenige gebe, die so kompetent sind und so viel Kraft haben wie er. Und er habe zu den wenigen Leuten gehört, die in den letzten zwanzig Jahren die „Politik des Wandel durch Annäherung“ im innen- und außenpolitischen Besuch auf eine diplomatische Weise gefördert hätten. Er habe geschickt als Vermittler zwischen Basisgruppen und Staatsführung, auch zwischen bedrängten Menschen und den Sicherheitsorganen gewirkt, immer zugunsten ersterer, manchmal nur kleine Erleichterungen ermöglichend. Er sei auch wichtiger Gesprächspartner für westliche Politiker gewesen. Mertes entgegnete, er wolle doch nur erörtern und besser verstehen, welchen

Anpassungszwängen und Notwendigkeiten Verantwortungsträger in einer totalitären Diktatur unterliegen, um möglicherweise Schlimmeres zu verhüten. Er fragte mich, ob ich denn bei den Verhandlungen mit der Stasi dabeigewesen sei. Blöde Frage, dachte ich und verwies darauf, daß ich Stolpe 17 Jahre kenne und oft erlebt habe, wie er sich in Krisensituationen immer für hilfesuchende Bürger eingesetzt und dabei seine Kanäle genutzt hat, die keinem andern zugänglich gewesen waren. Dies habe Mertes nicht bestreiten wollen und sich nicht zum Richter aufgeschwungen und die Forderung vom Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten habe er doch mit der Frage versehen „was ist wichtiger: hier den Amtssessel zu verteidigen oder den wirklich notwendigen zeitgeschichtlichen Informationsbeitrag zu leisten für etwas, was uns Deutschen ganz nottut?“ Er fände, das Ministerpräsidentenamt ist da nicht so wichtig! Ich versuchte zu würdigen, wie Stolpe sich in vielen kleinen Schritten um eine Erweiterung der Menschenrechte bemüht habe und so ein konsequenter Anwalt innerer Öffnungen wurde, der nicht beschwichtigen, aber innenpolitisch Ruhe haben wollte, damit sich überhaupt etwas bewegt – nicht beruhigen, besänftigen, alles runterdrücken, aber Eskalationen zu vermeiden trachtete. Diese Strategie könne Stolpe nach Mertes’ „Journalistenmeinung“ unbeperspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

fangener und freier ausbreiten, wenn er nicht in den Zwängen des Ministerpräsidentenamtes säße, das ihn automatisch in die machtpolitische Polarisierung brächte. Wir bräuchten „den Stolpe als Führungsfigur, als Identifikationsfigur und als Aufklärungsfigur so dringend, mit seiner persönlichen Biographie“. Heuchlerischer kann man gar nicht argumentieren, dachte ich, zumal wir nicht so viele Leute aus dem Osten hätten, die so einen Posten ausfüllen könnten! Ohne Aussicht auf Ende Ich dürfe, meinte Mertes „jetzt nicht einer neuen Harmonisierung das Wort reden. Die Dinge sind tragisch, die Dinge sind schrecklich… Da muss man doch offen miteinander reden. Wir sind keine Sensibelchen, aber wir würden doch gerne etwas fairer beurteilt, gerade auch von den Deutschen in den neuen Ländern. Und was ich nicht für gut halte, ist, dass sich jetzt ein ostdeutsches Sonderbewusstsein entwickelt, in dem man sagt: ‚Da dürfen Westdeutsche nicht drüber reden!’“Er verstünde überhaupt nicht den politischen Zusammenhang, in dem Stolpe damals handeln musste, und ich wünschte Herrn Mertes persönlich 40 Jahre Leben in der DDR ohne die Aussicht, dass sie bald einmal zu Ende geht. Und dann könnten wir miteinander noch mal reden. 70

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Ich selber habe Manfred Stolpe als einen hochbegabten Kirchendiplomaten erlebt, der in der Lage war, auf ganz unterschiedlichen Parkettböden zu bestehen. Obwohl wir öfter in der Einschätzung der DDR und ihrer politischen Maßnahmen Differenzen hatten, so hat er mich niemals bedrängt oder geschurigelt oder ermahnt. Er hat um Verständnis geworben, zum Beispiel bei Verzicht auf meine Mitwirkung bei der Sternfahrt der Ökologiegruppen nach Potsdam-Hermannswerder 1984. Manfred Stolpe wirkte als Prellbock für beide Seiten, damit es nicht zum Zusammenstoß kommt oder damit nicht eine Sackgasse ins Bodenlose, ins Abgründige führt. Ich habe zum Beispiel die Diskussion zwischen den Basisgruppen bzw. der „Kirche von unten“ während des Kirchentages 1987 in einem Berliner Gemeindehaus (zusammen mit Bischof Gottfried Forck) erlebt, wo es zu erheblichen Konfrontationen kam und Stolpe gewissermaßen der „Briefträger“ war zwischen diesen Basisgruppen und den nervös gewordenen Staatsund Staatssicherheitsorganen. Die Vertreter der Basisgruppen sparten nicht mit Kritik, und Stolpe wollte klarmachen, dass man den Bogen auch nicht überspannen dürfe, weil die Situation dann unkalkulierbar werden könne. Aber er ließ doch klar erkennen, auf welcher Seite seine Sympathien sind und wessen Vertreter er ist. Immer wollte er „vermitteln“, immer konflikt-


friedrich schorlemmer – frei und unbefangen?

minimierend wirken, Verhärtungen aufbrechen, festgefahrene, aufeinander fixierte Konfliktpartner miteinander ins Gespräch bringen, grenzüberschreitende Kontakte ermöglichen. Druck im Kessel Wer die Stasi-Akten über Stolpes Einlassungen angemessen bewerten will, muss den Zusammenhang berücksichtigen, indem er den Sicherheitsleuten sagte, dass man toleranter und zurückhaltender sein müsse, weil sonst die jungen Leute und einige Pfarrer „nicht mehr zu bändigen“ seien, und den „jungen Pfarrern“ sagte er, sie mögen zurückhaltender sein, weil sonst die Sicherheitsorgane unkontrollierbar reagieren könnten. Wer nicht beides sieht, sieht nichts. Unvergesslich sind mir Konfliktlagen, wo Stolpe bei festgefahrenen Positionen im Berichtsausschuss der Bundessynode (der sich mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigte) mit seinen Vermittlungsvorschlägen so klärend einzugreifen wusste, dass beide Seiten relativ zufrieden sein konnten und somit der Friede untereinander bewahrt blieb. Einzig den Kompromiss zwischen der Konferenz der Kirchenleitung und den Staatsorganen im Blick auf das öffentliche Zeigen des Symbols „Schwerter zu Pflugscharen“, habe ich nicht verstanden und nicht geteilt. Es war verboten worden, das Symbol weiter an der Jacke

zu tragen, aber es konnte gewissermaßen für den „innerkirchlichen Dienstgebrauch“ in unseren internen Papieren gedruckt und genutzt werden – im Kleinformat in geschlossenen Räumen. Ich habe auch im September 1982 öffentlich in Halle dagegen gesprochen, ja auch polemisiert.1 Dass Manfred Stolpe Gespräche mit den Stasi-Offizieren Wiegand und Roßberg geführt hat, darüber besteht kein Zweifel. Die Frage ist nur, auf welcher Seite er zu jener Zeit gestanden hat und ob er irgendjemand verraten hat. Ich bin da ziemlich sicher, auch nach meinen menschlichen Erfahrungen mit ihm. Und ich vergesse auch nicht, wie Stolpe auf der Herbstsynode 1989 – die so spannungsgeladen war, dass man es knistern hörte – an meinem Synodentisch vorbeikam, mit den Fingerkuppen ein wenig auf den Tisch klopfte und mir zuraunte: „Machen Sie mal. Ich brauche Druck im Kessel.“ Ich verstand. Und er hatte gerade die Gründungspapiere von „Demokratie jetzt“ persönlich in der Synode verteilt. Immer noch gibt es unterschiedliche Versionen bezüglich der inhaftierten Oppositionellen im Zusammenhang mit der Rosa-Luxemburg-Demonstration vom Januar 1988. Die Inhaftierten haben – soweit ich sehen kann – dem 1 Vergleiche dazu: Friedrich Schorlemmer, Träume und Alpträume. Texte und Reden von 1982-1990 aus der DDR, Berlin 1990, ausschnittsweise von Peter Merseburger in Panorama am 10.10.1982 in der ARD gesendet, weshalb mich Erich Mielke von jenem Tag an „persönlich“ kannte.

perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

Kompromissvorschlag zugestimmt, für ein halbes Jahr in den Westen zu gehen, mit der Versicherung, sie könnten dann wieder zurückkommen. Damit wurde verhindert, dass es zu Prozessen und einer Verurteilung mit langjährigen Haftstrafen in Bautzen kam. Auch hier hat Stolpe mitgewirkt. Und keiner von denen, die damals im Gefängnis saßen, soll mir weismachen, er sei gezwungen worden, in den Westen zu gehen. Sie haben diesen gewiss nicht unproblematischen Kompromiss „Auswandern in den Westen statt DDR-Knast“ gewählt. Es gab überall – auch in Wittenberg – Veranstaltungen und Mahnwachen, die möglicherweise damals schon zu größeren Demonstrationen hätten anschwellen können. Und wir, die wir „an der Basis“ nichts wussten, waren auch enttäuscht, dass Bärbel Bohley und die andern in den Westen gegangen waren. Die DDR-Behörden hatten geglaubt, dass es den Bürgerrechtlern, die in den Westen gingen, dort so gut gefallen würde, dass sie ohnehin nicht zurückkämen. Manfred Stolpe aber beharrte auf die Verabredung, dass sie nach einem halben Jahr zurückkommen könnten. Die DDR-Behörden wollten genau davon aber nichts mehr wissen. Und Bärbel Bohley wollte zurückkommen. Manfred Stolpe fuhr mit seinem Auto nach Prag und holte sie persönlich vom Flughafen ab. Sie wurden stundenlang ˇ am Grenzübergang zwischen der CSSR und der DDR aufgehalten. Hier konnte 72

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Stolpe mit einem Eklat drohen. Und so ist Bärbel Bohley (und wenige andere) wieder in die DDR zurückgekehrt und ist wieder oppositionell aktiv geworden. Das fand ich ganz großartig. Ein Dank fehlt Was ich jedoch nicht großartig fand und finde, ist, dass Stolpe sich in allen Situationen, in denen ihm schwere Vorwürfe gemacht wurden, nicht offensiv gewehrt hat. Warum hat er nicht gesagt, wie er sich für Bärbel Bohley eingesetzt hat? Und dies ganz persönlich. Warum wird nicht erwähnt, dass Bärbel Bohley nach ihrer Rückkehr in die DDR aus der „Schusslinie“ neuer sofortiger Konflikte durch ein besonderes Westmedien-Interesse genommen wurde und sie durch Vermittlung und auf Kosten der Kirche ihre „Akklimatisierung“ in der DDR in einem kirchlichen Freizeitheim auf der Insel Hiddensee etwas abgeschirmt gestalten konnte? Kein Wort von denen, denen Stolpe spürbar geholfen hat. Kein Wort der Klärung. Kein Wort des Dankes. Ich fand und finde das einfach schäbig. Manfred Stolpe hat mehrere Jahre lang ein öffentliches Sperrfeuer gegen seine Person erlebt, aber in der Bevölkerung des Ostens mehrheitlich Sympathie und großen Respekt geerntet. Die Untersuchungen der Kirche hatten ergeben, dass für ein Disziplinarverfahren kein Anlass besteht.


friedrich schorlemmer – frei und unbefangen?

2011 ging die Hatz nun noch einmal los. Auf einer Hochzeit im Juni 2011 traf ich das Ehepaar Stolpe, beide gezeichnet durch Krebserkrankungen. Insbesondere Frau Stolpe geht diese erneute Verdächtigung und eine wiederbeginnende Hatz an den Lebensnerv. Da schien es mir gut, richtig und wichtig, dass ihn aus Anlass seines 75. Geburtstages am 16. Mai 2011 Egon Bahr würdigte. Bahr – ein so weitsichtiger und welterfahrener Politiker, der für seine erfolgreichen Verhandlungen mit der UdSSR und der DDR einen BlackChannel genutzt hat, um komplizierte Verhandlungen auch im Verborgenen voranzubringen – stellte sich öffentlich hinter ihn und mahnte innere Einheit durch Versöhnung an. Auch Helmut Schmidt hat sich ebenso wieder und wieder hinter Manfred Stolpe gestellt. Ebenso auch der segensreich im Stillen und in großer Beharrung wirkende „Ständige Vertreter der Bundesreplik in der DDR“ Hans Otto Bräutigam. Die Kunst des Möglichen Ich selber bin froh, dass es in der DDRZeit einen Manfred Stolpe gab, der ganz im Sinne einer schrittweisen Erweiterung der Menschenrechte, der Entspannung im KSZE-Prozess und der Schlussakte von Helsinki seit 1975 öffnend mitgewirkt hat und beharrlich dafür gearbeitet hat, dass die Mauer niedriger wurde, dass Wege der Men-

schen im geteilten Deutschland zueinander mehr und mehr möglich wurden. Und so konnte Stolpe sich für viele einzelne, besonders bedrängte DDRBürger – auch in Abstimmung mit dem Anwalt für besondere Angelegenheiten Wolfgang Vogel – einsetzen. Dafür war er bereit und fähig, mit denen zu reden, die eine demokratisch nicht legitimierte, aber tatsächliche Macht im SEDStaat innehatten. Was ist praktische Politik denn anderes als die Kunst des Möglichen, die das im Augenblick Unmögliche nicht aus dem Blick verliert, also Prinzipien verpflichtet bleibt? Die DDR existiert nicht mehr Der Kalte Krieg ist zu Ende. Manche führen ihn weiter, als ob sie eine Verlustangst (einschließlich eines Feindverlustschmerzes) antriebe – ohne dass sie sich heutigen Herausforderungen auch nur entfernt mit vergleichbarer Intensität zuwenden würden. Rückwärtige Aktivitäten schlagen sie ganz in ihren Bann. Es gilt freilich nichts zu verschweigen, was war, wie es war, warum es so war, wer was zu verantworten hat, aber auch nicht zu dem zu schweigen, was heute ansteht und was in der Freiheit das offene – auch das protestierende – Wort braucht. Das diktatorische SED-System mit seinem marxistisch-leninistischen Überbau und seiner missionarischen Welterlösungsvorstellung liegt hinter uns. Manche tun jeperspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

doch so, als ob es noch existierte oder täglich wiedererstehen könne. Die 40 geteilten Jahre bedürfen weiter der politischen Erinnerung sowie der persönlichen Würdigung derer, die darunter besonders gelitten und Widerstand geleistet haben. Redliche Erinnerung und nüchterne Analyse wird sich vor schönfärberischem Nostalgisieren ebenso hüten wie vor scharfrichterischem Dämonisieren. Dass die Zeit Wunden heilt, ist eine Gnade, die all jene ausschlagen, die die Wunden beharrlich aufkratzen. Wer wollte die Narben verschweigen und wer sollte nicht froh sein über das Vernarbte? Ich weiß sehr wohl, wie schwer das ist. Und ich habe wieder und wieder die Tragfähigkeit jenes Pauluswortes

bedacht: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Römer 12, 21). Ich habe mein Pfarramt immer so verstanden, dass mir durch Jesus Christus „das Amt gegeben ist, das die Versöhnung predigt“(2. Korinther 5,18), dass wir durch die Fährnisse des Lebens geleitet werden (vgl. 2. Korinther 6,1-10) und dass jedem Menschen ein Neuwerden zugetraut ist. Schließlich war Paulus selbst ein eifriger Christenverfolger gewesen. Stets hatten ihn seine Gegner, gerade seine Glaubensbrüder(!), auf seine Vergangenheit festlegen, ja festnageln wollen. Ein Versöhner hat „vor der Welt“ meist schlechte Karten, weil er immer beiden Seiten etwas zumutet: Scham und Einsicht auf der einen, Großmut und Verzeihen auf der anderen Seite. I

FRIEDRICH SCHORLEMMER

ist Theologe aus Wittenberg und war ein wichtiger Protagonist der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem 2012 im Aufbau-Verlag erscheinenden Buch „Klar sehen und doch hoffen. Erinnerungen und Perspektiven“. 74

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Der Glücksfall EINE EINORDNUNG DER DISKUSSIONEN UM MANFRED STOLPE VON MARTIN GORHOLT

er die Gutachten der EnqueteKommission des Brandenburger Landtages zur Aufarbeitung der Vergangenheit liest und die Debatten dort verfolgt, kann zu dem Schluss kommen, dass die Maßstäbe für gelungene oder nicht gelungene Aufarbeitung der Vergangenheit zum einen der Umgang mit ehemaligen Stasimitarbeitern und zum anderen die Einstellung ist, die man zu Manfred Stolpes Wirken in der DDR hat. Dabei wird von den Protagonisten dieser Sicht vermieden, historische Einordnungen vorzunehmen. Aufarbeitung der Vergangenheit ist seit 1990 ein großes umfassendes Thema, von der Aufklärung über die Machtverhältnisse und die Systeme der Diktatur, die Bestrafung, Sühne und Buße von Tätern, die gesellschaftliche Versöhnung, die Rehabilitierung von Opfern, die vollständige Systemüberwindung und den Aufbau eines neuen politischen Systems der Demokratie. Steffen Reiche hat in einer Diskussionsreihe im Herbst 1990 vor den Brandenburger Landtagswahlen das Thema Aufarbeitung und Versöhnung intensiv diskutiert, u. a. mit Fachleuten, die über den Umgang mit der

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Vergangenheit in Spanien nach der Franco-Diktatur-Ära berichteten, auch über die Frage des Umgangs mit den Tätern und die Frage der Versöhnung. Insofern sind solche Fragen sehr früh und vergleichend diskutiert worden, obwohl in dieser Aufbruchphase andere, existentiellere Dinge im Vordergrund standen. Glaubwürdigkeit und Bürgernähe Als ich im Juni 1990 vom Parteivorstand nach Brandenburg geschickt wurde, um dort SPD-Geschäftsführer zu werden, ermunterten mich der damalige Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel und die damalige Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs, dass mit Manfred Stolpe ein Kandidat gefunden sei, der für Glaubwürdigkeit, Authentizität und Bürgernähe stünde, mit dem die Wahlen in Brandenburg zu gewinnen sein müssten. In der Tat hat sich Manfred Stolpe als Glücksfall für Brandenburg, aber auch für ganz Ostdeutschland herausgestellt, weil er einen großen Beitrag dazu geliefert hat, die Menschen in die Demokratie und die Marktwirtschaft mitzunehmen und perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

ihnen Selbstbewusstsein auf diesen Weg zu geben. Er war in den neunziger Jahren die ostdeutsche Identifikationsperson in der Politik. Es gab auch in der Brandenburger SPD den einen oder anderen, der bei der Kandidatenaufstellung Mitte 1990 zu bedenken gab, dass die Rolle der Kirche und damit auch die Rolle von Manfred Stolpe zu einer schwierigen Diskussion in den nächsten Jahren führen könnte. Die Stimmen waren nicht von entscheidendem Gewicht. Nischen und Eigensinn Die Kirche hat – nebenbei bemerkt – für die Rekrutierung von neuen Politikern in Ostdeutschland ab 1989/90 eine große Rolle gespielt. So sind alle drei Spitzenämter von der SPD Brandenburg mit erfahrenen Kirchenleuten besetzt worden. Der ehemalige Konsistorialpräsident wurde Ministerpräsident, der Pfarrer Steffen Reiche Landesvorsitzender und Wolfgang Birthler, ein Tierarzt, aber geschult in Rede und Moderation durch die Arbeit in kirchlichen Gruppen, wurde Fraktionsvorsitzender. Insofern besteht auch darin ein Verdienst der Kirchen, sonst wäre ein „Elitenwechsel“ noch schwieriger geworden, oder die Elitenrekrutierung hätte sich noch stärker auf Westdeutsche konzentrieren müssen. Das Wirken und Handeln von Manfred Stolpe als Konsistorialpräsi76

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dent ist einzuordnen in die europapolitische Lage und in die politischen Strategien, die sich daraus in den sechziger und siebziger Jahren entwickelten. Wichtiger Markstein der Nachkriegsgeschichte des „Kalten Krieges“ ist der 13. August 1961, der vom SED-Regime durchgeführte Mauerbau zwischen der DDR und der BRD. Ab 1961 war den Menschen in der DDR klar, dass nur unter großen Risiken für Leib und Leben ein Verlassen ihres Staates noch möglich war. Auch eine grundlegende Veränderung der DDR von innen heraus hatte keine Chance, da die Sowjetunion als führender Staat des Warschauer Paktes und des Ostblocks dem entgegentreten wäre. Die Militärpräsenz der Sowjetarmee in der DDR war groß. Und den Staats- und Parteiführungen in der Sowjetunion und der DDR war klar, dass weitgehende Veränderungen in der Gesellschaftsordnung der DDR nicht nur die Machtfrage, sondern auch immer gleich die nationale Frage stellen würden. Insofern hieß es für die meisten Bürgerinnen und Bürger der DDR, sich einerseits anzupassen und mitzumachen, andererseits im Alltag Eigensinn zu entwickeln in Nischen von Kultur und Freizeit oder von kleineren Initiativen. Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Walter Scheel ging ab Ende der sechziger Jahre von denselben Prämissen aus. Sie nahmen die DDR als kurzfristig nicht zu ver-


martin gorholt – der glücksfall

hindernde Realität. Grenzänderungen und Veränderungen des Systems waren nicht in Sicht und deshalb war das Ziel, in der hochgerüsteten Ost-WestKonfrontation durch Gespräche und Vereinbarungen den Frieden sicherer zu machen, das menschliche Leben in den beiden deutschen Staaten zu erleichtern, Familienzusammenführungen zu erreichen und in Verhandlungen konkrete Dinge durchzusetzen, was zum Beispiel zum Freikaufen von politischen Häftlingen führte. Mit der Schlussakte von Helsinki oder dem SED-SPD Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ gab es Grundlagen, auf die sich die Kirchen oder Oppositionsgruppen beziehen konnten, um für Freiheitsrechte oder für Reformfähigkeit zu streiten. Die Kirche suchte ihre Rolle Die Kirche war die einzige bedeutende nicht-sozialistische Institution in der DDR. Wenn die Kirche schon nicht abzuschaffen war, so sollte ihr Einfluss maßgeblich zurückgedrängt werden. So wurde mit der Jugendweihe die Konfirmation zu einer Minderheitenfeier und das aktive Christ-sein in Schule und Beruf diskriminiert. In der Tat sank die Zahl der Kirchenmitglieder drastisch. Unter diesen Rahmenbedingungen hatte die Kirche ihre Rolle zu finden. Sie versuchte für sich selber Freiräume zu schaffen, um in einem

offiziell atheistisch ausgerichteten Land weiter zu existieren, ihre Pfarrer und Mitarbeiter auszubilden und offen zu sein für jeden, der sich im Rahmen der Kirche engagieren wollte. Gleichzeitig versuchte die Kirche sich auch für andere Menschen einzusetzen, einen Schutz für Menschen zu bieten, die sich nicht in das DDR-System einordnen wollten. Ein Ansprechpartner für alle Die Kirchenvertreter waren deshalb oft hin- und hergerissen zwischen Verzweifelung auf der einen Seite und einer Anpassung an die Spielregeln des Regimes auf der anderen Seite, um möglichst viel Spielraum zu erhalten. Zu den Verzweifelten gehörte zum Beispiel der Pfarrer Oskar Brüsewitz, der 1976 den Freitod suchte. Dies war Anlass für kontroverse Diskussionen innerhalb der Kirche, ob die Leitung nicht zu diplomatisch mit der SED Führung umginge. Aber wäre ein anderer Weg möglich gewesen und hätte er zu mehr Erfolg geführt? Um den Spielraum für die Kirchen zu erhalten und sich gleichzeitig für verfolgte Menschen der DDR einzusetzen, wurden von Teilen der Kirche und insbesondere auch von Manfred Stolpe alle Ebenen der Kommunikation und des Gesprächs gesucht, ob das die Ebene der Partei, des Staates oder der Staatssicherheit war. Alle drei perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

hatten ihre eigenen Funktionen innerhalb des Systems und hatten eigene Einflusssphären. Solche Gespräche sind immer auch Gespräche auf Gegenseitigkeit, sie müssen für beide Seiten etwas bringen. Insofern war auch ein Manfred Stolpe immer in der schwierigen Situation abzuschätzen, welche Informationen über politische Entwicklungen in Westdeutschland, die ihm zugetragen wurden oder über die Entwicklung in den Kirchen mit zu diskutieren, auf der anderen Seite Zugeständnisse zu bekommen für kirchliche Freiräume oder für direkte Hilfen für einzelne Menschen. Die Kirche war in der Lage, Räume für den Eigensinn der Menschen zu schaffen, für ein Stückchen Gegenöffentlichkeit, für Lebenshilfen, zu Fragen von Menschenrechten, der Umwelt- und Friedenspolitik. Durch seine Kontakte war Manfred Stolpe auch ein wichtiger Ansprechpartner für westdeutsche Politiker, um Einschätzungen zu bekommen, um Verhandlungen mit der SED-Führung vorzubereiten etc. Es gibt heute kaum noch Kontroversen über die historische Bewertung der Entspannungspolitik. Sie hat den Frieden sicherer gemacht und zu einem Austausch zwischen Ost und West geführt, der unumkehrbar wurde. Der Weg Gorbatschows von Öffnung und Veränderung hat 1989/90 die Chance des Sturzes des SED-Regimes eröffnet 78

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und dann – von vielen lange unterschätzt – unmittelbar die nationale Frage gestellt. Ohne die Entspannungspolitik hätte es auch eine weitere Abschottung der kommunistischen Systeme geben können, so dass es zu den Veränderungen und Umwälzungen in den achtziger und neunziger Jahren nicht gekommen wäre. Kirche im Sozialismus Die Politik der Kirche in der DDR ist ein Stück eine Entsprechung zur Entspannungspolitik. Sie war der Versuch, systemkonform ein Maximum an Spielräumen und Freiheiten zu schaffen, für die Kirche selbst, aber auch für nichtkonforme Ideen und Gespräche. Es fanden durchaus parallele Sondierungen von westdeutschen Politikern mit der Kirche und der Partei- und Staatsführung statt, um Möglichkeiten und Entscheidungen auszuloten. Andere Wege für die Kirche wären die Konfrontation mit dem Regime und das völlige Nischendasein gewesen. Beides hätte die Möglichkeiten der Einflussnahme und des Erhalts von Spielräumen, von öffentlichem Wirken stark eingeschränkt. Ob bei den Gesprächen von Seiten der Kirche an einigen Stellen zu viel Vertrautheit entstand, kann nur für jeden einzelnen Fall beurteilt werden. Ohne den Spielraum, den die Kirchen schufen, hätten wirksame Oppositionsgruppen


martin gorholt – der glücksfall

nicht entstehen können, ohne die kirchlichen Veranstaltungen wären die Montagsdemonstrationen nicht entstanden, ohne den Schutz der Kirchenräume hätten sich nicht immer mehr Bürger zu Veranstaltungen gegen das DDR Regime versammelt, ohne die Gespräche der Kirchenleitungen wären die Proteste im Herbst 1989 vielleicht nicht so friedlich verlaufen. Letztlich hat dreierlei das DDR-System zum Einsturz gebracht: Die Distanz, die die Sowjetunion zur bornierten harten Haltung des DDR-Regime einnahm, zum zweiten die Fluchtbewegung aus der DDR, die durch die Öffnung von Grenzen über Ungarn möglich wurde und zum dritten durch die Stärke der Oppositionsgruppen und deren Demonstrationen („Wir bleiben hier“), an denen auch die offizielle DDR-Öffentlichkeit und die SED-Führung nicht mehr vorbei kamen. Aus der Vergangenheit lernen Durch den Untergang der DDR wurden viele Menschen abrupt aus ihren Zusammenhängen gerissen. Sie mussten sich von heute auf morgen in einer neuen Gesellschaftsordnung zurecht finden. Aus der Vergangenheit lernen heißt, klarzumachen, wie elementar unterschiedlich Diktatur und Demokratie sind, welches die Ursachen von Diktaturen sind, welches die spezifische Entwicklung von kommunis-

tischen Diktaturen ist. Demokratie heißt Sicherung der gleichen Würde aller Menschen, die Achtung der Menschenrechte, die Wahrung von Grundfreiheiten wie Meinungsfreiheit oder Glaubensfreiheit. Demokratie muss von Generation zu Generation immer wieder neu verankert werden. Der Einsatz für Demokratie ist eine Lehre aus dem Entstehen von Diktaturen. Deshalb war es eine zentrale Aufgabe nach 1990 die Menschen, vor allem die Jugend, von einem Engagement für die Demokratie zu überzeugen, vom Engagement in Parteien, in Vereinen, in Verbänden, generell vom ehrenamtlichen Engagement. Die Ostdeutschen mussten in einer völlig neuen Gesellschaft ankommen und die neuen Aufgaben annehmen. Das ist auch eine Aufgabe von Vergangenheitsbewältigung, alte Gewohnheiten und alte Mentalitäten abstreifen und sich neu in einer Gesellschaft zurechtfinden. Identifikationsfiguren wie Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt haben in dieser Umbruchphase eine wichtige Aufgabe übernommen, die Menschen in das neue System zu begleiten und sie zu Anstrengungen der Integration und des Mitmachens in der neuen Gesellschaft zu motivieren. Der Umbruch von 1990 wird rückblickend unterschätzt, wenn diese Zeit auf Fragestellungen reduziert wird, ob man sich in Verwaltungen oder Parteien hinreichend mit IMs und offizielperspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

len Stasi-Mitarbeitern auseinander gesetzt und sie aus wichtigen Funktionen entlassen hat. Nach der Wende stellte sich nicht nur die Frage der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, sondern auch die Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit des Nationalsozialismus, des großen Zivilisationsbruches in der Geschichte Deutschlands. Denn der verordnete Antifaschismus hatte vor allem die für das System funktional hilfreiche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gefördert. Er diente dazu, die Gesellschaft zusammenzuführen und durch ein Feindbild die eigene Ordnung in ein positives Licht zu stellen. Diese Neuaufarbeitung beispielsweise im Land Brandenburg in den Gedenkstätten in Sachsenhausen, Ravensbrück oder Brandenburg-Görden kann als sehr gelungen eingeschätzt werden, da diese Gedenkstätten jetzt im Mittelpunkt des Gedenkens in ganz Deutschland stehen. Gleichzeitig ist mir selber in meiner eigenen Biografie

kaum bewusst, dass ich mich jemals so intensiv mit der Vergangenheit auseinandergesetzt habe wie in der Zeit von 1990 bis 1994. Es gab so viel zu diskutieren, die Vergangenheit von Manfred Stolpe, die Vergangenheit von Gustav Just, die Aufnahme von ehemaligen Mitgliedern von Blockparteien in die SPD... Der Vorwurf, es hätte eine Verdrängung der Vergangenheit in den Aufbaujahren in Brandenburg auf Grund der Diskussion um Manfred Stolpe gegeben, ist völlig falsch. Das Gegenteil ist richtig. Gerade durch die Auseinandersetzung auch mit der Rolle Manfred Stolpes in der DDR fand eine ganz intensive Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte statt. Breite Zusammenarbeit und das HandAusstrecken zur Versöhnung sind erst auf dieser Basis möglich gewesen. Im Übrigen – das sei an dieser Stelle noch vermerkt – war das Landeskabinett in Brandenburg 1990 das einzige in den neuen Ländern, das ohne „alte Kader“ auskam. I

Weiterführende Literatur Martin Gorholt, Norbert Kunz (Hg.), Deutsche Linke – Deutsche Einheit‚ Frankfurt am Main 1991

Richard Schröder, Deutschland schwierig Vaterland, Freiburg 1993 Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009

MARTIN GORHOLT

war Anfang der neunziger Jahre Landesgeschäftsführer der Brandenburger SPD und ist heute Staatssekretär für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg. 80

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Sachsens Glanz und Brandenburgs Weg? DIE UNRECHTSAUFARBEITUNG IN DEN OSTDEUTSCHEN BUNDESLÄNDERN VON ROBERT DAMBON

ässt sich die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit überhaupt messen? Das ist wohl die erste Frage, die man sich stellen muss, wenn man darangehen will, die Aufarbeitungsbemühungen in den ostdeutschen Bundesländern vergleichend zu bewerten. In der öffentlichen Debatte spielt hierbei der Umgang mit Stasi-belasteten Beschäftigten im öffentlichen Dienst zumeist die Hauptrolle. Daneben – und leider trotzdem viel zu selten – wird noch auf die Schwierigkeiten verwiesen, denen sich ehemals politisch Verfolgte bei der Rehabilitierung ihres erlittenen Unrechts gegenüber sehen. Damit ist der Aufarbeitungsdiskurs in der Regel schon auf den simplen Gegensatz von Tätern und Opfern reduziert. Unbeachtet bleiben somit allzu oft die gesellschaftlichen Dimensionen, ohne die eine wirkliche Aufarbeitung der Geschichte nicht gelingen kann. Denn wenn es einen speziellen „Brandenburger Weg“ bei der Aufarbeitung gegeben haben sollte, dann gehört dazu auch die Diskussion um die Stasi-Kon-

L

takte des ehemaligen Ministerpräsidenten Stolpe, die zwei volle Jahre – von 1992 bis 1994 – andauerte. Kein neues Bundesland – obwohl in deren Kabinetten zahlreiche ehemalige Blockparteimitglieder Ministerämter bekleideten – hat so lange und so intensiv über Verstrickungen und Grauzonen in einer Diktatur diskutiert. Jeder Vorwurf, Brandenburg hätte mit Rücksicht auf Manfred Stolpe bei Stasi-Überprüfungen nicht so genau hingeschaut, läuft auch deshalb ins Leere, weil ein großer Teil der Überprüfungen bereits in den Jahren 1991/ 92 gelaufen war. Der Rahmen war gleich Statt einer breiten gesellschaftlichen Diskussion werden heute die Vergangenheitsbewältigung und der Streit darüber zunehmend zum alltäglichen Geschäft politischer Akteure und Institutionen. Es verwundert daher nicht, dass vor allem der staatliche Umgang mit Stasi-Belasteten bzw. mit den Opfern des Regimes im Zentrum der perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

politischen Auseinandersetzung um die Vergangenheitsaufarbeitung stehen. So thematisch verengt eine solche Fokussierung auch ist, zumindest lässt sich der Umgang mit der DDR-Vergangenheit in diesen Bereichen quantifizieren. Der Umgang mit dem Erbe der SED-Diktatur folgte und folgt in den neuen Ländern abgesehen von den rechtlichen Rahmenbedingungen, die durch den Bundestag und die Volkskammer vorgegeben waren, keinem einheitlichen Muster. Dennoch standen alle ostdeutschen Bundesländer Anfang der neunziger Jahre vor großen Herausforderungen, ihre Landesbediensteten auf eine eventuelle MfS-Mitarbeit zu überprüfen. Insbesondere dem Bundesland Brandenburg – in diesem Kontext oft als die „kleine DDR“ gebrandmarkt – wird hier regelmäßig ein mangelhaftes Überprüfungsverfahren vorgeworfen. Dieser Vorwurf ist mit Blick auf die konkreten Zahlen jedoch kaum zutreffend. 63.000 Bescheide für Brandenburg Tatsächlich waren in Brandenburg bis 1996 bereits 90 Prozent aller Landesbediensteten auf eine MfS-Mitarbeit überprüft worden. So ergingen bis zu diesem Zeitpunkt etwa 63.000 Bescheide vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU). Damit lag Brandenburg im Durchschnitt der ostdeutschen Länder. 82

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Es ergingen für Berlin 52.000, für Mecklenburg-Vorpommern 72.000, für Thüringen 80.000 und SachsenAnhalt 90.000 Bescheide. Fast jeder wurde überprüft Einzig Sachsen stach beim Umfang der Überprüfungen deutlich hervor. So stellte der Freistaat bis zum Jahr 1997 239.000 Anfragen an den BStU. Bis zum Jahr 2004 summierte sich diese Zahl auf 320.000 Anfragen. Die enorme Menge an Auskunftsersuchen erklärt sich nur mit der relativ hohen Zahl von 135.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst und den dortigen Personalfluktuationen. Nicht zuletzt, so vermutet der sächsische Stasi-Beauftragte in seinem 13. Tätigkeitsbericht 2004/2005, seien häufig Anfragen mehrfach gestellt worden. Dafür spricht auch, dass bis 2004 vom BStU lediglich 195.000 Auskünfte ergingen. Inwiefern ähnliche statistische Unschärfen auch für die anderen Länder zutreffen, lässt sich hier abschließend nicht bestimmen. Dennoch kann Sachsen hinsichtlich des Überprüfungsumfanges wohl als besonders konsequent gelten. Grundsätzlich lässt sich aber mit Blick auf die Personalkörper der Vergleichsländer davon ausgehen, dass bereits in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre nahezu alle ostdeutschen Landesbediensteten überprüft waren.


robert dambon – sachsens glanz und brandenburgs weg?

Land

Stand

BStUAnfragen

BStUAuskünfte

ungefähre Zahl der Landesbediensteten

Brandenburg

12/1996

70.293

63.521

60.000

MecklenburgVorpommern

6/1997

77.827

72.806

52.000

Sachsen

6/1997

239.803

180.740

135.000

Sachsen-Anhalt

12/1996

98.282

90.110

Thüringen

12/1996

80.150

80.150

75.000

Die eigentliche Kritik an den Überprüfungsverfahren entzündet sich daher wohl vielmehr an der Frage, wie viele der Überprüften den öffentlichen Dienst infolge eines Bescheides mit Hinweisen auf eine MfS-Zusammenarbeit verlassen mussten, wobei das unausgesprochene Postulat mitschwingt, je mehr Entlassungen desto besser. Sehr deutlich zeigen sich hier zwei ähnliche Muster. Während Thüringen und Sachsen jeden zweiten Beschäftigten entließen, bei dem Hinweise auf eine MfS-Zusammenarbeit vorlagen, war es in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern nur jeder Dritte. Vieles landete vor Gericht Schwierig ist indes die Bewertung dieser unterschiedlichen Quoten. So waren die Überprüfungsverfahren mit Ausnahme von Sachsen zumeist nicht einheitlich geregelt, was eine

Vergleichbarkeit der Ergebnisse sehr erschwert. Dessen ungeachtet ist eine differenzierte Bewertung der insgesamt mehr als 28.000 Einzelfallprüfungen in den Vergleichsländern schlichtweg unmöglich. Sicher ist nur, dass die entsprechenden Personalkommissionen ihren jeweiligen Spielraum unterschiedlich nutzten. Kategorien wie „Milde“ oder „Strenge“, die allzu oft den öffentlichen Diskurs dominieren, scheinen als Beschreibung der komplexen Verfahren eher unangebracht. De facto wurden auf der Grundlage der gesetzlichen Regelungen Abwägungen getroffen, die zwar rechtsstaatlich einwandfrei, doch nicht immer unter ethischen Gesichtspunkten nachvollziehbar waren. Inwiefern hier auch sachfremde Motive wie Personalbedarf bei den Entscheidungen eine Rolle spielten, ist nicht zu beziffern und noch weniger qualitativ zu gewichten. Besondere Erwähnung verdient aber, dass gerade in Sachsen viele der ausgeperspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

Land

Stand

Bescheide mit Hinweisen auf MfSZusammenarbeit

Brandenburg

6/19991

4.751

1.596

34

MecklenburgVorpommern

6/1997

4.931

1.785

36

Sachsen

6/1997

8.653

4.311

50

Sachsen-Anhalt

12/1996

5.446

1.829

34

Thüringen

12/1996

4.220

2.213

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sprochenen Kündigungen wegen MfSZusammenarbeit im Klagefall vor den Arbeits- und Verwaltungsgerichten keinen rechtlichen Bestand hatten. So endeten allein über 600 Arbeitsrechtsstreite im Vergleich. In über 250 Fällen, wobei es sich möglicherweise auch um bis zu 1.200 Fälle handeln kann, musste die fristlose Kündigung zurückgenommen werden oder wurde ohne Richterspruch vom Arbeitgeber zurückgenommen.2 Freilich verbietet es sich, daraus Rückschlüsse auf das sächsische Überprüfungsverfahren zu ziehen. Dennoch zeigt gerade die große Zahl teilweise erfolgreicher Klagen gegen die Kündigun1 Im Jahr 1996 liefen noch etwa 200 Verfahren, die erst in der Folge endgültig abgeschlossen wurden. Um eine statistische Verschiebung zugunsten Brandenburgs zu vermeiden, sind hier auch alle Belasteten aufgeführt, die zwischen 1996 und 1999 bekannt wurden. Vgl. Drs. 3/802 des Brandenburger Landtages. 2 Die erhebliche Spanne geht auf eine unterschiedliche Datenerfassung im sächsischen Staatsministerium des Innern zurück. Vgl. Drs. 4/2309 des Sächsischen Landtages.

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gen die problematischen Abwägungen, die die Personalkommissionen in den neuen Ländern zu treffen hatten. Trotz der sehr unterschiedlichen Entlassungsquoten findet sich bei näherer Betrachtung allerdings eine bemerkenswerte Übereinstimmung der Überprüfungspraxis in Sachsen und Brandenburg. Beide Länder übernahmen insbesondere im Polizeibereich auch belastete Bedienstete. Der Freistaat entließ von 2.538 belasteten Polizeibeamten lediglich 995 (39 Prozent), Brandenburg entfernte von 1.823 Belasteten 500 Personen aus dem Dienst (27 Prozent). In Sachsen kommt erschwerend hinzu, dass sich viele Entlassene wieder einklagen konnten, wobei das Innenministerium diese Zahl bis heute nicht genau beziffern kann. Sehr wahrscheinlich spielten für die relativ hohe Übernahmequote praktische Erwägungen wohl eine wichtige Rolle. So ist zu vermuten, dass angesichts der stark zunehmenden,


robert dambon – sachsens glanz und brandenburgs weg?

vor allem grenzüberschreitenden Kriminalität Anfang der neunziger Jahre größere Personalentlassungen im Polizeibereich nicht tragbar erschienen. Vor diesem Hintergrund fielen womöglich die Abwägungen der Personalkommissionen häufig zugunsten der belasteten Polizeibeamten aus. Auch in der Justiz zeigt sich, dass sich Brandenburg bei weitem nicht von anderen neuen Ländern unterschied. Nach individueller Überprüfung in den Richterwahlausschüssen übernahm Sachsen etwa 48 Prozent seiner Richter mit DDR-Vergangenheit, Brandenburg hingegen 44 Prozent. Ähnlich wie beim Umgang mit MfSBelasteten im öffentlichen Dienst gilt das Bundesland Brandenburg auch bei der Umsetzung der Rehabilitierungsgesetzgebung, die die soziale und juristische Wiedergutmachung von strafrechtlichem und verwaltungsrechtlichem Unrecht sowie von beruflicher Diskriminierung in der DDR regelt, als inkonsequent. Wie im vorherigen Fall ist dieser Vorwurf nur schwerlich zu erhärten. Wie die Rehabilitierung lief Vor allem im Bereich der strafrechtlichen Rehabilitierung liegt Brandenburg mit einer Rehabilitierungsquote von 60 Prozent (Berlin lediglich 50 Prozent) im Durchschnitt der ostdeutschen Länder. Im Bereich der verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung

liegt die Anerkennungsquote in Brandenburg mit 44 Prozent dagegen niedriger als anderen Ländern (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern). Diese Zahl bedarf aber einer Einschränkung. So fiel entsprechend dem ehemaligen Sitz des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR in Strausberg einzig dem Land Brandenburg die Zuständigkeit für alle Fälle von beruflicher Diskriminierung und von Verfolgung in der NVA zu. Gerade aber in diesen Fällen lagen zumeist Ausschlussgründe, wie zum Beispiel eine Zusammenarbeit mit dem MfS, vor, sodass sowohl Fallzahlen als auch die Zahl der Ablehnungen deutlich stiegen. Eine eigene Gangart Dennoch sollten freilich im besonders sensiblen Bereich der Rehabilitierungsgesetzgebung die Bedenken der Betroffenen stets ernst genommen werden und etwaige Missstände so schnell wie möglich abgestellt werden. Die ostdeutschen Bundesländer standen am Anfang der neunziger Jahre vor enormen Herausforderungen. Dazu zählte nicht nur die Überprüfung des öffentlichen Dienstes, sondern vor allem der organisierte Übergang von der SED-Diktatur in einen demokratischen Rechtsstaat. 21 Jahre später kann man zweifellos konstatieren, dass der Wechsel in die Demokratie geglückt ist. Keines der perspektive21

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thema – geschichte, die nicht vergeht

Länder ist eine „kleine DDR“. Dennoch mussten alle ostdeutschen Bundesländer und ihre Bürger eine eigene Gangart auf diesem Weg hin zum demokratischen Rechtsstaat finden. Neue Aufgaben Das Land Brandenburg verzichtete bis 2009 auf die Berufung eines Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Diese Entscheidung wird von allen politischen Kräften Brandenburgs heute als Fehler bewertet. Gleichwohl: Der Blick von heute auf Entscheidungen von gestern sollte damalige konkrete Situationen nicht aus dem Blick verlieren. Die Nichtberufung eines Stasi-Beauftragten ist ein solcher Fall. Günter Nooke, Anfang der neunziger Jahre Fraktionsvorsitzender des mitregierenden Bürgerbündnisses, erklärte jüngst, warum seine Fraktion eines Landesbeauftragten ablehnte: Den Posten hätte dann nämlich die FDP bekommen. Diese Haltung traf sich mit zunehmendem ostdeutschen Selbstbewusstsein, das sich insbesondere in der SPD artikulierte. Sie war es auch, die 1994 eine weitere Regelanfrage auf Stasi-Mitarbeit der Abgeordneten ablehnte – und zwar so lange, bis sich alle deutschen Landtagsabgeordneten einer Überprüfung unterziehen mussten.3 Freiwillig ließen sich die SPD-Abgeordneten gleichwohl überprüfen. 86

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Letztlich berief der Landtag Brandenburg im Jahr 2009 eine Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. Schon der Titel der Landesbeauftragten deutet auf ein gewandeltes Verständnis. Es geht nicht mehr nur um die Zuständigkeit für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit, sondern um die Frage, wie die Folgen von vierzig Jahren Diktatur überwunden werden können. Diese weitergehend angelegte Aufgabenbeschreibung gilt mittlerweile als vorbildlich, da sie Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre Geschichtsaufarbeitung aufgreift und den Fokus neben den Stasi-Akten hin zu einem breiten Ansatz von Aufarbeitung lenkt. Ein Prozess ohne Ende Fragwürdig bleibt am Ende jedoch die Konzentration der öffentlichen Diskussion auf die Stasi-Belastung in der Verwaltung. Aus dem öffentlichen Dienst wurden in Ostdeutschland insgesamt etwa 3 Prozent der Beschäftigten wegen Stasi-Belastung entlassen. Es mag nicht verwundern, dass große Teile der Bevölkerung in Frage stellen, ob Umfang und Lautstärke mancher Debatten angesichts dieser Zahlen zu rechtfertigen sind. Zweifellos bleibt die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ein Prozess, der 3 Siehe dazu auch das Interview mit Andreas Kuhnert in diesem Heft.


robert dambon – sachsens glanz und brandenburgs weg?

nur schwerlich ein konkretes Ende haben kann. Dennoch muss über die Grenzen gesellschaftlicher Aufarbeitung diskutiert werden. So scheint eine wirkliche Wiedergutmachung für Verfolgte und Geschädigte fast aussichtslos. Ein zerstörtes Leben wird nicht wiedergutgemacht – schon gar nicht durch den Scheck der Opferrente vom Sozialamt. Die Verbrechen der SED-Diktatur da-

gegen wirklich zu sühnen, gelingt oft nicht. Die Mittel des Rechtsstaates erweisen sich als nicht geeignet, um das Unrecht in der DDR zu bestrafen und Gerechtigkeit zu schaffen. Vielleicht darf es auch nicht anders sein. Denn der Rechtsstaat bietet gerade das, was die SED-Diktatur niemals zu bieten hatte, nämlich Rechtssicherheit für alle Menschen. I

ROBERT DAMBON

studiert Zeitgeschichte an der Universität Potsdam. perspektive21

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