Heft 62 | Dezember 2014 | www.perspektive21.de
Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik
MAGAZIN Dietmar Woidke Sicher, selbstbewusst und solidarisch Wolfgang Schmidt „... auf ’ne gute Zukunft der sozialen Demokratie.“
SCHWERPUNKT
BrandenBurg in guten Händen
Thomas Kralinski Viel Rot mit ein paar Flecken
Klara Geywitz und Armin Henning Mit Strategie zum Ziel Gero Neugebauer Kontinuität und Wandel
Nach der Landtagswahl in Brandenburg
Thomas Falkner Einbruch und Aufbruch
Ines Hübner und Christian Maaß Brandenburg-Partei auch kommunal? Erik Flügge Zwei Großflächen weniger John Siegel Abwarten ist keine Option
Eine persรถnliche Bestandsaufnahme
20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?
224 Seiten, gebunden
| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen
VORWORT
m 14. September gewann die Brandenburger SPD zum sechsten Mal in Folge die Landtagswahl. Bei den anschließenden Sondierungsverhandlungen nahm sich die CDU als möglicher Regierungspartner selbst aus dem Spiel. Rot-Rot kam zur Wiederauflage. Welche Auswirkungen das Wahlergebnis auf das Parteiensystem hat und welche Herausforderungen vor der SPD und der neuen Landesregierung liegen, beleuchten wir in diesem Heft. Für die Sozialdemokraten wird es darauf ankommen, die neue Stärke in den ländlichen Regionen zu halten und gleichzeitig Wege zu finden, Vertrauen im Berliner Umland, den großen Städten sowie bei jungen Familien hinzuzugewinnen. In diesem Herbst begehen wir auch den 25. Jahrestag der friedlichen Revolution in der DDR. Am Tag nach dem Mauerfall fand in West-Berlin eine Kundgebung statt, die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen geblieben ist: Helmut Kohl wurde ausgepfiffen, Willy Brandt fand die symbolischen Worte „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel führen nach der Kundgebung nach Ost-Berlin und trafen dort Vertreter der neu gegründeten SDP. Jetzt ist ein Tonband wieder gefunden worden, das dieses Treffen aufgezeichnet hatte. Diese emotionale und gleichsam historische Begegnung dokumentieren wir in diesem Heft in Auszügen. Sie zeigt, wie ernsthaft und besorgt, aber auch in welcher Herzlichkeit und Verbundenheit die Sozialdemokraten in Ost und West diskutierten. Zweifellos war das Treffen ein erster Schritt für eine wiedervereinigte Sozialdemokratie.
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Klara Geywitz
Klaus Ness
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INHALT
MAGAZIN 7
Sicher, selbstbewusst und solidarisch Brandenburgs Aufbruch vollenden von Dietmar Woidke
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„... auf ’ne gute Zukunft der sozialen Demokratie“ Das Treffen von Hans-Jochen Vogel und Willy Brandt mit führenden Vertretern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) am 10. November 1989 in Ost-Berlin. — Eine Dokumentation mit einer Einleitung von Wolfgang Schmidt
SCHWERPUNKT BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN | NACH DER LANDTAGSWAHL IN BRANDENBURG
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Viel Rot mit ein paar Flecken Eine Analyse der Brandenburger Landtagswahl 2014 von Thomas Kralinski
45 Mit Strategie zum Ziel
63 Einbruch und Aufbruch
Warum die Linke bei der Landtagswahl 2014 abstürzte von Thomas Falkner
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Wie die SPD die Landtagswahlen 2014 gewann von Klara Geywitz und Armin Henning
Brandenburg-Partei auch kommunal? Wie die SPD bei den Kommunalwahlen 2014 abschnitt von Ines Hübner und Christian Maaß
83 Zwei Großflächen weniger 53
Kontinuität und Wandel Das Parteiensystem in Ostdeutschland nach den Landtagswahlen des Herbstes 2014 von Gero Neugebauer
Wie man über soziale Netzwerke (trotzdem) mehr Leute erreichen kann von Erik Flügge
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Abwarten ist keine Option Brandenburg steht in den nächsten Jahren vor sechs großen Herausforderungen von John Siegel
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Sicher, selbstbewusst und solidarisch Brandenburgs Aufbruch vollenden — Von Dietmar Woidke Jahre nach der friedlichen Revolution, der wir dieser Tage vielfach gedacht haben, ist unser Land Brandenburg eine leistungsstarke und dynamische Region inmitten von Europa geworden. Brandenburg steht heute so gut da wie noch niemals zuvor in seiner jungen Geschichte. Die gute Wirtschaftsentwicklung, eine moderne Industrie und Landwirtschaft, eine deutlich gesunkene Erwerbslosigkeit, solide öffentliche Finanzen, ein starker Zusammenhalt und eine gewachsene gesellschaftliche Offenheit – das macht Brandenburg heute aus. Auf dieser Grundlage wollen wir am Ende dieser Legislaturperiode auf eigenen Füßen stehen und den vor knapp 25 Jahren begonnenen Aufbruch zum Abschluss bringen. Sicher, selbstbewusst und solidarisch – das ist das Brandenburger Erfolgsrezept und das ist auch der Geist der neuen Regierungskoalition. Unser Maßstab dabei ist: Gleiche Chancen für alle Kinder von Anfang an, wirtschaftlicher Erfolg, gute Arbeit, Zusammenhalt und Sicherheit im ganzen Land. Wir haben uns gemeinsam für die kommenden fünf Jahre viel Neues vorgenommen. Wir haben uns große Vorhaben vorgenommen, die wir mit aller Kraft verfolgen werden. Ganz besonders auf vier Gebieten, die für die Zukunft unseres Landes von entscheidender Bedeutung sind, werden wir deutlich in die Offensive gehen:
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> Erstens: Mit einer Bildungsoffensive werden wir die Qualität unserer Bildungseinrichtungen steigern. Zugleich werden wir zeigen, dass Leistung, sozialer Aufstieg und Chancengleichheit ganz eng zusammengehören. > Zweitens: Mit einer Sicherheitsoffensive werden wir uns den beiden großen Dimensionen zuwenden, die Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürgerinnen hat: der sozialen Sicherheit und der inneren Sicherheit. Wir werden zum einen unserer Sozial- und Gesellschaftspolitik neue Impulse geben. Und wir werden zum anderen energisch darauf hinwirken, die Kriminalität in Brandenburg deutlich zurückzudrängen.
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> Drittens: Mit einer Verwaltungsoffensive und passgenauen Verwaltungsreformen werden wir die öffentlichen Dienstleistungen in Brandenburg modernisieren und den inneren Zusammenhalt des Landes sichern. > Viertens: Im Zuge einer Investitionsoffensive werden wir mit insgesamt 230 Millionen Euro die Infrastruktur im Land stärken. Schon heute hängt der Bildungserfolg in keinem anderen Bundesland so wenig von der sozialen Herkunft oder dem dicken Geldbeutel der Eltern ab wie in Brandenburg! Wir wollen gleiche Bildungs- und Aufstiegschancen. Deshalb werden wir die Landesförderung unserer „Netzwerke gesunder Kinder“ erhöhen, den Betreuungsschlüssel in den Kindertagesstätten weiter verbessern und innerhalb der nächsten fünf Jahre mindestens 4.300 neue Lehrerinnen und Lehrer einstellen. Gleiche Bildungschancen sind das Fundament sozialer Gerechtigkeit. Deshalb werden wir die Ganztagsschulen weiter ausbauen. Überall dort, wo es Schulträger und Eltern wünschen, wird zudem die Fusion zu Schulzentren möglich sein. Gute Bildung ist auch das Fundament für unsere Zukunftsfähigkeit. Wir brauchen in Brandenburg aber nicht nur Ärzte, Lehrer und Ingenieure, wir brauchen ebenso Facharbeiter, Handwerker, Freiberufler und auch Altenpfleger. Was wir nicht brauchen sind Menschen, die aufgrund fehlender Unterstützung unterhalb ihrer Möglichkeiten bleiben. Sozialer Aufstieg muss für alle möglich sein – wir werden die Rahmenbedingungen dafür setzen.
I.
Ein Recht auf gute Bildung Alle Brandenburgerinnen und Brandenburger, egal wo sie wohnen, haben ein Recht auf gute Bildung – aber auch ein Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung und effektive Verwaltungsstrukturen! Und auch das wird die Landesregierung sicherstellen. Brandenburg ist ein attraktiver Gesundheitsstandort. Unsere Krankenhäuser sind gut aufgestellt. Gleichwohl benötigen wir innovative und leistungsgerechte Lösungen, um unsere Gesundheitsversorgung für den demografischen Wandel zu wappnen. Die Koalition wird bis 2019 mindestens 400 Millionen Euro in unsere Krankenhäuser investieren und sie als Anker unserer gesundheitlichen Versorgung stärken. Wo Ärztemangel besteht, unterstützen wir als Koalition alle Bemühungen, medizinische Versorgungszentren einzurichten. Wir fördern die Verknüpfung stationärer und ambulanter Betreuungsangebote und die Kooperation medizinischer Einrichtungen. Wir setzen vor Ort auf Gemeindeschwestern zur Entlastung der Ärzte,
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auf den verstärkten Einsatz von Telemedizin, auf Prävention und Gesundheitsförderung. Kurzum: Wir passen unsere Gesundheitsversorgung an die Gegebenheiten vor Ort an. Zum Wohl der Menschen in allen Teilen unseres Landes. Viele Jahre war der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit das Hauptthema in Brandenburg. Die Hoffnungslosigkeit der frühen neunziger Jahren war auch für mich zutiefst prägend. Seitdem haben wir um jeden Arbeitsplatz in Brandenburg gekämpft – und wir hatten Erfolg: Selbst die größten Optimisten hielten es nicht für möglich, dass eine Halbierung der Arbeitslosenzahlen von fast 20 Prozent auf heute unter 9 Prozent möglich ist. Wir werden weiterhin alles dafür tun, dass Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert wird. Unser Erfolg macht uns Mut, den Blick fest nach vorne zu richten und selbstbewusst nach außen zu treten. 2013 war Brandenburg Spitzenreiter unter den ostdeutschen Ländern beim Wirtschaftswachstum. Das wollen wir verstetigen. Deshalb halten wir am Grundsatz unserer Förderpolitik „Stärken stärken“ fest. Auch künftig wollen wir förderpolitische Entscheidungen auf dieser Grundlage ausrichten. Denn: Wir sind längst noch nicht am Ziel. Oder, wie es ein sozialdemokratischer Unternehmer einst formuliert hat: „Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein.“ Wir wollen weiterhin ein starkes Industrieland bleiben. Denn wir wissen: Ohne die Arbeitsplätze in den Papier- und Chemiewerken, in der Luft- und Raumfahrtindustrie und in der Stahl-, Kohle- und Energieindustrie sähe die Lage heute ganz anders aus. Brandenburg muss weiterhin um die Industriearbeitsplätze kämpfen. Aber auch um die kleinen und mittleren Unternehmen, um das Handwerk und die innovativen Start-ups. Von der Existenzgründung bis hin zur Unternehmensnachfolge wollen wir unseren Unternehmen ein verlässlicher Partner sein.
II.
Die Voraussetzungen für Wachstum und Innovationen sind gut: Brandenburg verfügt über hervorragende Hochschulen, ist selbstbewusster Teil einer dynamischen Metropolregion, der Hauptstadtregion Berlin- Brandenburg und hat als Scharnier zwischen Ost und West gute Zugangsbedingungen zum europäischen Markt. War in den neunziger Jahren die hohe Arbeitslosigkeit die größte Herausforderung, so ist es heute die Fachkräftesicherung. Deshalb wollen wir die Berufsvorbereitung an Schulen stärken und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Vernetzung von Schulen und regionalen Betrieben, Kammern, Behörden und Beratungsstellen legen. Jugendliche in Brandenburg sollen frühzeitig einen Einblick in das Berufsleben erhalten. Dadurch verringern wir auch das Risiko
III.
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von Ausbildungsabbrüchen und Niedriglohnkarrieren. Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingen wird. Mit dem Brandenburgischen Ausbildungskonsens haben wir ein wichtiges Instrument zur Hand. Alle entscheidenden Akteure sitzen in einem Boot. Vernetzung ist das Schlüsselwort, das gilt auch für unsere Hochschulen. Brandenburg ist und bleibt ein Wissenschaftsland. Aber wir wollen noch einen Schritt weiterkommen. Gerade im Bereich Forschung und Entwicklung aber auch bei der Fachkräftegewinnung gibt es noch große Potentiale. Sie liegen vor allem in der Kooperation von Hochschulen und Wirtschaft. Wir wollen neue, duale Studiengänge aufbauen und das berufs- und familienbegleitende Studieren erleichtern. Und dafür nehmen wir Geld in die Hand. In dieser Legislaturperiode stehen für unsere Hochschulen zusätzlich 100 Millionen Euro zu Verfügung. Das ist viel – aber es ist gut angelegtes Steuergeld. Unternehmen brauchen Fachkräfte – und eine gute Infrastruktur. Dazu gehört auch ein flächendeckendes Breitbandnetz. Wir ringen weiter darum, dass alle Regionen unseres Landes, alle Bürger und alle Unternehmen vom Breitbandnetz profitieren. Auch hier geht es um Chancengleichheit. Wir setzen auf die Stärken im Berliner Umland genauso wie auf die Stärken in den berlinfernen Räumen. Auch aus diesem Grund wird die Koalition 230 Millionen Euro für die Infrastruktur bereitstellen, davon sollen alleine 100 Millionen Euro für Landesstraßen und Ortsdurchfahrten zur Verfügung stehen. Weitere Mittel sind insbesondere für die kommunale Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur, sowie für Einrichtungen der Feuerwehr und Sportvereine vorgesehen.
IV.
Teilhabe im ganzen Land organisieren Teilhabe und Mobilität gehören zusammen, im gesamten Land. Deshalb werden wir auch die Programme der Städtebauförderung, des Stadtumbaus und der Wohnraumförderung fortführen. Zudem werden wir gemeinsam mit den Kommunen und weiteren Partnern ein Mobilitätskonzept erarbeiten und Mobilität zukunftsfähig gestalten. Die Koalition wird mit Nachdruck für eine schnellstmögliche Fertigstellung des BER und für die Umsetzung des Schallschutzprogramms eintreten. Wir werden auch weiterhin darauf dringen, mehr Nachtruhe für die Anwohnerinnen und Anwohner zu erreichen. Und natürlich gilt nach wie vor: Auch wenn es vernünftig sein wird, die Kapazitäten in Zukunft dem weiter steigenden Bedarf anzupassen: Ein dritte Start-
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und Landebahn wird es mit uns nicht geben. Denn ich kann nur wiederholen: Ein erfolgreicher Flughafen braucht die Akzeptanz des Umlandes. Akzeptanz spielt auch in der Energiepolitik eine Schlüsselrolle. Die Energiewende ist eines der wichtigsten politischen Projekte unseres jungen Jahrhunderts. Brandenburg ist Vorreiter beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Rein rechnerisch können wir 70 Prozent unseres Strombedarfs aus erneuerbarer Energie decken. Auch dies darf uns selbstbewusst machen. Jetzt muss es darum gehen die größtenteils „unzuverlässigen“ Erneuerbaren zu zuverlässigen Erneuerbaren zu machen.
V.
Zwei Seiten einer Medaille Deshalb legen wir auch in den kommenden Jahren unser Augenmerk auf die Systemintegration der Erneuerbaren – sprich, auf den Ausbau der Netze und die Entwicklung von Speichertechnologien. Auch hier verfügt Brandenburg über wertvolle Erfahrungen, die wir in diese bundesweite Aufgabe einbringen wollen. Ob die Energiewende – nicht nur bei uns, sondern in der gesamten Republik – letztlich auf Akzeptanz stößt, steht und fällt mit der Bezahlbarkeit und der Versorgungssicherheit unserer Energie. Auf absehbare Zeit führt deshalb an der Braunkohle kein Weg vorbei. Denn als Brückentechnologie garantiert sie genau diese zwei Dinge: Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit. Für die Lausitz ist die Braunkohle ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, der gute Arbeitsplätze sichert. Deshalb verlangen wir vom Vattenfall-Konzern eine zügige und vor allem auch verantwortungsbewusste Entscheidung, über die Zukunft seiner Braunkohlesparte. Wir lassen die Menschen in der Lausitz bei den anstehenden Veränderungen nicht alleine. Darauf können Sie sich verlassen. Neben Bildung, Gesundheit und Wirtschaft ist Sicherheit ein Thema, das viele Brandenburger und Brandenburgerinnen bewegt. Wir wollen ein „sicheres Brandenburg“. Das heißt Schutz vor Armut. Aber eben auch: Schutz vor Kriminalität. Eine hundertprozentige Sicherheit kann und wird es nicht geben. Aber die Brandenburger können sich darauf verlassen, dass die von mir geführte Landesregierung eine größtmögliche und vor allem auch flächendeckende Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger erreichen will. Daran orientiert sich auch die bereits laufende Evaluation der Polizeistrukturreform. Dazu gehört, dass alle Polizeireviere erhalten bleiben. Die Zahl der Poli-
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zistinnen und Polizisten soll Ende des Jahrzehnts mindestens 7.800 betragen. Die Präsenz in der Fläche, der Erhalt der Hundertschaften und kurze Interventionszeiten sind unsere Zielmarken. Mit jährlich mindestens 275 Anwärterinnen und Anwärtern an der Fachhochschule der Polizei sorgen wir für Nachwuchs. Die Kriminalitätsschwerpunkte im Berliner Umland und im Grenzbereich zu Polen stellen eine besondere Herausforderung dar. Die gute Zusammenarbeit mit den polnischen Behörden, der Justiz und den Einsatzkräften wollen wir fortführen und weiter ausbauen. An dieser Stelle sehen wir übrigens auch den Bund in der Pflicht. Denn Einbruchskriminalität und Diebstahldelikte sind beileibe nicht nur ein märkisches Problem. Gut funktionierende Sicherheitsstrukturen sind unverzichtbar, doch eines können sie nicht ersetzen: eine aufmerksame und solidarische Bürgerschaft. Diese Koalition tritt für eine Gesellschaft ein, in der nicht weg-, sondern hingeschaut wird. Wir wollen keinen Mantel des Schweigens, sondern eine Kultur der Offenheit. Wir wollen ein Land in dem Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Lebensweise und Religion Respekt und Toleranz erfahren und willkommen sind. Hetzer und Hassprediger dürfen in Brandenburg keinen Millimeter Platz finden. In unseren Schulen nicht und auf unseren Straßen nicht. Deshalb wird die Landesregierung auch weiterhin mit allen gesetzlichen Mitteln gegen rechtsextremistische Strukturen vorgehen und Initiativen der Zivilgesellschaft für mehr Zivilcourage unterstützen. Gemeinsam mit ihnen allen werden wir dafür sorgen, dass Ausländerfeindlichkeit und Rassismus in unserem weltoffenen Brandenburg keinen Platz haben. Das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ hat in den vergangenen Jahren wesentlich dazu beigetragen, die gesellschaftlichen Abwehrkräfte gegen fremdenfeindliche Keime zu stärken. Wir wollen das Handlungskonzept und seine bewährten Maßnahmen fortführen.
VII.
Brandenburg ist weltoffen Offenheit und Toleranz sollen auch diejenigen Menschen erfahren, die als Flüchtlinge und Asylsuchende in unser Land kommen. Deshalb setzen wir auf eine Willkommenskultur, die Integration in Schule und Gesellschaft bewirkt. Ich ermutige alle Initiativen, die sich vor Ort dafür stark machen, in ihrem Engagement nicht nachzulassen. Wir sind uns bewusst, dass die Kommunen bei der Aufnahme von Flüchtlingen hohen Belastungen ausgesetzt sind. Deshalb brauchen wir ein Son-
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derprogramm zur menschenwürdigen Unterbringung und werden dabei auch den Bund in die Pflicht nehmen. Auch die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung des Landes in Eisenhüttenstadt wollen wir durch vorübergehende Außenstellen an anderen Orten entlasten. Diese „Akut-Maßnahmen“, wenn ich sie so nennen darf, sollen durch eine Gesamtstrategie ergänzt werden. Die Landesregierung bekennt sich umfassend zu ihrer Verantwortung gegenüber verfolgten und notleidenden Menschen. Unsere Regionen und Kommunen, haben einen tiefgreifenden Strukturwandel hinter sich. Vielerorts wurde der Wandel als Chance genutzt. Und genau das ist auch unser Anspruch an die öffentliche Verwaltung. Die Koalition bekennt sich zu einer flächendeckenden und funktionsfähigen öffentlichen Daseinsvorsorge. Auch deshalb müssen wir die Strukturen der öffentlichen Verwaltung bedarfsgerecht modernisieren und zukunftsfest machen. Das ist nötig, um eine leistungsfähige Selbstverwaltung auch in Orten mit Bevölkerungsrückgang zu erhalten. Ich sage ganz klar: Die geplante Strukturreform ist eine Reform für die Menschen und nicht gegen sie. Denn Verwaltung muss für die Bürgerinnen und Bürger da sein. Und ich sage ebenfalls in aller Deutlichkeit: Die kommunale Selbstverwaltung und die ehrenamtliche Arbeit werden nicht in Frage gestellt.
VIII.
Die Verwaltung ist für die Bürger da Es wird jetzt viel über eine Kreisgebietsreform geredet. Aber ich möchte an dieser Stelle noch einmal unterstreichen: Das ist nur ein Aspekt, der im Zusammenhang mit einer umfassenden Verwaltungsstrukturreform zu betrachten ist. Im Englischen sagt man so schön: „form follows function“. Und die Funktion ist und bleibt es, den Bedarf der Bürger an öffentlichen Leistungen umfänglich, unbürokratisch und kostengünstig zu decken. Die Verwaltung der Zukunft soll zugleich effizient und bürgernah, aber auch finanzierbar und modern gestaltet sein. Denn die Herausforderung ist es, strukturell auf die spezifische Bevölkerungsentwicklung in den verschiedenen Regionen unseres Landes zu reagieren. Wir müssen der veränderten Erwartungshaltung der Brandenburger gerecht werden. Und wir müssen die Möglichkeiten unseres digitalen, mobilen Zeitalters noch stärker nutzen. Die Empfehlungen der Enquetekommission aus der abgelaufenen Wahlperiode bilden einen guten Orientierungsrahmen. Die Kommunen, das ist ganz klar, sind das Herz des öffentlichen Lebens. Und starke,
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attraktive Städte und Gemeinden sind eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger gerne in unserem Brandenburg leben. Deshalb wollen wir unsere Kommunen auch finanziell stärken. Unser „Pakt für zukunftsfähige Kommunalfinanzen“ wird ein Teilentschuldungsprogramm für hoch verschuldete Kommunen einschließen. Finanzen sind ein wichtiges Stichwort. Denn „Solidarisches Brandenburg“ heißt auch: Wir sind auch künftigen Generationen verpflichtet. Bereits in den vergangenen Jahren haben wir eine solide Haushaltspolitik betrieben. Wir haben den Haushalt konsolidiert und sind sogar in die Schuldentilgung eingestiegen. Gleichzeitig haben wir die Entwicklung unseres Landes weiter vorangetrieben. Die Landesregierung wird diese solide Finanzpolitik ausgeglichener Haushalte ohne neue Schulden fortsetzen – mit sozialem Augenmaß und mit besonderen Spielräumen für die Entwicklung in zukunftsorientierten Bereichen. Deshalb setzen wir auf die beschriebenen Schwerpunkte. So wollen wir unseren Aufbruch als solidarisches, sicheres und selbstbewusstes Land mit einer finanziellen Basis, die uns auch über 2019 hinaus sicher trägt, vollenden.
IX.
Auf eigenen Beinen stehen und laufen Dazu gehört, dass sich die Landesregierung aktiv für eine Weiterentwicklung der EU-Förderpolitik ab 2019 einsetzt – in unserem Interesse als europäische Übergangsregion. Und dazu gehört vor allem, dass wir entschlossen kämpfen für eine Zukunft föderaler Solidarität in Deutschland! Die Landesregierung beteiligt sich aktiv an den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern. Mit Nachdruck setzen wir uns dabei für brandenburgische und ostdeutsche Interessen ein. Denn trotz der großen Aufholleistung liegt die Steuerkraft der ostdeutschen Länder immer noch deutlich unter dem gesamtdeutschen Niveau. Diese und weitere Faktoren müssen bei der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen berücksichtigt werden. Denn das ist Voraussetzung, wenn wir unsere Erfolge auch verstetigen wollen! „Solidarisches Brandenburg“ heißt Solidarität zwischen Regionen und Generationen – aber auch Solidarität zwischen Starken und Schwachen. Nicht alle in unserer Gesellschaft können Chancen aus eigener Kraft ergreifen. Es ist die tiefste Überzeugung der Koalition, dass wir genau diese Menschen ganz besonders unterstützen wollen. Deshalb richten wir unser Augenmerk vor allem auf ältere Menschen, auf junge Erwachsene ohne abgeschlossene Ausbildung sowie auf diejeni-
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gen Frauen und Männern, die nach einer Unterbrechung wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren wollen. Wir wissen, dass Langzeitarbeitslose ebenso wie Alleinerziehende besonderen Hürden ausgesetzt sind. Auch für sie wollen wir „Gute Arbeit“ und anständige Löhne, denn das ist die beste Absicherung gegen Armut. Heute und morgen im Alter. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gilt es deshalb zu stärken. Wir wollen, dass alle Brandenburgerinnen und Brandenburger am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben können. Unser Land ist nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht attraktiv geworden. Es ist ein regelrechter Magnet für Besucherinnen und Besucher aus aller Welt. Diesen Erfolg wollen wir weiter ausbauen. Wir wollen die ökologische und kulturelle Vielfalt unseres Landes schützen und bewahren: unsere einzigartigen Wasserlandschaften, Wälder, Naturschutzgebiete, unser gut erhaltenes Weltkulturerbe, die sanierten Stadtkerne und unsere Industriekultur, die ihren ganz eigenen Charme hat. Und wir setzen uns für den Erhalt von Kulturangeboten ein – in allen Regionen unseres Landes. Viele Besucher zieht es aufs Land. Unsere ländlichen Räume sind jedoch weitaus mehr als touristische Destinationen. Denn sie sind es, die den Kern unserer märkischen Identität ausmachen. Und nicht zuletzt sind sie wichtige Wirtschaftsräume. Die grünen Berufe bieten tausenden Brandenburgerinnen und Brandenburgern gute Arbeit. Diese Koalition will, dass das so bleibt. Entgegen der Aussagen mancher Schwarzweiß-Maler ist unsere Landwirtschaft sehr vielfältig. Sie ist gekennzeichnet durch unterschiedliche Betriebsgrößen, Rechtsformen und Bewirtschaftungsarten. Wir wollen unseren Landwirten auch weiterhin ein enger Partner sein. Beispielsweise wenn es darum geht, die Potenziale regionaler Vermarktung noch intensiver zu nutzen. Oder wenn es darum geht, auf Bundes- und europäischer Ebene für unsere märkische Landwirtschaft einzutreten. Auch das sind Investitionen in den ländlichen Raum. Unverzichtbar für das soziale Miteinander in unseren Dörfern und Städten ist auch ein reges Vereinsleben. Freiwillige Feuerwehren, Landfrauen oder Sportvereine – sie alle tragen mit ihrem Engagement dazu bei, dass auch kleine Ortschaften bunt und lebendig bleiben. Auch dort, wo der demografische Wandel besonders stark zu Buche schlägt. Jeder dritte Brandenburger ist ehrenamtlich aktiv! Das ist eine Ressource von unschätzbarem Wert. Deshalb wollen wir das Ehrenamt auch weiterhin unterstützen und eine Kultur der Anerkennung fördern.
X.
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Als Polen-Koordinator der Bundesregierung und als Ministerpräsident des Bundeslandes mit der längsten Grenze zu Polen liegt mir natürlich ganz besonders das Engagement für die deutsch-polnischen Beziehungen am Herzen. In der grenznahen Zusammenarbeit hat sich in den vergangenen Jahren ein unglaublicher Fortschritt entwickelt. Die Kontakte in unsere polnischen Partnerregionen sind eng und vertrauensvoll. Vieles, was erreicht wurde, ging auf die Initiativen engagierter Kommunen, Vereine und Einzelpersonen zurück. Wir ermutigen alle, sich weiter zu engagieren. Denn es gibt in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit noch eine Menge zu tun. Das betrifft nicht nur den Ausbau der Bahnverbindungen, sondern auch den Abbau von Sprachbarrieren, um zwei wichtige Beispiele zu nennen. Auch dafür wird sich die Koalition stark machen.
XI.
Sicher, selbstbewusst und soldidarisch – diese Begriffe bringen das bisherige Brandenburger Erfolgsrezept auf den Punkt. Und zugleich sind dies die Erfolgskriterien unserer Arbeit: Sicher, selbstbewusst und solidarisch – dafür werden wir in den kommenden fünf Jahren bis 2019 intensiv weiter arbeiten. Natürlich wird das Leben auch nach 2019 weiter gehen. Natürlich wird Brandenburg im Jahr 2019 nicht ein für alle mal „fertiggestellt“ sein. Natürlich werden wir es auch danach mit großen Herausforderungen zu tun haben. Aber: 2019 ist das Jahr, in dem mit dem Ende des Solidarpaktes die besondere Förderung der ostdeutschen Bundesländer auslaufen wird. 2019 ist deshalb für uns eine Art Ziellinie. 2019 ist das Jahr, in dem wir endgültig stark genug sein müssen, um auf eigenen Beinen zu stehen und zu laufen. Und darum gilt: Wenn wir in den nächsten fünf Jahren mit unserer Arbeit erfolgreich sind, dann werden wir bis 2019 den Aufbruch Brandenburgs vollenden, den wir im Herbst vor 25 Jahren begonnen haben. Darauf arbeiten wir hin, das wollen wir erreichen! |
XII.
DR. DIETMAR WOIDKE
ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD.
Der Text basiert auf der Regierungserklärung, die Dietmar Woidke am 19. November vor dem Landtag abgegeben hat.
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WOLFGANG SCHMIDT | „... AUF ’NE GUTE ZUKUNFT DER SOZIALEN DEMOKRATIE“
»... auf ’ne gute gute Zukunft Zukunft der dr soziale sozialen Demokratie.« Demokratie« Das Treffen von Hans-Jochen Vogel und Willy Brandt mit führenden Vertretern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) am 10. November 1989 in Ost-Berlin. — Eine Dokumentation mit einer Einleitung von Wolfgang Schmidt erlin am 10. November 1989: Die Mauer ist gefallen und die Millionenstadt, die 28 Jahre durch ein menschenverachtendes Bollwerk brutal geteilt war, befindet sich im fröhlichen Ausnahmezustand. Seit sich in den späten Abendstunden des 9. November die Grenztore überraschend geöffnet haben, sind Hunderttausende Menschen aus Ost-Berlin und der DDR auf den Straßen im Westteil der Stadt unterwegs und genießen ihre neue Freiheit. Es ist ein Tag der glücklichen Begegnungen und ein Tag spontaner Improvisationen. Das gilt auch und besonders für die westdeutschen Politiker, die umgehend an den Ort des Geschehens geeilt sind und zu denen nicht zuletzt die beiden damals führenden Sozialdemokraten in der Bundesrepublik gehören: der Partei- und Fraktionsvorsitzende, Hans-Jochen Vogel, und der Ehrenvorsitzende der SPD, Altkanzler Willy Brandt. Am Vorabend ahnten beide noch nicht, dass sie innerhalb der nächsten 24 Stunden in Berlin vieles erleben würden, wovon sie lange Zeit nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Über Nacht ist die Welt eine andere. Junge Leute tanzen auf der Mauer. Friedliche Massen passieren problemlos eine bis dato schier unüberwindliche, mörderische Grenze. Überall sind Menschen mit Gesichtern voller Freude zu sehen, aber auch viele, die ihr Glück nicht fassen können und die sich ihrer Tränen nicht schämen. All das zählt zu den unvergesslichen und emotional berührenden Eindrücken des 10. November 1989. Für die früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt (1957–1966), Hans-Jochen Vogel (1981) und Dietrich Stobbe (1977–1981), kommt am Abend dieses bewegenden Tages noch ein weiteres außergewöhnliches Ereignis hinzu: Eine Begegnung mit führenden Vertretern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) in der Ost-Berliner Albrechtstraße. Über das Zustandekom-
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men und die Umstände dieses Treffens war bislang nur sehr wenig bekannt und über den Inhalt des dabei geführten Gesprächs wurde meist nur spekuliert. Nunmehr aber liegt ein nahezu vollständiges Wortprotokoll der Zusammenkunft vor, das auf der Transkription einer Tonbandaufzeichnung1 beruht, die vor wenigen Monaten im Depositum von Hans-Jochen Vogel im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung durch deren Mitarbeiter Sven Haarmann gefunden worden ist.
„Ich garantiere Ihnen, das ist Willy Brandt“ Es handelt sich um eine bedeutende zeithistorische Quelle, die eine Lücke in der Überlieferung der Kontakte zwischen den Sozialdemokraten in Ost und West im Herbst 1989 schließt und die das Verständnis für die damaligen Beziehungen zwischen SPD und SDP vertieft. Nach der Kundgebung am Abend des 10. November vor dem Schöneberger Rathaus in West-Berlin stellte Hans-Jochen Vogel dem SPD-Ehrenvorsitzenden überraschend die Frage: „Hast du heute Abend noch was vor?“ Vogel lud Brandt ein, ihn nach Ost-Berlin zu begleiten, wo er mit Vertretern der SDP in der DDR zu einem Gespräch verabredet war. Willy Brandt musste nicht lange überlegen, ob er Hans-Jochen Vogel nach OstBerlin begleiten wollte. Zwar hatte er als Präsident der Sozialistischen Internationale tags zuvor einen Brief an die SDP geschickt und eine Delegation der Partei zur bevorstehenden Ratstagung der SI nach Genf eingeladen. Persönlich kennengelernt hatte Brandt aber noch keinen der ostdeutschen Sozialdemokraten, die am 7. Oktober 1989 in Schwante die SDP gegründet und dabei gleich auch die Mitgliedschaft in der SI beantragt hatten. Die Gelegenheit zum direkten Gespräch wollte er nicht auslassen. Vogel hatte immerhin schon am 22. Oktober 1989 in Bonn mit Steffen Reiche, einem der Gründungsmitglieder der SDP, sprechen können, der während einer privaten Westreise völlig unverhofft die Möglichkeit bekommen hatte, mit der SPD-Spitze in Kontakt zu treten. Dass die Fahrt nach Ost-Berlin dann mehr als eine Stunde dauerte, lag nicht nur am weiterhin sehr dichten Verkehr auf den Berliner Straßen. Am Grenzübergang Invalidenstraße wurden die Sozialdemokraten zudem für einige Zeit aufgehalten, 1
Das Tondokument ist online abrufbar unter http://www.willy-brandt.de/stiftung/forschung-und-publikationen/tondokumente.html.
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WOLFGANG SCHMIDT | „... AUF ’NE GUTE ZUKUNFT DER SOZIALEN DEMOKRATIE“
weil u. a. Willy Brandt (wie immer) seinen Ausweis nicht dabei hatte und ihm deshalb die DDR-Kontrollbeamten gemäß der Vorschriften die Einreise zunächst nicht gestatten wollten. Das veranlasste Hans-Jochen Vogel zu der scherzhaft-ironischen Beteuerung gegenüber den Grenzern: „Ich garantiere Ihnen, das ist Willy Brandt!“ Obwohl der im Auto sitzen blieb, wurden aus der Menschenmasse, die sich am Übergang drängte, viele „Willy, Willy“-Rufe laut. Nach einigem Hin und Her – vermutlich hielten die DDR-Beamten Rücksprache mit übergeordneten Stellen – durften die Wagen mit allen ihren Insassen endlich die Grenze passieren und das sogar gebührenfrei. Im Christlichen Hospiz in der Albrechtstraße wartete man derweil schon seit 17 Uhr auf die Besucher aus dem Westen. Von der SDP waren die Gründungsmitglieder Martin Gutzeit und „Ibrahim“ Böhme (eigentlich: Manfred Otto Böhme) sowie Pfarrer Peter Hilsberg anwesend, der seinen Sohn Stephan vertrat, der durch eine andere Veranstaltung verhindert war. Darüber hinaus hatten sich Pfarrer Hans Simon und dessen Ehefrau sowie weitere Personen eingefunden, die mutmaßlich zur DDR-Opposition zählten. Wahrscheinlich befanden sich insgesamt etwas mehr als 20 Personen im Raum, leider konnten nicht alle identifiziert werden.
Von Anfang an beim „du“ Ein Kamerateam des ZDF mit dem Journalisten Dr. Werner Brüssau war auch vor Ort. Es hielt sowohl die Ankunft im Hospiz und den herzlichen Empfang als auch einige Sequenzen des nachfolgenden Gesprächs in Bild und Ton fest. Dass fast das gesamte Gespräch von ca. 80 Minuten Länge für die Nachwelt erhalten wurde, ist einem Aufnahmegerät zu verdanken, das von Eduard Heußen, dem Pressesprecher des SPD-Parteivorstands, gut sichtbar auf den Tisch platziert worden ist. Eines lassen die Film- und Tonaufnahmen gleich erkennen: Die Vermutung mancher Autoren, die Begegnung sei von gegenseitiger Distanz, Unsicherheit und Verkrampftheit geprägt gewesen, trifft nicht zu. Schon der Auftakt war emotional berührend. Ibrahim Böhme, der zu diesem Zeitpunkt als Geschäftsführer der SDP fungierte, versagte die Stimme, als er den „Genossen“ Willy Brandt begrüßte. Auch wenn man in Rechnung stellt, was damals nicht bekannt war, dass Böhme seit 1969 als Informeller Mitarbeiter (IM) der DDR-Staatssicherheit geführt wurde, war seine Rührung in diesem Augenblick wohl nicht gespielt. Von Anfang an redeten sich die anwesenden Sozialdemokraten mit „du“ und „ihr“ an. Außerdem stieß man bald miteinander an und Brandt brachte dabei einen Toast „auf ’ne gute Zukunft für die soziale Demokratie“ in der DDR und „für die Sozialdemokratie im Besonderen“ aus.
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Insgesamt herrschte während des Treffens eine freundliche, zuweilen auch ausgesprochen heitere Stimmung vor. Immer wieder ist Lachen, mitunter recht laut, zu hören. Die Diskussion wurde gleichwohl mit allem Ernst geführt. Auffällig war dabei das Bemühen von westlicher Seite, vor allem von Hans-Jochen Vogel, über die Lage und die Probleme in der DDR und die politischen Vorstellungen der SDP so viel wie möglich zu erfahren sowie die eigene Politik zu erläutern. Anders ausgedrückt: Die Profis aus der Bundesrepublik wollten auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie wären gekommen, um den unerfahrenen Neulingen in der DDR zu erklären, was diese nun tun oder lassen sollten. Mit Ratschlägen hielten sich die Sozialdemokraten aus dem Westen folglich zurück. Ausdrücklich forderte Vogel die ostdeutschen Gesprächsteilnehmer auch dazu auf, zu benennen, was ihnen an der SPD und an der Bundesrepublik nicht gefiel. Vor allem drückte er mehrmals seine große Bewunderung für die mutige Opposition und die Volksbewegung in der DDR aus, nach seinen Worten die erste erfolgreiche „demokratische Revolution“ auf deutschem Boden.
Ein erster Schritt zur Einheit der Sozialdemokratie Die Unterredung war von großem wechselseitigen Respekt geprägt und fand auf Augenhöhe statt. Man diskutierte ausführlich über die drängenden Themen und Probleme: den Flüchtlingsstrom aus der DDR in die Bundesrepublik, die weitere politische Entwicklung in der DDR, die Frage, wie das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten zukünftig aussehen sollte, und den Ausbau der Beziehungen zwischen SPD und SDP. Dabei stimmten beide Seiten in vielen Punkten weitgehend überein, wie die Aufzeichnung zeigt. Das Treffen von Hans-Jochen Vogel und Willy Brandt mit Vertretern der SDP am 10. November 1989 in Ost-Berlin fand in einem der spannendsten und zugleich glücklichsten Augenblicke der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert statt. Die Aufzeichnung dieses Gesprächs ist somit eine historische Momentaufnahme in einer Phase dramatischer Veränderungen in Deutschland und Europa. Sie gibt Einblicke in das Denken und Fühlen führender Sozialdemokraten aus der Bundesrepublik und der DDR unmittelbar nach dem Mauerfall. „Es wird nichts wieder so, wie es einmal war“, erklärte Brandt am Mittag jenes Tages. Was in den kommenden Wochen und Monaten aus den beiden deutschen Staaten genau werden würde, wussten er und seine sozialdemokratischen Freunde allerdings noch nicht. Manche der von ihnen angestellten Überlegungen, die sie am 10. November 1989 als realistisch einstuften, wurden sehr bald von den sich schier überschlagenden Ereignissen
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und Entwicklungen überholt. Durch die Friedliche Revolution in der DDR wurde die bestehende Ordnung hinweggefegt und die Vereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit möglich. Daran und an der Gestaltung des Einigungsprozesses hat die deutsche Sozialdemokratie großen Anteil. In der Zeit der Teilung hielt sie an der Idee der Einheit der Nation fest. An diesen Grundsatz knüpften die Sozialdemokraten, die sich am Tag nach der Maueröffnung in der Ost-Berliner Albrechtstraße begegneten, ohne Umschweife an. Vor allem aber war dieses Treffen einer der ersten und wichtigen Schritte auf dem Weg, die Einheit der SPD in ganz Deutschland wiederherzustellen. | WOLFGANG SCHMIDT
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundeskanzler Willy Brandt-Stiftung.
Die vollständige und kommentierte Transkription des Gespräches ist nachlesbar in Heft 29 der Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung“.
DOKUMENTATION Gekürzte Fassung der Aufzeichnung des Treffens des SPD-Vorsitzenden, Hans-Jochen Vogel, und des Präsidenten der Sozialistischen Internationale und SPD-Ehrenvorsitzenden, Willy Brandt, mit Repräsentanten der SDP am Abend des 10. November 1989 im Hotel „Christliches Hospiz“ in Ost-Berlin Hans-Jochen Vogel: (…) Wir müssen um Entschuldigung bitten, dass das so lange gedauert hat. Aber die Kundgebung war viel länger, als man das erwartet hat.2 Und dann hat’s auch an der Grenze ein bisschen gedauert, obwohl wir sind, glaube ich, ganz überwältigt davon, was man jetzt an diesem Grenzübergang erlebt hat. Das ist wie eine Völkerwanderung. Die Menschen fröhlich und den Willy haben sie erkannt und ihm zugerufen und „Wir kommen aber wieder!“, haben sie gerufen. (Lachen) Es war nicht ganz klar,
2 Gemeint ist die große Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg, die ab 17 Uhr im Anschluss an eine Sondersitzung des Berliner Abgeordnetenhauses stattgefunden hatte.
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ob sie das in der Richtung oder in der Richtung gesagt haben. (Lachen) Und wir haben gedacht, der Tag, an dem dies alles passiert ist, der wär’ einfach nicht vollständig und nicht abzuschließen, wenn wir nicht zu euch kämen. (…) Ibrahim Böhme: Wenn ich das sagen darf: Lieber Genosse Brandt! Ich darf sagen, wir sind uns in unserer Partei noch nicht so einig über die Anrede und die Symbole, und ich hoffe, wir werden uns viel Zeit lassen, das zu diskutieren. Ich möchte sagen, lieber Genosse Brandt, dass Du’s auf Dich genommen hast, hier rüberzukommen, herzlichen Dank von allen Sozialdemokraten der DDR und von vielen Freunden in anderen politischen Bewegungsformen. (Sichtlich gerührt, findet Böhme keine Worte mehr und bittet Brandt daher mit einer Geste darum, das Wort zu übernehmen. Brandt gibt Böhme einen Klaps auf den Oberarm.) Willy Brandt: Also, was die Anrede angeht: Ich finde, Freunde zu sein und sich auch so anzureden, ist nicht weniger als den traditionellen Begriff „Genosse“ zu verwenden. Ich hab’ eigentlich in meinen Parteitagsreden in aller Regel die Anrede „Freunde“ [gebraucht] – ich hab’ ein bisschen Probleme mit Feministinnen auch ... (Lachen) Hans-Jochen Vogel: Ich hatte auch anfangs Schwierigkeiten, mich daran zu gewöhnen. (Lachen) Willy Brandt: (…) Für mich ist dies ein bewegender Tag. Was man drüben auf der anderen Seite erlebt hat bei dieser großen Kundgebung – nein, heute Mittag am Brandenburger Tor: keine Aggressivität, viele ungeduldige junge Menschen, aber keine störenden Formen des Sich-Äußerns. Ich war mit Momper dort, dann hatten wir nachmittags die Kundgebung. Da waren ein paar hunderttausend Leute, glaube ich. Und, wie Jochen Vogel sagt, dies war allein ein Erlebnis, jetzt, wie die zu Tausenden zurückströmen, auch der Autorität sagen, der Polizei: „Kieckt mal, wir kommen wieder!“ (Lachen) Und ich finde, das ist schön. Ich will mal ein Wort sagen über die SDP und unsere internationale Gemeinschaft. Ich war heute (…) vor einer Woche in Mailand. Da waren die europäischen Parteiführer zusammen. Auch die
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Regierungschefs waren da, wie der Spanier [Felipe Gonzalez] und der Österreicher [Franz Vranitzky]. – Jochen war natürlich da. – Und die haben mit großer Anteilnahme das aufgenommen, was wir ihnen, vor allen Dingen, was Jochen Vogel ihnen über die Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR gesagt haben. Und von mir aus ist ein Brief unterwegs, in dem drin steht – der wird morgen da sein oder übermorgen –, dass die, der von euch Genannte, die von euch Genannte oder Genannten herzlich eingeladen sind, an unserer Ratstagung in Genf Ende des Monats teilzunehmen, wo dann die dort Teilnehmenden direkt hören können von euch, wie weit ihr seid, was ihr vorhabt, und wir dann auch vereinbaren, welche Form regelmäßiger Mitwirkung möglich ist. (…) Also, ich möcht’ die Zeit nicht mit ’ner längeren Vorrede in Anspruch nehmen, sondern nur sagen: Der Tag ist wichtig. Die Tatsache, dass ihr mit etwas Neuem hier beginnt und hoffentlich sehr viel Zuspruch finden werdet, ist bewegend, und wenn wir ein bisschen helfen können, wollen wir es gern tun. Aber alles Wesentliche muss halt vor Ort gemacht werden, das erzähle ich hier, glaube ich, allen, die das ohnehin wissen. (…) Martin Gutzeit: Ja, ich denke, die Situation erfordert es, dass wir das gründlich bedenken, was das jetzt für uns und für euch heißt. Die Herausforderungen sind erheblich. Und wie man unter dieser Situation die Probleme, die jetzt auftauchen, wirklich bewältigt. Dass weder dieser Staat zusammenbricht, noch West-Berlin, die Bundesrepublik in Kalamitäten gerät, und damit die europäische Situation sehr kompliziert wird. (…) Hans-Jochen Vogel: Ich glaube, es liegt im beiderseitigen Interesse, dass dieser Übersiedlerstrom nicht weiter anwächst. Es geht mir gar nicht so sehr um uns. Wir haben auch Probleme, das ist keine Frage. Mir geht’s eher um eine Frage an euch, ob nicht dieses Abströmen von Menschen für eure Versorgungssysteme, für eure Wirtschaft und überhaupt für den Zustand eures Gemeinwesens schlimme Folgen hat. Ich hab’ mir mal ausgerechnet, von euch sind weggegangen: Zweihundertund-, ja, -fünfzigtausend sind es nach heutigem Stand. Es werden ja im Augenblick jeden Tag etwa elf- bis zwölftausend mehr. Ich hab’ mir ausgerechnet, wenn man das auf die Bundesrepublik überträgt, dann wär’ das so, als wenn in der Bundesrepublik innerhalb von wenigen Monaten 900.000 aktive Leute weggehen. Und es gehen ja, soweit wir das feststellen können, eher die Aktiven, nicht, die gehen da weg, die Jüngeren. Ich kann mir vorstellen ...
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Ibrahim Böhme: Siebenundzwanzig Jahre Durchschnittsalter. Facharbeiter. Hans-Jochen Vogel: Ich kann mir vorstellen, was das hier in den Betrieben bedeutet, wenn man morgens kommt und dann ist der da weg und der ist weg und der ist weg. Dies muss … Willy Brandt: Und wie das in die Familien hineinwirkt. Hans-Jochen Vogel: Nun will ich euch sagen, nun will ich euch sagen, keiner bei uns denkt ernsthaft daran, dass man die Rechtslage ändert, nicht. Ihr habt, wenn ihr die Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmt, das Recht nach dem Grundrecht – nach dem Grundgesetz. Und ich meine, wir bitten, dass jeder überlegt, ob er jetzt nicht dringender hier gebraucht wird, aber wenn einer die Entscheidung trifft, dann respektieren wir das. Ich wüsst’ ja nicht, wenn ich an eurer Stelle hier säße, wie ich mich entscheiden würde. Darum kann man niemandem einen Vorwurf machen. Aber wir meinen, der Strom sollte runter. Deswegen, weiß nicht, ob ihr das auch sehen konntet, habe ich ja den Aufruf von der Christa Wolf und anderen3 – ihr habt den ja mit unterschrieben – hab’ ich unterstützt, aber nicht in Form, dass man sagt: Bleibt weg und ... Sondern, bitte, jeder Einzelne muss das überlegen. Aber wie seht ihr das? Also in erster Linie, damit dieses Gemeinwesen nicht kaputt geht. Willy Brandt: Bevor ihr antwortet, darf ich euch von einem starken Erlebnis berichten. Das hatte ich Mitte vorigen Monats in Moskau. Ich war an der Lomonossow-Universität. Ein russischer Freund sagte: „Jetzt gehen Sie in die Zitadelle des Dogmatismus!“ Das gilt für einen Teil der Professorenschaft immer noch. Da waren einige hundert Studenten im Auditorium, einige hundert Studenten aus der DDR. Und ich hab’ mir gedacht, die wer-
3 Gemeint ist der Appell an die ausreisewilligen Bürgerinnen und Bürger in der DDR, ihre Heimat nicht zu verlassen, sondern dabei mitzuhelfen, „eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt“. Die Erklärung war von Christa Wolf am 8. November 1989 in der „Aktuellen Kamera“ des DDR-Fernsehens verlesen worden und wurde tags darauf im SED-Parteiorgan „Neues Deutschland“ auf Seite 1 abgedruckt. Neben der Schriftstellerin hatten Volker Braun, Ruth Berghaus, Christoph Hein, Stefan Heym, Kurt Masur und Ulrich Plenzdorf sowie Bärbel Bohley (Neues Forum), Ehrhart Neubert (Demokratischer Aufbruch), Uta Forstbauer (SDP), Hans-Jürgen Fischbeck (Demokratie Jetzt) und Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte) den Aufruf unterzeichnet.
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den wahrscheinlich ein bisschen gesiebt worden sein, bevor sie dorthin konnten. Aber es war eine solche Aufgeschlossenheit dort, Offenheit, und sie haben Fragen gestellt, und ich hab’ geantwortet. Explosiv wurde der Beifall, als ich sagte: „Neugestaltung können nur die machen, die da sind, und nicht die, die weggehen.“ Das heißt auch, ebenso wie Jochen Vogel sagte, man muss respektieren, wenn sie weggehen, aber die Aufgabe ist zu Hause zu lösen. Da ist unser Problem ein bisschen: Sollen wir dies noch etwas deutlicher sagen oder sollen wir es eher verhalten sagen? Ich glaube, wir können ruhig etwas deutlicher werden. Ich habe auch vorhin auf der Kundgebung dieses versucht zu artikulieren. Das Zweite, was ich in dem Zusammenhang euch erzählen wollte, war mein Gespräch mit dem ersten Mann in der Sowjetunion. Wir haben alleine gesprochen, ein Stück. Ich hab’ ihm gesagt, es wäre illoyal, wenn ich ihm nicht sagte, dass in der DDR eine sozialdemokratische Partei im Entstehen begriffen ist. Ich hab’ das nicht erfunden, ich kann das nicht beeinflussen, hab’ auch nicht die Absicht, es zu tun. Da hat er mich angeguckt und gelächelt und gesagt: „Ist es nicht ein bisschen früh?“ (Lachen) Und diese Meinung darf er ja haben. Diese Meinung darf er ja haben. Aber es war nichts darüber hinausgehend Unfreundliches oder gar Feindseliges darin. Also, es ist nicht sinnvoll, davon groß Gebrauch zu machen. Aber für so ’nen Kreis, wie er hier heute Abend versammelt ist, ist es, glaube ich, ganz gut, auch dies zu wissen. Ibrahim Böhme: Ich glaube, dass, wer jetzt unser Land verlässt, die Teilhabe verliert an der Chance eines wirklichen möglichen dritten Weges. Ihr mögt mich für einen Utopisten halten, ich hab’ Ideologie immer nur als eine Möglichkeit der Utopiezugänglichkeit für Menschen angesehen. Ich glaube – das meinte ich vorhin mit dem, wo wir, etwas arrogant von mir gesagt, theoretisch einen Schritt weiter sind, gezwungen durch die Verhältnisse, die in unserem Land immer noch in Relikten obwalten oder sehr deutlich obwalten. Ich glaube, dass dieses Land, dieses kleine Land mit seinen vielleicht noch 15,5 Millionen Einwohnern, die Chance hat, bei dem was sich an demokratischen Bewegungsformen entwickelt, die Möglichkeit hat, einen wirklich echten Parlamentarismus zu trainieren. Und ich persönlich bitte die sozialdemokratischen Genossen oder Freunde, oder Damen und Herren, wie sie sich nennen mögen, bitte sie, uns als Sozialdemokraten nicht zu favorisieren, sondern uns zuerst einmal als einen Bestandteil – egal, wie deutlich wir in Grundwerten übereinstimmen bereits – im Rahmen nicht deutsch-deutscher besonderer Beziehungen, sondern im Rahmen der Statuten der Sozialistischen Internationale – egal, wie wir übereinstimmen bereits – uns als einen Bestandteil einer breiten aufbrechenden demokratischen Bewe-
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gung zu sehen und die Freunde von der Bewegung „Demokratie jetzt“ oder vom „Neuen Forum“ bei all den Konfusionen, die hier und dort bereits existieren mögen, so ans Herz zu legen wie uns. Das ist das, worum ich persönlich bitten möchte. (…) Peter Hilsberg: Die weggehen, die fehlen eben tatsächlich. Man kann dieses Haus hier fragen, was es so gerade erlebt hat. Ibrahim Böhme (spricht zu Brandt und Vogel): Das ist der Vater unseres Ersten Sprechers, Stephan Hilsberg, der heute nicht hier sein kann. Peter Hilsberg: Aber: Es belastet die Menschen. Es geht denen an die Seele, den Weggehenden. Und das beobachte ich nun als Pastor überall und immer wieder. Das macht denen so zu schaffen. Das ist so etwas vergleichbar mit dem Erlebnis von Sterben von Menschen. Bloß, es ist gleichzeitig schlimmer. Nicht? Sterbende sterben nicht freiwillig. Und die, die weggehen, die gehen eben freiwillig weg und das hinterlässt Wunden. (…) Martin Gutzeit: Das andere ist die Frage, weshalb gehen sie und welche, was kann man tun, um das Vertrauen der Bürger, hier zu bleiben, zu stärken. Hans-Jochen Vogel: Das müsst ihr uns jetzt mal sagen. Martin Gutzeit: Das sind ja Sachen, die könnt ihr nicht machen, die müssen wir hier versuchen durchzusetzen. Das ist die Frage der politischen Institutionen, eben erst mal die Frage zu klären, also, es ist zu klären, dass Menschen hier aufrecht und in Würde leben und arbeiten können und nicht Angst haben müssen. Das ist eine ganz wichtige Sache, die müssen wir hier durchsetzen. Da könnt ihr uns also gar nicht allzu viel helfen. Das Zweite ist natürlich die Frage der wirtschaftlichen Verhältnisse. Das wird jetzt schwierig werden, zunehmend schwieriger werden. Und da muss man sich was überlegen, um die Sache zu stabilisieren. Das ist allein schon bei der Reiseregelung, wird sich das zeigen, aber auch der Frage: Wie kann die Wirtschaft so, wie
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sie jetzt ist, wirklich in Schwung gebracht werden, ohne eben sozialdemokratischen Prinzipien zu widersprechen. Das heißt also die sozialen Standards für alle Schichten, gerade auch für diejenigen, die nicht allzu viel haben, zu behalten. Das ist ganz wichtig für uns. Bei allen wirtschaftlichen Maßnahmen, die hier zur Effektivierung unserer Wirtschaft beigebracht werden müssen. (…) Willy Brandt: Wollen wir nicht erst mal miteinander anstoßen? Ibrahim Böhme: Ja. (Lachen) Willy Brandt: Ich würde sagen, auf eine, auf ’ne gute Zukunft für die soziale Demokratie im weiteren Sinne in eurem Teil Deutschlands und für die Sozialdemokratie im Besonderen. (…) Zum Wohl! Mehrere Stimmen: Zum Wohl! (Anstoßen von Gläsern) (…) Hans-Jochen Vogel: Ich mache einen konkreten Vorschlag: Warum suchen wir nicht eine Möglichkeit, dass drei oder vier, die ihr benennt, und drei oder vier, die wir benennen, sich zusammensetzen, um diese Fragen wirklich ein bisschen durchzubuchstabieren. Ich würd’ den Gert Weisskirchen bitten, dass er mit euch in Verbindung bleibt und dass man nach einem Weg sucht, wo man sich trifft und wo man das durchbuchstabiert. Ich kann jetzt nur Stichworte sagen: Ich unterscheide zwischen den mittelfristigen und langfristigen Maßnahmen. (…) Bei den kurzfristigen scheint mir an erster Stelle zu stehen, dass wir für die Reisevaluta eine vernünftige Lösung finden. Wir sagen bisher, das Geld, das aus dem sogenannten Zwangsumtausch kommt, das Geld, das wir als Begrüßungsgeld verfügbar machen, soll in einen Topf und dann soll das zu einem vernünftigen Kurs normal als Wechselgeld zur Verfügung stehen. (…) Der Zustand, dass ihr da mit 15 Mark reist oder dass ihr bei unseren Sozialämtern anstehen müsst usw. ist keine Normalisierung, ist nicht in Ordnung. (…) Der zweite Punkt ist ’ne Frage an euch: Wir hören, dass da und dort wirklich Versorgungsbereiche vor’m Zusammenbruch stehen. Wir haben arbeitslose Ärzte. Ich könnt’ mir denken,
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dass das Rote Kreuz, wenn hier bei euch diejenigen, die da mitzureden haben, keine Schwierigkeiten machen, dass die beiden Rot-Kreuz-Organisationen – oder wer auch immer – in Kontakt treten. Es gibt bei uns etwa zehn bis zwölf Tausend arbeitslose Ärzte. Ich bin ziemlich sicher, dass einige Hundert verhältnismäßig rasch kommen. Dann gibt’s Städtepartnerschaften. Aber wir wollen uns da nicht aufdrängen. Wisst ihr, lasst mich das mal ganz deutlich sagen: Mir ist nichts zuwiderer als die Haltung dessen, der da so als der gönnerhafte Onkel daherkommt oder so was. (…) Ibrahim Böhme: Wer die Entwicklung vom 26.8. an verfolgt hat, als die Sozialdemokraten in der DDR eine Initialzündung für die Gründung neuer politischer Formen gesetzt haben4, hat ein bisschen Gespür, glaube ich, dafür, oder gewinnt unter Umständen ein bisschen Gespür dafür, dass im Moment eigentlich nicht die Frage nach der gesetzlichen Legalität so sehr steht wie nach der gesellschaftlichen Legitimität. (…) Und da ist die Frage, wenn es uns möglich ist, den Bürgern klarzumachen, dass der Runde Tisch, der Dialogtisch entscheidender ist als die alte bisher obwaltende Legal-, gesetzliche Legalstruktur, dann ist alles … (…) Willy Brandt: Darf ich eine Bemerkung machen, bevor Jochen Vogel sich äußert. Also, ich würde sehr zu überlegen geben, ob es klug ist, wenn es auch sehr deutsch wäre, zu sagen: „Wir brauchen die verfassunggebende Versammlung. Und erst wenn die fertig ist, machen wir das andere.“ Eine neue Verfassung zu machen ist nicht im Handumdrehen gemacht, wenn es ernsthaft gemacht werden soll. Dafür zuviel Zeit zu verlieren für die übrige Demokratisierung, wäre in höchstem Maße bedenklich. Deshalb die Frage, ob man mit überlegt, parallel zueinander die beiden Vorgänge zu machen: Eine parlamentarische Vertretung für die DDR, die den Namen verdient. Das ist zu machen, wenn der Führungsanspruch der SED fallengelassen wird. Nur dieser eine Punkt braucht dafür geändert zu werden. Dann eine Volksvertretung zu haben – ob man die weiterhin Volkskammer nennt oder nicht, warum nicht? Warum soll man sie nicht so nennen, ist doch Wurscht – und nicht sich von vornherein festzulegen auf diesen anderen Prozess: Verfassunggebende Versammlung, ein Jahr oder mehr und dann erst kommen die anderen, dann erst kommen die anderen … 4 Am 26. August 1989 war in der Ost-Berliner Golgatha-Gemeinde der Aufruf zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR öffentlich vorgestellt und von Martin Gutzeit, Markus Meckel, Ibrahim Böhme und Arndt Noack unterzeichnet worden.
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Hans-Jochen Vogel: Ich würd’ das sehr aufgreifen. Ich war grad in Budapest. Die Ungarn haben ja nicht eine neue Verfassung gemacht, sondern sie haben die entscheidenden Punkte der Verfassung mit dem Absolutheitsanspruch, mit dem Machtanspruch und noch zwei, drei Sachen geändert, in den so genannten Ecksteingesetzen. (…) Ich meine, ich hab’ gerade vor vier Stunden mit Willy zusammen in einer Fraktionssitzung und in einem Abgeordnetenhaus gesessen. Und da ging’s um die Frage (…), ob in der Resolution des Berliner Abgeordnetenhauses am Schluss gesagt werden müsse – ich hoffe, Dietrich hilft mir, dass ich das aus dem Kopf noch zusammenbringe: – Ah, er hat’s dabei. Dietrich Stobbe: Aber ich hab’ jetzt die Fassung, die Du geändert ... Hans-Jochen Vogel (in Unterlagen blätternd): (…) Da gab’s den Streit. Da sagten die einen: „Das Abgeordnetenhaus von Berlin hält fest an dem Ziel, auf einen Zustand des Friedens und der Einheit Europas hinzuwirken, in dem auch das deutsche Volk in Freiheit seine Einheit erlangen kann.“ Und die andere Fassung hat geheißen: „… Zustand des Friedens und der Einheit Europas hinzuwirken, in der [sic] auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung zu der Form seines Zusammenlebens gelangen kann, für das es sich in freier Selbstbestimmung entscheidet.“ Was wär’ denn Euer Votum gewesen? (Lachen) Martin Gutzeit: Also, da müsste ja … Ich würde sagen, ich von mir aus halte die zweite Variante für ange(...) [unverständlich]. Mehrere Stimmen (laut durcheinander) (Lachen). Martin Gutzeit: Ich muss ganz einfach sagen. Ich muss ganz einfach sagen, wohin wir uns bestimmen, das muss man uns selbst überlassen. Hans-Jochen Vogel: Gut so. Ihr sollt aber wissen ... Martin Gutzeit versucht etwas zu sagen, bricht aber ab.
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Hans-Jochen Vogel: Freunde, ihr sollt aber wissen, dass dies ein Punkt ist wegen des Wortes „Einheit“ hinten, das in der innenpolitischen Auseinandersetzung bei uns in der Bundesrepublik zum emotionalen Zündstoff hochgejubelt wird. Willy Brandt: Wobei es dort nicht hieß „staatliche Einheit“, sondern „Einheit des Volkes“ … (…) Martin Gutzeit: Ja, was die Frage der Sehnsucht mit der Einheit, ich kann das ja verstehen, emotional. Aber das hat auch etwas mit politischer Rationalität und den Interessen der Bürger, die hier in diesem Gebiet leben, zu tun, und da frage ich immer, was passiert, wenn wir plötzlich die Einheit haben. Wir sind ein Volk, wir haben lauter Werktätige, die nicht in Besitz des Wertes ihrer Arbeit sind. Wir haben Gutscheine, deren Einlösung nicht gewährleistet ist. Und wenn jetzt plötzlich Milliarden von Devisen hier ’rüberfließen, sind wir plötzlich arme Leute und es könnte sehr schnell passieren, dass wir nichts mehr haben, weil wir aufgekauft werden. Das sind die ökonomischen Momente der Einheit, wenn sie jetzt sehr schnell da ist. Willy Brandt: Bloß wir haben doch jetzt Einheit erlebt, gestern und heute. Das ist auch ’ne Form von Einheit, dass die Menschen zueinander strömen ... Hans-Jochen Vogel (zwischenrufend): Ja, richtig! Willy Brandt: ... und auf neue Weise zusammenleben wollen… (…) Martin Gutzeit: Es geht nicht um die staatliche Einheit, es gibt die Einheit der Völ-, der Menschen hier und drüben, dass wir reisen können und dass wir uns begegnen können und dass diese Grenzen ihren trennenden Charakter verlieren. Hans-Jochen Vogel: Könnten wir uns auf die Formel vom Hoffmann von Fallersleben einigen, dass für
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diese Zeit Recht und Freiheit und Einigkeit wichtig ist? Und Euer Selbstbestimmungsrecht, dass ihr zum Zeitpunkt, in dem ihr in der Lage seid, selber entscheidet, welche Form des Zusammenlebens ihr für richtig haltet. Martin Gutzeit: Ich denk’ ... Hans Simon (zwischenrufend): Keine Einstaatlichkeit. Martin Gutzeit: Ich denke, wir müssen die Situation bekommen, wo wir wirklich darüber entscheiden können. Hans-Jochen Vogel: Ja. Martin Gutzeit: Zur Zeit ist es schwer, dies zu tun. Und ich glaube, dazu brauchen wir die politische Selbstbestimmung. Wir brauchen eine Demokratisierung dieses Landes, wo dann die Bürger wirklich frei entscheiden können. Das können wir noch nicht. Dietrich Stobbe: „In Freiheit über das künftige Miteinander“ hat Steffen Reiche geschrieben. Martin Gutzeit: So ist es. Und das ist das politische Moment. Das ist das wirtschaftliche und politische der Selbstbestimmung, das wir brauchen, beide Momente. Und zwar in einem Miteinander der beiden deutschen Staaten, wo die Grenzen ihr Trennendes verloren haben. Hans-Jochen Vogel: So ist es! Und Europa zu stärkerer Einheit gelangt. Willy Brandt: Oder noch ein bisschen anders formuliert: Wenn die Teile Europas zusammenwach-
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sen, was sie ja tun, wenn’s auch ein bisschen dauert, wer kann eigentlich von unseren Nachbarn, auf die es ja mit ankommt, etwas dagegen haben, dass auf den Gebieten, auf denen die Deutschen mehr gemeinsam haben als andere Europäer – nämlich Kultur, Kommunikation, Umwelt – dass sie auf diesen Gebieten eine engere Verbindung miteinander eingehen als sonstige Staaten in Europa. Ist das ein akzeptabler Gedanke? Martin Gutzeit: Selbstverständlich. Ich denke, wir werden darauf zugehen. Und wie sich die spätere politische Ordnung in Europa, auch zwischen den deutschen Staaten, ergibt, das ist noch gar nicht raus. Aber dazu müssen in dieser Situation, müssen die Menschen in der Lage sein, darüber zu entscheiden, wirklich frei zu entscheiden, ohne eben die Nachteile zu haben, wie es jetzt passieren würde, wenn wir es sofort machten. (…) Hans-Jochen Vogel: Darf ich noch mal was sagen? Ich mein’, ich bin viel zu alt, um einfach so Süßholz zu raspeln. Aber ich mein’ – nein, das muss ich euch wirklich sagen: Ihr habt in diesen Wochen und Tagen etwas auf die Beine gebracht, das es auf deutschem Boden in dieser Form bisher nicht gab. Entschuldigung. Ich mein’ jetzt nicht die Sozialdemokraten allein, alle miteinander. (…) Eine demokratische Revolution – und das ist es doch –, die Aussicht hat, erfolgreich zu sein, die hat’s auf deutschem Boden bisher nie gegeben. Auch die [18]48er Revolution, an die man denken kann, ist letzten Endes gescheitert. Und ich sag’ euch ehrlich, ich bin mir nicht sicher, ob wir in der Bundesrepublik für noch so wichtige Ziele (…) eine solche Bewegung auf die Beine brächten, wie ihr das geschafft habt. Mit den Friedensbewegungen in Ansätzen, hier geht’s dann um die Ökologie. Ich mein’, die ökologische Herausforderung würde bei uns sicher rechtfertigen, dass ähnliche Bewegungen in Gang kommen. Ihr seid uns da in der demokratischen Volksbewegung ein Stück voraus. Und deswegen halten wir euch auch so den Daumen – das gehört nämlich auch dazu, man muss ja auch Glück haben –, ... Ibrahim Böhme: Hans-Jochen Vogel … Hans-Jochen Vogel: … dass ihr nicht einen schrecklichen Rückschlag erleidet.
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Ibrahim Böhme: Hans-Jochen Vogel ... Hans-Jochen Vogel: Ich habe hier nicht das Wort zu erteilen. Wenn dann er, er ist Präsident der Internationale, er ist für uns alle zuständig. (Lachen) Willy Brandt: Wir sind keine Superpartei, sondern eine Gemeinschaft souveräner Parteien. (…) Ibrahim Böhme: In Leipzig demonstrieren montags hunderttausende Menschen ... Hans-Jochen Vogel (flüsternd): Fabelhaft. Ibrahim Böhme: … und am nächsten Tag gehen sie zur Arbeit und nicht nur, viele von ihnen nicht nur aus dem altstrapazierten, strapazierten deutschen Ordnungssinn heraus, sondern weil sie genau erkennen: Es dient niemand, die DDR ökonomisch in den Boden zu streiken. Wir Sozialdemokraten in der DDR favorisieren natürlich freie unabhängige Gewerkschaften, die in den Industrie- und Landwirtschaftsstrukturen die Tarifhoheit bekommen. Wir werden viel nachdenken müssen, wie der Tarifpartner sich zu gestalten hat dafür. Aber wir sind gegen eine Bewegung, die am Ende die DDR kaputt macht. Und da sind wir euch eigentlich dankbar, dass in den letzten Wochen mit großer Vorsicht von Sozialdemokraten in der Bundesrepublik und in westeuropäischen Ländern (…), in Ungarn, (…) in Lettland, in Estland, (…) aus Polen, (…) dass sie sehr vorsichtig sich geäußert haben, ohne die Souveränität zu verletzen oder ohne irgendjemand in diesem noch obwaltenden Machtapparat die Möglichkeit zu geben, gegen die Sozialdemokraten zu argumentieren. Also, das möchte ich an dieser Stelle einmal deutlich ausgesprochen haben. (…) Weibliche Stimme: Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich auch so das Gefühl habe, dass unser Selbstbewusstsein ungeheuer gestiegen ist.
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Hans-Jochen Vogel: Mit Recht. Weibliche Stimme: (…) Und dass wir das auch sehr nötig hatten für uns selber. Und dass ich glaube, dass man dann erst richtig was tun kann und die Fähigkeit hat, das zu tun, weil man also selber auch Vertrauen in sich selber hat und dass man sich selber stark fühlt und nicht minderwertig. Irgendwie war alles in den ganzen, in den 40 Jahren in der DDR immer so mein Eindruck, dass wir ein so ganz geducktes Volk sind, verängstigt, konformistisch, opportunistisch und das hat mich immer unheimlich bedrückt. Und man merkt jetzt, wie so alle aus den Löchern rauskommen, und was da so da ist an Kraft und an Vermögen und an Fantasie. Und das ist so schön, das zu erleben. (…)
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SCHWERPUNKT | BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN
VIEL ROT MIT EIN PAAR FLECKEN Eine Analyse der Brandenburger Landtagswahl 2014 — Von Thomas Kralinski
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randenburg hat gewählt. Dabei fanden die Landtagswahlen zum ersten Mal unter „normalen“ Umständen statt. Nach den Gründungswahlen 1990 stand die Wahl von 1994 im Schatten der Debatte um Manfred Stolpes Vergangenheit und der ersten NachWende-Enttäuschungen. 1999 wählte Brandenburg unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges und der „Anfangsfehler“ der rot-grünen Bundesregierung. Die Wahl 2004 stand unter dem Eindruck heftiger Proteste gegen die Hartz IVGesetze. Und fünf Jahre später wählte Brandenburg inmitten einer globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, von der damals noch keiner genau wusste, wie sie wirklich enden würde. Hinzu kam, dass die Landtags- und Bundestagswahlen 2009 an einem Tag stattfanden und die Wechselwirkungen nur schwer kalkulierbar gewesen sind. 2014 war anders. Seit 2005 sinkt die Zahl der Arbeitslosen in Brandenburg kontinuierlich. Brandenburg ist das einzige Bundesland, in dem die Arbeitslo-
senzahl sogar während der Finanzkrise 2009/ 2010 zurückging. Bis auf diese beiden Jahre wächst die Wirtschaft seit 2005 kontinuierlich. Somit erleben die Brandenburger mittlerweile seit fast einem ganzen Jahrzehnt einen Aufschwung, der langsam aber sicher auch in den Köpfen und im Bewusstsein der Menschen ankommt. Nach fast zwei Jahrzehnten kontinuierlicher Umbrüche stellt sich zum ersten Mal ein Gefühl von gesellschaftlicher Konsolidierung ein. Den (meisten) Menschen im Land geht es gut – und die daraus erwachsene Stabilität tut der ostdeutschen Gesellschaft auch gut. ein Jahrzehnt Wachstum Diese Konsolidierung, dieses Wachstum kann man auch sehen – man muss nur mit offenen Augen durchs Land fahren. Vor allem ist der – bisweilen sicherlich bescheidene – Wohlstand auch in allen Teilen des Landes angekommen. Mittlerweile gibt es in Brandenburg Regio-
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SCHWERPUNKT | BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN
Wirtschaftliche Lage in Brandenburg 92% 74%
70%
29%
25%
66%
32%
gut schlecht
7%
1999
2004
2009
2014 Quelle: infratest
nen mit weniger als fünf Prozent Arbeitslosigkeit – de facto herrscht damit Vollbeschäftigung. So ist es auch kein Wunder, dass volle zwei Drittel der Brandenburger mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufrieden sind. Das ist ein Rekordwert. Noch vor fünf Jahren waren es nur 29 Prozent, zehn Jahren sogar nur sieben Prozent. Das schlägt sich auch in der Bewertung der Landesregierung nieder. 60 Prozent sind mit ihrer Arbeit zufrieden – ein Rekordwert, auch angesichts des Gegenwindes, in dem die erste rot-rote Landesregierung Brandenburgs im Laufe der Wahlperiode stand. Die politischen Debatten in Ostdeutschland sind traditionell weniger ideologisch aufgeladen. Die Problemlagen sind einfach zu groß, traditionelle Konfliktlinien weniger scharf ausgeprägt. Mittlerweile kommt ein über alle
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Parteien hinweg reichender Konsens zur Frage eines ausgeglichenen Haushaltes hinzu. Die zurückgehenden EU-Fördermittel, der auslaufende Solidarpakt und die sinkenden Zuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich setzen dazu einen Rahmen, den (fast) alle Parteien akzeptieren und womit gleichzeitig ausufernde Ausgabenprogramme nicht mehr möglich sind. In dieser Lage erlebte Brandenburg 2014 einen Wahlkampfsommer, der mit wenigen politischen Kontroversen einher ging. Und ein Wahlergebnis, das einige überraschende Details offenbarte und manche Fragen offen ließ. Das Ergebnis. Die Brandenburger SPD wurde im September 2014 mit knapp 32 Prozent zum sechsten Mal hinter einander stärkste Kraft im Landtag. Der Abstand zur zweitstärksten Partei –
THOMAS KRALINSKI | VIEL ROT MIT EIN PAAR FLECKEN
Landtagswahlen 1990-2014 in Brandenburg
54,1
39,3
38,2
31,9
33,0
26,5
28,0
27,2
23,3
19,4
19,8
SPD
31,9
CDU
29,4
PDS/Linke FDP
23,0 18,7
B’90/Grüne
18,6 DVU/NPD
13,4
18,7
+
12,2
AfD
+
6,6
5,3
6,1
2,9 2,2
1,9
1,1
1,1
1,9
3,6 3,3
1990
1994
1999
6,4
2004
nunmehr wieder die CDU – ist mit neun Prozentpunkten so groß wie seit 15 Jahren nicht mehr. Das war nicht selbstverständlich, sah es doch in den vergangenen Jahren eher nach einem Kopf-anKopf-Rennen aus, zumal mit Dietmar Woidke ein neuer Spitzenkandidat antrat, der gerade mal 13 Monate Zeit hatte, sich im Land bekannt zu machen. Die CDU wurde – nach zehn Jahren – wieder zweitstärkste Partei, blieb mit 23 Prozent aber deutlich (auch unter ihren eigenen) Erwartungen. Ihr ist es im gesamten Wahlkampf nicht gelungen,
7,2 5,6 2,6
2009
6,2 2,2 1,5
2014
Themen zu setzen. Den größten Verlust musste die Linkspartei verkraften. Ihre 18,6 Prozent stellen ihr zweitschwächstes Ergebnis seit 1990 dar. Sie verlor über acht Prozentpunkte und wurde damit drittstärkste Kraft. Ein regelrechtes Debakel erlebte die FDP: Nach ihrem Rekordergebnis (über 7 Prozent) von 2009 musste sie nun mit 1,5 Prozent einen Negativ-Rekord hinnehmen und landete damit auf Platz neun (!) des Parteienwettbewerbs. Die Grünen konnten ihr Ergebnis von 2009 leicht verbessern. Die Überraschung
perspektive21
37
SCHWERPUNKT | BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN
des Abends aber war die AfD. Sie kam im ersten Anlauf mit über 12 Prozent in den Potsdamer Landtag. Gleichzeitig gelang den Freien Wählern der Sprung in den Landtag über eine Sonderklausel im Wahlgesetz: Da einer ihrer Kandidaten einen Wahlkreis für sich gewinnen konnte, wurde sie von der 5 Prozent-Hürde befreit und stellt nunmehr drei Abgeordnete im Potsdamer Landtag.1
Trend – Wähleranteile hinzu. Einzig die dort besonders niedrigeWahlbeteiligung verhindert, dass sich dies stärker im Gesamtergebnis niederschlägt. Umgekehrt ist das Verhältnis bei den Grünen: Sie gewinnen die Wahl im Berliner Umland – mit Ergebnissen von bis zu 19 Prozent – während sie insbesondere im Süden des Landes lediglich Werte von zwei bis vier Prozent erreichen.
Die Regionen. Schaut man sich die Wahlkreiskarte an, sticht das breitflächige Rot ins Auge. Der SPD gelang es, zehn Wahlkreise zurückzuerobern. Mit 29 direkt gewählten Abgeordneten kommen (bis auf eine) alle Sozialdemokraten über ihre Wahlkreise in den Landtag. Die Linkspartei verliert hingegen siebzehn ihrer 21 Wahlkreise und kann nur noch vier Abgeordnete direkt in den Landtag schicken. Auf der anderen Seite gewinnt die CDU sechs Wahlkreise – insbesondere im Süden des Landes. Sie nimmt der SPD zwei und den Linken vier Wahlkreise ab. Bei genauer Betrachtung fällt eine zunehmende Ausdifferenzierung der Wahlergebnisse auf. So verlieren SPD und Linke in den großen Städten überdurchschnittlich stark. In den ländlichen Regionen liegen hingegen die Schwerpunkte der SPD, dort gewinnt sie sogar – entgegen dem allgemeinen
Die Alters- und Geschlechtsunterschiede. Die SPD ist die Partei der Frauen. Keine andere Partei verfügt über einen solch großen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Sie holt bei den Frauen mit 35 Prozent sechs Punkte mehr als bei den Männern. Noch besser ist das Ergebnis bei den älteren Frauen: In dieser Gruppe kommt die SPD mit 45 Prozent in die Nähe der absoluten Mehrheit. Alle anderen Parteien erreichen bei Männern und Frauen nahezu ähnliche Ergebnisse, einzig die AfD erreicht unter den Männern 15 Prozent, während sie nur bei zehn Prozent der Frauen erfolgreich ist.
1
Die Wahlanalyse stützt sich auf die Zahlen des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg sowie auf Nachwahlerhebungen von Infratest und der Forschungsgruppe Wahlen.
38
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Was die Jungen wählen Auffällig sind jedoch die generationellen Unterschiede der Parteien. So haben insbesondere die unter 25-Jährigen keine eindeutigen Parteipräferenzen: SPD, CDU, Linke als auch Grüne erhalten hier jeweils zwischen 15 und 21 Prozent, die
THOMAS KRALINSKI | VIEL ROT MIT EIN PAAR FLECKEN
Sitzverteilung im Landtag B’90/Grüne
SPD 30
Linke 17 (-8)
AfD immerhin 12 Prozent. Besonders schwer tut sich die SPD bei den unter 44-Jährigen – hier muss sie deutliche Verluste hinnehmen. Erst bei den Älteren wird ihr Vorsprung vor den anderen Parteien deutlicher. Umgekehrt hat die CDU eine klare Schwäche bei den älteren Wählern – sonst eher eine sichere Bank für die Christdemokraten. Ihre höchsten Zuwächse und auch insgesamt ein überdurchschnittliches Ergebnis erlangt die CDU bei den berufsaktiven mittleren Altersgruppen. Anders liegt es bei der Linkspartei. Gerade in den mittleren Altersgruppen erleidet sie ihre höchsten Verluste (-9 bis -13 Punkte). Ihre besten Resultate erlangen die Linken bei den über 60-Jährigen (21 Prozent). Altersstrukturell ein ähnliches Profil haben im Umkehrschluss Grüne und AfD: Je jünger die
BVB/FW 3 (+3)
6 CDU 21 (+2)
AfD 11 (+11)
Wähler um so erfolgreicher sind die beiden Parteien, je älter um so geringer die Wahlergebnisse. SPd für Wirtschaft und gerechtigkeit Erstmals bei einer Landtagswahl konnten in Brandenburg auch die 16- und 17-Jährigen wählen. Dabei zeigt sich, dass sie mit 42 Prozent etwas stärker als die über 18-Jährigen (34 Prozent) an der Wahl teilgenommen haben. Das ist gleichwohl kein neues Phänomen – bei der ersten Wahl im Leben ist das Interesse traditionell höher als bei der zweiten Wahl. Die sozialen Gruppen. Wie bei der Wahl 2009 ist die SPD die Arbeiterpartei. Die Arbeiter entschieden sich zu 30 Prozent für die Sozialdemokraten, 16 Prozent votierten für die CDU, 19 Prozent
perspektive21
39
SCHWERPUNKT | BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN
ergebnisse nach sozialen gruppen in Prozent
■ SPd
■ Cdu
■ Linke
■ afd
40
36 31
31
30
27
27 24
23 19 19
16
17
Arbeiter
17
16 12
Angestellte
11
13
Beamte
12
22 23 16
14 9
Selbstständige Arbeitslose
Rentner Quelle: infratest
für die Linken. Auch die AfD erreicht hier 19 Prozent – offensichtlich profitiert sie vom hohen Abstrom von der Linkspartei, die in dieser Gruppe immerhin zehn Punkte verliert. Sowohl bei den Angestellten als auch den Rentnern liegt die SPD klar vorn. Die Linkspartei verteidigt ihre Hochburg bei den Arbeitslosen (27 Prozent), muss dort aber gleichzeitig Einbußen von 16 Prozent hinnehmen – während die AfD überdurchschnittliche 14 Prozent einfährt. Insgesamt hat sich der Anteil der Arbeitslosen an der Wählerschaft allerdings in den vergangenen Jahren halbiert. Der CDU gelingt es immerhin in alte Hochburgen vorzudringen. So erreicht sie bei den Selbstständigen 36 und bei den Beamten 31 Prozent – bei Zuwächsen von 7-8 Prozentpunkten.
40
dezember 2014 | Heft 62
Die Parteikompetenzen. Die Problemlösungskompetenz ist bei allen Parteien der wichtigste Faktor für die Wahlentscheidung gewesen, erst danach rangieren Kandidaten oder längerfristige Parteibindungen. Insgesamt verzeichnet die SPD eine leichte Erosion ihres Kompetenzprofils gegenüber der Wahl 2009. Zwar liegt sie in allen wichtigen Feldern vorn, der Vorsprung auf die Verfolger hat allerdings deutlich nachgelassen. Besonders bemerkenswert ist, dass die Sozialdemokraten sowohl in wirtschaftlichen Fragen und bei der sozialen Gerechtigkeit und in Bildungsfragen als die kompetenteste Partei wahrgenommen werden. Das ist in der Wahlgeschichte der SPD bundesweit ein eher seltenes Phänomen – und eine wichtige Voraus-
THOMAS KRALINSKI | VIEL ROT MIT EIN PAAR FLECKEN
Parteikompetenzen in Brandenburg
SPd
Cdu
Linkspartei
Wichtigkeit des themas
Wirtschaft
34% (-1)
27% (+6)
5% (-4)
Arbeit
30% (±0)
30% (+10)
4% (-8)
soziale Gerechtigkeit
33% (±0)
11% (+1)
30% (-2)
Bildung
28% (-3)
17% (+3)
20% (-6)
Kriminalität
21%
26%
5%
10%
Verkehr
22%
23%
6%
12%
Zukunft
35% (-3)
21% (+3)
7% (-5)
31%
27%
Quelle: Fg Wahlen
setzung für einen ungefährdeten Wahlsieg. Gleichwohl hat sie in Bildungsfragen auch einen spürbaren Rückgang ihrer Kompetenz zu verzeichnen – dies wieder umzukehren wird eine der Hauptaufgaben aus politstrategischer Sicht für die SPD sein. Zentrale Kategorie ist letztlich die Frage nach der allgemeinen Zukunftskompetenz. Dort führt die SPD deutlich – die Wähler verorten bei ihr offensichtlich eine grundsätzliche „Brandenburg-Kompetenz“. Die CDU kann ihre Kompetenzwerte bei dieser Wahl zwar verbessern, der SPD gefährlich wird sie jedoch nicht. Bei einem Stammthema der CDU – innerer Sicherheit – vertrauen ihr nur 26 Prozent, eigentlich ein katastrophaler Wert für Christdemokraten im Länderver-
gleich. In Wirtschaftsfragen kann die CDU zwar Boden gutmachen, doch profitiert die SPD als größte Regierungspartei von der guten wirtschaftlichen Lage. Bei den Wählern der Linken spielt die Problemlösungskompetenz der Partei traditionell eine eher untergeordnete Rolle. In dieser Landtagswahl zeigt sich aber auch, dass die Regierungsbeteiligung der Linkspartei keinen Kompetenzzuwachs bringt. In allen Feldern verliert sie Punkte, kann aber bei der sozialen Gerechtigkeit auf Augenhöhe mit der SPD bleiben. Die Spitzenkandidaten. Erstmals trat bei dieser Landtagswahl Dietmar Woidke als Ministerpräsident an, er übernahm das Amt im Sommer 2013 von Matthias Platzeck. Auch die anderen Parteien
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41
SCHWERPUNKT | BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN
wechselten im Laufe der Wahlperiode ihr Personal aus, so dass am Ende alle Spitzenkandidaten neu auf dem Feld waren. Trotz dieser nahezu gleichen Ausgangslage zeigten sich im Laufe des Wahlkampfes schnell die Präferenzen der Brandenburger. Innerhalb eines Jahres gelang Woidke die Verdoppelung seines Bekanntheitsgrades als auch seiner Popularität. Seit dem Frühjahr verfügte er gegenüber den Spitzenkandidaten von Linken und CDU über einen Vorsprung von 40 bis 50 Punkten, wenn es um die Frage ging, wen die Brandenburger als Ministerpräsidenten bevorzugen würden. Woidke hat damit einen erheblichen Anteil zum guten Wahlergebnis der SPD beigetragen. So sagten am Wahltag 70 Prozent der Brandenburger, dass er seine Sache als Ministerpräsident „eher gut“ macht. den Cdu-Mann kennt keiner Umgekehrt gelang es dem CDU-Spitzenkandidaten nicht, sich einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen oder auch eigene Themen zu setzen. Zu keinem Zeitpunkt konnte die CDU die SPD in die Defensive drängen. Die Linkspartei hat – strategisch richtig – ihren Spitzenkandidaten im Winter 2014 sowohl zum Minister als auch zum Parteivorsitzenden gemacht und somit die Führungsfunktionen gebündelt. Dadurch konnte Christian Görke zwar seinen Bekannt-
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heitsgrad erhöhen. Mit seiner Aussage, nicht Ministerpräsident werden zu wollen, hat er sich jedoch frühzeitig selbst aus dem Rennen um die Führungsfunktion im Land genommen. Am Ende profitierte die SPD von einem schlichten Umstand: Dietmar Woidke war der einzige Politiker, den (fast) alle Brandenburger kannten – er war so gleichzeitig der „geborene“ Ministerpräsident. Die Wahlbeteiligung. Das schmerzhafteste Ergebnis dieser Wahl war zweifellos die niedrige Wahlbeteiligung. Zwar sind bei Landtagswahlen Beteiligungsquoten zwischen 50 und 60 Prozent seit einigen Jahren die Regel. Dass jedoch nur 48 Prozent der Brandenburger den Weg zu den Wahlurnen fanden, markiert einen Tiefstand. Trotz ihres guten Ergebnisses hat die SPD im Vergleich zur Wahl 2009 immerhin 140.000 Wähler verloren – das sind fast 30 Prozent. Bis auf die AfD haben bei dieser Wahl alle Parteien Stimmen verloren, die CDU knapp 20 Prozent, die Linkspartei sogar über 50 Prozent. Nun lässt sich viel darüber spekulieren, warum die Wähler der Urne fernblieben. Sei es aus Frust, sei es aus Zufriedenheit. Fakt ist, dass die Wahlbeteiligung in den ländlicheren Regionen besonders niedrig ist. Aus verschiedenen Untersuchungen wird auch deutlich, dass die Beteiligung von Wählern mit niedrigerem Einkommen und niedrigerem formalen Bildungsgrad abnimmt.
THOMAS KRALINSKI | VIEL ROT MIT EIN PAAR FLECKEN
EIN FAZIT Erstens. Im Laufe des Wahlkampfes schien schon recht lange festzustehen, welche Partei in Zukunft Brandenburgs Regierungschef stellen wird. Und die Frage, welche Partei am Ende Regierungspartner wird, schien die Leute nicht übermäßig zu interessieren. Der in der Folge relativ kontroversarme Wahlkampf hat am Ende die Anhänger aller Parteien davon abgehalten, zur Wahl zu gehen. Eine zentrale Herausforderung der nächsten Jahre wird es sein, vermeintlich „abgehängte“ Wählergruppen wieder in den politischen Prozess zu integrieren. Das trifft insbesondere auf SPD und Linke zu. Ihr Ziel muss es sein, in den ländlichen Regionen die Wahlbeteiligung wieder zu steigern und auch politische Konzepte für sozial schwächere Wähler zu entwickeln. Zweitens. Mit 12 Prozent kam die AfD auf Anhieb in den Landtag. Dabei interessierte sie sich weniger für die Landespolitik. Auch die konkreten Personen, die für die AfD antraten, spielten bei der Wahlentscheidung keine Rolle – ein Fakt, der sich nach der Wahl bitter rächt, wie man an den personenellen Querelen der AfD-Fraktion sehen kann. Die Wähler kümmerte es nicht, ob die AfD den DDRHaushaltstag wollte, die Drei-Kind-Familie forderte oder ein klar gegliedertes Schulsystem anstrebte. Sie wurde gewählt, weil sie Themen ansprach, die ver-
meintlich tabuisiert sind, und damit Unzufriedenheit mit dem politischen Prozess in Gänze artikulierte. Im Ergebnis schnitt sie eine Schneise in das Wählerreservoir von CDU und Linken, begrenzte letztendlich aber auch das Potential der SPD. Denn erstmals ist es der SPD nicht gelungen, nach einer Regierungsbeteiligung der Linken bzw. der PDS von dieser auch Wähler zurückzuerobern. Drittens. Der SPD kehrte bei dieser Wahl wieder in ehemalige Hochburgen zurück. Dazu gehören vor allem die ländlichen Regionen. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg kann die SPD auf dem „flachen Land“ so gut abschneiden. Insgesamt wurde die SPD sowohl bei den Erst- als auch bei den Zweitstimmen mit Abstand stärkste Kraft. In 41 Wahlkreisen lag sie bei den Zweitstimmen auf Platz 1, bei den Erststimmen in 29. Schwächen zeigt die SPD vor allem in den großen Städten. In Cottbus und Potsdam verlor sie deutlich an Stimmen, in Frankfurt kam ihr Kandidat gerade mal auf Platz 4. Im Berliner Umland ist die SPD zwar weiterhin stärkste Kraft, musste aber auch zum Teil deutliche Einbußen hinnehmen. In den kommenden Jahren wird es darauf ankommen, ein politisches Konzept zu entwickeln, dass dem boomenden Berliner Umland gerecht wird als auch das Gefühl von „Abgehängtheit“ in den äußeren Regionen entgegenwirkt.
perspektive21
43
SCHWERPUNKT | BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN
Viertens. Eine Erfolgsgarantie für die SPD ist ein Kompetenzprofil, dass soziale Gerechtigkeit mit wirtschaftlichem Sachverstand verbindet. Die Sozialdemokraten haben dabei bei dieser Wahl von einem klaren industriepolitischen Ansatz profitiert. Das Ergebnis der Linkspartei in der Lausitz zeigt, wie schnell man in dieser Frage unter die Räder kommen kann. Da die Wähler nicht genau wussten, ob die Linke nun für oder gegen die weitere Nutzung der Braunkohle war, liefen sie ihr gerade in der Lausitz in Scharen davon – mit dem Ergebnis, dass die Linkspartei dort keinen einzigen Wahlkreis mehr gewinnen konnte. Für die SPD wird es darauf ankommen, dass sie ihr Kompetenzprofil wieder schärft. Dieses hat – angesichts eines nicht fertig gestellten Flughafens und punktuellen Problemen in der Bildungspolitik und der inneren Sicherheit – ein Stück weit gelitten, was auch den Verlust von am Ende ein Prozent der Wählerstimmen erklärt. Insbesondere muss es dabei darauf ankommen, wieder an die jüngeren berufsaktiven Wähler heranzukommen, vor allem an die jüngeren Frauen. Fünftens. Mit der Wahl von 2014 hat die Brandenburger SPD ihre Erfolgsgeschichte fortgeschrieben. Am Ende der Wahlperiode wird sie das Land fast drei Jahrzehnte geprägt haben. Der
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überraschende Übergang von Matthias Platzeck auf Dietmar Woidke wird wohl als reibungslosester Amtswechsel aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Das gehört am Ende zu den Erfolgsgeheimnissen der SPD: absolute Geschlossenheit nach außen kombiniert mit Bodenhaftung und intensiver Vernetzung in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein. Gerade letzteres ist für eine Partei mit gerade mal 6.300 Mitgliedern extrem anstrengend. Der Lohn dafür ist die Scharnierfunktion im Parteiensystem und das Prädikat „Brandenburgpartei“. Und die Perspektive, den Erfolg bei der nächsten Wahl zu wiederholen.| THOMAS KRALINSKI
ist Chefredakteur der Zeitschrift Perspektive 21 und als Staatssekretär Bevollmächtigter des Landes Brandenburg beim Bund.
KLARA GEYWITZ & ARMIN HENNING | MIT STRATEGIE ZUM ZIEL
MIT STRATEGIE ZUM ZIEL Wie die SPD die Landtagswahlen 2014 gewann — Von Klara Geywitz und Armin Henning Neuaufstellung 2013. Die Bürger Brandenburgs sind seit der Gründung des Landes 1990 in Sachen Landespolitik Klarheit gewohnt. In der der jungen und wechselvollen Geschichte des neuen Brandenburgs bekleideten erst drei Männer das Amt des Ministerpräsidenten: Manfred Stolpe, Matthias Platzeck und nun Dietmar Woidke. Die Brandenburger sind damit – im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern – stabile politische Verhältnisse im Parlament und Kontinuität in der Besetzung des Amtes des Regierungschefs gewohnt. Mit dieser kollektiven Erfahrung stellt ein Wechsel in der Potsdamer Staatskanzlei stets ein besonderes Ereignis dar.
I.
Kein unbekannter Nachdem Matthias Platzeck am 26. August 2013 den Staffelwechsel als Landesvorsitzender und am 28. August 2013 im Amt des Ministerpräsidenten an Dietmar Woidke übergeben hatte, sortierte sich das politische Brandenburg neu. Woidke war keine Unbekannter: Er ist seit 1994 Abgeordneter im Brandenbur-
ger Landtag, war jahrelang Stadtverordneter in seiner Heimat Forst, erarbeitete sich schließlich als Landwirtschaftsminister, Fraktionsvorsitzender im Landtag und auch als Innenminister den Ruf eines bodenständigen, durchsetzungsfähigen, aber auch Neuem gegenüber aufgeschlossenem Politiker. Zudem sticht ein weiteres Detail seiner Biografie heraus: 1990 Jahre ging er für zwei Jahre in die Wirtschaft, zog nach Niederbayern und wurde Abteilungsleiter in der Forschungsabteilung eines Mineralfutterherstellers. Doch schon zwei Jahre später kehrte er in seine Heimat zurück und wurde Amtsleiter zuerst in Forst, dann für den Landkreis Spree-Neiße. Und dennoch: Im August 2013 war Woidke nur knapp der Hälfte der Brandenburger bekannt, etwa ein Drittel war mit seiner bisherigen Arbeit zufrieden. Im Sommer des Jahres 2013 war die politische Landschaft in Brandenburg aus Sicht der Sozialdemokraten somit recht knifflig. CDU, Linke und SPD lagen in Umfragen jeweils in Schlagdistanz. Für eine Partei, die seit Bestehen des Landes den Regierungschef stellte, war
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dies eine durchaus komplizierte Situation. Die märkische Sozialdemokratie hatte bisher noch nie auf Platz gesetzt, sondern stets auf Sieg und beanspruchte daher die politische Führung. Die Arbeit musste schnell angepackt werden, politische Führung war gefragt. Die Ernüchterung. Die berühmte 100-Tage-Schonfrist für jeden, der eine neue Funktion in Gesellschaft oder Wirtschaft ausübt, konnte für den neu gewählten Ministerpräsidenten nicht gelten – es fehlte schlicht an Zeit. Schon am 22. September 2013, keinen Monat nach der Neuformierung, standen die Bundestagswahlen an. Und die Ernüchterung war mit den Händen zu greifen: Die Märkische SPD verlor vier ihrer fünf Direktmandate, rutschte gegen den Trend auch im Zweitstimmenergebnis hinter das schlechte Abschneiden der Wahl 2009 weiter ab und konnte ihre Mandate lediglich durch die Landesliste auf die alte Stärke von fünf Mandaten wieder auffüllen. Gerade der Umstand, dass die Brandenburger SPD gegen den Trend hatte Federn lassen müssen, und auch die Tatsache, dass die zuvor rote Wahlkreiskarte Brandenburgs sich fast komplett geschwärzt hatte, knabberte am Selbstbewusstsein der bis dato erfolgsverwöhnten Landes-SPD. Doch die SPD war das Kämpfen gewohnt. Es galt, die Gründe des Ergebnisses zu analysieren, die notwendigen
II.
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Schlussfolgerungen zu ziehen und schnell wieder Tritt zu fassen. Die Reihen wurden geschlossen und man machte sich ans Werk: Wo lagen Schwachstellen? Wo ließen sich Stärken ausmachen? Welche Schritte waren nötig, um das Vertrauen der Brandenburger wieder zu gewinnen? Als Regierungspartei stand SPD den Bürgerinnen und Bürgern im Zuge der ökonomischen und sozialen Umwälzungen seit der Wende stets zur Seite. Diese Stärke musste nun genutzt werden, um mit den Bürgerinnen und Bürgern entsprechend ins Gespräch zu kommen. Die Rückmeldungen waren eindeutig: Die Polizeireform bedurfte dringend einer Korrektur, der Unterrichtsausfall an den Schulen musste verstärkt bekämpft werden. der Brandenburg-Plan Es galt aber auch, den wirtschaftlichen Erfolg des Landes stärker zu verdeutlichen, den Schuldenabbau als großen Beitrag zur Generationengerechtigkeit zu kommunizieren sowie den Zusammenhalt zwischen dem boomenden Berliner Speckgürtel sowie den ländlicheren Landeskernen zu sichern. Am 23. November 2013 ging Dietmar Woidke auf dem Landesparteitag der SPD mit dem Leitantrag „Unser Plan für Brandenburg“ mitsamt seinem sozialund bildungspolitischen Programm in die Offensive und eröffnete weit vor der
KLARA GEYWITZ & ARMIN HENNING | MIT STRATEGIE ZUM ZIEL
Konkurrenz den Kampf um die besten Ideen für das Land. Im Februar 2014 folgte dann das Regierungsprogramm („Unser Brandenburg-Plan: 50 Vorhaben, auf die Sie sich verlassen können“) mit Neupositionierungen bei der inneren Sicherheit und in industriepolitischen Fragen. ein langer Marsch Angesichts der komplizierten Lage verharrte der Ministerpräsident nicht im status quo, sondern stellte sich der Herausforderung, den langen Marsch hin zur erneuten politischen Meinungsführerschaft anzutreten. Das Programm wurde durch Dietmar Woidke folgerichtig auch in Diskussionsveranstaltungen mit Vertretern aus Vereinen, Verbänden und Initiativen einer Bewährungsprobe unterzogen. Statt die führende Regierungspartei inhaltlich vor sich her zutreiben, musste sich die Konkurrenz nun am „Brandenburg-Plan“ der SPD abarbeiten und tat dies mit zum Teil erstaunlichen Ergebnissen. Wer hätte je gedacht, dass die CDU und die Linke sich gegenseitig im Wettstreit bei Wahlversprechen überbieten wollten? Während sich die Konkurrenz beim vermeintlich symbolträchtigen Zahlenspiel gegenseitig hoch schaukelten, konzentrierte sich Dietmar Woidke darauf, mit den Menschen zu sprechen und für seine Positionen zu werben.
Tritt gefasst. Die nächste Aufgabe bestand darin, den neuen Ministerpräsidenten in die Herzen der Brandenburger zu bekommen. Wie bei jedem Nachfolger eines starken Amtsvorgängers lag hierin ein zentraler Schlüssel zum Erfolg. Zwar war Dietmar Woidke mitnichten ein Neuling. Gerade als Landwirtschaftsminister hatte er im ländlichen Raum eine sehr starke Position. Doch nun galt es, den neuen Mann in der Staatskanzlei auch als politischen Generalisten zu präsentieren, der authentisch das Land repräsentieren konnte und wusste, wie Land und Leute funktionierten. Ziel war es nicht mit langen Reden sondern in Gesprächen mit möglichst vielen Bürgern direkt Kontakt zu kommen.
III.
die Ostkurve koordiniert Zudem zahlte es sich aus, dass in der „Ostkurve“ genannten Wahlkampfzentrale im Regine-Hildebrandt-Haus ein wahlkampferfahrenes Team agierte, welches der Partei vor Ort nicht nur bei allerlei Fragen der Wahlkampfunterstützung unterstützen konnte. In der Wahlkampfzentrale wurde der medialen Auftritt, Fotoshootings, die Erstellung von thematischen oder zielgruppenspezifischen Wahlkampfmaterialien gesteuert – genauso wie der „rote Adler“, der in den sozialen Medien seine weiten Flugbahnen zog.
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SCHWERPUNKT | BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN
Als Unterstützung der Kommunal- und Europawahlen am 25. Mai 2013 wurde die Veranstaltungsreihe „Das Küchenkabinett mit Dietmar Woidke“ konzipiert. Das Ziel war den Ministerpräsidenten mit gesellschaftlich engagierten Menschen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, von Vereinen und der Wirtschaft zusammenzubringen und persönliche Begegnungen zu ermöglichen. die Popularität steigt In nicht weniger als 18 Veranstaltungen wurde mit Dietmar Woidke über Persönliches gesprochen und über politische Ziele diskutiert. Nach einem rund 75-minütigen Talk stieß immer ein prominenter Bürger aus der jeweiligen Region hinzu. Diese kamen aus den Bereichen Sport, Kultur, Wirtschaft oder Vereinen. Olympionikinnen, Sterneköche, Showmaster, Musiker, Theaterinhaber oder Vereinsvorsitzende zählten ebenso dazu wie ehemalige oder aktive Boxkämpfer. Im Anschluss daran stand der Ministerpräsident den Bürgerinnen und Bürgern zu allem, wo der Schuh drückte, Rede und Antwort. Dietmar Woidke spielte hier nicht nur seine Stärke aus – das ungezwungene Gespräch fernab des gestelzten, telegenen Redestils viele Politiker. Er konnte über sein Leben reden, Anekdoten zu seinem Werdegang, zu seiner Herkunft und der sich daraus entwickelnden politischen Ambitionen erläu-
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tern. Wer wusste vorher, dass Dietmar Woidke in der Wirtschaft seine ersten Sporen verdient hatte? In Berlins Mitte, unweit der heutigen stark frequentierten touristischen Ziele, zu wissenschaftlichen Zwecken Schafe gezüchtet hatte? Oder dass er als wohl einer der ersten Heimatrückkehrer des Landes gelten dürfte, während viele andere ihr Glück dauerhaft im Westen gesucht hatten? Das Resultat konnte sich sehen lassen: Die Veranstaltungen wurden auch aufgrund des unkonventionellen Formates weitaus besser besucht als zuvor angenommen. Im Frühjahr 2014 kannten bereits über 80 Prozent der Brandenburger ihren neuen Ministerpräsidenten, etwa 60 Prozent waren mit seiner Arbeit zufrieden. noch kein durchbruch Die Kommunal- und Europawahlergebnisse schienen die Strategie zu bestätigen: Am Wahltag hatte sich die SPD in den Kommunen stabilisiert – in acht Kreisen und kreisfreien Städten lagen die Sozialdemokraten auf Platz, in sechs die CDU, in zweien die Linkspartei. Und bei den Europawahlen wurde die SPD wieder stärkste Kraft in Brandenburg und verbesserte sich um über 4 Prozentpunkte – bei einer erfreulich angestiegenen Wahlbeteiligung. Das Resultat kam somit zwar noch keinem Durchbruch für die märkische SPD gleich – aber sie meldete sich mit einem ordentlichen Ergebnis zurück.
KLARA GEYWITZ & ARMIN HENNING | MIT STRATEGIE ZUM ZIEL
Die Bewährungsprobe. Aus den Umfragen des Sommers wurde deutlich, dass Dietmar Woidkes Popularitätswerte stark angezogen waren. Ferner lag die SPD stabil vor der CDU und deutlich vor den Linken. Den Brandenburgern musste nun vermittelt werden, dass es mit dem Land zwar aufwärts ging, dies jedoch noch weitere Anstrengungen erfordern würde. Es galt daher, über direkte Kommunikation mittels der SPD-Zeitung Der Brandenburger, Radio- und Fernsehspots, neuen Veranstaltungsformate und Plakaten genau dies zu verdeutlichen. Politische Stabilität, soziale Gerechtigkeit, eine Regierungsarbeit für solide Finanzen und für mehr und vor allem bessere Jobs sollten als Markenkern sozialdemokratischer Politik für Brandenburg herausgestellt werden. Für die Sommerferien hatte sich die SPD erneut etwas Besonderes vorgenommen, was in dieser Form noch keine Partei in einem Wahlkampf versucht hat: „Strohballenfeste“ mit dem Ministerpräsidenten. Dietmar Woidke zog über die Dörfer, diskutierte bei Bratwurst und Live-Musik 14 mal mit den Gästen des Strohballenfestes und ehrte aus ihrer Mitte diejenigen, die sich um das Gemeinwohl in den letzten Jahren besonders verdient machten. Gezielt wurden Orte gewählt, in denen eine starke Dorfgemeinschaft existierte, bisweilen jedoch noch nie eine
IV.
Parteiveranstaltung sattgefunden hatte, zum Beispiel in Wittbrietzen (PotsdamMittelmark), Pretschen (Dahme-Spreewald), Paaren im Glien (Havelland) oder Altranft (Märkisch-Oderland). Die Menschen vor Ort waren eingeladen, sich einzubringen und am Gelingen der Festivität mitzuwirken. Das Rahmenprogramm wurde folgerichtig gemeinsam unter Vermittlung der örtlichen SPDKandidaten mit den Heimat-, Sport- und Böllerschützenvereinen, mit Landfleischereien und Gastwirten, mit Feuerwehren und Traktorenfreunden, mit dem regionalen Netzwerk Gesunde Kinder und vielen weiteren Akteuren der Zivilgesellschaft ausgestaltet. Ganze Familien, Nachbarn, Gewerbetreibende nutzten die Möglichkeit, ihre Anliegen in einem zwanglosen Rahmen zu erörtern. Zwischen 150 und 600 Menschen kamen, diskutierten oder genossen einfach das Kulturprogramm. Hochburgen auf dem flachen Land Hier kristallisierte sich heraus, dass die Brandenburger SPD – zur Verblüffung der Konkurrenz und mancher Medienvertreter –ihre Hochburgen auf dem „flachen Land“ hatte. Eine ähnliche sozialdemokratische Vernetzung in dörfliche Strukturen findet sich in anderen Flächenländern kaum. Mit dem Ende der Sommerferien wurde die heiße Wahlkampfphase eingeläu-
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SCHWERPUNKT | BRANDENBURG IN GUTEN HÄNDEN
tet. Das mit gut 3.500 Besuchern bisher bestbesuchte gemeinsame Sommerfest von Landtagsfraktion und Landespartei konnte als Höhepunkt der Veranstaltungen betrachtet werden. Hier sammelten nicht nur die SPD-Mitglieder die Kraft für den anstehenden Schlussspurt des Wahlkampfes. Es kamen auch hunderte Bürger als Gäste aus allen Bereichen der Brandenburger Gesellschaft. Zahlreiche Prominente aus Wirtschaft und Kultur erweiterten den Kreis der Teilnehmer. Das Sommerfest der Brandenburger SPD ist damit mit weitem Abstand die größte politische Veranstaltung Brandenburgs (und darüber hinaus). abkehr von alten Formaten Das zentrale Format der heißen Wahlkampfphase hieß „Woidke direkt – Brandenburg in guten Händen“. Ziel dieser Veranstaltungsreihe war es, mit den Brandenburgern über den „Brandenburg-Plan“ zu diskutieren und zu vermitteln, wie aus Sicht der märkischen SPD das Land weiter seinen Weg erfolgreich gehen kann. In einem Fernsehstudio ähnlichem Ambiente stand Dietmar Woidke zu vier Themenblöcken, die durch kurze Filmeinspieler eingeleitet wurden, Rede und Antwort. Mit Hilfe dieser vier 40-Sekunden-Einspieler wurden die Themen jeweils eingeleitet, dem Publikum die entsprechenden Fakten vermittelt und durch Grafiken als Grund-
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lage der sich anschließenden Diskussion veranschaulicht. Die Fragen der Moderatorin wurden im letzten Drittel der Veranstaltung durch weitere Fragen aus dem Publikum ergänzt. Mit diesem Veranstaltungsformat ging gleichzeitig eine Abkehr von traditionellen Kundgebungen einher. Die in vorhergehenden Kampagnen bewährten Veranstaltungsformate mussten vor dem Hintergrund sich verändernden Informationsverhalten der Bürger überdacht werden. Neben den „Woidke-direkt“Veranstaltungen zog die Brandenburger SPD in Schwedt, Cottbus und Potsdam über die jeweiligen Marktplätze – mit einem großen Schirm, der bereits im Bundestagswahl 2013 zum Einsatz gekommen war. Gemäß dem Motto „Mit dem Gesicht zu den Menschen“ stellte sich Dietmar Woidke dem Publikum. Doch statt einer langen Rede stand auch hier das Gespräch mit einer Moderatorin auf der Bühne, mit den Vertretern von Aktionsbündnissen und Bürgern im Mittelpunkt. Ein Ausblick. Dietmar Woidke hat die Landtagswahl überzeugend gewonnen. Der Weg dahin war hart, aber auch aufschlussreich. In den Koalitionsvertrag sind nicht nur die Wahlaussagen der beiden Regierungsparteien eingeflossen, sondern auch die Rückmeldungen der Wählerinnen und Wähler aus dem Wahlkampf. Kritik
V.
KLARA GEYWITZ & ARMIN HENNING | MIT STRATEGIE ZUM ZIEL
wurde seitens des Ministerpräsidenten ernst genommen, nicht beiseite gewischt. Erfolge konnten benannt, notwendige weitere Reformen diskutiert werden. Die Stärke der märkischen SPD besteht nicht nur im Bestreiten von Kampagnen – die Stärke zeigt sich insbesondere auch darin, beim konkreten Regierungshandeln mit den Menschen dieses Landes im Austausch zu bleiben, Impulse aufzunehmen, auch einzelne Projekte standhaft zum Wohle des Landes zu verteidigen oder eben auch sich den sich stetig verändernden Rahmenbedingungen nicht zu verschließen. Nur so ist es möglich, Vertrauen langfristig zu gewinnen und auf diesem Fundament ein Land erfolgreich zu regieren. die Professionalisierung trägt Früchte Und das Resultat kann sich nicht nur insgesamt sondern auch im Detail sehen lassen: Die Brandenburger SPD konnte zehn Wahlkreise zurückerobern. Aber es bleibt auch noch Luft nach oben. Der hohe Grad der Professionalisierung in der „Ostkurve“ trug bereits Früchte. Dies spiegelte sich nicht nur beim gelungenen Werbeauftritt wider, sondern auch bei der Intensität der Walkreisbetreuung. Weitere Schritte zur Optimierung ist der weitere Verzicht auf Agenturleistungen – ähnlich wie im Veranstaltungsbereich. Statt sich durch teure Rahmenverträge an Dienstleister zu binden,
steht hier das gezielte Einkaufen von Know-How im Vordergrund, sei es in Gestalt von zusätzlichem Personal oder verstärkter Ausschreibung einzelner Dienstleistungen. Punktuelles Insourcing macht den Wahlkampfapparat nicht nur schlauer, es kann sogar erheblich Geld sparen. noch arbeit in den Städten Auch strategische Ziele müssen verstärkt ins Auge gefasst werden. Die Brandenburger SPD ist – zum Neid anderer SPDLandesverbände – auf dem Land, in den Dörfern und Mittelzentren stark. Nun muss die SPD auch in den Städten wieder zu alter Größe kommen. Ebenso wichtig ist die Entwicklung einer stringenten Strategie, wie die Sozialdemokratie mit dem wachsenden Berliner Umland umgehen möchte. Wesensmerkmal einer Brandenburg-Partei wie der SPD ist es, die Menschen mitzunehmen – von der Prignitz und der Uckermark bis nach Hennigsdorf, von Elbe-Elster bis nach Teltow.| KLARA GEYWITZ
ist Generalsekretärin der Brandenburger SPD. ARMIN HENNING
ist Geschäftsführer der SPD im Brandenburger Landtag.
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GERO NEUGEBAUER | KONTINUITÄT UND WANDEL
KONTINUITÄT UND WANDEL Das Parteiensystem in Ostdeutschland nach den Landtagswahlen des Herbstes 2014 — Von Gero Neugebauer
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ie drei ostdeutschen Landtagswahlen dieses Jahres haben gezeigt, dass die Grundstrukturen des Parteiensystems und des Parteienwettbewerbs in den ostdeutschen Ländern mit denen des gesamtdeutschen Systems weitgehend identisch sind, soweit es die Akteure betrifft. Anders sieht es bereits hinsichtlich der im Parteiensystem bestehenden Machtverhältnisse aus – und bezogen auf die Qualität der Beziehungen zwischen den Parteien bietet sich deshalb ein anderes Bild, weil die Parteien mit im westdeutschen Teilsystem bislang undenkbaren Koalitionen aufwarten. Dass Wahlen hinsichtlich ihres Ausgangs unsicher sein und mit Überraschungen enden können und Machtverhältnisse nicht zugleich über die Zuweisung von Regierungsmacht entscheiden, ist wiederum keine ostdeutsche Besonderheit. So haben beispielsweise die SPD und die Alternative Liste 1989 in Berlin eine Regierung gegen die bei der Wahl siegreiche CDU gebildet. Die Grundstruktur des ostdeutschen Flügels im gesamtdeutschen Parteien-
system bildete sich in der Volkskammerwahl im März 1990 heraus, als 23 Parteien und politische Vereinigungen zur Wahl antraten, von denen zwölf Mandate erhielten. Die wichtigsten Einzelakteure waren bereits damals die CDU, die SPD und die PDS, während sich die Liberalen sowie die Repräsentanten anderer Wahlbündnisse als Minderheiten wiederfanden. In den im Oktober 1990 folgenden Landtagswahlen konstituierte sich – mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern1 – dieses FünfParteien-System aus CDU, SPD, PDS, Bündnisgrünen und FDP auch in den Ländern; die Landesverbände von CDU, SPD und FDP waren inzwischen Verbände gesamtdeutscher Parteiorganisationen geworden.2 Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl im Dezember 1990 stabilisierte diese Struktur, wenngleich Bündnis 90 und die PDS nur dank einer Teilung des Wahlgebiets auch gesamtdeutsch agieren konnten. 1
Bündnis 90 und Grüne gelangten zwischen 1990 und 2011 nicht in den Landtag.
2 Bündnis 90 fusionierte 1993 mit den Grünen, die PDS 2007 mit der westdeutschen Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit zur Partei Die Linke.
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Weiterhin waren jedoch der Parteienwettbewerb in den ostdeutschen Ländern durch die schwachen Startbedingungen von SPD und Bündnis 90 und deren teilweise mangelhafte gesellschaftliche Verankerung einerseits sowie durch die Vorteile von CDU, Liberalen und PDS gekennzeichnet, die noch auf Reste vorhandener gesellschaftlicher Verankerungen wie auf alte formale und informelle Organisationsstrukturen bauen konnten.3 Stammplätze nur für drei Bei den seit 1994 folgenden ostdeutschen Landtagswahlen konnten sich nur CDU, SPD und PDS Stammplätze sichern; in Berlin gelang das auch den Grünen. FDP wie Bündnisgrüne gingen als Parlamentspartei gelegentlich verloren und mussten oft lange warten, bevor sie wieder in Landesparlamente einziehen konnten. Zwischenzeitliche Neuzugänge, es waren alles „Westimporte“ und keine Eigengewächse, blieben bislang auf Dauer ohne Erfolg. Die DVU (1998 in Sachsen-Anhalt, 1999 und 2004 in Brandenburg) zerlegte sich selbst, die NPD (2004 und 2009 in Sachsen, 2006 und 2011 in MecklenburgVorpommern) behauptete sich bislang 3 Vgl. zur Entwicklung der ostdeutschen Parteienlandschaft die jeweiligen Länderbeiträge in Uwe Jun/ Melanie Haas/ Oskar Niedermayer (Hg.), Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008.
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nur für zwei Wahlperioden und ob die AfD, die 2014 erstmalig in drei Landtage einzog, eine Innovation für das ostdeutsche Parteiensystem darstellt, bleibt abzuwarten. Ihr Image als eurokritischer Partei hat weniger zu ihren Erfolgen verholfen als ihre Verknüpfung mit innenpolitischen Problemen wie Migrationspolitik und Kriminalitätsbekämpfung; das eine ist ein im rechten Spektrum negativ besetztes Thema, das andere war bislang eher eins der CDU. Da müssen sich etliche Wähler nicht mehr vertreten gefühlt haben, um der AfD diese Erfolge zu verschaffen. Neuzugänge von links gab es nur in Berlin, als dort 2011 die Piraten in das Abgeordnetenhaus einzogen. Zeitweilig waren es nicht bloß drei oder vier, sondern fünf oder gar sechs Parteien, die die Größe des ostdeutschen Parteiensystems auf Parlamentsebene bestimmten und nur selten gelangten welche aus seinem Unterleib in die politisch relevante parlamentarische Sphäre. In Brandenburg und Thüringen traten 2014 elf Parteien mit Parteilisten an, in Sachsen zehn. In Brandenburg waren sechs, in den beiden anderen Ländern jeweils fünf Parteien erfolgreich. Freie Wähler waren nur 2014 in Brandenburg erfolgreich (3 Mandate). Betrachtet man die Größenverhältnisse im ostdeutschen Parteiensystem aus der nationalen Perspektive heraus, dann sind dort CDU, SPD und – anders als im „Wahlgebiet West“ – die Links-
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partei die herausragenden Akteure, während Bündnis 90/Grüne und FDP unter den demokratischen Parteien die Nachhut bilden. Die Ergebnisse im Wahlgebiet Ost zeigen, dass die seit 2009 bei Bundestagswahlen dominierende CDU sich auch 2013 behauptet hat. 2005 lag noch die SPD mit 30,4 Prozent vor der CDU (25,3 Prozent) und der PDS/ Linkspartei (23,5 Prozent). 2009 setzte sich die CDU mit 29,8 Prozent knapp vor der Linkspartei (28,5 Prozent) und der SPD (17,9 Prozent) an die erste Stelle, die sie 2013 deutlich ausbauen konnte (CDU: 38,5 Prozent, Linke 22,7 Prozent, SPD 17,9 Prozent). Allerdings schob sich 2013 die AfD mit einem Anteil von 5,9 Prozent vor Bündnis 90/Grüne (5,1 Prozent) und FDP (2,7 Prozent). Das zeigt, dass in den ostdeutschen Ländern eine Bundestagswahl nur sehr schwer gewonnen, aber leicht verloren werden kann.4 FdP hat sich wieder verabschiedet In den einzelnen ostdeutschen Ländern sieht die nach dem Kriterium Wahlergebnis bei Landtagswahlen gebildete Rangfolge der Parteien anders aus. Hier hat die FDP die schlechteste Bilanz aller demokratischen Parteien. Nachdem sie sich 1994 aus den Landesparlamenten 4 Am Beispiel der SPD hat das Thomas Kralinski, Die vergessene Mitte, in: perspektive 21, Nr.1/2014, S. 55-61 dargestellt. Die FDP „errang“ 2013 im Wahlgebiet West 5,2 Prozent, B90/Grüne 9,2 Prozent und die AfD 4,7 Prozent.
verabschiedet hatte, musste sie bis zur Wahl in Sachsen-Anhalt 2002 warten, bevor sie dort wieder Mandate errang. Länger dauerte es für sie in Sachsen (2004), in Mecklenburg-Vorpommern (2006) sowie in Thüringen und in Brandenburg (2009). etablierte grüne Doch dem kurzen Aufschwung folgte ein erneuter Abgang, denn seit 2011 ist sie bei allen ostdeutschen Wahlen ohne Erfolge geblieben. Die Verluste von teilweise über fünf Prozent und mehr legen den Schluss nahe, dass sie keine akzeptierte Leistungsbilanz vorlegen konnte. Wenn sie nicht über eine ausreichende soziale Basis verfügt und daher keine relevanten gesellschaftlichen Interessen repräsentiert, geschweige denn Politikangebote oder Persönlichkeiten hat, die in zu Personality-Show geratenen Landtagswahlkampagnen mobilisierend wirken, verschwindet das Interesse an ihr. Deshalb kann von ihr kaum als einer Partei gesprochen werden, die trotz gelegentlicher Teilnahme an der Regierungsmacht im ostdeutschen Parteiensystem etabliert ist. Das bedeutet allerdings nicht, wie es ihre bisherige Karriere gezeigt hat, dass ihr Überleben bezweifelt werden muss. Eine ebenfalls eher marginale Rolle spielten lange Zeit auch die Bündnisgrünen. Zwar haben sie sich in Berlin
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seit 1990 gehalten; in anderen Ländern blieben sie jedoch für mehrere Wahlperioden – allein drei jeweils in Brandenburg (1994, 1999 und 2004), in Thüringen (1994, 1999 und 2004) und in SachsenAnhalt (1998, 2002 und 2006) sowie zwei in Sachsen (1994 und 1999) außen vor. In Mecklenburg-Vorpommern schafften sie es überhaupt erst 2011 in den Landtag. Das zeugt von einer anerkennenswerten Zähigkeit und Überlebensfähigkeit der Organisation, die lange gebraucht hat, bis sie von einer ausreichenden Zahl Wähler akzeptiert wurde. größter Verlierer ist die Cdu Seit 2011 sind die Bündnisgrünen in allen ostdeutschen Landesparlamenten vertreten, wenngleich ihre letzten Wahlergebnisse zum Teil unter denen vorangegangener Wahlen liegen. Die gegenwärtige Situation veranlasst nun manche Grüne darüber nachzudenken, wie sie (wieder) in eine Regierung kommen könnten, jedoch nicht wie in der Vergangenheit (Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Berlin) ausschließlich mit der SPD, sondern auch mit der CDU. Sachsen hat gezeigt, dass es dafür noch keine Mehrheit gibt und Thüringen, dass die Grünen nicht als Ersatzrad fungieren wollen. Politisch ist die CDU als der größte Verlierer der letzten drei Landtagswahlen zu bewerten. Zwar konnte sie 2014 in Brandenburg und Thüringen
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Stimmengewinne erzielen. Aber in Erfurt ist es ihr nicht gelungen, ihre seit 1990 unangefochtene Position als stärkste Kraft in Regierungsmacht umzusetzen. Und in Brandenburg hat sie trotz eines guten Wahlergebnisses und mancher thematischer Gemeinsamkeiten mit der SPD von dieser aus eigenem Verschulden heraus kein Koalitionsangebot erhalten. Die Folgen ähneln sich in beiden Länderparteiorganisationen: die innerparteiliche Situation wird durch Personalprobleme und Ankündigungen von Konsolidierungsbemühungen geprägt. In Sachsen, ein Stammland der CDU seit 1990 (bestes Ergebnis 1994: 58,1 Prozent, 2014: 39,0 Prozent), verlor sie nicht nur Stimmen, sondern auch ihren Koalitionspartner. Dort konnte sie jedoch ihre Position als führende Kraft behaupten – und die SPD als Koalitionspartner gewinnen. Die auf Kosten der CDU errungenen Gewinne der AfD zeugen zudem, dass die Union einen Teil ihrer bisherigen Fähigkeit zur Integration rechtskonservativer und populistischer Kreise eingebüßt hat. nur noch fünf Ministerpräsidenten Ein mittelbares Ergebnis dieser Wahlen ist die Schwächung der CDU im Bund: Nach dem Verlust des Posten des Ministerpräsidenten in Thüringen verfügt sie – mit der CSU – auf der nationalen Ebene nur noch über fünf Ministerpräsidenten,
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die SPD hat allein drei in den ostdeutschen Ländern. Das erklärt die Vorwürfe von Seiten der CDU in Bezug auf die Koalitionsabsicht der SPD mit der Linkspartei und den Grünen in Thüringen besser als der Rückgriff auf Altlasten von ideologischen Müllkippen. SPd nur dreimal stärkste Kraft Die SPD kann sich zwar freuen, nach den drei Wahlen 2014 nun in allen ostdeutschen Landesregierungen vertreten zu sein, darunter in dreien als führende Partei. Darüber sollte sie nicht vergessen, dass sie – außer in MecklenburgVorpommern und in Sachsen – in Brandenburg und vor allem in Thüringen gegenüber den vorangegangenen Wahlen zum Teil gravierende Verluste hinnehmen musste. In Sachsen (bestes Ergebnis 1990: 19,1 Prozent, 2014: 12,4 Prozent) wie in Thüringen (bestes Ergebnis 1994: 29,6 Prozent, 2014: 12,4 Prozent) befindet sich die SPD schon lange in einer relativ schwachen Position. Die ist im Wesentlichen auf innerparteiliche Probleme wie Kontroversen um und zwischen Personen (Kontinuität, Fraktion versus Partei, Ost-West-Konflikte) sowie auf solche der Parteipolitik (Koalitionsfrage) zurückzuführen und Besserung zeichnet sich nur in Sachsen ab. Das schlechte Ergebnis in Thüringen ist in erster Linie auf die mangelhafte Wahlstrategie zurückzuführen. Denn
wenn der Wähler nicht weiß, was er erhalten würde, sollte er SPD wählen, entscheidet er sich leicht dazu, entweder der Wahl fern zu bleiben oder eine andere Partei zu wählen. In beiden Ländern könnte die SPD ihre politische Präsenz dadurch stärken, dass sie sich darüber Klarheit verschafft, welche Teile der Gesellschaft sie repräsentiert und wie sie durch eine an sozialdemokratischen Werten orientierte politische Arbeit ihr Profil schärft. Welche rolle hat die Linke? Die Linkspartei ist in einer ambivalenten Situation. 2011 war es ihr in SachsenAnhalt trotz eines Vorlaufs – sie tolerierte von 1994 bis 2002 eine Koalition aus SPD und Bündnisgrünen bzw. eine Minderheitsregierung der SPD – nicht gelungen, die SPD für eine Koalition unter ihrer Führung gewinnen. Zudem wechselte die SPD in Berlin sie 2011 als Koalitionspartnerin aus und zeigte sich damals auch in Mecklenburg-Vorpommern nicht bereit, ihr diese Position anzubieten. Das war für die Linkspartei bitter, denn sie hatte wohl gehofft, dass alte Vorbehalte gegen die PDS – 1994: Koalitionsverbot in der Dresdner Erklärung (Rudolf Scharping) und Verdikt von Johannes Rau gegen eine Koalition in Schwerin – nun endlich nicht mehr wirken würden und stattdessen neuere Entwicklungen – nach 1998 Koalitionen
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zwischen SPD und PDS in MecklenburgVorpommern und Berlin sowie ab 2009 in Brandenburg, zudem 2009 Verlust der Regierungsmacht für die SPD im Bund – die SPD für eine Koalition in einem ostdeutschen Bundesland unter ihrer Führung geneigter machen würden. neue Koalitionsstrategie Dann verlor sie 2014 Stimmen in Sachsen und – noch stärker – in Brandenburg, gewann jedoch leicht in Thüringen dazu. Im Schnitt überwogen die Verluste bei weitem die Gewinne. Sie sah sich zudem der Bedrängnis durch die AfD ausgesetzt, die ihr Protestwähler abspenstig machte. Allerdings wird die Wahrnehmung der Linkspartei in der Öffentlichkeit durch die Chance der Partei bestimmt, in Thüringen eine Koalition mit der SPD und den Bündnisgrünen zu bilden und den Posten des Ministerpräsidenten zu besetzen. Da wäre sie als Regierungspartei gezwungen deutlich zu machen, wie sie ihre programmatischen Vorstellungen von Politik realisieren will, ohne ihre Koalitionspartner zu düpieren und zugleich erkennen zu lassen, worin sich ihre Politik von sozialdemokratischer und grüner Politik unterscheidet. Das Beispiel Thüringens – und insgesamt die bisherigen Koalitionen zwischen SPD und Linkspartei – verweisen auf den eingangs erwähnten Unterschied zur Beziehungsszene in den westdeutschen
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Ländern hin. Zwar ist die SPD im Bund wie in den Ländern schon häufiger Juniorpartnerin in einer Koalition gewesen, aber bisher erst ein Mal in einer Konstellation, in der sie hinter einer im Gesamtsystem kleineren Partei rangiert; das ist in der grün-roten Koalition in Stuttgart der Fall. Die neue Koalition in Thüringen erregt deshalb eine besondere Aufmerksamkeit, weil dort die SPD hinter der Linkspartei rangiert. Angesichts der Größenverhältnisse ist das banal, angesichts der Machtverhältnisse tendenziell für die SPD riskant, wenn sie sich keine sozialdemokratische Identität verschafft, und hinsichtlich der Koalitionsfähigkeit vor dem Hintergrund bisheriger Koalitionsstrategien beinahe avantgardistisch zu nennen. ein Scharnier in der Mitte Bislang hat in den ostdeutschen Ländern die CDU häufiger allein regiert als die SPD, die bis auf eine Wahlperiode in Brandenburg (1994-1999) immer auf mindestens einen Koalitionspartner angewiesen war. Für Überraschungen war sie jedoch immer wieder gut. So führte sie erstmalig eine Ampelkoalition an (Brandenburg 1990-1994) oder ließ sich bzw. eine von ihr geführte Minderheitsregierung (Sachsen-Anhalt 1994-2002) von der PDS tolerieren. Die ostdeutsche SPD hat gezeigt, dass sie als einzige Partei mit allen demokrati-
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schen Parteien koalitionsfähig ist; die Bündnisgrünen sind dazu tendenziell ebenfalls fähig. Sie kann sich wie ein Scharnier nach rechts wie nach links öffnen. Negativ formuliert: Sie kann sich auch zwischen alle Stühlen setzen, wenn sie als kleinere Partei nicht im Vorfeld einer Wahl Koalitionsoptionen äußert. In von der CDU geführten Koalitionen hat sie nach eigenem Bekunden eher schlecht als recht abgeschnitten. Inwieweit sich ihre Position als Juniorpartnerin in einer von der Linkspartei geführten Koalition auf ihre Wettbewerbssituation auswirken wird, können erst Verlauf und Abschluss der Legislaturperiode zeigen. War die CDU nicht alleinige Regierungspartei, holte sie sich entweder die FDP oder die SPD als Juniorpartner ins Boot; manchmal schlüpfte sie selbst in dieser Rolle (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern). Koalitionen mit der Linkspartei waren und sind für sie ein Tabu, mit den Grünen dagegen theoretisch nicht. Wenn die SPD auf Koalitionsangebote seitens der CDU hofft, dann gerät sie in ein Dilemma, wenn sich für die CDU mehr Optionen bieten – und sie beispielsweise durch die AfD ersetzt werden kann. Dem könnte sie dadurch entgegen wirken, dass sie von der CDU fordert, ihre Haltung zur AfD zu klären; schließlich hat die CDU lange Zeit die SPD mit der Forderung nach Klärung ihres Verhältnisses mit der PDS bzw.
Linkspartei konfrontiert. Allerdings vergrößern sich die Optionsmöglichkeiten für die CDU nur dann, wenn die AfD aufgrund ihrer inneren Entwicklung und ihrer parlamentarische Arbeit als rechtskonservative Partei durch die Wähler akzeptiert und bei den nächsten Wahlen bestätigt wird. Ohne die SPd geht nichts Während die AfD nur eine Koalitionsoption hat, hat die Linkspartei wenigsten deren zwei: mit der SPD und den Bündnisgrünen, wobei ein Bündnis zwischen Linkspartei und Grünen wohl nur ein akademisches Problem ist. Ohne die SPD geht nichts, und das stellt für die Linkspartei bereits deshalb ein Problem dar, weil sie politisch auf die SPD fixiert und bemüht ist, von der SPD frei gemachte politische Felder und Räume mit eigenen Konzepten zu besetzen. Ob sie die dazu notwendige organisatorische und programmatische Stärke hat, in bisherigen Koalitionen musste sie in Wahlen nach der Legislaturperiode in der Regel Verluste hinnehmen, muss sie erst noch beweisen. „Jeder kann mit jedem“ wird dennoch nicht nur im ostdeutschen Parteiensystem noch lange als eine utopische Perspektive gelten. Die drei Landtagswahlen 2014 haben den Umfang und die Größe des ostdeutschen Parteiensystems sowie die Beziehungen selbst wenig verändert: Die bis-
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herigen Hauptakteure dominieren weiterhin und Auswechslungen haben lediglich unter den kleineren Parteien stattgefunden. Bisherige Koalitionspartner sind verschwunden und die Bündnisgrünen erhalten eine Chance, aber neue (Freie Wähler) wurden nicht gebraucht oder (AfD) als untauglich befunden. ein Sprung im Parteiensystem Die Machtverhältnisse haben sich in relativ geringem Umfang verändert: Die CDU hat einen Ministerpräsidenten verloren und die SPD den Zugang zu einer weiteren Landesregierung gewonnen. Neu hingegen ist die Position der SPD als Juniorpartner in einer Koalition unter Führung der Linkspartei. Mit dieser Dreier-Koalition wird ein bislang unerprobtes Koalitionsmodell etabliert. Selbst wenn es funktioniert, bedeutet das keine automatische Wiederholung beispielsweise 2016 in Sachsen-Anhalt. Und obwohl die Wahlergebnisse die Größenverhältnisse zwischen CDU, SPD und Linkspartei zahlenmäßig zugunsten der CDU verändert haben und, nimmt man die Zahlen für die AfD hinzu, dadurch eine arithmetisch Schwächung des linken Lagers verbunden ist, hat die CDU keinen Profit daraus ziehen können. Noch orientieren sich die Bündnisgrünen mehrheitlich nicht an der CDU und ein Bündnis mit der AfD lehnte diese – noch – ab.
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In den Machtverhältnissen zeigt sich eine Konstante: Der CDU gelingt es trotz gewisser Anfangserfolge in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts im Norden nicht mehr, ihre früheren Führungspositionen in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zurück zu gewinnen. Das gelang ihr nur 2002 wieder in Sachsen-Anhalt. Am Ende des Jahres 2014 sind drei Sozialdemokraten, zwei Christdemokraten und ein Politiker der Linkspartei Ministerpräsidenten ostdeutscher Landesregierungen. Ein linker Ministerpräsident ist ein Qualitätssprung im ostdeutschen System, in der bis zum heutigen Tag – neben der bislang einzigen Ampelkoalition 1990 in Brandenburg; im Saarland wurde 2009 eine „Jamaika-Koalition“ gebildet – lediglich von der SPD geführte Koalitionen mit der Linkspartei die Differenz zum westdeutschen Teilsystem verdeutlicht haben. Diese Situation war und ist auch deshalb möglich, weil die Linkspartei unter den drei Hauptakteuren im ostdeutschen Parteisystem keineswegs der kleinste Wettbewerber ist. SPd muß bangen Zwar war sie selten stärker und öfter schwächer als die CDU, die den Gegenpol zur Linkspartei im ostdeutschen Parteiensystem darstellt. Aber sie hat die SPD im Wettbewerb in den „Mitte-SüdLändern“ häufig auf dem dritten Platz
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landen lassen5. Doch die Resultate der Wahlen 2014 signalisieren eine Stagnation ihrer Entwicklung, weshalb sie trotz des Gewinns eines Ministerpräsidenten um ihre Zukunft als Partei links neben der SPD bangen muss, wenn es ihr nicht gelingt, für ihr politisches Programm dauerhaft Unterstützung durch die Wähler zu finden. Linke Mehrheiten fast überall Das gilt auch für die SPD, die sich angesichts insgesamt sinkender Wahlresultate und der tendenziellen Reduzierung ihrer Koalitionsoptionen Gedanken darüber machen muss, wie sie ihre Position stärken kann, ohne auf die CDU als Koalitionspartner angewiesen zu sein. Insofern bietet die Koalition in Thüringen für Linkspartei, SPD und Bündnisgrüne auf absehbare Zeit die – trotz mancher interessenoptimierter Widerrede – allein im ostdeutschen Parteiensystem vorhandene Möglichkeit, einerseits Gemeinsamkeiten, Differenzen und Alleinstellungsmerkmale zwischen den Akteuren deutlich zu machen und andererseits zu erproben, ob das virtuell und in der Wahrnehmung der Wähler vorhandene, wenn auch in der Politik nicht immer sichtbare Bild zweier politischer Lager deutlicher dargestellt und
als Alternative zu einem rechten Lager angeboten werden kann. Denn schon jetzt ist der Osten mehrheitlich rot. Die Verhältnisse zwischen links (SPD, Bündnis 90/Grüne und Linkspartei) und rechts (CDU, AfD) sind eindeutig. Außer in Sachsen sind in den Länderparlamenten teilweise deutliche linke Mehrheiten vorhanden. Würden diese politisch effektiviert werden, und das setzt neben einer Mehrheit der Mandate wesentliche Gemeinsamkeiten in wichtigen Politikfeldern voraus, könnte der alte Spruch: „Ex oriente lux“ (Aus dem Osten kommt das Licht) hinfort bedeuten: CDU, FDP und auch die AfD sehen für die Zukunft eher schwarz, SPD, Linkspartei und Bündnisgrüne jedoch eher rot. Bis dahin jedoch muss mehr geschehen als eine Koalition in Thüringen erfolgreich zu absolvieren.| DR. GERO NEUGEBAUER
ist Politikwissenschaftler am Otto-StammerZentrum für Empirische Politische Soziologie Berlin.
5 Es hat nicht viel gefehlt, dass 2014 in Thüringen die AfD (11 Mandate) vor der SPD (12 Mandate) gelandet wäre.
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THOMAS FALKNER | EINBRUCH UND AUFBRUCH
EINBRUCH UND AUFBRUCH Warum die Linke bei der Landtagswahl 2014 abstürzte — Von Thomas Falkner
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ie brandenburgische Linke war voller Zuversicht und Selbstvertrauen in den Landtagswahlkampf 2014 gezogen. 25 Prozent der Stimmen plus X wollte man erreichen – so das arithmetische Ziel. Politisch sollte damit bewiesen werden, dass es keine Gesetzmäßigkeit gibt, wonach die Partei links von der SPD zwangsläufig drastisch an Zustimmung verliert, wenn sie in eine Regierung eintritt. Erreicht wurden diese Ziele nicht. Die Linke verlor im Vergleich zur vorangegangenen Landtagswahl 8,8 Prozentpunkte und fiel (bezieht man die Vorgängerpartei PDS mit ein) auf ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit 1990 zurück. Die Zahl der gewonnenen Wahlkreise sank von 21 im Jahr 2009 auf nur noch vier im Jahr 2014. Alles in allem schnitt die brandenburgische Linkspartei damit etwas schlechter als die PDS in Mecklenburg-Vorpommern nach der ersten Legislaturperiode von RotRot dort (minus 8 Prozent) und etwas besser als die PDS in Berlin zum vergleichbaren Zeitpunkt (minus 9,2 Prozent) ab.
Blickt man auf die absoluten Zahlen, nimmt sich die Bilanz noch dramatischer aus. Der Linkspartei gingen im Vergleich zu 2009 knapp 194.000 Wählerinnen und Wähler von der Stange – das ist über die Hälfte jener, die sich noch vor fünf Jahren für die Linke entschieden hatten. Vergleicht man das mit der deutlich gesunkenen allgemeinen Wahlbeteiligung, so stellt sich heraus, dass im Landesdurchschnitt nur jeder dritte Wahlberechtigte zu Hause geblieben war. Das schlechte Abschneiden der Linkspartei ist also auch mit verantwortlich für die geringe Wahlbeteiligung. Auch das gehört zur Wahrheit. Stabile unterstützung Der Einbruch der brandenburgischen Linken war nicht zwingend vorauszusehen. In Brandenburg hatte Rot-Rot erstmals konjunkturellen Rückenwind. Die Lage in der eigenen Bundespartei hatte sich stabilisiert; von deren Spitze kam zunehmende Unterstützung für die Regierungsbeteiligung der brandenburgischen Linken generell und für wich-
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tige, teils umstrittene Regierungsentscheidungen im Detail. Der Landesverband hatte Anfang 2014 eine Umfrage in Auftrag gegeben, die die Linkspartei in der Sonntagsfrage bei 25 Prozent sah. Mehr als drei Viertel der Links-Wählerinnen und -Wähler von 2009 hatten die Absicht bekundet, ihrer Partei auch in diesem Jahr die Treue zu halten. 90 Prozent der Linken-Anhänger waren zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Partei zufrieden oder sehr zufrieden – dieser Wert war in der Regierungszeit sogar angestiegen. Partei der kleinen Leute? Doch nicht nur das. Aus der Sicht jener Umfrage zeigte sich die Partei als gesellschaftlich tief verwurzelt. 86 Prozent der Befragten bejahten die Aussage, die Linke „gehört zu Brandenburg” – übrigens auch 79 Prozent der CDU-Anhängerschaft. Fast alle positiv besetzten Images wurden von einer mal mehr, mal weniger großen Mehrheit der Bevölkerung geteilt. Als Partei, die einfach zu Brandenburg gehört, spaltete die Linkspartei auch nicht mehr die Gesellschaft – wie man angesichts der veröffentlichten Meinung und immer wiederkehrender Erregungswellen in der virtuellen Welt vermuten mochte. Nur noch ein Fünftel der Befragten (allerdings mehr als ein Drittel der CDU-Anhängerschaft) bejahte die These, die Linke sei „die alte SED
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und eine Gefahr für die Zukunft“. 84 Prozent (77 Prozent bei der CDU) hingegen meinten, die Partei setze sich für Menschlichkeit und Solidarität ein. Für ihre Wähler und ihren potenziellen Anhang war die Linkspartei erst recht die Partei, die sich für Menschlichkeit und Solidarität einsetzt. Für sie war sie die Partei, die sich um die kleinen Leute kümmert, die gute Ideen und Konzepte hat, mit guten Politikerinnen und Politikern hervor tritt und – natürlich – regierungsfähig sei. Was Rot-Rot an Entscheidungen getroffen bzw. an Entwicklungen angeleitet hatte, rechneten sie vor allem der Linken an – sogar das von der SPD eingebrachte Schüler-Bafög. Aber das galt auch für die Verbesserung des Betreuungsschlüssels in den Kitas und für die Einstellung zusätzlicher Lehrkräfte an den Schulen, für die Einführung von Lohnuntergrenzen bei öffentlichen Aufträgen und von sozialen Kriterien in die Wirtschaftsförderung, für den Erhalt der Krankenhausstandorte und die Einführung neuer Möglichkeiten der medizinischen Betreuung auf dem Land. Solide Kompetenzwerte Bei der zugemessenen Lösungskompetenz lag die Linke in den als zentral geltenden politischen Feldern – bis auf das Thema BER – solide im zweistelligen Bereich, im eigenen Potenzial teils sogar
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deutlich vor der ansonsten stets führenden SPD. Insbesondere bei der Frage nach guten Lebensbedingungen für Kinder, verbesserten Chancen für junge Leute und Arbeitsplätzen, von denen man leben kann, lagen die Werte zwischen 22 und 28 Prozent. im Sommer war alles anders Wäre am Wahltag noch alles so gewesen wie im Januar, hätte die Linke gut und gerne ihr rechnerisches Wahlziel erreichen können. Doch, wie wir aus der Wahlforschung wissen und nun praktisch erlebt haben: Die wirkliche Entscheidung der Wähler fällt immer später, immer näher am Wahltag, am direkten Urnengang. Und je näher die Entscheidung kam, desto weiter rückten die potentiellen Wähler von der Linken ab. Unter den so genannten „Spätentscheidern”, also jenen, die erst am Wahltag selbst ihre Entscheidung getroffen hatten, erreichte die Linkspartei nur noch eine Zustimmung von 14 Prozent. Das heißt nicht, dass diese Wähler nur nicht wirksam genug vom „48-Stunden-Wahlkampf“ der Partei erreicht worden waren. Vielmehr deutet das Phänomen darauf hin, dass die Betreffenden sich ihre Entscheidung in Anbetracht des näher rückenden Wahlganges schwerer und schwerer gemacht haben, dass mehr und mehr Unsicherheiten bisherige Selbstverständlichkeiten
überlagerten und letzten Endes andere Faktoren als die traditionell bestimmenden, noch Monate zuvor empirisch erfassten Oberhand gewannen. Als das Gesamtbild und die einzelnen Eindrücke der zurückliegenden fünf Jahre sich unter dem Entscheidungsdruck konsolidierten, brachen die Träume vom linken Wahlerfolg zusammen. Was aber war geschehen? Die Debatte darüber ist im Gange und wird noch Zeit brauchen. Hier einige Thesen anhand empirischer Befunde und praktischer Erfahrungen. Zunächst: Die Linke war für das Wahljahr eigentlich thematisch hervorragend aufgestellt – und am Ende war sie es doch nicht so richtig. Über Jahre hatten Themen mit sozialer Färbung – gute Arbeit, gute Bildung, gute Gesundheitsversorgung, gute Bedingungen für Kinder und junge Leute, stabile Daseinsvorsorge – die Erwartungen der Brandenburger bestimmt. Zwar ging über die Legislaturperiode der damit verbundenen Problemdruck sichtbar zurück, doch zum Jahresbeginn 2014 war die Zahl der diesbezüglichen Nennungen geradezu explosionsartig nach oben geschnellt. Das konnte als Bestätigung für die Aufstellung der Linkspartei verstanden werden – jedoch mischte sich ein Achtungszeichen hinein: Die Zahl derer, die in der Verbrechensbekämpfung eine der
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wichtigsten Aufgaben der Landespolitik sahen, war im Vergleich zum Vorjahr von 30 auf 71 Prozent gestiegen. Eine ForsaUmfrage mit Spontannennungen wenige Wochen vor der Wahl bestätigte dies so nicht, verwies aber auf ein anderes Thema mit Hochkonjunktur: die Infrastruktur, insbesondere Verkehrsprobleme. Zugleich spielte die Gesundheitspolitik eine geringere Rolle als erwartet. Am Ende war das Soziale bei weitem nicht mehr so dominant, wie noch zu Jahresbeginn erwartet werden konnte. Und der Themenkanon der Linken war somit bei weitem nicht mehr so präzise justiert, wie erhofft und wie es für einen Wahlerfolg nötig gewesen wäre. Gerade in Brandenburg ist die tatsächliche öffentliche Meinungs- und Willensbildung nicht auf traditionelle massenmediale Kommunikation oder gar auf das Internet und soziale Netzwerke zu reduzieren. Mediennutzung und Vertrauen in die Medien-Angebote sind in unserem Land außergewöhnlich gering. In Sachen Internet steht es nicht viel besser. Stattdessen spielen persönliche Gespräche, Meinungsführerschaften aller Art und gemeinsame Wahrnehmungsmuster eine zentrale Rolle. Dies führt zu einer Komponente, die die Linke in ihrer Wahlvorbereitung übersehen oder unterschätzt hat. Im Laufe der Legislaturperiode bis hinein in die letzten Tage vor der Wahl
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gab es eine Vielzahl von scheinbar „begrenzten” politischen Konflikten, bei denen die Landespolitik bestimmten mehr oder weniger großen Interessengruppen gegenüberstand: Altanschließern, Windkraftgegnern, Gegnern von Überlandleitungen oder Erdverkabelungen, Widersachern von Schleusenerweiterungen oder der Uni-Neugründung in der Lausitz und nicht zuletzt den Einwohnern einiger von Abbaggerung bedrohter Dörfer und der globalisierten Protestmaschinerie von Greenpeace. gesellschaftliche Präsenz lässt nach Bis 2009 war man es aus fast zwanzigjähriger Erfahrung gewohnt, stets die Linke (bzw. zuvor die PDS) als Partner zu haben, wo immer sich der Bürgerwille regte. Nun, nach 2009, sah sich die Linkspartei vor die Notwendigkeit gestellt, stattdessen schmerzliche Entscheidungen zu vertreten, Grenzen von materiellen wie immateriellen Ressourcen zu erläutern und auch ungeliebte Kompromisse offensiv zu vertreten. Lediglich beim Volksbegehren für mehr Nachtruhe am Flughafen BER – fand sich die Linke (gemeinsam mit der SPD) schließlich an der Seite der für ihre Interessen Kämpfenden wieder. Im Wahlergebnis zahlte sich das allerdings nur geringfügig aus. Die Linkspartei erzielte bei den Flughafen-Anrainern rund
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20 Prozent Zustimmung – im Gegensatz zu landesweit 18,6 Prozent. Viel wirksamer, wenn auch mit entgegengesetztem Vorzeichen, dürften die „begrenzten Konflikte” gewesen sein – und zwar deutlich über ihren eigenen Gegenstand und die davon direkt Betroffenen hinaus. Denn in diesen Konflikten wurden Meinungsführer verprellt, die nicht nur in ihren Interessenverbänden, sondern darüber hinaus am Arbeitsplatz, gegenüber Freunden und Bekannten oder in der Familie ihrer Enttäuschung über die Linke Luft machten und damit eine skeptische bis distanzierte Stimmung nährten. Mit ihrer altersbedingt nachlassenden gesellschaftlichen Präsenz war die Partei auch nicht mehr in der Lage, diesen Trend im Alltag zu stoppen. So schön die Werte noch zu Jahresbeginn waren – als es drauf ankam, am Wahltag, maßen die Brandenburger der Linkspartei nur eine verschwindend geringe Problemlösungskompetenz bei. Dass die Linke in der Regierung Verantwortung getragen und in wichtigen Ressorts eine erfolgreiche, abrechenbare Politik betrieben hatte, schlug sich in den Augen der Befragten kaum nieder. Zugleich galt die Partei dort als kompetent, wo sie nicht Ressortverantwortung getragen hatte – beim Thema Bildung und dem „weichen” Ober-Thema soziale Gerechtigkeit.
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Auch nach fünf Regierungsjahren hatte sich also im entscheidenden Moment am Image der Partei nichts Wesentliches geändert. Das mag nun einerseits mit der Langlebigkeit solcher Images und Vorurteile zu tun haben, wie sie auch bei anderen Parteien immer wieder zu beobachten ist. Soziale Frage als roter Faden Andererseits stellt sich die Frage, ob die Linke selbst das Nötige und das Mögliche getan hat, um ihre fachlich erwiesene Kompetenz und die Weichenstellungen, die maßgeblich von ihr ausgegangen waren, auch hinreichend transparent und öffentlich nachvollziehbar zu machen. Hier geht es nicht um die besonders wirksame Presseerklärung, sondern um die Frage, ob das handwerklich und fachlich gute Regieren eine längerfristige strategische Perspektive hat, die sich im Erwartungshorizont an die Partei abspielt. Entsteht das Gute, weil oder obwohl man vorrangig von aktuellen, kurzfristigen Aufregungen, Konflikten oder Drücken getrieben ist – oder weil man die wichtigen Herausforderungen im Land fest im Auge hat und einer mit den Wählern „verabredeten” Projektion für die nähere Zukunft des Landes folgt? Erst zur Mitte der Legislaturperiode war es der Fraktion, später dem ganzen Landesverband gelungen, sich bewusst zu machen, dass es die soziale Frage ist,
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die als roter Faden alle, auch die den Linken scheinbar so fremden Politikfelder wie Wirtschaft oder Justiz, durchzieht und als solcher sichtbar gemacht werden muss. Inwiefern das alles gelungen ist, wird noch weiter zu untersuchen sein. Was sich mit diesen Fragen verbindet, wird an einem – die Linkspartei schicksalhaften – Beispiel deutlich. Auf den ersten Blick sieht es positiv aus: Es gibt eine Bevölkerungsgruppe, bei der die Partei ihr Wahlziel gerade so erreicht hat – bei den Arbeitslosen erreichte sie einen Stimmenanteil von 26 Prozent. Allerdings: Noch vor fünf Jahren hatte die Linke in dieser Bevölkerungsgruppe einen Stimmenanteil von 43 Prozent erzielt! Wie erklärt sich dieser Einbruch? Bereits zur Mitte der Legislaturperiode zeichnete sich ab, dass die Linke in den untersten Einkommensgruppen zwar immer noch auf Sympathie und einen Kompetenzbonus stieß, sich bei den Betreffenden zugleich jedoch der Eindruck verstärkte, die Partei kümmere sich nicht mehr sonderlich um die kleinen Leute. Eine Ursache der Wahlniederlage dürfte also darin liegen, dass die Belange der untersten Einkommensgruppen im Reden und Handeln der Linken zu wenig erkennbar waren. Das lag einerseits an den Grenzen, die der Landespolitik ge-
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setzt sind. Andererseits wurde der Landesverband durch inneren und äußeren Druck zu Schwerpunktsetzungen gezwungen, die nichts mit dem zentralen Erwartungen der Mehrheit der Wähler im Land zu tun hatten. Eine solche Eigendynamik entstand zum Beispiel durch die Auseinandersetzungen um die Nachtruhe-Zeiten und den Schallschutz am Flughafen BER. Das diesbezügliche Engagement der Linken war in der Sache und im übergeordneten gesellschaftspolitischen Interesse auch aus heutiger Sicht richtig und notwendig – man muss sich aber zugleich fragen, was dieser Einsatz auch bedeutete bzw. was er mit sich brachte. Denn 65 Prozent der Brandenburger mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von unter 1.000 Euro – also gewiss ein großer Anteil der Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslosen – hatte sich einer Umfrage zufolge gegen dieses Volksbegehren ausgesprochen. Für sie, so darf man vermuten, stellte sich das Schallschutz-Engagement der Linken als Sorge um ein Luxusproblem von Immobilienbesitzern aus der Mittel- und Oberschicht, weniger als Kümmern um die kleinen Leute, dar. arbeitsplätze im Zentrum Weniger durch eine äußere Dynamik erzwungen, sondern im Ergebnis eines nur bedingt gelungenen internen Konfliktmanagements ergab sich ein weiteres
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Problem. Über die gesamte Legislaturperiode hinweg galt es als die wichtigste landespolitische Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen, von denen man vernünftig leben kann. 91 Prozent aller Wahlberechtigten und 94 Prozenten der Linken-Anhängerschaft sahen dies zuletzt so. Die Linkspartei war dem, so weit Landespolitik das zuließ, weitgehend gerecht geworden – vor allem über das Wirtschaftsministerium von Ralf Christoffers. Unter seiner Federführung kam das Vergabegesetz mit einer Lohnuntergrenze für öffentliche Aufträge zustande. Unter seiner Regie wurde die Wirtschaftsförderung im Land so umgebaut, dass dabei auch Kriterien „Guter Arbeit“ wie Begrenzung der Leiharbeit, Familienfreundlichkeit, Weiterbildung und Tariftreue zum Tragen kamen. Das hatte sehr wohl damit zu tun, dass in allen Fachpolitiken der Linken die soziale Frage als ein zentrales Leitmotiv erkennbar sein sollte. energiepolitik rangierte hinten Allerdings: Sofern Fraktion und Partei ihrerseits die Arbeit des Wirtschaftsministers zum Thema machten – sei es in der öffentlichen Debatte oder auf Parteitagen – ging es nicht um Wirtschaft und „Gute Arbeit“, sondern in oft erbittertem Streit um Energiepolitik, vor allem um die Braunkohle. So sehr der Linkspartei dieses Thema am Herzen
liegt, so stark die Aktivisten des Braunkohle-Ausstiegs und so zentrale das Thema für das Transformationsprojekt des sozial-ökologischen Umbaus auch sein mag – aus der Wählersicht, auch der der Linken, rangierte es bei allen Befragungen auf dem letzten oder vorletzten Platz. die Jüngeren fehlen Insofern war es ein Stück weit nicht ausbalancierte strategische Aufstellung und Kommunikation, die ihrerseits dafür sorgte, dass viele Menschen sich bei der Linken nicht (mehr) wieder fanden oder zumindest irritiert waren. Auf der anderen Seite konnten die von der Heftigkeit der Braunkohlen-Debatten und ihren Sowohl-als-auch-Botschaften genährten Hoffnungen der Braunkohlen-Gegner ebenfalls nicht erfüllt werden, was wiederum zu heftigen Gegen-Attacken vor allem von Greenpeace führte und – so zuletzt im Sommer 2014 – weit über das Thema hinaus die Glaubwürdigkeit der Linkspartei in Frage stellte. Die Landtagswahl 2014 hat gezeigt, dass die Linke in Brandenburg ein mittlerweile verfestigtes und in der Tendenz zunehmendes Generationenproblem hat. Das betrifft allerdings nicht nur die brandenburgische Linke, sondern alle ostdeutschen Landesverbände. Und es betrifft in Brandenburg
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nicht allein die Linkspartei, sondern in ähnlicher Weise auch die SPD. Linke und SPD sind die Parteien der Alten im Lande – im Unterschied zu CDU und Grünen und vor allem zur AfD! Rot-Rot ist bei den Jüngeren mit deutlichem Abstand nur zweite Wahl. Die Linke hat bei den Jung- und Erstwählern eine noch klarere Niederlage als generell erlitten. Sie kam hier nur noch auf 13 Prozent Zustimmung. Aber nicht nur das. Die Linkspartei hat in allen Altersgruppen unter 60 Jahren verloren – nur bei Wählern über 60 war ihr Wahlziel noch halbwegs realistisch. ein Zwei-generationen-Projekt? Besonders dramatisch ist die Schwäche bei den 30- bis 44-Jährigen – den Jahrgängen der Familien mit Kindern. Sie finden bei der Linken kein Angebot, das mit ihrem Alltag und ihren Belangen hinreichend zu tun hätte. Dieses generelle Defizit wird offensichtlich auch durch die Stärke der Linkspartei bei der Bildungspolitik nicht kompensiert. Die Herausforderung durch die praktischen Lebensbedingungen umfasst mehr als das, was durch höhere Lehrerzahlen, bessere Arbeitsbedingungen an den Schulen und einen günstigeren Betreuungsschlüssel in den Kitas gelöst wird. Was das bedeutet, muss jetzt aufgearbeitet, verstanden und verarbeitet werden.
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Gelingen kann das nur, wenn die Partei sich wandelt: Es ist höchste Zeit, der Gefahr zu begegnen, dass aus der Linken ein Zwei-Generationen-Projekt wird, das bei den Jüngeren nur noch einen schwächer werdenden Nachhall findet. Und zwar sowohl bezüglich der Wählerschaft als auch der Mitgliedschaft. Mehr Freiheit und neugier Die zunehmende Alterung der Partei droht zu einer Erosion ihrer Fähigkeit zu werden, als Volkspartei zu agieren, in der Gesellschaft präsent zu sein, vor Ort zuzuhören und auch zu argumentieren. Die zu wenigen Jüngeren kommen zwar schnell und zunehmend in Verantwortung – dabei können sich allerdings auch sehr schnell Überlastung und Überforderung einstellen. Werden die Jüngeren zudem von der Partei aufgesogen, wie sie ist, droht die funktionierende Kommunikation mit den Alten und Älteren wichtiger zu werden als die Fähigkeit, mit der eigenen Generation zu sprechen und authentisch deren Lebensgefühl, deren Interessen, Hoffnungen, Befürchtungen und Träume zu artikulieren und politisch zur Geltung zu bringen. Genau darauf kommt es aber an. Was die Partei jetzt vor allem braucht – vor allen programmatischen, thematischen und personellen Debatten – ist ein kultureller Paradigmenwechsel: Mehr Freiheit für die Jüngeren, mehr Neugier,
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Zuhören und Zurückhaltung seitens der Älteren und Alten. Wie das, was PDS, WASG und Linke in den letzten Jahrzehnten geleistet und erarbeitet haben, bis zumindest Mitte dieses Jahrhunderts in die Gesellschaft übersetzt, erneuert und erweitert wird, entscheiden eben diese Jüngeren – und sie müssen jetzt damit beginnen können. In Ostdeutschland ist ein solcher Paradigmenwechsel in den neunziger Jahren schon einmal gelungen. Er wird auch diesmal wieder gelingen.| DR. THOMAS FALKNER
ist Vorstandsreferent der Links-Fraktion im Brandenburger Landtag.
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BRANDENBURG-PARTEI AUCH KOMMUNAL? Wie die SPD bei den Kommunalwahlen 2014 abschnitt — Von Ines Hübner und Christian Maaß
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m 5. November 2014 wurde Dietmar Woidke erneut zum Brandenburger Ministerpräsidenten gewählt. Damit endete ein langes Wahljahr mit einem Erfolg für die SPD. Es hatte bereits – früher als geplant – mit dem unerwarteten Rücktritt von Ministerpräsident Matthias Platzeck im Sommer 2013 begonnen. Wurde Dietmar Woidke am 28. August 2013 noch mit den Stimmen, die die SPD 2009 mit dem Spitzenkandidaten Platzeck erkämpft hatte, zu dessen Nachfolger gewählt, verfügt er seit den Landtagswahlen am 14. September 2014 über seine eigene Mehrheit. Seit der Neugründung Brandenburgs stehen somit ununterbrochen Sozialdemokraten an der Spitze des Landes. Nicht nur deshalb kann die SPD für sich den Titel „Brandenburg-Partei“ in Anspruch nehmen. Wie gestaltet sich jedoch die Situation in den Städten, Gemeinden und Landkreisen zwischen Elbe und Oder, zwischen der Uckermark und Elbe-Elster?
Das Jahr 2014 war nicht nur ein Jahr der Europa- und Landtagswahlen. Es war auch ein Jahr, in dem die Kommunalwahlen und zehn Wahlen von kommunalen Hauptverwaltungsbeamten stattfanden. Insofern muss eine Bilanz Brandenburgischer Politik des Jahres 2014 auch die kommunale Ebene mit in den Blick nehmen. Nachfolgend werden kurz die Wahlergebnisse skizziert, um dabei zwei Aspekte vertiefend aufzugreifen. Zum Einen geht es um die zunehmende Personalisierung bei den Wahlen. Zum Anderen wird in Gebiete geschaut, in denen die SPD mit ihren Ergebnissen unter dem Landesschnitt lag. Weniger Leute, weniger Sitze Bei den Kommunalwahlen am 25. Mai 2014 wurden 934 Sitze in den Kreistagen der Landkreise und den Stadtverordnetenversammlungen der kreisfreien Städte vergeben. Das sind 17 Sitze weniger als bei den Wahlen des Jahres 2008. Die geringere Zahl ist eine direkte Folge
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des demografischen Wandels. Die Sitze in den kommunalen Vertretungen werden nach dem Kommunalwahlgesetz in bestimmten Größenklassen vergeben. Aufgrund des Bevölkerungsverlusts haben Cottbus und Ostprignitz-Ruppin mittlerweile weniger als 100.000 Einwohner. Statt wie bisher 50, waren deshalb nur noch 46 Mitglieder für die Stadtverordnetenversammlung bzw. den Kreistag zu wählen. gewinner und Verlierer Gegenüber 2008 verlor die SPD verlor 14 und errang insgesamt 226 Sitze. Das bedeutet bei einem Minus von 1,3 Punkten ein absolutes Ergebnis von 24,5 Prozent. Damit lag sie knapp hinter der CDU. Die Christdemokraten gewannen 4,9 Prozent hinzu und steigerten sich von 19,9 auf 24,9 Prozent. In Sitzen bedeutet das 238 und damit 50 mehr als im Jahr 2008. War die CDU der Gewinner unter den drei großen Parteien des Landes, so ist die Linkspartei der Verlierer. Sie büßte 4,5 Prozent und 45 Sitze ein (jetzt insgesamt noch 189). War die Linke als Zweitplatzierte der Wahlen des Jahres 2008 auf die Zahl der Sitze bezogen noch fast gleich auf mit der SPD, so liegt sie nun deutlich auf Platz drei. Bei den kleinen Parteien musste die FDP einen wahren Absturz verkraften. Lag sie 2008 noch mit deutlichem Vorsprung auf dem vierten Platz, sind jetzt
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sowohl Bündnis 90/ Grüne als auch die AfD an ihr vorbeigezogen. Die Zahl der liberalen Mandate hat sich von 71 auf 36 nahezu halbiert, während Bündnis 90/ Grüne von 44 auf 58 gewachsen sind. Die AfD hat aus dem Stand 39 Sitze in den Kreistagen und Stadtverordnetenversammlungen der kreisfreien Städte gewonnen. Der Bedeutungsverlust der FDP in der Bundes- und Landespolitik spiegelt sich in Brandenburg im Erodieren der kommunalen Basis der Liberalen wider. Die NPD konnte sich bei der Kommunalwahl von 16 auf 20 Sitze steigern. Die demokratischen Parteien dürfen die Entwicklung der NPD nicht aus den Augen verlieren. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass bereits einzelne Mandatsträger der rechtsextremen Partei ein großes Aggressionspotenzial entwickeln und die Arbeit in den Vertretungen belasten. in Städten dominieren die Parteien Die übrigen 128 Mandate verteilen sich auf Piraten, Bauern, BVB/Freie Wähle und weitere Wählergruppen, Listenvereinigungen und Politische Vereinigungen. Die Piraten errangen dabei drei Mandate. Damit ist dieses Projekt zumindest auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städten (erst einmal) gescheitert. Die Wahlen zu den Kreistagen und Stadtverordnetenversammlungen der
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kreisfreien Städte wurden insgesamt von den Parteien dominiert. Es entfielen etwas mehr als 80 Prozent der Sitze auf die im Landtag vertretenen und mehr als 86 Prozent auf parteigebundene Kandidaten. Moderate Stärkung der Cdu In den kreisangehörigen Orten hingegen dominieren die Wählergruppen (2.382 Sitze) und Einzelbewerber (383 Sitze). Sie errangen gemeinsam 2.765 (47 Prozent) der insgesamt 5.880 Sitze. Die im Landtag vertretenen Parteien kommen insgesamt auf 2.796 Sitze (47,5 Prozent). Der Gesamtanteil der Parteien liegt bei 3.001 Sitzen und damit bei 51 Prozent. Damit spielen die Parteien im kreisangehörigen Raum eine deutliche geringere Rolle als in den Landkreisen und kreisfreien Städten. Dies ist insbesondere bei der Gesamtbewertung der Wahlergebnisse von Bedeutung. Eine weitere Besonderheit sind die 36 nach § 48 des Kommunalwahlgesetzes unbesetzten Sitze. In diesen Fällen haben Wahllisten mehr Mandate gewonnen, als sie Kandidaten aufwiesen. Bei der Bewertung der Ergebnisse ist zudem zu beachten, dass sich auch die Zahl der Stadtverordneten und Gemeindevertreter reduziert hat. Neben einer veränderten Einwohnerzahl liegt der Grund dafür im Auslaufen von Sonderregelungen, die im Zuge der Gemein-
degebietsreform von 2003 getroffen worden waren. Wurden 2008 noch 6.161 Sitze vergeben, waren dies 2014 nur noch 5.880. Bezogen auf die Ergebnisse der einzelnen Parteien bestätigen sich bei den kreisangehörigen Kommunen die Trends aus den Landkreisen und kreisfreien Städten. Die CDU wird auch hier stärkste Partei. Sie liegt mit 1.038 Sitzen (Plus 88 Sitze, bei einem Wahlergebnis von 20,9 Prozent) knapp vor der SPD (892 Sitze; Minus von 79 Sitzen; Wahlergebnis 19,4 Prozent). Die Linke verliert wie auch in den Landkreisen und kreisfreien Städten spürbar und liegt mit 696 Sitzen (16,3 Prozent, minus 202 Sitze) deutlich auf Rang drei. Damit deuteten sich bereits bei den Kommunalwahlen im Mai Trends an – moderate Stärkung der CDU, leichte Verluste bei der SPD und deutliche Verluste bei der Linkspartei – , die sich dann bei den Landtagswahlen fortsetzten. die grünen wachsen ein bisschen Wenn die FDP bezogen auf die Zahl der Mandate in den Kommunen noch knapp vor Bündnis 90/ Grünen liegt, so musste sie auch dort deutliche Verluste hinnehmen. Die FDP errang bei 3,3 Prozent 161 Sitze. Die Grünen kamen auf 3,5 Prozent und stellen jetzt 126 Stadtverordnete und Gemeindevertreter. Das bedeutet für die Liberalen einen Verlust
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von 107 kommunalen Vertretern, währenddessen Bündnis 90/Grüne 49 hinzugewannen. Die NPD ist mit 29 Stadtverordneten und Gemeindevertretern in unseren Städten und Gemeinden vertreten. Die AfD gewann auf Anhieb 44 Sitze. Sie ist damit bezogen auf den Anteil an der Gesamtzahl der Sitze im kreisangehörigen Raum deutlich schwächer vertreten als in den Landkreisen und kreisfreien Städten. Das Abschneiden der Piraten – sie errangen zehn Sitze – in den kreisangehörigen Kommunen bestätigt die Ergebnisse aus den Landkreisen und kreisfreien Städten. nur die Hälfte macht mit Die Kommunalwahlen am 25. Mai 2014 stellten eine Premiere dar. Brandenburg hatte schon 2007 die Zusammenlegung der Kommunal- mit den Europawahlen 2014 beschlossen. Angesichts der brandenburgischen Ergebnisse der letzten Europawahlen (Wahlbeteiligung 29,9 Prozent, SPD 22,8 Prozent) wurde dieser Schritt in Teilen der sozialdemokratischen Kommunalpolitik auch kritisch diskutiert. Negative Auswirkungen der Europawahlen auf das Kommunalwahlergebnis wurden nicht ausgeschlossen. Hinsichtlich der Wahlbeteiligung gibt es unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten des aktuellen Ergebnisses. Am 25. Mai 2014 beteiligten sich
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47,3 Prozent der Wähler an den Wahlen zu den Vertretungen der kreisangehörigen Städte und Gemeinden. Ein gutes Prozent – 46,2 – weniger wählte die Kreistage und Stadtverordnetenversammlungen der kreisfreien Städte. An den Wahlen zum Europäischen Parlament beteiligten sich 46,7 Prozent. Damit sank die Beteiligung an den Kommunalwahlen leicht (2008 49 Prozent). Hingegen machten deutlich mehr Wähler von ihrem Wahlrecht als bei den letzten Europawahlen Gebrauch. Stark bei der europawahl Hinsichtlich des Wahlergebnisses waren keine negativen Auswirkungen der Koppelung von Kommunal- und Europawahlen für die SPD zu verzeichnen. Im Gegenteil, die SPD wurde mit 26,9 Prozent stärkste Partei bei den Europawahlen. Damit liegt sie 2,4 Prozent über dem Ergebnis der Wahlen zu den Kreistag und Stadtverordnetenversammlungen der kreisfreien Städte und sogar 7,5 Prozent über dem Wert für die kreisangehörigen Orte. Positiv formuliert kann im Aufwärtstrend bei den Europawahlen das Ergebnis der guten Arbeit des Spitzenkandidaten Martin Schulz und seines Teams gesehen werden. Zudem bestätigte sich einmal mehr der Trend zu einem differenzierten Wahlverhalten bei zeitlich verbundenen Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen.
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Eberswalde, Bernau, Wiesenburg, Leegebruch, Trebbin und Werder – was verbindet diese Städte und Gemeinden? Die Bürgerinnen und Bürger dieser märkischen Kommunen wählten im Laufe des Jahres 2014 einen neuen hauptamtlichen Bürgermeister bzw. eine neue hauptamtliche Bürgermeisterin. Sozialdemokratische Kandidaten suchten die Wählerinnen und Wähler dabei jedoch vergeblich. In Eberswalde (Friedhelm Boginski, FDP), in Leegebruch (Peter Müller, parteilos) und Trebbin (Thomas Berger, CDU) siegten die Amtsinhaber. Bernau ging – nach der Abwahl des bisherigen CDU-Bürgermeisters Hubert Handke – an die Linkspartei. Dort siegte der bisherige ehrenamtliche Bürgermeister der Gemeinde Biesenthal, André Stahl. Die Linke schaffte zudem den Generationswechsel in der Gemeinde Wiesenburg. Die langjährige Amtsinhaberin Barbara Klembt hat aus persönlichen Gründen ihr Amt vor dem Ende der laufenden Wahlperiode aufgegeben. Ihr folgt mit Marco Beckendorf ein junger und externer Kandidat. Mancherorts gehen die uhren anders Wie zu erwarten gelang der CDU ein solcher Amtswechsel in ihrer Hochburg Werder (Havel). Dort gewann die bisherige Beigeordnete Manuela Saß für die Christdemokraten. Sie folgt auf Werner
Große, der seit 1990 Bürgermeister der Havelstadt war. Selbst bei vorsichtiger Betrachtung entsteht der Eindruck, dass die Uhren in Werder anders gehen. Neuer Beigeordneter wurde mit Christian Große ausgerechnet der Sohn des vormaligen Amtsinhabers. Kandidieren heißt führen Wenn die SPD bei sechs von zehn Bürgermeisterwahlen erst gar nicht antritt, dann entspricht dies nicht dem Selbstbild von der Brandenburg-Partei. Sicher, die anschließende Analyse ist immer einfacher als ein konkreter Wahlkampf. Vor Ort gab es vielfältige Gründe, auf eine Kandidatur zu verzichten. Kann es indessen Argumente geben, die eine solche Kapitulation rechtfertigen? Was heißt es denn konkret, nicht zu kandidieren? Es ist der mittels Stimmzettel verbriefte Verzicht auf einen eigenständigen kommunalen Gestaltungswillen. Der Hauptverwaltungsbeamte ist der zentrale Akteur in der lokalen Politik. Wenn eine Partei niemanden für dieses Amt nominiert, verzichtet sie von vorherein auf die kommunalpolitische Führungsrolle. Als problematisch für die SPD erweist sich dabei, dass dieses Phänomen mit Wiesenburg (4.500 Einwohner), Leegebruch (6.600 Einwohner) und Trebbin (9.200 Einwohner) sowohl in Kleinstädten als auch mit Eberswalde (39.000 Einwohner), Bernau (36.000 Ein-
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wohner) und Werder (23.500 Einwohner) auch in größeren Städte anzutreffen ist. Bei Eberswalde und Bernau handelt es sich zudem um die beiden größten Städte des Landkreises Barnim. Sieg und niederlage Ebenso schwer wie der Verzicht auf eine eigene Kandidatur wiegen Niederlagen sozialdemokratischer Amtsinhaber. Mit Dieter Freihoff (Gemeinde Märkische Heide) und Frank Szymanski (Cottbus) müssen zwei SPD-Bürgermeister ihren Posten räumen. Dabei ist vor allem die Niederlage in Cottbus von überregionaler Bedeutung. Vor acht Jahren hatte sich dort Frank Szymanski eindrucksvoll gegen Holger Kelch (CDU) durchgesetzt. Dieser wurde 2006 von einem vielbeachten Bündnis von CDU und PDS getragen. Ohne die Unterstützung von ganz links konnte sich Kelch nun durchsetzen. Dass die Verhältnisse bei der diesjährigen OB-Wahl in Cottbus schwierig waren, zeigte sich auch daran, dass der Kandidat der Partei „Die Partei“, Lars Krause, 12 Prozent auf sich vereinigen konnte. Auch angesichts der Selbstbeschreibung des Kandidaten als „Größter Landesvorsitzender Brandenburgs aller Zeiten (GröLVBaZ)“ der „Partei“, kann von ihm wohl zu Recht von einem Spaßkandidaten gesprochen werden. Holger Kelch schaffte mit 20.600 Stimmen (51 Prozent) bereits im ersten Wahlgang
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die absolute Mehrheit. Frank Szymanski kam auf 15.200 Stimmen (37 Prozent). Dahin gegen konnte sich in Senftenberg der SPD-Amtsinhaber deutlich durchsetzen. Andreas Fredrich gewann mit 77 Prozent gegen René Markgraf (CDU), der auf 23 Prozent der Stimmen kam. Der CDU-Kandidat, der einen persönlich gegen Andreas Fredrich gerichteten Wahlkampf führte („Auf den Punkt gebracht für Senftenberg: ‚Schluss mit Schlusslicht‘.“; „… Duell zwischen einem Verwaltungsangestellten und einem Macher aus der Wirtschaft“), blieb letztendlich ohne Chance. Senftenberg sendet insofern das positive Signal aus, dass sich Sachverstand und Fairness durchsetzen können. Zwei von Zehn sind zu wenig Bernd-Christian Schneck (SPD) ist der alte und neue Bürgermeister der Gemeinde „Löwenberger Land“ im Landkreis Oberhavel. Er blieb ohne Gegenkandidaten und kam auf 86 Prozent Ja-Stimmen. Damit stellt die SPD zwei von den zehn im Jahr 2014 gewählten hauptamtlichen Bürgermeistern. Die Gesamtergebnisse für das Land sind das Eine, die konkreten Ergebnisse vor Ort das Andere. Insbesondere in den kreisangehörigen Kommunen erzielte die SPD selten Ergebnisse, die das Prädikat „Brandenburg-Partei“ rechtfertigen. Lediglich im Havelland, in Ober-
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havel und in Teltow-Fläming konnten etwas mehr als 20 Prozent der Sitze in den Vertretungen gewonnen werden. In den Landkreisen Ober-Spreewald-Lausitz, Oder-Spree, Potsdam-Mittelmark und der Uckermark reichte es zu einem Ergebnis von etwas mehr als 15 Prozent der Sitze. In der Hälfte der Landkreise werden weniger als 15 Prozent der Stadtverordneten und Gemeindevertreter von der SPD gestellt. Die Prignitz mit 10 und Elbe-Elster liegen mit 9 Prozent sogar an bzw. unter der 10 Prozent-Marke. Viele lokale Besonderheiten Eine Ursache für das insgesamt nicht überzeugende Abschneiden der SPD liegt darin, dass es in einer Vielzahl von amtsangehörigen Städten und Gemeinden keinen Wahlvorschlag der SPD gab. Aber auch wenn die SPD mit einer eigenen Liste vertreten war, wurden teilweise nur Ergebnisse an bzw. unter der Marke von 10 Prozent erreicht. Zudem gibt es in der Kommunalpolitik immer wieder lokale Besonderheiten wie in Velten. Dort gewann die Wählervereinigung „Pro Velten“ im Ergebnis eines sehr intensiven Wahlkampfes mehr als 41 Prozent der Stimmen. Der ursprüngliche Aufhänger der Kampagne ist die Verhinderung eines weiteren Supermarktes in der Ofenstadt. In absoluten Zahlen verzeichnet die SPD die wenigsten Mandate in den
Landkreisen Prignitz (33), OstprignitzRuppin (38), Elbe-Elster (40) und Barnim (46). Im Havelland (+16), in Oberhavel (+3), Oder-Spree (+27) und Teltow-Fläming (+10) konnte die SPD mehr Sitze als die CDU gewinnen. In der Uckermark liegen die beiden größten Parteien gleichauf. In den anderen Landkreisen liegt die SPD teilweise deutlich (Prignitz –38, Elbe-Elster –74) hinter der CDU. Neben Elbe-Elster ist die CDU besonders stark im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Die CDU weist zudem landesweit stabile Ergebnisse auf. Die Hochburgen der Linkspartei im liegen in den Landkreisen Barnim und Märkisch Oderland. Dort liegen sie sowohl vor der CDU als auch vor der SPD. Wo Hochburgen liegen In der Diaspora leben Sozialdemokraten jedoch nicht nur in einer größeren Zahl kreisangehöriger Kommunen. So fällt unter den kreisfreien Städten – bei insgesamt ausbaufähigen Ergebnissen – Frankfurt (Oder) mit einem Ergebnis von 18,7 noch einmal ab. So liegen die Problemregionen der Brandenburger SPD (mit einem Kreistagswahlergebnis in einer Kommune von weniger als 10 Prozent) in den Landkreisen Elbe-Elster (Amt Schradenland 8 Prozent, Uebigau-Wahrenbrück 9 Prozent) und Prignitz (Plattenburg 10 Prozent). Ergebnisse zwischen
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10 und 15 Prozent in Orten bzw. Ämtern im Barnim (3), in Elbe-Elster (4), Märkisch-Oderland (3), Oberspreewald-Lausitz (1), Prignitz (3), Spree-Neiße (3), Teltow-Fläming (2) und der Uckermark (2). Darüber hinaus erreicht die SPD in zahlreichen weiteren Kommunen lediglich Werte zwischen 15 und 20 Prozent. Diese problematischen Ergebnisse bei den Kreistagswahlen und zu den Stadtverordnetenversammlungen der kreisfreien Städte wiegen im Vergleich zu den Ergebnissen der Wahlen im kreisangehörigen Raum schwerer, da der Gesamtanteil an Stimmen für die Parteien dort deutlich höher liegt. Aber es gibt auch Hochburgen: Die SPD erzielte in 31 Orten ein Ergebnis, das höher war als das der Landtagswahl – und damit 7,4 Prozent über dem Gesamtergebnis der Kreistagswahlen lag. Personalisierung zahlt sich aus Grundlage des Erfolges – in diesen und in allen anderen Kommunen – ist eine erfolgreiche Personalisierung durch die SPD. Die SPD konnte insgesamt gut oder sehr gut abschneiden, wenn sie überdurchschnittlich erfolgreiche Stimmführer aufbieten konnte. Bei diesen besonders erfolgreichen Kandidaten handelte es sich in geringerer Zahl um „normale“ Kommunalpolitiker. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise – die Nennung einzelner Namen birgt immer
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die Gefahr, wichtige andere Akteure zu übergehen, was hier aber nur aus Platzgründen geschieht – Lars Kolan (Golßen, Dahme-Spreewald mit 3.300 Stimmen), Manuela Vollbrecht (Wustermark, Havelland, 3.100 Stimmen) und Udo Appenzeller (Falkensee, Havelland, 4.700 Stimmen). Wer bekannt ist, zieht Stimmen Sozialdemokratische Stimmenkönige bei den Wahlen waren vor allem Landes- und Bundespolitiker sowie sozialdemokratische Bürgermeister, die bei den Wahlen in den kreisfreien Städten und Landkreisen kandidierten. Für die Riege der Landespolitiker ist an erster Stelle Günter Baaske zu nennen, der allein 12.800 Stimmen auf sich vereinigte. In Potsdam-Mittelmark traten darüber hinaus Sören Kosanke (5.300 Stimmen), Susanne Melior (4.300 Stimmen), Andrea Wicklein (3.700 Stimmen) und Andreas Kuhnert (4.500 Stimmen) an. Im Landkreis Oder-Spree gewannen Jörg Vogelsänger 9.400 und Elisabeth Alter 5.700 Stimmen. Aber auch Sylvia Lehmann, Tina Fischer und Klara Geywitz holten viele Stimmen für die SPD. Hinzuweisen ist auch auf das Ergebnis von Mike Bischoff in Schwedt. Trotz der von Teilen der Medien ablehnend geführten Debatte erzielten auch die sozialdemokratischen Hauptverwaltungsbeamten gute bis sehr gute
INES HÜBNER & CHRISTIAN MAAß | BRANDENBURG-PARTEI AUCH KOMMUNAL?
Ergebnisse bei den Kreistagswahlen. Der Spitzenwert von 51 Prozent in Großräschen wurde wesentlich durch die Kandidatur von Bürgermeister Thomas Zenker ermöglicht. Dass die SPD auch in Senftenberg mit 34 Prozent deutlich über dem Landesschnitt lag, verdankt sie in großen Teilen dem Engagement von Andreas Fredrich, der parallel zu seiner Bürgermeisterwahl für den Kreistag kandidierte. Auch Lutz Franzke (Königs Wusterhausen) und Beate Burgschweiger (Zeuthen) zogen viele Stimmen. Das gilt auch für Landrat Burkhard Schröder (Havelland) und den damaligen Landrat des Landkreises Oberhavel, Karl-Heinz Schröter. In Potsdam stellte sich Jann Jakobs in den Dienst der Partei. In Hennigsdorf zog Bürgermeister Andreas Schulz bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung allein 8.200 Stimmen für die SPD. Bei aller Wertschätzung für die Arbeit in der Sache jedes „einfachen“ Kreistagsmitglieds – gewählt werden vor allem bekannte Köpfe. Kommt es in diesem Punkt zu keiner wesentlichen Änderung des Wahlverhaltens, stellt sich für die SPD die Herausforderung, auch bei den kommenden Wahlen wieder möglichst viele „bekannte Gesichter“ zu präsentieren. Dies gilt indessen nicht nur für die SPD. So konnten die von der CDU nominierten Hauptverwaltungsbeamten – trotz aller Debatten zum Thema Inkompatibilität – in der überwiegenden An-
zahl der Fälle ebenfalls die jeweils meisten Stimmen in ihren Kommunen auf sich vereinigen. Das gilt für Werner Große (Werder, für den Kreistag Potsdam-Mittelmark) ebenso wie für die Oberbürgermeisterin Dietlind Tiemann in Brandenburg an der Havel. Auch bei den Linken zieht Prominenz. Diana Golze gewann noch als Bundestagsabgeordnete 7.600 Stimmen für den Kreistag des Havellandes. Warum politische Öffnung wichtig ist Dahin gegen können Bündnis 90/ Grüne und die FDP nicht von diesem Trend profitieren. Die grüne Ursula Nonnenmacher trat im Wahlkreis von Diana Golze und damit außerhalb ihres Wahlkreises an. Sie konnte gerade einmal 94 Stimmen auf sich vereinigen. Der ehemalige FDP-Spitzenpolitiker Andres Büttner schaffte in seinem angestammten Wahlkreis Templin mit nur 396 Stimmen nicht den Einzug in den Kreistag. Das beste Ergebnis erzielte hier Henryk Wichmann MdL (CDU) mit 4.600 Stimmen. Die SPD hat in Brandenburg ein stabiles, aber kein besonders herausragendes Kommunalwahlergebnis erzielt. Bei der abschließenden Bewertung lohnt es sich, den Blick einmal über die südliche Landesgrenze nach Sachsen zu richten. Dort wertet es die SPD als Erfolg, dass sie in einigen wenigen Kommunen auf dem zweiten Platz eingekommen ist.
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Angesichts solcher Vergleichswerte gewinnt das märkische Ergebnis wieder deutlich an Charme. Eine Restriktion, die auch zukünftig die Wahlchancen der SPD begrenzt, ist die geringe Mitgliederzahl von derzeit 6.300 Brandenburger Sozialdemokraten. Zumal sich die Mitglieder ungleich auf die Regionen verteilen. Insofern gibt es Landkreise und kreisfreie Städte, in denen sich sozialdemokratische Kommunalpolitik schon strukturbedingt als Herausforderung darstellt. Deshalb ist es nur folgerichtig, sich für bisher parteipolitisch nicht gebundene Kandidaten zu öffnen. Präsenz entscheidet In den nächsten Jahren wird es neben einer erfolgreichen Arbeit der jeweiligen Fraktionen vor allem darauf ankommen, möglichst viele Gesichter in ihren Kommunen bekannt zu machen. Die Erkenntnis ist banal, aber von entscheidender Bedeutung: Kommunalwahlen sind Personenwahlen. Ohne bekannte Kandidaten können keine Wahlen gewonnen werden. Zudem sollten möglichst viele Bundes- und Landespolitiker ihr kommunales Engagement fortsetzen. Ohne sie wird es schwer, entsprechende Ergebnisse zu erzielen. Dies gilt gleichermaßen für die Bürgermeister und Landräte. Wer zu wenige Bürgermeister stellt, kann in der Kommunalpolitik auf Dauer
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nicht erfolgreich sein. Will die SPD ihrem Anspruch als Brandenburg-Partei gerecht werden, wird sie nicht umhin kommen, bei den Wahlen der Bürgermeister und Landräte wieder stärker präsent zu sein.| INES HÜBNER
ist Bürgermeisterin der Stadt Velten und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik (SGK) in Brandenburg. CHRISTIAN MAAß
ist Geschäftsführer der SGK Brandenburg.
ERIK FLÜGGE | ZWEI GROSSFLÄCHEN WENIGER
ZWEI GROSSFLÄCHEN WENIGER Wie man über soziale Netzwerke (trotzdem) mehr Leute erreichen kann — Von Erik Flügge
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olitik muss Menschen überzeugen. Ihr gelingt das nicht durch immer neue Argumentationspapiere, sondern durch gute Geschichten von einer besseren Zukunft und durch emotionale Bindungen. Emotionalität ist in der Politik eine Herausforderung, die oft schwer fällt im Alltag der Anträge und Gesetzesvorlagen. Jeder Wahlkampf versucht deshalb ein großes Bild zu zeichnen. Ein Bild, das weit größer ist, als das, was sich schlussendlich erfüllen lässt. Dabei ist es die hohe Kunst die Bürger nicht zu belügen, aber gleichsam das politische AlltagsKlein-Klein erzählerisch auf einen verstehbaren und wählbaren Punkt zu verdichten. Mit den sozialen Netzwerken ist ein neues Medium in der politischen Kommunikation auf den Plan getreten. Es hat das Potential einer Partei eine tagesaktuelle Unterstützung ihrer Wahlkampfnarrative zu ermöglichen. Komischerweise tun sich die meisten Parteien noch damit schwer, das Medium produktiv zu
nutzen. Für sie ist es Beiwerk am Rande des wirklich wichtigen Wahlkampfes bestehend aus Pressemitteilungen, Kundgebungen und Plakaten. Vielleicht unterschätzen sie alle, wie stark soziale Netzwerke die Wahrnehmung der jüngeren Gesellschaftssegmente verändern. Starker effekt auf nichtwähler In einem Online-Großexperiment der University of California San Diego zu den US-Kongresswahlen wiesen Wissenschaftler nach, dass bestimmte Formen der politischen Kommunikation in sozialen Netzwerken signifikant das Verhalten der Wählerinnen und Wähler beeinflussen kann. Besonders stark war der Effekt auf Nichtwähler, wenn deren persönlich bekannte Freunde auf Facebook kommunizierten, dass sie gerade an der Wahl teilnehmen. Ein seltener Fall, in der eine Kommunikation tatsächlich zu einer erhöhten Wahlbeteiligung der Nichtwähler führte. Das im Übrigen nicht zu knapp. Real konnten durch Kommuni-
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kation in sozialen Netzwerken 340.000 Menschen mehr zur Wahl bewogen werden, wie durch das US-Wählerregister nachgewiesen werden konnten. Im Frühjahr 2014 wiesen Kramer, Guillory und Hanckock in einer großräumigen Studie mit 689.003 Testpersonen nach, dass unterschiedlich emotional konnotierte Inhalte in sozialen Netzwerken realweltliche Stimmungs- und Verhaltensveränderungen bei Menschen auslösen. Wer Negatives liest, der kommuniziert weniger und selbst negativer und wer positive Kommunikation in sozialen Netzwerken zu lesen bekommt, der kommuniziert selbst mehr und das positiver. Beide Ergebnisse geben wichtige Hinweise darauf, wie erfolgreicher Wahlkampf in sozialen Netzwerken aufgebaut werden sollte: > Wahlkampf in sozialen Netzwerken sollte stets personalisiert sein und insbesondere dritte dazu anregen, selbst über ihre Wahlteilnahme zu kommunizieren. > Wahlkampf in sozialen Netzwerken sollte positive Botschaften transportieren, die zu einer besseren Stimmung der eigenen Anhängerschaft beitragen. > Wahlkampf in sozialen Netzwerken hat das Potential Menschen in ihrer Wahlentscheidung zu beeinflussen und sollte deshalb mit ausreichend
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Budget ausgestattet sein, um Reichweite zu erzeugen. Betrachtet man diesen Regeln folgend den Brandenburger Landtagswahlkampf in sozialen Netzwerken, so lassen sich unterschiedliche Stärken und Schwächen der einzelnen Parteien heraus arbeiten. Im Kern trifft eine Analyse auf alle politischen Bewerber gleichermaßen zu: Es wurde zu wenig in diese Form des Wahlkampfes investiert. negativ und sinnfrei Die gesamte Kampagne der Brandenburger CDU setzte auf negative Emotionen und Empörung. Auf Großflächen ließen sich Menschen zitieren mit Sätzen wie „Warum komme ich nicht vernünftig zur Arbeit? – 50 Prozent weniger Geld für Straßen unter Rot-Rot“ oder „Warum fällt an meiner Schule so viel Unterricht aus? – 240.000 Stunden fallen aus unter RotRot“. Rein analytisch betrachtet ein taktischer Fehler. Die CDU nimmt damit vollumfänglich ihre Rolle als Opposition an und redet das Land schlecht. Gleichzeitig umgibt sie ihre Anhängerschaft mit negativer Emotion und löst damit aus, dass weniger über sie gesprochen wird. Mit der gleichen Tonalität ging die CDU im Netz vor. Sie griff an allen möglichen und unmöglichen Stellen an und versuchte auf einer Welle des Meckerns und der Empörung die Regierung aus
ERIK FLÜGGE | ZWEI GROSSFLÄCHEN WENIGER
dem Amt zu treiben. Am Ende entpuppte sich die Welle als kaum mehr als eine sanfte Wellenbewegung. Die wohl schwächste Episode im CDU Wahlkampf im Netz ist der Versuch Werbeanzeigen zu schalten. Hierbei wurde ein einfaches Prinzip über Bord geworfen: Im Wahlkampf plakatiert man am besten, wo gewählt wird. Nicht so bei der Brandenburger CDU. Diese schaltete Werbung für mehr gefällt-mir-Klicks bundesweit bei ihren Freunden und deren Freunden. Eine herausragend sinnfreie Strategie für eine regional begrenzte Landtagswahl. In der Schlussphase des Wahlkampfes schaltete die CDU schließlich um auf positive Botschaften. Allerdings ohne diese zu personalisieren. Am Ende zeigt sich ein recht klares Bild, nämlich dass die CDU in Brandenburg wohl auch 2014 noch nicht verstanden hat, wie man Wählerinnen und Wähler für sich gewinnt. Lebensnah und freundlich Bei der SPD läuft vieles besser in den sozialen Netzwerken. Auf Facebook präsentiert die Partei über Wochen einen lebensnahen und freundlichen Spitzenkandidaten auf Festen im ganzen Land. Er ist lebensecht und lebensnah, spricht mit Bürgern und verzichtet auf große politische Botschaften. Flankiert werden die lebensfrohen Bilder von Dietmar Woidke von einer
großen Zahl von Unterstützern, die dazu aufrufen, den Ministerpräsidenten im Amt zu bestätigen. Eine schlaue Strategie, um Bürger darauf aufmerksam zu machen, dass Menschen, die sie aus Funk und Fernsehen kennen, sich für die Wahlteilnahme stark machen. direkt und ungefiltert Mit der Entwicklung des „roten Adlers“ als eigener Figur, die aus dem Wahlkampf erzählt, erschafft sich die Brandenburger SPD einen sympathischen Fürsprecher und überrascht immer wieder mit neuen Motiven zu tagesaktuellen Themen. Der Wahlkampf in sozialen Netzwerken der SPD in Brandenburg hätte es klar verdient, deutlich stärker mit Werbemitteln unterlegt zu werden. Immerhin – eingesetztes Geld wurde nur zur Ausspielung in Brandenburg genutzt, statt wie bei der CDU bundesweit verschwendet zu werden. Das im Grunde bis heute verkannte Potential von sozialen Netzwerken in Wahlkämpfen liegt im Einsatz von Werbemitteln. Zielgerichtet können diese eingesetzt werden, um hunderttausende Menschen ganz nebenbei mit politischer Kommunikation zu versorgen und direkt und ungefiltert mit positiven Botschaften zu bespielen. In Zeiten, da der Verbreitungsgrad von Tageszeitungen insbesondere in Brandenburg immer weiter abnimmt, ist
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dies eine valide Strategie, um eine eigene ungefilterte Direktkommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern aufzubauen. Ganz getreu dem Motto: Zwei Großflächen weniger und 100.000 Wähler mehr erreicht.| ERIK FLÜGGE
ist Geschäftsführer von Squirrel & Nuts.
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JOHN SIEGEL | ABWARTEN IST KEINE OPTION
ABWARTEN IST KEINE OPTION Brandenburg steht in den nächsten Jahren vor sechs großen Herausforderungen — Von John Siegel
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ls SPD und Linke Anfang November 2014 die Unterschriften unter den Koalitionsvertrag für die 6. Legislaturperiode bis 2019 setzten, zeigten sich die Verantwortlichen zuversichtlich, damit eine solide Grundlage für die Bewältigung der Herausforderungen zu schaffen, die in den nächsten fünf vor ihnen liegen. Anders als in der Vergangenheit war dem Wahlkampf und den anschließenden Verhandlungen über die Eckpunkte der Regierungsarbeit in der SPD ein umfassender, relativ offener und analytischer Diskussionsprozess vorausgegangen, der unter der Überschrift „Brandenburg 2030“ geführt wurde und ein gleichnamiges Grundsatzpapier zur Folge hatte. Damit verfügt die Brandenburger SPD über ein Strategiedokument, an dem sich das Handeln und die Ergebnisse der von ihr geführten Regierung messen lassen müssen. Auch wenn das Papier deutlich langfristiger ausgelegt ist, war doch allen Beteiligten klar, dass die Umsetzung der Strategien in den Jahren bis 2019 stattfinden muss.
Die Herausforderungen, vor denen Brandenburg in diesem Zeitraum steht, sind gravierend. Sie werden durch die bekannten und oft hervorgehobenen Rahmenbedingungen des demografischen Wandels, der sich verengenden finanziellen Spielräume und die sozioökonomische Entwicklung des Landes geprägt – Trends, die sich zudem gegenseitig beeinflussen und teilweise verstärken. Thomas Kralinski hält die „Aufgaben für die nächsten fünf Jahre“ demzufolge für „beträchtlich: Verwaltungsreform, Kriminalität eindämmen, eine Wachstumsstrategie für das boomende Berliner Umland sowie eine Perspektive für die schrumpfenden äußeren Regionen – und das alles in einer Wahlperiode, in der die Sonderförderung aus dem Solidarpakt endet.“ der demografische Wandel geht weiter Sechs zentrale Herausforderungen sind dabei hervorzuheben und sollen hier eine tiefer gehenden Betrachtung unter-
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zogen werden. Dabei sind zwei zentrale Rahmenbedingungen Ausschlag gebend für den Handlungsbedarf, aber auch die Spielräume, über welche die verantwortlichen Akteure in Land und Kommunen verfügen. Zum einen setzt sich die demografische Spaltung innerhalb des Landes fort und führt zu sich verschärfenden Gegensätzen zwischen den Wachstumskernen im Berliner Umland einerseits und der Peripherie des Landes andererseits, die durch – teilweise dramatische – Entwicklungen und problematische Perspektiven gekennzeichnet ist. Weniger Junge, mehr ältere Entscheidend ist dabei die kontinuierliche Verringerung der vom Alter her potenziell Erwerbstägigen und das so genannte demografische Echo (der Geburtenrückrückgang und die Abwanderung in den neunziger Jahren bewirkt, dass in der Folge – 30 Jahre später – nun auch weniger Kinder geboren werden). So nimmt laut offizieller Bevölkerungsprognose die Bevölkerung im Berliner Umland von 2015 bis 2020 von ca. 935.000 auf 952.000 Einwohner leicht zu, während sie in der Peripherie des Landes (dem sogenannten „weiteren Metropolenraum“) von ca. 1.525.000 auf 1.459.000 abnehmen wird. Wichtiger noch ist der Umstand, dass der Anstieg im „Speckgürtel“ danach zum
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Erliegen kommt und sich die Schrumpfung jenseits dieser Räume nicht nur fortsetzen, sondern sogar beschleunigen wird. Die Bertelsmann-Stiftung hatte 2011 berechnet, dass bis 2030 die Zahl der Brandenburgerinnen und Brandenburger im Alter von 19 bis 64 Jahren um ca. 356.000 (!) abnehmen wird. Gleichzeitig steigt die Zahl der über 80-Jährigen um fast 106.000 und verdoppelt sich damit. Auch wenn diese Zahlen immer wieder genannt werden und allen Verantwortlichen bewusst sein dürften, müssen sie hier als Rahmenbedingungen der Herausforderungen für das, was in den nächsten fünf Jahren auf der Agenda steht, stets immer wieder deutlich gemacht werden. Zum anderen verringern sich die finanziellen Handlungsspielräume von Land und Kommunen. Während die Einnahmeentwicklung in der letzten Legislaturperiode überraschend positiv verlief, gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass dies so weiter geht. Ganz im Gegenteil. Sonderförderungen laufen aus Klar ist: Bis 2019 wird die Sonderförderung der ostdeutschen Länder auslaufen. Dabei sinken die SonderbedarfsZuweisungen von 828 Millionen Euro in 2014 auf 300 in 2019, bevor sie danach ganz auslaufen. Auch weitere Einnahmequellen werden – voraussichtlich weitge-
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hend ersatzlos – wegfallen. Dass diese Einnahmeverluste durch höhere Steuereinnahmen oder durch für eine Brandenburg günstige Neuregelung des Länderfinanzausgleichs ausgeglichen werden können, ist äußerst unwahrscheinlich. Die jüngste Steuerschätzung geht für Brandenburg von 125 bis 150 Millionen Euro weniger Steuereinnahmen aus als ursprünglich geplant – pro Jahr. dunkle Wolken ziehen auf Gleichzeitig verdoppeln sich die Versorgungsausgaben alleine zwischen 2015 und 2020 auf mindestens 300 Millionen Euro jährlich – Tendenz stark steigend. Auch die gegenwärtigen Diskussionen – etwa die Beiträge aus Nordrhein-Westfalen – zur Neuordnung der Finanzverfassung lassen in finanzieller Hinsicht ebenfalls wenig Gutes für Brandenburg erwarten. Jedenfalls ist klar, dass das finanzpolitische Eis dünner wird – gerade vor dem Hintergrund einer möglichen größeren wirtschaftlichen Krise, die sich zwar niemand wünscht, die aber auch nicht ausgeschlossen und gerade im Hinblick auf die derzeitige außenpolitische Situation und die ökonomische Entwicklung in Europa auch nicht als unwahrscheinlich bewertet werden kann. Mit anderen Worten: die fiskalische Schönwetterlage für Brandenburg verzieht sich langsam aber sicher, es ziehen dunklere Wolken auf. Branden-
burg täte gut daran, sich auf rauhe Zeiten einzustellen. Unter diesen Bedingungen zeichnen sich in sechs Aufgabenfeldern der Landespolitik Entwicklungen ab, die als Herausforderungen zu bezeichnen fast schon euphemistisch ist. Jedenfalls besteht hier erheblicher Entscheidungsund Handlungsbedarf. Dass die Spielräume dabei begrenzt sind und tendenziell auch immer weiter abnehmen, verdeutlicht die Dringlichkeit effektiver Strategien und die Notwendigkeit einer sorgfältigen Koordination der entsprechenden Handlungsansätze. Wie die Straßen unterhalten? Eine herausragende „Baustelle“ in diesem Zusammenhang ist erstens die Infrastruktur im Land. Dabei sind zwei wesentliche Aspekte der Infrastruktur zu unterscheiden: Erstens die Verkehrsinfrastruktur und zweitens die Ver- und Entsorgungsnetze. Hinsichtlich der Verkehrsinfrastruktur besteht die paradoxe Situation, dass diese im Berliner Umland ausgebaut werden muss, in der Peripherie jedoch die Frage weitgehend unbeantwortet ist, wie immer weniger genutzte Straßen zukünftig unterhalten werden sollen und trotzdem eine angemessene Verkehrsanbindung auch in der Fläche gewährleistet werden kann. Die zu beobachtende Tendenz, dass Straßen „herabgezont“ werden (die
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Trägerschaft für Straßen also vom Land auf die Kreise und von Kreisen auf die Gemeinden übergeht) wird immer mehr zu der Situation führen, dass gerade strukturschwache Kommunen immer weniger in der Lage sein werden, für einen angemessenen Straßenunterhalt zu sorgen und vor der Entscheidung stehen, Straßen aufzugeben. Die Auswirkungen für die Mobilität einer im übrigen gerade dort immer älter werdenden Bevölkerung sind offensichtlich – mit dem Resultat, dass die Attraktivität der ländlichen Räume zusätzlich beeinträchtigt wird. Grundsätzlich besteht dieses Dilemma auch bei den schienengebundenen Verkehrsangeboten. das umland braucht infrastruktur Gleichzeitig nimmt der Druck auf Land und Kommunen zu, die Verkehrsinfrastruktur im berlinnahen Raum weiterhin erheblich auszubauen und auch in großem Umfang in die Unterhaltung zu investieren. Gerade das Land steht hier vor der Entscheidung, ob es diese notwendigen Investitionen fördern oder den Schwerpunkt darauf setzen sollte, jene Kommunen, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Straßen selbst in angemessenem Umfang zu unterhalten, bei dieser Aufgabe zu unterstützen. In noch stärkerem Umfang geht dieselbe Argumentation für die Netzwerkinfrastruktur, insbesondere bei der
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Wasserver- und entsorgung, Energienetzen und dem Ausbau der BreitbandInternet-Versorgung. In Bezug auf die Netzwerkinfrastrukturen besteht das Problem vor allem darin, dass diese sprungfixe Kosten verursachen, also weniger Nutzer nicht unbedingt zu geringeren Kosten führen. Demzufolge tragen immer weniger Einwohner die gleichen Kosten für Kanalisation, Gasnetze und so weiter. Da das Erwerbspersonenpotenzial in der Peripherie kontinuierlich abnimmt, wird die Finanzierungsbasis der Infrastrukturen zusätzlich unterminiert. In diesen Zusammenhang gehört selbstverständlich auch das Flughafenprojekt, dass in dieser Legislaturperiode mit der Eröffnung (zumindest vorläufig) abgeschlossen werden muss, wenn die Landespolitik hier nicht endgültig ihre Glaubwürdigkeit verlieren will. Anschließend dürfte sich die Aufmerksamkeit auf die Umfeldentwicklung und die Nutzung der ökonomischen und logistischen Potenziale des BER richten. Der absolute Gau wäre es freilich, wenn der Flughafen Tegel unter der jahrelangen Überlastung kollabiert, bevor der BER eröffnet werden kann. Das wäre dann keine Farce mehr, sondern eine Katastrophe. Zweites zentrales Handlungsfeld ist sind Migration und Integration. Die aktuelle Situation im Hinblick auf die Zuwanderung dürfte sich absehbar in den nächsten Jahren nicht entspannen, ge-
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gebenenfalls eher verschärfen. Auch wenn die Bereitschaft der Brandenburger Bevölkerung, beispielsweise Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren, etwa gegenüber den neunziger Jahren zumindest scheinbar gestiegen ist, birgt diese Thematik sozialen und politischen Sprengstoff. Schon das Wahlergebnis der AfD Bei der Landtagswahl ist ein Hinweis darauf, dass die Integrationsbereitschaft nicht überschätzt werden sollte. eine echte Willkommenskultur Entscheidend ist jedoch dass Brandenburg seinen Beitrag zur Integration der Bürgerkriegsflüchtlinge, aber auch die Folgen der Öffnung der Arbeitsmigration innerhalb Europas selbstverständlich tragen muss – und dies auch als Chance begreifen sollte. Offensichtlich ist die Unterbringung von Flüchtlingen und die Finanzierung entsprechender Soziallasten für die Kommunen, aber auch die Schulversorgung eine große, teilweise nur sehr schwer zu bewältigende Herausforderung. Hier sind Land und Bund in der Verantwortung, für eine angemessene Verteilung zu sorgen und die Voraussetzung für eine erfolgreiche zu schaffen. Außerdem sollten sich die öffentlichen Institutionen („interkulturelle Öffnung“) und Zivilgesellschaft um eine echte Willkommenskultur bemühen, was in vielen Kommunen bereits auch sehr erfolgreich gelingt.
Drittens ist und bleibt die Bildungspolitik die entscheidende Schlüsselaufgabe auf Landesebene. Eine entscheidende Herausforderung wird darin bestehen, dass der demografische Wandel im Zusammenhang mit dem demografischen Echo dazu führen wird, dass die Schülerzahlen insbesondere in der Peripherie in den nächsten 15 Jahren erneut stark zurückgehen werden. Laut BertelsmannStiftung nimmt beispielsweise die Zahl der 10- bis 15-Jährigen bis 2030 in fünf Landkreisen um mehr als ein Fünftel ab, bei den unter 9-Jährigen wird diese Gruppe in denselben Kreisen sogar um mehr als ein Drittel schrumpfen. neue Schulstrukturen? Auch wenn die (erneut) dramatischen Einbrüche voraussichtlich erst im kommenden Jahrzehnt ihren Höhepunkt erreichen, ist die die logische Konsequenz daraus: Weitere Schulstandorte werden schließen müssen, was absehbar wieder zu Konflikten führen wird. Eine zweite Konsequenz könnte sein, dass der Druck zunehmen wird, sich im weiterführenden Bereich von einem gegliederten Schulsystem zu verabschieden. Bei den schwach besiedelten Räumen wird die parallele Aufrechterhaltung mehrerer Schulformen schlicht nicht realisierbar sein. Hier steht die Schulentwicklungsplanung vor einer Situation, die durch das Dilemma geprägt ist, einerseits flä-
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chendeckend eine hochqualitative und vielseitige Schulausbildung zu ermöglichen, andererseits aber an demografischer und letztlich finanzielle Grenzen stoßen würde. Hohe abbrecherquoten schmerzen In diesem Zusammenhang verschärft sich übrigens auch der Widerspruch zwischen einem Überschuss an Lehrern in der Peripherie und einem Lehrermangel in berlinnahen Raum. Hinzu kommt, dass die überdurchschnittlichen Standards bei der Personalausstattung, die sich Brandenburg bislang noch leisten konnte, hinterfragt werden müssen. Dazu gehört der überfällige Verzicht auf die fragwürdige Symbolpolitik überdurchschnittlicher Schüler-Lehrer-Relationen. Ab 2020 wird sich auch Brandenburg auf den Weg einer bundesweit durchschnittlichen Lehrerausstattung begeben müssen. Das liegt nicht nur an Finanzierungsproblemen, sondern auch daran, dass die Personalausstattung kaum Einfluss auf die Qualität des Unterrichts hat und zudem der entsprechende Bedarf an qualifizierten Lehrernachwuchs (gerade in „Mangelfächern“) weiter steigt, obgleich er ohnehin absehbar nicht ohne Abstriche bei den Anforderungen zu befriedigen ist. Im Übrigen sollte die Frage in den Mittelpunkt gerückt werden, wie endlich und nachhaltig die unerträglich hohen Schulabbrecherquoten reduziert werden.
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Viertens steht die im Koalitionsvertrag beschlossene und durch die Enquetekommission 5/2 in der letzten Legislaturperiode bereits intensiv vorbereitete, umfassende Verwaltungsstrukturreform in Brandenburg an. Sie ist nun nicht länger aufschiebbar. Die entscheidende Herausforderung dabei besteht darin, Kreis- und Gemeindegebietsreformen, die Aufgabenumverteilung zwischen den staatlichen und kommunalen Ebenen sowie die Weiterentwicklung des kommunalen Finanzausgleich in ein großes, stimmiges Paket zusammenzufassen und mehrheitsfähig, aber auch praktisch umsetzbar auszugestalten. Dazu gehört die Einkreisung von überschuldeten kreisfreien Städte Brandenburg an der Havel, Frankfurt/Oder und Cottbus ebenso wie die Anpassung der Strukturen der Landesverwaltung – nicht zuletzt unter Berücksichtigung des weiterhin stattfindenden und notwendigen Personalabbaus. die Quadratur des Kreises Diese Aufgabe gleicht der Quadratur des Kreises und ist äußerst komplex, weil organisatorische, rechtliche, finanzielle und nicht zuletzt politische Aspekte zu berücksichtigen sind. Es steht jedoch außer Zweifel, dass angesichts der demografischen und finanziellen Rahmenbedingungen derart weitgehende Veränderungen erforderlich sind und die
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verschiedenen Komponenten der Reform sorgfältig aufeinander abgestimmt werden müssen. Fünftens sind Haushalt und Finanzen nicht nur Rahmenbedingungen für die anderen Aufgaben, sondern selbst auch zu gestalten und zukunftsfest weiter zu entwickeln. In der vergangenen Legislaturperiode erlebte das Land Brandenburg eine überraschende, außergewöhnliche und langanhaltende Phase der finanziellen Einnahmezuwächse und Haushaltsüberschüsse – trotz erheblicher Zusatzausgaben beim Flughafenprojekt. Gleichzeitig liegen die Zinsen auf einem Rekord-Tiefstand. Planbarkeit für Kommunen Allerdings ist diese Situation keineswegs dauerhaft, geschweige denn nachhaltig. Abgesehen von den kalkulierbaren Mindereinnahmen aus dem Solidarpakt hat sich nicht nur das Konjunkturklima deutlich eingetrübt, was auch in der bereits angesprochenen aktuellen Steuerschätzung zum Ausdruck kommt. Die entscheidende Herausforderung in der Haushalts- und Finanzpolitik der nächsten fünf Jahre besteht für das Land vor allem darin, sich auf einen Ausgabenpfad hin zu entwickeln, der den strukturell (also konjunkturbereinigt) deutlich geringeren Einnahmen gerecht wird, ausreichende Puffer zur Einhaltung der Schulden-
bremse auch in schlechten Zeiten (auch wenn die Sozialausgaben steigen) garantiert und im Blick behält, dass die Zinsen mittel- bis langfristig wieder steigen werden. Im Übrigen sollte das Land endlich jene Modernisierung des Haushalts- und Rechnungswesens selbst umsetzen, die es (aus gutem Grund) den Kommunen oktroyiert hat. Desweiteren ist es dringend erforderlich, den Kommunen einen verbindlichen und realistischen Planungshorizont aufzuzeigen, mit welchen Mitteln seitens des Landes sie zukünftig rechnen können. Gleichzeitig ist sicherzustellen, dass (auch) einzelne Kommunen nicht über ihrer Verhältnisse leben und später die Lasten beim Land oder jenen Kommunen landen, die nachhaltig gewirtschaftet haben. Nicht zuletzt wird sechstens eine entscheidende Herausforderung der Landespolitik darin bestehen, Antworten auf die wirtschaftliche Abhängigkeit des Südens des Landes von Braunkohleabbau und -verstromung zu finden. Dabei muss sie quasi eine Doppelstrategie fahren: Einerseits gilt es, die Konsequenzen der Energiewende (die langfristig wahrscheinlich das Aus für die klimaschädliche „Brückentechnologie“ Braunkohle bedeuten wird) und des sich abzeichnenden Eigentümerwechsels zu bewältigen, andererseits muss sie genau diese mit symbolträchtigen Aktionen abzuwenden und jedenfalls hinauszuzögern versu-
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chen. Die ökonomische und energiepolitische Bedeutung der Braunkohle für Brandenburg ist unstreitig sehr groß, gleichzeitig ist das Thema eine Sollbruchstelle der Koalition. Umso wichtiger ist es, Perspektiven für die Zukunft der Lausitz zu entwickeln und gleichzeitig die langfristige Energieversorgung des Landes zu sichern. Weder neu noch überraschend Dazu kommt noch eine Vielzahl weiterer Herausforderungen, die hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – nur kurz erwähnt werden können, aber ebenfalls einer tiefergehenden Analyse und zweckmäßiger Strategien bedürften: > In der Gesundheitsversorgung verschärft sich das Problem des Ärztemangels – sowohl bei Haus- als auch bei Fachärzten. Wird dieses Problem nicht gelöst, könnte dies gravierende Auswirkungen für die Attraktivität der Lebensbedingungen im ländlichen Raum haben. > Im Berliner Umland nimmt angesichts steigender Mieten der Druck auf die Politik zu, die Schaffung von Wohnraum zu unterstützen. Da die finanziellen Möglichkeiten des Landes sehr beschränkt sind, sind hier intelligente Lösungen gefragt, die in enger Abstimmung mit den betroffenen Kommunen entwickelt werden sollten.
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> Die innere Sicherheit des Landes wird nicht allein dadurch verbessert, dass man bei der Polizei weniger Personal abbaut, zumal das Problem zumindest teilweise mehr mit dem subjektiven Sicherheitsempfinden als mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung zusammenhängt. Bei Strafverfolgung und Prävention muss das Land jedoch konsequent sein und „klare Kante“ zeigen, sonst könnte die Stimmung gerade in den grenznahen Räumen gefährlich kippen – in Richtung Selbstjustiz und Fremdenhass. Eine Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols muss in jedem Fall verhindert werden. > Im Hochschulbereich müssen die von der Hochschulstrukturkommission in der vergangenen Legislaturperiode ausgelösten Veränderungen weiterhin umgesetzt werden. Auf die Hochschulen werden finanziell harte Zeiten zukommen; es ist absehbar, dass weitere Studiengänge geschlossen werden. Seitens der Studierenden und Beschäftigten wird es zu – nachvollziehbarem – Widerstand kommen. > Die demografische Entwicklung wird zu einer Verschärfung des Fachkräfte- und Nachwuchsmangels führen. Dieses Problem wird absehbar die wirtschaftlichen Wachstumspotenziale im Land beschränken. Schon deswegen müssen die Ursachen für
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die hohen Schulabbrecherquoten beseitigt und das Pendlersaldo verringert werden. > Gleichzeitig bleibt noch ein erheblicher Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit bestehen, der sich nur langsam um den Preis entschärft, dass die Altersarmut kontinuierlich zunimmt. Angesichts dieser „lost generation“ der Wiedervereinigung kommen auf die Kommunen erhebliche Soziallasten zu, wiederum vor allem in der Peripherie, unter denen die dort ohnehin finanziell schon schwach aufgestellten Städte, Gemeinden und Landkreise die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreichen und teilweise überschreiten werden.
effektives Handeln relativ günstig. Das könnte sich jedoch schon bald ändern. Abwarten und Aussitzen sind daher keine Option – auch nicht bei knappen Mehrheiten. | PROF. DR. JOHN SIEGEL
lehrt Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.
Diese Herausforderungen sind überwiegend weder neu noch überraschend. Sie treffen die Landespolitik, vor allem Regierung und Koalition, nicht unvorbereitet. Der ostdeutsche Pragmatismus wird bei der Bewältigung ebenso hilfreich sein wie die Erfahrungen aus 25 Jahren Transformationsprozess, Strukturwandel und politischer Kontinuität – sofern die entsprechenden Notwendigkeiten erkannt, offen und konstruktiv diskutiert werden und die erforderlichen Entscheidungen fallen. Ein einfaches „Weiter so“, Ignoranz gegenüber notwendigen Veränderungen oder eine Taktik der Konfliktvermeidung wären jedoch fatal. Im Moment sind die Rahmenbedingungen für
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IMPRESSUM
Herausgeber – Klara Geywitz (V.i.S.d.P.), Klaus Ness – SPD-Landesverband Brandenburg – Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. Die perspektive 21 steht für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der besseren Lesbarkeit halber wurden an manchen Stellen im Text ausschließlich männliche oder weibliche Bezeichnungen verwendet. Diese Bezeichnungen stehen dann jeweils stellvertretend für beide Geschlechter. Redaktion Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Klaus Ness, Dr. Manja Orlowski, John Siegel Anschrift Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon +49 (0) 331 730 980 00 Telefax +49 (0) 331 730 980 60 E-Mail perspektive-21@spd.de Internet www.perspektive21.de www.facebook.com/perspektive21 Herstellung Gestaltungskonzept, Layout & Satz: statement Designstudio, Berlin www.statementdesign.de Druck: LEWERENZ Medien+Druck GmbH, Coswig (Anhalt) Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.
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Kinder? Kinder! Erneuerung aus eigner Kraft Ohne Moos nix los? Was nun Deutschland? Die neue SPD Chancen für Regionen Investitionen in Köpfe Auf dem Weg ins 21.Jahrhundert Brandenburg in Bewegung 10 Jahre Perspektive 21 Den Rechten keine Chance Energie und Klima Das rote Preußen Osteuropa und wir Bildung für alle Eine neue Wirtschaftsordnung? 1989 - 2009 20 Jahre SDP
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Gemeinsinn und Erneuerung Neue Chancen Zwanzig Jahre Brandenburg It’s the economy, stupid? Wie wollen wir leben? Geschichte, die nicht vergeht Engagement wagen Die Zukunft der Kommunen Die Zukunft der Medien Welche Hochschulen braucht das Land? Quo vadis Brandenburg? Sport frei! Wo es stinkt und kracht Wachsam bleiben Zwischen Erfolg und Niederlage Aufstieg organisieren Intelligent wirtschaften 25 Jahre Freiheit