25 JAHRE FREIHEIT

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Heft 61 | September 2014 | www.perspektive21.de

Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik

MAGAZIN Thomas Petersen Die Sehnsucht der Städter nach dem Land Wolfgang Engler Kompensatorische oder antizipierende Reform? DAS STRASSENSCHILD Jens Schneider über Christian Führer Friedlicher Revolutionär SCHWERPUNKT

25Jahre Freiheit Die friedliche Revolution im Rückblick

Hans-Jochen Vogel Eine unmittelbare Herausforderung Henning Voscherau Keine Selbstverständlichkeit Dietmar Woidke Die Wende begann 1981 Frank-Walter Steinmeier Alte Lieder, neue Zeiten Günter Baaske „... der singt auch in Kirchen!“ Heinz Vietze Was ich gemacht habe, kann und muss ich verantworten Susanne Melior Später Sommer Thomas Kralinski Im Osten was Neues?


Eine persรถnliche Bestandsaufnahme

20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?

224 Seiten, gebunden

| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen


VORWORT

A

m 7. Oktober 1989 trafen sich 40 sehr mutige Männer und Frauen in Schwante, einem kleinen Ort, nordöstlich von Berlin. Was sie vorhatten, war eine enorme Provokation für die damalige SED-Führung in Ost-Berlin. Sie gründeten eine sozialdemokratische Partei in der DDR. Das war eine Kampfansage an die SED. Nicht nur dass sie es ausgerechnet am 40. Jahrestag der DDR taten. Bisher hatten sich in der grauen Republik „nur“ Bürgerrechtsbewegungen oder Initiativen gebildet – eine Partei aber war ein unmittelbarer Angriff auf das Machtmonopol. Und es war ein direkter Angriff auf die Grundfeste der SED, denn nach ihrer Lesart waren die Sozialdemokraten ja in ihr „aufgegangen“. Die Gründung der SDP war zweifellos ein wichtiger Bestandteil der friedlichen Revolution, die sich in diesem Jahr zum 25. Mal jährt. Mit diesem Heft wollen wir an diesen Jahrestag erinnern. Dabei wollen wir Geschichte und Geschichten nachzeichnen – von Männern und Frauen, die einen Beitrag geleistet haben, dass das SED-Regime so schnell zusammenbrach. Herausgekommen sind spannende Beiträge – und zwar aus Ost und West, von Dietmar Woidke bis Susanne Melior, von Hans-Jochen Vogel bis Henning Voscherau. Hinzu kommt ein Interview mit Heinz Vietze, der als SED-Bezirkssekretär 1989 mit ansehen musste, wie seine Macht erodierte. 25 Jahre nach der einzig „glücklichen“ deutschen Revolution wird man aber gleichzeitig auch sehr nachdenklich, wenn man die jüngsten politischen Entwicklungen sieht. Vor allem die Wahlbeteiligungen von lediglich um die 50 Prozent bei Kommunal- und Landtagswahlen machen deutlich, dass Demokratie und Freiheit für viele vielleicht zu selbstverständlich geworden sind. Der Blick in die Parteiensysteme unserer mittelosteuropäischen Nachbarländer zeigt dabei, wie labil die Demokratien sein können. Oder anders gesagt: Welche Herausforderungen vor den Demokraten in den kommenden Jahren liegen. Denn eines ist gewiss: Demokratie und Freiheit darf nicht auf den Hund kommen, sie muss jeden Tag neu gepflegt und gelebt werden. Das ist ein Vermächtnis der Friedlichen Revolution, um das wir uns stärker kümmern müssen.

Klara Geywitz

Klaus Ness


IMPRESSUM

Herausgeber – Klara Geywitz (V.i.S.d.P.), Klaus Ness – SPD-Landesverband Brandenburg – Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. Die perspektive 21 steht für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der besseren Lesbarkeit halber wurden an manchen Stellen im Text ausschließlich männliche oder weibliche Bezeichnungen verwendet. Diese Bezeichnungen stehen dann jeweils stellvertretend für beide Geschlechter. Redaktion Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Klaus Ness, Dr. Manja Orlowski, John Siegel Anschrift Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon +49 (0) 331 730 980 00 Telefax +49 (0) 331 730 980 60 E-Mail perspektive-21@spd.de Internet www.perspektive21.de www.facebook.com/perspektive21 Herstellung Gestaltungskonzept, Layout & Satz: statement Designstudio, Berlin www.statementdesign.de Druck: LEWERENZ Medien+Druck GmbH, Coswig (Anhalt) Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.

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INHALT

MAGAZIN 7

Die Sehnsucht der Städter nach dem Land Wie sich das Bild vom Landleben verändert hat von Thomas Petersen

15

Kompensatorische oder antizipierende Reform? Wie sich das Arbeitsleben verändert und welche Auswirkungen das auf die Arbeitspolitik der Zukunft hat von Wolfgang Engler

DAS STRASSENSCHILD 21

Friedlicher Revolutionär

Jens Schneider über Christian Führer

SCHWERPUNKT 25 JAHRE FREIHEIT | Die frieDliche revolution im rückblick

23

Eine unmittelbare Herausforderung Über die kurze Geschichte der Ost-SPD von Hans-Jochen Vogel

43 „... der singt auch in Kirchen!“

Mein Wendeherbst in der Mark von Günter Baaske

47 Was ich gemacht habe, kann und 27

Keine Selbstverständlichkeit Wie die Städtepartnerschaft zwischen Dresden und Hamburg zu einem Angebot an die SPD führte von Henning Voscherau

33

Die Wende begann 1981 Mein Weg in die Sozialdemokratie von Dietmar Woidke

muss ich verantworten Über eine Karriere in der SED, den Umgang mit der Opposition und Windeln im Politbüro sprach Thomas Kralinski mit Heinz Vietze

55 Später Sommer

39 Alte Lieder, neue Zeiten

Wie mir Brandenburg zur neuen Heimat wurde von Frank-Walter Steinmeier

Wie die Sozialdemokratie 1989 in der DDR Einzug hielt von Susanne Melior

65 Im Osten was Neues?

Wie sich die Parteiensysteme im östlichen Mitteleuropa verändert haben von Thomas Kralinski

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MAGAZIN

Die Sehnsucht der Städter nach dem Land Wie sich das Bild vom Landleben verändert hat — Von Thomas Petersen e weniger Menschen Kontakt zum wirklichen Leben auf dem Land haben, desto eher wird dieses zur Projektionsfläche ihrer Phantasie. Die Menschen leben auf dem Land glücklicher, glauben die Städter. Das Ausmaß des demografischen Wandels in Deutschland lässt sich gut am Beispiel der Erklärungsnöte illustrieren, in die er die Statistikdozenten an den Hochschulen bringt. Seit Jahrzehnten pflegen diese nämlich ihren Studenten die Geschichte mit den Störchen und den Kindern zu erzählen. Sie veranschaulichen damit die Tatsache, dass ein mathematischer Zusammenhang zwischen zwei statistischen Informationen noch lange nicht bedeuten muss, dass das eine die Ursache für das andere ist. Generationen von Studenten bekamen erzählt, dass dort, wo es besonders viele Störche gebe, auch die Geburtenzahlen besonders hoch seien. Das bedeutet – überraschenderweise – jedoch noch nicht, dass der Storch die Kinder bringe, sondern es gebe einen Faktor im Hintergrund, der sowohl die hohen Geburtenraten als auch die Zahl der Störche beeinflusse, nämlich die Ländlichkeit: Auf dem Land gebe es verständlicherweise mehr Störche als in der Stadt, und auf dem Land seien die traditionellen Familienstrukturen besser intakt als in den Städten, folglich gebe es dort – gemessen an der Gesamtzahl der Einwohner – mehr Kinder.

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Die Störche bringen keine Kinder mehr Diese Geschichte ist zwar einleuchtend, aber sie stimmt schon lange nicht mehr. Die meisten Störche gibt es in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, und ebendort sind die Geburtenraten am niedrigsten. Die höchsten Kinderzahlen pro Frau werden in den Stadtstaaten Hamburg und Berlin sowie in einigen anderen großen Städten registriert. Hier gab es in den vergangenen Jahren sogar öfter Geburtenüberschüsse. Hinzu kommen erhebliche Wanderungsbewegungen in die

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MAGAZIN

Städte, die dazu geführt haben, dass Berlin in den vergangenen beiden Jahrzehnten etwa 100.000 Einwohner hinzugewonnen hat, Hamburg und München sogar jeweils rund 200.000 Einwohner, während Mecklenburg-Vorpommern, das am stärksten ländlich geprägte Bundesland, allein seit Beginn des Jahrhunderts fast 200.000 Einwohner verloren hat, mehr als zehn Prozent der ursprünglichen Bevölkerung. Eigentlich könnten die Statistikdozenten ihren Studenten erzählen, der Storch vertreibe die Kinder. Das Beispiel zeigt, wie sehr sich bei nahezu gleichgebliebener Gesamtbevölkerungszahl die Bevölkerungsstrukturen in Deutschland verändert haben. Während in vielen großen Städten die Mieten steigen, weil das Wohnungsangebot nicht die wachsende Nachfrage nach Wohnraum befriedigen kann, macht man sich in manchen ländlichen Regionen Sorgen um den Erhalt der Infrastruktur, darum, wie die verbleibende Bevölkerung noch mit den notwendigen Dienstleistungen versorgt werden soll, wenn das letzte Lebensmittelgeschäft schließt und der ortsansässige Hausarzt keinen Nachfolger findet.

Die psychologische Distanz ist erheblich Wie ernst sind diese Probleme aus Sicht der Bevölkerung wirklich, was unterscheidet das Leben auf dem Land von dem in der Stadt, und welches Bild haben die Stadtund Landbewohner von der jeweils anderen Region? Dies sind die Fragen, denen in der jüngsten repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachgegangen wurde. Sie zeigt, dass die tatsächlichen Lebensbedingungen auf dem Land und in der Stadt bisher noch nicht so weit auseinanderklaffen, wie man angesichts mancher öffentlichen Diskussion zu diesem Thema vermuten könnte, dass aber die psychologische Distanz zwischen Stadt und Land erheblich ist und, wie man annehmen muss, zunimmt. Die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen in die großen Städte gezogen sind, wird von der Bevölkerung durchaus registriert. Auf die Frage „Sehen Sie darin generell ein Problem, oder sehen Sie darin kein Problem?“ antworten 36 Prozent, sie sähen darin ein Problem, etwas mehr, 43 Prozent widersprechen. In den ländlichen Regionen fallen die Zahlen nur wenig anders aus. Hier meinen 40 Prozent, die Landflucht sei ein Problem, 41 Prozent vertreten die Gegenposition. Dabei wird die Landflucht noch eher in den Klein- und Mittelstädten spürbar als im ländlichen Milieu selbst. Dies zeigen die Antworten auf die Frage „Wie ist das bei Ihnen in der Region: Ziehen da eher neue Leute zu, oder ziehen von hier eher

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THOMAS PETERSEN | DIE SEHNSUCHT DER STÄDTER NACH DEM LAND

infrastruktur in der Stadt und auf dem Land in Prozent Stadt: Versorgung ist (sehr) gut Stadt: Versorgung ist nicht gut/gar nicht gut

Land: Versorgung ist (sehr) gut Land: Versorgung ist nicht gut/gar nicht gut

96 Gesundheitsversorgung

3 84 15 89 10

Bus- und Bahnnetz

55 40 72 12

Schulen

79 13

Einkaufsmöglichkeiten

95

5 87 12

Quelle: ifD allensbach

Leute weg, oder ändert sich da nicht viel?“ 54 Prozent der Befragten in Großstädten, 40 Prozent der Landbewohner, aber nur 34 Prozent der Bewohner kleinerer und mittlerer Städte antworten auf diese Frage, es zögen an ihrem Ort eher Menschen zu als weg. Von Abwanderung berichten sechs Prozent der Großstadtbewohner, 16 Prozent der Land- und 17 Prozent der Kleinstadtbewohner. Bisher hat die Abwanderung aus einigen ländlichen Regionen noch nicht dazu geführt, dass die Bevölkerung erhebliche Defizite in der Infrastruktur wahrnimmt. So betrifft der in der Öffentlichkeit viel diskutierte Ärztemangel im Alltag bisher anscheinend nur wenige Bürger. Eine Frage lautete: „Wenn Sie einmal die Gesundheitsversorgung hier in der Region betrachten: Würden Sie sagen, die Gesundheitsversorgung hier in der Region ist alles in allem sehr gut, gut, nicht so gut, gar nicht gut?“ 96 Prozent der Befragten in Großstädten, aber immerhin auch 84 Prozent der Personen, die in ländlichen Regionen leben, antworteten, die Gesundheitsversorgung in ihrer Region sei gut oder sehr gut. Nur drei Prozent in den großen Städten und 15 Pro-

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MAGAZIN

Wo haben die Menschen mehr vom Leben: in der Stadt oder auf dem Land? in Prozent

■ in der Stadt

■ auf dem Land

54 43

39

21

19

1956

40

1977

2014 Quelle: ifD allensbach

zent auf dem Land bezeichneten die Lage als weniger gut oder gar nicht gut. Auch bei analog formulierten Fragen, bei denen es um die Schulen und um Einkaufsmöglichkeiten ging, antworteten klare Mehrheiten von mehr als drei Vierteln der Landbewohner, die Lage sei gut oder sehr gut. Lediglich beim Bus- und Bahnnetz fiel der Anteil der positiven Urteile mit 55 Prozent etwas weniger deutlich aus, hier klagten immerhin 40 Prozent über eine weniger gute oder gar nicht gute Anbindung. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse muss man berücksichtigen, dass besonders dünn besiedelte Regionen wie Ostvorpommern oder die Altmark nur zu einem kleinen Teil in die Umfrageergebnisse eingehen, weil dort nur wenige Menschen leben. Insofern schlagen sich etwaige Lücken in der Infrastruktur in solchen Gebieten kaum in den Umfrageresultaten nieder. Doch man erkennt immerhin, dass im ländlichen Raum insgesamt bisher nur ein kleiner Teil der Bevölkerung von solchen Problemen betroffen ist. In einem seltsamen Kontrast zur Abwanderung der Landbevölkerung steht die Tatsache, dass gleichzeitig der ländliche Raum für viele Deutsche auf einer psychologischen Ebene attraktiver geworden ist. Im Jahr 1956 stellte das Allensbacher Institut zum ersten Mal die Frage „Wo haben die Menschen Ihrer Ansicht nach ganz allgemein mehr vom Leben: auf dem Land oder in der Stadt?“ Damals antworteten 59 Prozent, man habe in der Stadt mehr vom Leben, lediglich 19 Prozent sagten dies

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THOMAS PETERSEN | DIE SEHNSUCHT DER STÄDTER NACH DEM LAND

Wo leben die Menschen glücklicher? in Prozent

■ in der Stadt

■ auf dem Land

54 38 23 13 6 Großstadtatmosphäre

Klein-/Mittelstadt

3 ländliches Milieu

Charakter des Wohnortes der Befragten Quelle: ifD allensbach

vom Land. Als die Frage 1977 wiederholt wurde, hatten sich die Antworten deutlich verändert. Nun sagten nur noch 39 Prozent, man habe in der Stadt mehr vom Leben, etwas mehr, 43 Prozent, entschieden sich für das Land. Heute sagt nur noch jeder Fünfte, in der Stadt lebten die Menschen besser. Bemerkenswert ist dabei, dass auch die Bewohner der großen Städte, die, wie sich in anderen Fragen zeigt, durchaus die Vorteile des Stadtlebens mit seinen vielen Einkaufs- und Kulturangeboten zu schätzen wissen, das Glück eher auf dem Land vermuten. Auf die Frage „Wo leben Ihrer Ansicht nach die Menschen glücklicher: auf dem Land oder in der Stadt?“ entscheiden sich die Landbewohner mit 54 zu drei Prozent für das Land. Aber immerhin geben auch 23 Prozent der Befragten in großen Städten diese Antwort, während sich nur 13 Prozent für die Stadt entscheiden (die übrigen Befragten wählen die ausweichenden Antwortmöglichkeiten „Kein Unterschied“ oder „Kommt drauf an“). Man glaubt eine gewisse Romantik zu erkennen: Man nutzt die Vorzüge des Stadtlebens, aber das Landleben wird anscheinend als natürlicher, gesünder empfunden. Man kann annehmen, dass die tatsächlichen Unterschiede zwischen Stadt- und Landleben dank der modernen Infrastruktur heute geringer sind als vor Jahrzehnten. Der Kolumnist Harald Martenstein schrieb einmal, nach seinem Eindruck bestehe der einzige Unterschied heute noch darin, dass es auf dem Land wegen der unzäh-

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MAGAZINMAGAZIN

Was verbinden Sie mit dem Leben auf dem Land und in der Stadt? ■ Das verbinde ich mit Leben auf dem Land ■ Das verbinde ich mit Leben in der Stadt

Zustimmung in Prozent

Gute Luft

95 2 84

Günstiger Wohnraum

5

Nachbarschaftshilfe

5

82

80

Lange Wege

7 57

Zufriedenheit

8 46

Man wird ständig beobachtet

22 27

Einsamkeit

39 20

Gute Freizeitmöglichkeiten

65 10

Abwechslung

76 4

Gute Einkaufsmöglichkeiten Lärm

90 2 91

Quelle: ifD allensbach

ligen Rasenmäher und Kreissägen lauter sei als in der Stadt. Tatsächlich unterscheiden sich die Angaben der Befragten über die Vor- und Nachteile ihres Wohnortes von Stadt zu Land weniger, als man angesichts der hartnäckigen Klischees über das Stadt- und Landleben vermuten würde. Warum aber hat das Stadtleben trotz der tatsächlichen Anziehungskraft der Städte einen vergleichsweise schlechten Ruf? Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Frage, bei der die Befragten gebeten wurden, zu verschiedenen Begriffen anzugeben, ob sie sie eher mit dem Leben in der Stadt oder eher mit dem Leben auf dem Land verbinden. Die Ergebnisse zeigen in vielen Punkten das zu erwartende Muster: Die Begriffe „gute Luft“, „günstiger Wohnraum“ und „Nachbarschaftshilfe“ werden von großen Mehrheiten dem Landleben zugeordnet, Stichworte wie „gute Einkaufsmöglichkeiten“, „abwechslungsreich“, aber auch „Schmutz“ und „Lärm“ dem Leben in der Stadt. Etwas überraschend ist vielleicht dagegen, dass die Befragten die Assoziation „einsam“ zu 27 Prozent dem Land-

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THOMAS PETERSEN | DIE SEHNSUCHT DER STÄDTER NACH DEM LAND

leben, aber zu 39 Prozent dem Leben in der Stadt zuordnen. Das Klischee von der Vereinsamung der Menschen in der anonymen Großstadt hat sich in der Umfrageforschung über Jahrzehnte hinweg nie bestätigen lassen, doch es prägt anscheinend bis heute die Vorstellungen vieler Bürger. Das Landleben trägt im Kontrast dazu die Züge eines Idealbildes. In den Büchern der Stadtkinder sind Bauernhöfe abgebildet, die es seit Jahrzehnten allenfalls noch in Freilichtmuseen gibt, Zeitschriften wie „Landlust“ erreichen Rekordauflagen, die Partei der Grünen erzielt ihre besten Wahlergebnisse regelmäßig in den Zentren der großen Städte. Je mehr Menschen in der Stadt leben, je weniger Kontakt sie zum tatsächlichen Landleben haben, desto mehr wird das Land zu einer Projektionsfläche ihrer Phantasien. | DR. THOMAS PETERSEN

ist Kommunikationswissenschaftler und Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach.

Der Text erschien bereits am 17. Juli d. J. in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

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MAGAZIN

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WOLFGANG ENGLER | KOMPENSATORISCHE ODER ANTIZIPIERENDE REFORM?

Kompensatorische oder antizipierende Reform? Wie sich das Arbeitsleben verändert und welche Auswirkungen das auf die Arbeitspolitik der Zukunft hat Von Wolfgang Engler enige Monate nach der jüngsten Regierungsbildung hat die deutsche Sozialdemokratie zentrale Anliegen ihrer Wahlkampfagenda verwirklicht, die Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn ebenso wie die einer Rente mit 63 bei 45 Beitragsjahren. Positive Auswirkungen auf die Gunst des Wahlvolks blieben Umfragen zufolge aus: zu viele Ausnahmen im einen Fall, zu wenig Nutznießer im anderen. Führende Köpfe der Partei forderten eine strategische Neuausrichtung. Um langfristig zu erstarken sei mehr Wirtschaftskompetenz der SPD vonnöten.

W

Kann man die Verprellten zurückgewinnen? Das ging politisch schon einmal schief, mit der „Agenda 2010“, den von Januar 2003 bis Februar 2006 in Kraft getretenen „Vier Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, den sogenannten Hartz-Reformen. Davon zutiefst enttäuschte Genossen und Gewerkschaftler formierten sich im Westen Deutschlands zur „Wahlinitiative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ und verschmolzen 2007 mit der ostdeutschen PDS zur Linkspartei. Der Protest der Straße schwoll wieder ab, der Durchmarsch der Linken in die westlichen Landesparlamente geriet ins Stocken, aber an der 5-Prozent-Hürde kratzt sie noch immer, im Osten behauptet sie sich bei durchschnittlich 20 Prozent, stellt Minister und demnächst vielleicht den ersten Ministerpräsidenten. Bei nationalen Wahlen graste die Linke linkes Wählerpotential der SPD erfolgreich ab und ließ die Hoffnungen auf eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung platzen. War, was politisch höchst unliebsame Konsequenzen zeitigte, wirtschaftlich gesehen unvermeidlich, im Grunde ein Erfolg, so dass es nur eines langen Atems bedarf, um die Verprellten von diesem Weg zu überzeugen und zurückzugewinnen? –

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MAGAZIN

Zu einer umfassenden Bestandsaufnahme ihres Reformwerks rang sich die SPD nie durch; das überließ sie den Fachöffentlichkeiten. Unterdessen verfügen wir über eine profunde Analyse der seit 2003 beobachtbaren Veränderungen am deutschen Arbeitsmarkt. Die Studie der „Jenaer Gruppe“1 registriert den Aufschwung der Erwerbstätigkeit, die Anzahl der Erwerbspersonen stieg deutlich, nicht jedoch das Arbeitsvolumen, die von diesen Erwerbspersonen geleisteten Arbeitsstunden; ein Indiz für die mangelnde Güte vieler neu geschaffener Stellen.

Mehr Menschen in einer Zone der Verwundbarkeit Auf sämtliche Beschäftigungsverhältnisse bezogen erhöhte sich die atypische Beschäftigung bis zum Ende der Nullerjahre um 46 Prozent. Teilzeitverhältnisse, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit wuchsen, die Zahl der Minijobs schnellte auf 7,4 Millionen hoch, davon knapp 5 Millionen im Haupterwerb. Der Niedriglohnsektor blähte sich auf 23 Prozent der Erwerbstätigen auf mit der Folge einer stark wachsenden Zahl von Aufstockern. Fünf Millionen Menschen zählten trotz Erwerbsarbeit zu den Hilfsbedürftigen. Maßnahmeabsolventen, Ein-Euro-Jobber und zeitweise arbeitsunfähige Personen wurden aus der Arbeitslosenstatistik herausgerechnet und der Gruppe der Unterbeschäftigten zugeschlagen – noch einmal rund fünf Millionen Menschen, annähernd so viele wie vor dem Einschnitt. Die rapide um sich greifende Praxis der Werkverträge tat ein übriges, um verbriefte Arbeitnehmerrechte auszuhöhlen. Fazit der Autoren: „Die neue Arbeitsgesellschaft, die sich herausbildet, stimmt nur wenig mit dem Bild überein, das Reformbefürworter ( ... ) gerne von ihr zeichnen.“ Mehr und mehr Menschen arbeiten und leben hierzulande unter prekären Verhältnissen, bevölkern die „Zone der Verwundbarkeit“ (Robert Castel). Viele von ihnen identifizieren die SPD als Initiator dieses Prozesses mit der wachsenden Verunsicherung, den alltäglichen Nöten ihrer Daseinsführung. Sie tun dies im Osten Deutschlands aufgrund des Kahlschlags sicherer und auskömmlicher Arbeitsplätze gleich nach dem Umbruch proportional in noch höherem Maße als im Westen. Die Forderung, sich als Unternehmer der eigenen Beschäftigungsfähigkeit zu profilieren, empfand und empfindet man hier aufgrund des eklatanten Missverhältnisses zwischen Arbeitswillen und Arbeitsgelegenheiten als Farce.

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Klaus Dörre, Karin Scherschel, Melanie Booth u. a., Bewährungsproben für die Unterschicht. Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt am Main 2013

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WOLFGANG ENGLER | KOMPENSATORISCHE ODER ANTIZIPIERENDE REFORM?

Was man von der SPD erwartet hatte (und vielleicht noch immer erwartet) blieb aus: das Eingeständnis des am eigenen Leib erfahrenen Fehlschlags der Politik der Aktivierung, der Selbstermächtigung der Individuen. Was man zu hören bekam, waren halbherzige Erklärungen, partielle Fehlentwicklungen betreffend, die korrigiert werden müssten. Die davon Betroffenen dachten diesbezüglich anders, sahen darin gerade den „Geist der Reformen“ am Werk. Und dieser Geist trat für sie nirgends klarer zutage als im behördlichen Umgang mit jenen Arbeitslosen, die, obzwar formell zur Arbeit tauglich, aus unterschiedlichen Gründen außerstande waren, sie zu leisten. Am 29. Mai 2014 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Artikel von Sven Astheimer, „Lügen und Arbeitslosigkeit“ betitelt. Darin heißt es: „Es gibt unter den Langzeitarbeitslosen noch eine andere Gruppe. Sie sind, das gestehen Fachleute der Arbeitsagentur längst ein, auch bei bester Konjunktur am Arbeitsmarkt nicht dauerhaft unterzubringen. Kein Arbeitgeber will sie dauerhaft einstellen, weil er spätestens nach Auslaufen der Lohnkostenzuschüsse drauflegen würde. ... Die Gruppe der Unvermittelbaren ist nicht klein. Sie beträgt Schätzungen zufolge bis zu eine halbe Million Menschen. Was soll der Staat mit ihnen anfangen? Manchem drängt sich die Gegenfrage auf: Muss der Staat hier überhaupt etwas anbieten? Was wäre die Alternative zu diesem System aus Dauer-Alimentation und gelegentlichen Phasen simulierter Beschäftigung?“ – Um eine Antwort ist der Text verlegen.

Die faktische Macht der Arbeitnehmer ist geschwächt Warum werden solche Alternativen politisch gar nicht erst erwogen? Weil dadurch eine Lücke im System entstünde, die sich zum Ausgang für viele weiten könnte? Das Kapital ist ein übergriffiges Herrschaftsverhältnis insofern, als es auch, ja gerade jene Menschen, die unter keinem Gesichtspunkt auch nur als „Reserve“ der Aktiven in Betracht kommen, seiner Logik einverleibt – und es bedient sich, diesen Willen durchzusetzen, staatlicher Macht und ideologischer Instanzen. Der dem Kapitalverhältnis innewohnende Herrschaftscharakter ist dort am ausgeprägtesten, wo er am wenigsten sichtbar ist, wo sich das sachliche Verhältnis von Kapital und Arbeit als Verhältnis von Personen darstellt, von Fallmanager und „Kunde“. Formell obwalten Gleichheit, Verhandlung und Vertrag, tatsächlich regieren Diktat, Ausforschung, und gegebenenfalls Sanktionen. Je unvermittelbarer ein Arbeitskandidat ist, als desto störrischer, arglistiger gilt er; als selbstverschuldet arbeitslos klassifiziert, kann er (oder sie) auf Respekt nicht zählen, auf zunehmenden Druck dagegen wohl. Vermöge neuer sozialstaatlicher Regimes fand das Kapital einen Weg, Nutzen

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MAGAZIN

aus den marktwirtschaftlich Nutzlosen zu ziehen. Die systematische Produktion der arbeitslosen Unterschicht geschieht zum Zweck der Einschüchterung und Disziplinierung der Arbeit Leistenden. Diese erfahren Herrschaft (je nach Position im Erwerbssystem) mal direkter, mal subtiler. Die einen, zumeist im einfachen Dienstleistungsgewerbe tätig, werden oftmals bis in die Hinterbühnen des Arbeitsgeschehens hinein ausgespäht. Andere sehen sich ohne ausdrückliche Weisung dazu veranlasst, länger zu arbeiten als vertraglich vereinbart. Auf den höheren Etagen investiert eine wachsende Zahl von Beschäftigten zunehmend mehr Energie in die Darstellung ihrer Arbeit als in deren Verrichtung. Hier operiert man beständig im Ankündigungsmodus, verspricht, dieses oder jenes in allernächster Zeit zu tun, wodurch man Schulden anhäuft, die man durch „freiwillige“ Mehrarbeit einlösen muss.2 Der Nutzen der „Nutzlosen“ für die Arbeitsherren besteht darin, jene in Umstände zu versetzen, die den Bessergestellten Tag für Tag einschärfen, die den nicht vertraglichen Aspekten ihrer Verträge immanente Herrschaft möglichst klaglos hinzunehmen. Die arbeitsmarktpolitische Wende der SPD hat das an sich schon vorhandene Übergewicht der Eigentümer und Topmanager in all diesen Aushandlungsprozessen zusätzlich gesteigert, die rechtliche und faktische Macht der ganz normalen Arbeitnehmer empfindlich geschwächt.

Wie wandelt sich die Ökonomie? „Mehr Wirtschaftskompetenz!“ – sofern dieser Slogan eine Neuauflage der Agendapolitik in Aussicht stellt, wäre das für viele keine gute Aussicht. Das Band zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Statussicherheit lockerte sich nicht zuletzt infolge der „Agenda 2010“; mehr vom selben hieße, es noch weiter auszudünnen. Sozialdemokraten stecken in der Klemme, im Osten Deutschlands, deutschlandweit, international, und das seit längerem. In den fortgeschrittenen Industriegesellschaften des Westens folgten Unternehmensgewinne und Arbeitseinkommen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in etwa derselben aufsteigenden Linie wie die Produktivität. Die Abkehr der ökonomischen Eliten vom Teilhabekapitalismus seit den frühen achtziger Jahren zog einen Schlussstrich unter diese Entwicklung. Aus „Alle zugleich“, wurde „Erst 3 Christoph Bartmann, Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angestellten, München 2012

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WOLFGANG ENGLER | KOMPENSATORISCHE ODER ANTIZIPIERENDE REFORM?

die einen, dann die anderen“ mit dem Zusatz: „Für alle reicht es vielleicht nicht“. Zwischen Unternehmer- und Arbeitnehmerinteressen politisch zu vermitteln nötigte die Entscheidungsträger klarer als zuvor, Prioritäten zu setzen. Liberale und Konservative ergriffen unverzüglich Partei für die Unternehmerseite. Je ungehemmter das Kapital in einem Land zum Zuge käme, desto besser (auf längere Sicht) für seine zu Opfern bereiten Bewohner. Gesagt, getan. Den neuen Gegebenheiten mussten auch Sozialdemokraten, so weit sie die Richtlinien der Politik (mit)bestimmten, ihrer Reverenz erweisen. Reformverständnis wie Reformpolitik veränderten ihren Charakter, wurden defensiv, kompensatorisch. Erst tat man das „Unvermeidliche“, dann reparierte man, so gut es ging, die eingetretenen Schäden. Um wieder Boden zu gewinnen, muss die internationale Sozialdemokratie, muss die SPD aus dem nostalgischen Traum erwachen, zwei Herren gleichermaßen dienen zu können, dem Staatsvolk und dem Marktvolk.3 „Mehr Wirtschaftskompetenz“ – das könnte auch bedeuten, langfristige ökonomische Wandlungsprozesse konzeptionell zu durchdenken und an Prinziplösungen zu arbeiten.

Am Beginn der nächsten Beschleunigung Wir stehen am Beginn einer weiteren Beschleunigung rechnergestützter Automatisierung und Roboterisierung. Steigende Rechenleistung der Computer, Fortschritte auf dem Gebiet der Sensorik, dezentrales Programmieren, Informationsaustausch zwischen elektronischen Systemen, die voneinander lernen, geben der dritten technologischen Revolution neuen Auftrieb – und das quer durch alle wirtschaftlichen Felder, Zweige und Berufe, Landwirtschaft, Lagerhaltung, Transport, Maschinenbau, Verwaltung, geistige Tätigkeiten umfassend.4 Dabei entsteht, vornehmlich in der Forschung, der Konstruktion, der Softwareentwicklung, fraglos neue, höherwertige Arbeit. Die menschliche Intuition, die Fähigkeit, mit Unvorhergesehenem umzugehen, wird ihren Platz behaupten. Qualitätssicherung, die Zurechnung nomineller Verantwortung verlangt gerade bei durchgehend automatisierten Abläufen Personal, das dafür einsteht. Auch wenn man dies und anderes, den Umbau der Energiewirtschaft zum Beispiel, mit in die Betrachtung einbezieht, muss man die Möglichkeit ins Auge fassen, 3 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt am Main 2013 4 Zu aktuellen wie absehbaren Entwicklungen vgl. Constanze Kurz, Frank Rieger, Arbeitsfrei. Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen, München 2013 sowie jüngst: Jeremy Rifkin, Die Null Grenzkosten Gesellschaft. Das Internet der Dinge, Kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2014

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MAGAZIN

dass per Saldo und in absehbarer Zeit eine erhebliche Freisetzung an lebendiger Arbeit eintritt. Mit einer Politik der billigen Arbeit verfehlt man diese Herausforderungen, verbessert für wenige Jahre die internationale Konkurrenzfähigkeit der eigenen Wirtschaft, freut sich wachsender Steuereinkünfte und wähnt sich auf gutem Weg: lieber Arbeit subventionieren als Arbeitslosigkeit. Schon mittelfristig rächt sich diese Strategie, da sie den Stachel für Innovationen kappt. Nur Hochlohnländer behaupten sich auf Dauer an der Spitze des technischen Fortschritts und streichen im globalen Wettbewerb die Dividende dafür ein. Die wachsende Kluft zwischen Arbeit nachfragenden und Arbeit leistenden Menschen wird auch sie vor Probleme stellen, für die es bislang keine politischen Rezepte gibt. Der Mensch im Zeitalter seiner Substituierbarkeit als animal laborans – die Hinwendung zu fundamentalen Zukunftsfragen der Erwerbsgesellschaft böte Sozialdemokraten reichlich Anlass, ihr sozialpolitisches Erbe aufzufrischen, mit zeitgemäßem wirtschaftlichen Sachverstand zu untermauern. Auch würde ihnen dämmern, dass die heutige Art des Umgangs mit ökonomisch unbrauchbaren Menschen ebenso perspektivlos wie kleinkariert ist. | PROF. DR. WOLFGANG ENGLER

lehrt Kultursoziologie und ist Rektor der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“.

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DAS STRASSENSCHILD

Christian Führer 1943-2014

Friedlicher Revolutionär Von Jens Schneider

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r selbst war es, und seine Kirche im Herzen von Leipzig war es: offen für alle Menschen, die Beistand und Unterstützung suchten. Pfarrer Christian Führer fragte nicht, ob einer ein frommer Protestant war oder vielleicht gar nicht an Gott glaubte. Wer an seinen Friedensgebeten und Gesprächsabenden teilnehmen wollte, war ihm willkommen. In die Nikolaikirche kamen damals Menschen, die es in der DDR nicht mehr aushielten und ausreisen wollten; und andere, die gegen das bleierne SED-System endlich ihre Stimme erheben, bleiben und das Land verändern wollten. So wurde Führer zu einem der wichtigsten Protagonisten der friedlichen Revolution in der DDR, die Nikolaikirche zu einer Insel der Widerständigen. Er ist im Juni 2014, nach schwerer Krankheit, im Alter von 71 Jahren in seiner Heimatstadt gestorben. Aus der Nikolaikirche heraus entwickelten sich die Montagsdemonstrationen mit ihrem Motto „Keine Gewalt!“, die so viel dazu beitrugen, dass der bröckelnde Staat zusammenbrach. Führer war 1980 an die Kirche gekommen, seit dem September 1982 lud er zu ersten Friedensgebeten. Die Stasi setzte mehr als ein Dutzend Spitzel auf ihn an. Sie bedrängte die Gemeinde, die Friedensgebete abzusetzen oder an den Stadtrand zu verlegen. Er hatte Angst, das verhehlte Führer später nicht. Aber der Pfarrer, stets in einer markanten Jeansweste gekleidet, blieb beharrlich, ohne sich wie ein Anführer zu gebärden. Am Anfang waren es wenige Mutige, die aus der Kirche heraus demonstrierten. Die Staatsmacht verhaftete die kleinen Gruppen. Aber die Zahl der Teilnehmer wuchs. Am 9. Oktober 1989 kamen zum Friedensgebet Hunderte SED-Genossen und StasiMitarbeiter, um bedrohlich ihre Macht zu demonstrieren. Führer hieß sie willkommen in der Kirche. Später sagte er: „Ich habe es immer positiv gesehen, dass die zahlreichen Stasileute Montag für Montag die Seligpreisungen der Bergpredigt hörten.“ Auch da glaubte er an die Wirkung des Evangeliums. Als die Menschen aus der Kirche kamen, warteten draußen Zehntausende. Sie hatten Kerzen in den Händen. Friedlich zogen sie um den Leipziger Innenstadtring. Viele befürchteten eine blutige Staatsaktion, doch die SED kapitulierte an diesem Abend vor der Masse der Friedfertigen.

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DAS STRASSENSCHILD

Christian Führer 1943-2014

Nach dem Ende der DDR wurde Führer oft gewürdigt, erhielt Auszeichnungen. Das ehrte ihn, aber zufrieden zur Ruhe setzen mochte er sich deshalb nicht. Er sah sich weiter zuständig für Menschen, die Hilfe brauchten. Weiter stand am Eingang der Nikolaikirche auf einem Schild „Offen für alle“. Führer, der 2008 in den Ruhestand ging, kümmerte sich in den wirtschaftlich schwierigen Jahren um Arbeitslose, er stellte sich entschieden gegen den Rechtsextremismus. So blieb der Mann, der half, die DDR aus den Angeln zu heben, ein engagierter Gemeindepfarrer, der weit über seine Gemeinde hinaus wirkte. | JENS SCHNEIDER

ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung für Berlin und Brandenburg.

Dieser Text erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ am 30. Juni 2014 Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen.

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EINE UNMITTELBARE HERAUSFORDERUNG Über die kurze Geschichte der Ost-SPD — Von Hans-Jochen Vogel

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n meinem langen politischen Leben habe ich kaum einen Zeitabschnitt erlebt, in dem sich die Realität in einem so unglaublichen Tempo verändert hat und der sich für mich mit so vielen emotionalen Empfindungen verbindet wie das zweite Halbjahr 1989 und das Jahr 1990. Die Zahl derer, die vorausgesehen haben, dass die deutsche Teilung in dieser Zeit überwunden werden würde, hat erst im Nachhinein sprunghaft zugenommen. Zu Recht war damals auch davon die Rede, dass einem an manchen Tagen das Wort im Munde veraltete. An seinerzeitigen Ereignissen, die mich bis heute emotional bewegen, nenne ich nur > die Nachricht vom Fall der Mauer und die Sitzung des Bundestags am Abend des 9. November 1989, in der Willy Brandt Tränen in den Augen standen, als ich vom Rednerpult aus an ihn gewandt sagte, dies sei jetzt seine Stunde; > die Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin am folgen-

den Tage, mit der sich die Erinnerung an den historisch gewordenen Satz von Willy Brandt verbindet, dass nun zusammenwachse was zusammen gehöre; > der Augenblick, in dem Willy Brandt, Dietrich Stobbe und mir kurz darauf am Übergang Invalidenstraße in Berlin Tausende von Menschen aus dem Ostteil der Stadt entgegenkamen, als wir uns auf dem Weg zu einem Treffen mit Repräsentanten der neu gegründeten SDP befanden. Nie wieder habe ich Menschen mit so unbeschreiblicher Freude und so frohen Gesichtern gesehen und > den Moment, in dem am 27. September 1990 auf dem Vereinigungsparteitag in Berlin das Manifest von Willy Brandt, Wolfgang Thierse und mir unterzeichnet wurde. Auch zu Beginn dieses einem Sachthema gewidmeten Textes erscheint es mir notwendig, diese Eindrücke zu erwähnen, um den ganz speziellen Charakter des-

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sen, was damals geschah, deutlich zu machen. Für mich grenzt es ohnehin an ein Wunder. An ein Wunder freilich, zu dem menschliches Handeln, beginnend mit der Westbindungspolitik Adenauers über die Ostpolitik Willy Brandts, die Erneuerungspolitik Gorbatschows und eben die friedliche Revolution in der DDR und in deren Rahmen gerade auch die neu gegründete Sozialdemokratie wesentlich beigetragen hat. ein ganz besonderes ereignis Ein ganz besonderes Ereignis war aber gerade für mich als damaligem Vorsitzenden der West-SPD natürlich bereits die Gründung der Ost-SDP in Schwante am 7. Oktober 1989. Sie wurde entgegen allen späteren Behauptungen von mir, vom Parteipräsidium und vom Parteirat alsbald begrüßt. Auch gaben wir unserer Sympathie und unserer Freude schon am 24. Oktober 1989 dadurch Ausdruck, dass ich Steffen Reiche – einen der Gründer von Schwante – der sich damals privat in Bonn aufhielt, in eine Präsidiumssitzung und anschließend auch in eine Fraktionsvorstandssitzung mitnahm. Daraus ergab sich eine kontinuierliche Zusammenarbeit, bei der wir die Schwesterpartei – diesen förmlichen Status erhielt sie wenig später – in vielfaltiger Weise unterstützten, stets aber ihre Selbständigkeit und Eigenverantwortung respektierten.

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Politisch von großer Bedeutung war aus heutiger Sicht bereits der Gründungsakt. Wurde dadurch doch erstmals in der schon in Bewegung geratenen DDR nicht ein weiteres Diskussionsforum, sondern eine Partei, und zudem noch eine sozialdemokratische Partei ins Leben gerufen, die die Machthaber unmittelbar herausforderte. Und das zudem noch am 7. Oktober 1989, also an dem Tag, an dem die Machthaber ein letztes Mal die Errichtung ihres Staates vierzig Jahre zuvor feierten. Der Mut der SDP-Gründer, die damit zugleich die zwangsweise Vereinigung mit der KPD im Jahre 1946 annullierten, verdient noch heute Bewunderung. ein Programm für die einheit In der Folgezeit hat die SDP – seit dem Januar 1990 nannte sie sich SPD – auf den Einigungsprozess einen wesentlichen Einfluss genommen. Früher als andere oppositionelle Kräfte bekannte sie sich auf einer Delegiertentagung im Januar 1990 zur staatlichen Vereinigung und legte für deren Verwirklichung im Februar 1990 – also rechtzeitig vor der Volkskammerwahl – auf ihrem Parteitag in Leipzig ein konkretes Programm vor. Darin war im Einklang mit der West-SPD auch schon die Forderung nach einer Währungsunion enthalten. Zugleich bestritt sie, von uns unterstützt, einen Wahlkampf, den man ihr so noch kurz


DR. HANS-JOCHEN VOGEL | EINE UNMITTELBARE HERAUSFORDERUNG

zuvor nicht zugetraut hätte. Auch deshalb rechneten die meisten mit einem eindeutigen Wahlsieg. Schwante macht Mut Dass er nicht eintrat und die Partei nur 21,9 Prozent erreichte, hat damals viele enttäuscht. Von heute her gesehen verdient dieses Ergebnis indes allen Respekt. Musste sich die erst ein halbes Jahr zuvor gegründete Partei mit einer von der Union kurzfristig ins Leben gerufenen Allianz auseinandersetzen, deren stärkste Kraft in Gestalt der Ost-CDU eine bisherige Blockpartei war, die über eine ausgeprägte hauptamtliche Mitarbeiterstruktur, umfangreiche Hilfsmittel und eine Mitgliedschaft verfügte, die sich über die ganze DDR erstreckte. Umso mehr empört es mich noch heute, dass ausgerechnet die Union, die sich mit einer Partei verbündet hatte, die noch im Juni 1989 als Blockpartei den Militärschlag der chinesischen Führung am Pekinger Tiananmen-Platz gutgeheißen hatte, im Wahlkampf der Ost-SPD eine Nähe, ja sogar eine „Verbrüderung“ mit der PDS vorwarf. Nach der Wahl fand sich die Partei aus nationaler Verantwortung bereit, unter Lothar de Maiziere mit sieben Ministern einer Koalitionsregierung beizutreten. In dieser nahm sie maßgebenden Einfluss auf das Zustandekommen und den Inhalt der beiden Staatsverträge. Ihr

war es beispielsweise zu verdanken, dass die Währungsunion auch durch Elemente einer Sozialunion ergänzt wurde und dass die Vermögen der SED und der Blockparteien noch vor der Vereinigung durch ein Volkskammergesetz sichergestellt worden sind. Mitte August 1990 zwang die eigenmächtige Entlassung ihres Finanzministers durch den Ministerpräsidenten die Partei dazu, die Koalition aufzukündigen. An ihrer verantwortungsbewussten Kooperation bis zum Ende der DDR hat das jedoch nichts geändert. Insgesamt können wir auf das, was die ostdeutschen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten seit dem Tage von Schwante geleistet haben, stolz sein. Und wir sollten daran nicht nur an Jubiläumstagen erinnern. Das würde auch der Gefahr vorbeugen, dass die junge Generation Dinge für selbstverständlich hält, die nur möglich wurden, weil Männer und Frauen nicht wegsahen und schwiegen, sondern sich zur rechten Zeit für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität engagierten. | DR. HANS-JOCHEN VOGEL

war Bundesminister, Regierender Bürgermeister von Berlin und Bundesvorsitzender der SPD.

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HENNING VOSCHERAU | KEINE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT

KEINE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT Wie die Städtepartnerschaft zwischen Dresden und Hamburg zu einem Angebot an die SPD führte — Von Henning Voscherau

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rei Regierende Bürgermeister West-Berlins waren es, die sofort in Worte fassten, was die große Mehrheit der Deutschen in den dramatischen Tagen, Wochen und Monaten 1989 bewegte – sehr schnell in den Herzen, viel langsamer und ungläubiger in den Köpfen. In jener Zeit waren Stunden das Zeitmaß, in dem einstürzte, was machtvoll, bedrohlich, jedenfalls unangreifbar schien und in dem die Furcht der Unterdrückten vor der Diktatur verschwand: Wir sind das Volk. Am Morgen des 10. November 1989, nach einer glückseligen, freudentränenreichen Nacht an der Mauer, die keine mehr war, eröffnete der Präsident des Bundesrates, Walter Momper, übernächtigt wieder in Bonn, dessen Sitzung mit dem Satz: „Heute Nacht war das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt.“ Der Regierende Bürgermeister, der Berlin eine Generation zuvor durch Wut und Furcht der ohnmächtigen Zeit des

Mauerbaus geführt, die Berliner immer wieder aufgerichtet, zusammengehalten und, wenn es zu gefährlich wurde, auch gezügelt hatte, Willy Brandt, fasste in schlichte, große Worte, was fast alle empfanden: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Vereinen heißt teilen Dem Regierenden Bürgermeister schließlich, der West-Berlin, dann Westdeutschland und schließlich Deutschland als Ganzes gleichermaßen klug vorstand, als es auf die Fähigkeit zur Gratwanderung ankam, Richard von Weizsäcker, gelang es, auf den Punkt zu bringen, was die Einheit als Aufgabe gebietet – und zwar bis heute und sicher eine weitere Generation hindurch: „Sich zu vereinen, heißt teilen lernen.“ Unvergesslich die Erlebnisse vom 9. November bis Weihnachten 1989, als plötzlich Hunderttausende Deutsche aus Mecklenburg-Vorpommern und

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Sachsen, aus Brandenburg, aus Thüringen und Sachsen-Anhalt Hamburg und den Rathausmarkt buchstäblich überschwemmten. Die Freudentränen, die Umarmungen, die Begeisterung, die Gastfreundschaften bleiben in Millionen Herzen. Die Wochenenden zwischen der Maueröffnung und Weihnachten verbrachte ich damals auf dem Rathausmarkt, vor dem Riesen-Zelt, das die Massen doch nicht fasste, und nie wieder werde ich so viele völlig unbekannte Deutsche treffen, die mir weinend um den Hals fallen. Ich werde mein Lebtag an den Konzertmeister Kurt Sanderling denken. Während er in dem offiziellen Festakt am 3. Oktober 1990 in Berlin mit seinen Berliner Philharmonikern den 3. und 4. Satz aus der 2. Sinfonie von Johannes Brahms musizierte, liefen ihm unablässig die Tränen die Wangen hinunter – das gesamte Konzert hindurch. hamburg und Dresden Aber am wichtigsten ist natürlich die bis heute andauernde persönliche Bindung an Hamburgs Partnerstadt Dresden und ihre Menschen. Der Vertrag über die Städtepartnerschaft zwischen Dresden, dem Elbflorenz, und Hamburg, dem Venedig des Nordens, wurde 1987 geschlossen. Selbstverständlich war der Vertrag nicht. Hamburg lag nur eine halbe

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Autostunde von der deutsch-deutschen Grenze entfernt und war sogar vom „kleinen Grenzverkehr“ ausgeschlossen. Denn man sagt, jede Hamburger Familie habe eine Mecklenburger Großmutter. Aus der Sicht der Partei- und Staatsführung der DDR war Hamburg ein Besorgnis erregendes Schwergewicht. So waren wir im Rathaus – ich war damals Fraktionsvorsitzender – ungläubig überrascht, als sich die freudige Gelegenheit zum Abschluss dieser Städtepartnerschaft ergab. honecker gab das OK Wer sich an die Machtverhältnisse in der DDR erinnert, weiß: Eine solche Entscheidung konnte nur der „Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrats der DDR“ Erich Honecker treffen. Irgendwo in den Archiven muss sich die Vorlage finden, auf der oben links schräg handschriftlich sein „Einverstanden“ mit Unterschrift steht. Ich weiß nicht, wieso das Einverständnis mit der Städtepartnerschaft plötzlich erreichbar war, aber der damalige Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer hat berichtet, es sei ein brieflicher Glückwunsch Klaus von Dohnanyis an Erich Honecker gewesen, der protokollarisch auf Seite 1 des Neuen Deutschland abzudrucken war und in dem die Partnerschaft präjudiziert wurde.


HENNING VOSCHERAU | KEINE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT

So hätte also mein Vorgänger im Amt des Hamburger Bürgermeisters die Staats- und Parteiführung der DDR über den Tisch gezogen. Jedenfalls ging von da an alles relativ schnell. Allerdings: Die ersten Begegnungen fanden unter strenger Abschottung von der Bevölkerung in offiziellen Ritualen statt. Auf Seiten der Vertreter Dresdens verlasen Oberbürgermeister Berghofer und der Erste Sekretär des Bezirks Hans Modrow vorsichtig und schriftlich vorbereitet förmliche Texte – ich nehme an für die Akten der Staatssicherheit. Auch sie mussten sich absichern. Niemals durfte der Eingangstext fehlen, dass die Städtepartnerschaft aufgrund der Vereinbarungen der Regierungen zweier souveräner Staaten und Mitglieder der Vereinten Nationen und begrenzt auf den dadurch vorgegebenen Rahmen stattfand. Das alles hat sich später rasch geändert. Bevor ich zum ersten Mal nach Dresden reiste, erschien Hans Modrow in Hamburg, um in höherem Auftrag festzustellen, was das für einer sei, der neue Hamburger Bürgermeister; Hamburg sei für die DDR zu wichtig. Ich habe ihm immer hoch angerechnet, dass er mir diesen Auftrag in aller Offenheit zu Beginn bekanntgegeben hat. Meine ersten Reisen nach Dresden allerdings fanden für einen unter freiheitlichen Bedingungen aufgewachsenen Hamburger unter bedrückenden

Umständen statt. Denn die Fahrt nach Dresden fand von der Grenze an unter der Bedeckung zweier dunkelblauer schwedischer Limousinen aus Berlin statt – in überhöhter Geschwindigkeit und auf dem Mittelstreifen. Mit schwarzgelben Leuchtstäben wurden entgegen kommende Trabis zum Ausweichen gezwungen, auf der Landstraße zwischen Jüterbog und Wittenberg einmal seitlich in die Felder. Ein Sicherheitskommando des MfS aus fünf Mitarbeitern hatte dafür zu sorgen, dass ich keine Gelegenheit erhielt, das Bewusstsein von Bürgern der Arbeiter- und Bauernmacht zu beeinflussen. Einmal als ich den Fünfen vom Hotel aus entwischt war, hatten sie mich nach zehn Minuten wieder. Dresdner Bürger, die mir und dieser Bewachung auf dem Bürgersteig der damaligen „Straße der Befreiung“ entgegenkamen, schlugen die Augen nieder und wechselten rasch die Straßenseite. Bedrückend. eine Wahl ohne Demokratie Aber der Kontakt wurde 1989 intensiver. Anfang Mai 1989 war ich in Dresden und reiste vor der Kommunalwahl zurück. Bei der Verabschiedung spätabends vor der Semperoper konnte ich mir nicht verkneifen, Oberbürgermeister Berghofer – mit einem Schuss beabsichtigter Ironie – zu fragen, ob es nötig sei, ihm für den Wahlausgang Glück zu wünschen. Mit erstaunlicher Offenheit erwiderte

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er: „Wir werden uns wiedersehen“ – eine Art Eingeständnis dessen, was wir ohnehin alle wussten: keine freie und geheime Wahl, keine Demokratie. Das Wahlergebnis bildete bekanntlich später einen Stachel, der eine Mitursache für die oppositionelle Bewegung wurde. hilfe mit Faxen und Kopierern Nach den Ereignissen am Dresdner Hauptbahnhof im Oktober 1989 um die aus Prag kommenden Züge mit DDRFlüchtigen, fuhr ich immer wieder in unsere Partnerstadt, immer stärker bepackt mit randvollen Fahrzeugen und begleitet von vielen Hamburgern und vielen Hamburger Institutionen. Schon Anfang Mai 1990 war ich mit einer großen Wirtschaftsdelegation hier, und daraus sind viele Investitionen und Arbeitsplätze geworden, die heute noch bestehen. Wir wollten Einfluss nehmen, wir wollten helfen, und wir wollten die offizielle Ebene der Städtepartnerschaft nutzen, um die oppositionellen Gruppen aufzuwerten, in das Programm einzubinden, ihnen Material an die Hand zu geben – Telefone, Telefaxe, Fotokopierer, Schreibmaschinen und Papier, den Handwerkern Werkzeug, Kraftfahrzeuge. Nicht zuletzt wollten wir die Opposition durch Einbindung in die Partnerschaft schützen und unterstützen. Durch die häufigen Besuche ab Oktober 1989 wurde ich Zeuge der gewal-

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tigen Montagsdemonstrationen. Wir führten Gespräche mit der Opposition, mit der kleinen, eben gegründeten SDP – ihr Geschäftsführer war damals ein Gitarrist der Staatskapelle, Eberhart Lösch –, mit der „Gruppe der 20“ und mit dem Neuen Forum Dresden und dessen Erstem Sprecher Arnold Vaatz, damals ein sehr schmaler blitzgescheiter junger Physiker mit großem Mut. Das Gespräch im Hotel Bellevue, sicher ebenfalls abgehört, dauerte die ganze Nacht bis früh um vier. Arnold Vaatz sagte damals einen Satz, bei dem mir, einem westdeutschen Schönwetterdemokraten, tatsächlich Schauer über den Rücken liefen: „Herr Bürgermeister, wenn dieser Prozess scheitert, müssen wir um unser Leben fürchten.“ Zwei Jahre Zeit? Früh am Morgen führten wir ganz plötzlich ein Gespräch mit vielleicht 30, 40 freien, nicht verstaatlichten kleinen Handwerkern. In der Nacht vor dem Gespräch wurde in das schäbige Gebäude der kleinen freien Einkaufsgenossenschaft der Handwerker eingebrochen. Es fehlt nichts. Aber bevor alle loslegten, fragte ich sie warnend: „Vielleicht ist etwas hinzugekommen?“ Keiner ließ sich schrecken, die Bänder wird wohl niemand mehr ausgewertet haben. Aber mir steht auch die ohnmächtige Bitterkeit, ja, Wut des SED-Bezirksleiters


HENNING VOSCHERAU | KEINE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT

Hans Modrow vor Augen, aus dem Anfang November zwei Stunden lang ohne Punkt und Komma – sonst nicht seine Art – seine Verzweiflung über den Verfall der Autorität der SED wegen der Haltung der alten Männer in Ost-Berlin herausbrach. Man gebe ihm Zeit, vielleicht zwei Jahre, für den Kurs Gorbatschows in Berlin – und die Massen in der DDR stünden wieder hinter der SED. So kann man sich selbst täuschen. ein zweischneidiges angebot Während desselben Besuchs Anfang November zog mich Oberbürgermeister Berghofer im Bellevue unter den Objektiven zahlreicher Kameras durch eine rückwärtige Glastür hinaus an die Elbe. Es regnete. Wir hatten keinen Schirm. Er berichtete – unbelauscht – von einem vormittäglichen Versuch, den neuen Generalsekretär Egon Krenz, den er aus FDJ-Zeiten gut kenne, zu bewegen, sich der Lage im Volk zu stellen und sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Vollständig vergeblich. Und achselzuckend sagte er voraus, was später tatsächlich alles eintrat: das Ende der DDR. Berghofer war es auch, der auf das wirtschaftliche Gefälle zwischen den beiden deutschen Staaten hinwies. Robotron bezeichnete er ironisch als „den kleinsten von Menschen betretbaren Computer der Welt“.

Im Dezember 1989 besuchte ich Dresden erneut und wurde spontan eingeladen, auf dem Striezelmarkt – dem Altmarkt im Weihnachtsschmuck – eine Ansprache zu halten. Einige Tausend Dresdner waren dort, das Portal der Kreuzkirche öffnete sich, die Kirchenbesucher kamen hinzu. Das war eine knappe Woche vor der historischen Kundgebung Bundeskanzler Kohls auf dem Neumarkt vor der Ruine der Frauenkirche. Ich wollte nicht kneifen und kam am Ende meiner tastenden Ausführungen auf das damals noch mehr als sensible Thema Einheit. „Wir im Westen sind die Mehrheit, Sie die Minderheit. Wir hatten seit dem Kriege ohne eigenes Verdienst Glück, Sie ohne eigenes Verschulden Unglück. Deshalb müssen Sie es sein, die über die Einheit entscheiden. Sind Sie dafür, so werden unsere Arme offen sein. Entscheiden Sie sich aber dagegen, so ist Ihnen unsere Unterstützung auch dann gewiss.“ Atemloser Stille während meiner Worte folgte tosender Jubel. Und während ich die Bühne verließ und mitten durch die Menge ging, flüsterten mir zahlreiche Dresdner immer wieder ins Ohr: „Lasst Euch nicht täuschen. Wir sind alle dafür.“ Bis heute übermannt mich die damalige Bewegung. Von da an wusste ich, was 1990 kommt. Im Rahmen unserer Städtepartnerschaft kam Wolfgang Berghofer später mit dem Angebot auf mich zu, der SDP/ SPD in der DDR eine Massenbasis von et-

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wa 200.000 jüngerer unbelasteter FDJMitglieder zu verschaffen – auf einen Schlag. Darüber führte ich mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel ein Vieraugengespräch. Mit Rücksicht auf die bewunderungswürdige mutige kleine Schar der SDP-Gründer lehnte er das ab – eine Entscheidung, die ich bis heute für zweischneidig halte. Denn die Wahlergebnisse der SPD in den östlichen Ländern tragen – neben Süddeutschland – noch heute zur fehlenden Mehrheitsfähigkeit auf Bundesebene bei, und dass es eine Korrelation zu fehlender flächendeckender Präsenz der Organisation gibt, ist wissenschaftlich bekannt. Während CDU und FDP die Blockflöten und ihr Vermögen übernahmen, starben wir in Schönheit. Sehr ehrenvoll, aber demokratisch und auch inhaltlich musste die SPD einen sehr hohen Preis bezahlen. | HENNING VOSCHERAU

war von 1988 bis 1997 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.

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DIETMAR WOIDKE | DIE WENDE BEGANN 1981

DIE WENDE BEGANN 1981 Mein Weg in die Sozialdemokratie — Von Dietmar Woidke

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ls vor einem Vierteljahrhundert die Mauer fiel und die DDR von ihren eigenen Bürgern beendet wurde, war ich gerade 28 Jahre alt geworden. Ich gehörte einer Altersgruppe an, die jung genug war, unter den schlagartig völlig veränderten Bedingungen neu anzufangen. Ich war auch keineswegs unglücklich über das Ende des kaputten politischen und ökonomischen Systems der DDR. Wie unendlich schwierig sich der Übergang in die neuen Verhältnisse in den folgenden Jahren noch gestalten würde, darüber machte ich mir in den glücklichen Wochen gleich nach der Grenzöffnung zunächst noch nicht allzu viele Gedanken. Ich hatte den plötzlichen Zusammenbruch der DDR so wenig vorhergesehen wie alle anderen auch. Aber als es so weit war, weinte ich diesem gescheiterten System auch keine Tränen nach. Das war schon seit einer ganz bestimmten Nacht im Herbst 1981 klar. In dieser Nacht hatte ich innerlich mit dem System der DDR abgeschlossen. 1980 und 1981 waren die großen Jahre der Freiheitsbewegung in Polen, die Jahre des Aufstiegs der von Lech Wałęsa angeführten unabhängigen Gewerkschaft

Solidarność. Die Lage in Polen versetzte die Regierenden in Ost-Berlin in Panik. Ihnen war klar: Wenn die Entwicklung im Nachbarland nicht aufgehalten würde, wäre es auch um den „Sozialismus in den Farben der DDR“ geschehen. Monatelang stand die Drohung im Raum, die Staaten des Warschauer Paktes könnten militärisch in Polen eingreifen – so wie er es schon 1968 in der Tschechoslowakei getan hatte. Einmarschiert wären dann nicht nur die Rote Armee und tschechoslowakische Streitkräfte, sondern auch die Nationale Volksarmee der DDR. in der Nacht ging es los Ich leistete zu dieser Zeit meinen Wehrdienst im Nachrichtenbataillon 31 der 1. Luftverteidigungsdivision der DDR mit Standort Cottbus. Zunächst wurde 1981 das große Frühjahrsmanöver „Sojus 81“ ausgerufen, mit dem die polnische Oppositionsbewegung eingeschüchtert werden sollte. Meine Einheit wurde über Monate in „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ versetzt. Das bedeutete Urlaubs- und Ausgangssperre, es führte auch dazu,

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dass wir überhaupt keinen Zugang zu Radios mehr hatten. Wir einfachen Rekruten waren von allen Informationen vollständig abgeschnitten. Eines Nachts irgendwann im Herbst ging es tatsächlich los. Um zwei Uhr wurde Gefechtsalarm ausgerufen. Die NATO sei in Polen an der Ostseeküste angelandet, behaupteten unsere Offiziere. Von Cottbus aus fuhren wir auf Lastwagen Richtung Polen – alle ausgerüstet mit Kalaschnikows und jeweils 60 Schuss scharfer Munition. Nur drei Kilometer vor der Grenze, zufällig ganz in der Nähe meines Heimatdorfes Naundorf bei Forst, machte die Kolonne halt. Da standen wir nun mitten in der Nacht. Keiner von uns wusste, was als Nächstes passieren würde. Meine innere abwendung Heute ist bekannt: Erich Honecker hatte seit langem auf den Einmarsch gedrängt. Er wollte die polnische Oppositionsbewegung durch die Warschauer Paktstaaten militärisch niederschlagen lassen. Doch die sowjetische Führung war zögerlicher und setzte auf eine gewaltsame innerpolnische „Lösung“ der Krise (zu der es mit der Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 schließlich auch kommen sollte). Damals waren uns alle diese Zusammenhänge unbekannt. Wir wussten gar nichts. Es war stockfinstere Nacht. Und wir waren völlig abgeschnitten.

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Es war eine beängstigende Situation. Nur dieses eine stand mir klar vor Augen: Jetzt gerade, in diesem Moment, nur 35 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, standen deutsche Soldaten wieder kurz davor, in Polen einzumarschieren. Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR. Und einer von ihnen wäre ich gewesen. Für mich war in genau diesem Moment meine innere Abwendung von der DDR besiegelt. Die Stunde Null Mein Großvater hatte mir oft von dem furchtbaren Grauen erzählt, das Deutsche im Zweiten Weltkrieg in Polen angerichtet hatten. Er war als junger Mann dabei gewesen und kam darüber sein ganzes weiteres Leben lang nicht hinweg. In dieser Nacht, in dieser Stunde, mit meiner Kalaschnikow da draußen kurz vor der polnischen Grenze – da hatte ich mit dieser DDR, mit diesem System innerlich endgültig abgeschlossen. Dieses System, das war nicht mein System. Ein deutscher Staat, die DDR, der tatsächlich bereit war, noch einmal Polen anzugreifen; ein Staat, der bereit war, seine jungen Bürger in solch eine Lage zu bringen – so einen Staat und so ein System wollte ich nicht mehr. Dies war tatsächlich ein Schlüsselmoment meines Lebens, meine „innere Stunde Null“. Denn die Erfahrung dieser Nacht erklärt zu guten Teilen, warum ich


DIETMAR WOIDKE | DIE WENDE BEGANN 1981

in den Jahren danach zu dem politischen Menschen wurde, der ich heute bin. Sie hilft erklären, warum mir Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte so wichtig sind. Sie hilft erklären, warum ich mich immer für Gewaltlosigkeit und Pluralismus, Selbstbestimmung und Gewaltenteilung einsetzen werde. Und sie hilft erklären, warum mir freie Wahlen und freie Gewerkschaften so viel bedeuten – all die Prinzipien, Einrichtungen und Werte also, für die Sozialdemokraten einstehen, in Brandenburg und überhaupt. eine telefonnummer in der tasche Als ich dann in den achtziger Jahren in Berlin studierte, habe ich mich dann ganz bewusst der Evangelischen Studentengemeinde angeschlossen – vor allem wegen der geistigen und kulturellen Freiräume, die in diesem Milieu existierten. Ich entwickelte mich in dieser Zeit zwar nicht zum Bürgerrechtler im engeren Sinne, aber dies war das Umfeld, in dem ich mich eben auch bewegte. Mein Studentenpfarrer damals war Konrad Elmer, im Oktober 1989 einer der Gründerväter der SDP in Schwante. Und in den letzten Jahren der DDR trug ich – wie viele andere auch – sicherheitshalber die Telefonnummer von Manfred Stolpe immer in der Tasche. Manfred Stolpe kannte mich damals nicht, aber ich wusste: Vielleicht würde ich seine Hilfe noch einmal brauchen.

Dazu kam es dann bis 1989 glücklicherweise nicht mehr – und danach begann auch für mich eine neue Zeitrechnung. Ich bin Anfang der neunziger Jahre der Arbeit und der besseren Perspektiven wegen in den Westen gegangen. Studiert hatte ich Agrarökonomie, und so bewarb ich mich um einen Job bei einem Tierfutter-Unternehmen In Oberbayern, das sich gerade bemühte, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Fuß zu fassen. Wie mir ging es damals Hunderttausenden von Menschen in Ostdeutschland: Viele sahen keine andere Möglichkeit, als zu gehen – und viele von ihnen sind leider nicht wieder zurückgekehrt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren eben so. Mich selbst zog es von Anfang an zurück in meine Heimat. Aber es war doch ein glücklicher Zufall, dass ich schon 1993 beruflich wieder in Brandenburg unterkommen konnte. Kein Stein blieb auf dem anderen Wäre ich in Bayern geblieben, hätte ich mit Politik wohl auch weiterhin allenfalls als interessierter Wähler zu tun gehabt. Stattdessen war es nach meiner Rückkehr die wirtschaftliche und soziale Situation in Brandenburg, die mich politisch zutiefst prägte. Gerade in den frühen bis mittleren neunziger Jahren erlebte Ostdeutschland ja die Abwicklung und den Zerfall fast aller wirtschaftlichen und industriellen Strukturen der

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vergangenen Jahrzehnte. Gerade in traditionellen Industriestandorten blieb so gut wie kein Stein auf dem anderen. Zigtausende Arbeitsplätze verschwanden ersatzlos, gewachsene Gemeinschaften und Nachbarschaften wurden entwurzelt. Reale Arbeitslosenquoten von 50 Prozent waren an der Tagesordnung. Oftmals untaugliche Umschulungen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen boten keine erkennbaren Perspektiven. Das war in meiner Heimatstadt Forst, einem traditionellen Textilstandort mit dem Spitznamen „deutsches Manchester“, nicht anders als in vielen anderen Regionen in Brandenburg und ganz Ostdeutschland. aus arbeit entsteht Gemeinschaft Wie wichtig manches ist, erkennt man oft erst, wenn es plötzlich nicht mehr da ist. Erst als Anfang und Mitte der neunziger Jahre in meiner von Arbeit geprägten Heimatstadt die Arbeit ausging, begriff ich in vollem Umfang, wie bedeutsam Arbeit für Menschen eigentlich ist: Zum einen in ökonomischer Hinsicht, ganz einfach, weil fast alle Menschen ihren Unterhalt möglichst aus eigener Kraft bestreiten wollen. Zugleich aber beziehen sie aus ihrer Arbeit auch ihre Würde, ihr Selbstwertgefühl und ihren Stolz auf das Geleistete. Aus gemeinsam geleisteter Arbeit entstehen Gemeinschaften, die schnell wieder zerfallen können,

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wenn ihnen der „Kitt“ der Arbeit abhanden kommt. Es stimmt schon: Arbeit ist ganz sicher nicht alles – aber ohne Arbeit ist fast alles nichts. Keinen tag bereut Die Erfahrung der tiefen Hoffnungslosigkeit, die in den frühen neunziger Jahren in meiner Heimatstadt, in meinem Bekanntenkreis und selbst in meiner eigenen Familie um sich griff, hat mich politisch zutiefst geprägt und sozialisiert. Dagegen wollte ich etwas tun, diesen Niedergang und Zerfall wollte ich aufhalten helfen. Was mir dabei den Mut gab, dann tatsächlich auch selbst politisch tätig zu werden, war das Erlebnis, dass bei uns in Brandenburg – mit Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt an der Spitze – unerschütterliche Politiker und Politikerinnen unterwegs waren, die selbst in scheinbar aussichtslosen Situationen niemals aufsteckten und resignierten. „Erzählt mir doch nich, dasset nich jeht“, pflegte bekanntlich Regine Hildebrandt zu entgegnen, wenn sie auf Menschen traf, die gerade drauf und dran waren, alle Hoffnung fahren zu lassen. Mich hat damals diese Grundhaltung des Durchhaltens und Weiterkämpfens selbst in schwierigsten Lagen zutiefst beeindruckt. Und ich bin mir ziemlich sicher: Ohne die frühe Durchsetzung dieser kämpferischen Einstellung als Vorbild und gesellschaftliche


DIETMAR WOIDKE | DIE WENDE BEGANN 1981

Norm wären wir in Brandenburg bei weitem nicht so gut auf die Beine gekommen. Den nüchtern-pragmatischen Sozialdemokraten Helmut Schmidt verehrte ich bereits seit den siebziger Jahren. Und die Politikerinnen und Politiker, die in den frühen neunziger Jahren in Brandenburg für Arbeit, Würde und Gerechtigkeit kämpften – neben Regine Hildebrandt und Manfred Stolpe auch zahllose Politiker in Kreisen und Kommunen – waren nach meiner damaligen Wahrnehmung ebenfalls weit überwiegend Sozialdemokraten. So stand meine Entscheidung für die Sozialdemokratie sehr bald fest. 1993 bin ich unserer Partei beigetreten – und habe diesen Schritt seither nicht einen einzigen Tag bereut. | DR. DIETMAR WOIDKE

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD.

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FRANK-WALTER STEINMEIER | ALTE LIEDER, NEUE ZEITEN

ALTE LIEDER, NEUE ZEITEN Wie mir Brandenburg zur neuen Heimat wurde — Von Frank-Walter Steinmeier

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enn meine Gedanken zerreißen die Schranken – und Mauern entzwei, die Gedanken sind frei!“ So heißt es in dem wunderbaren Volkslied, das seit über 200 Jahren all diejenigen singen, die an ein geeintes und freies Deutschland glauben. Nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon sangen junge Studenten mit diesem Lied gegen die Kräfte der Restauration an. Sophie Scholl spielte es vor der Gefängnismauer, hinter der ihr Vater in Haft saß. Und als Ernst Reuter in seiner legendären Rede rief „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“, da brachen 300.000 Menschen im abgeschnittenen Berlin spontan in diesen Gesang aus. Mehr als vier weitere Jahrzehnte der Teilung mussten vergehen, ehe die Zeilen Wirklichkeit wurden. Vier Jahrzehnte lang wurde das Lied weitergesungen, gerade von jenen mutigen Ostdeutschen, die den Stein der friedlichen Revolution ins Rollen brachten. Auch wir Studenten in der kleinen Universitätsstadt Gießen – auf der westlichen Seite nur gut 100 km vom Eisernen Vorhang entfernt hatten gesungen,

demonstriert und auf die Wiedervereinigung gehofft. Und dennoch wurden wir überrascht von jenem 9. November – genauso überrascht wie wohl die meisten auch auf der anderen Seite der Mauer. Mit heißem herzen Ich erinnere mich noch genau an den Tag: Ich lag in den letzten Zügen meiner Doktorarbeit und hatte mich tief in einer monatelangen akademischen Klausur vergraben. Meinen Mitbewohnern war die Stille aus meinem Zimmer schon unheimlich geworden. Doch dann kam der Moment, an dem auf einmal alle gemeinsam vor dem WG-Fernseher saßen und mit heißem Herzen, aber ungläubigen Ohren den Worten von Schabowski lauschten. Doch es war die Wahrheit! Wenig später machte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben auf nach Potsdam, damals noch in akademischen Schuhen, um ein Kolloquium des unvergessenen Wolfgang Ullmann zu besuchen. Wir stellten uns damals die Frage: Wie soll die Verfassung des vereinten Deutschlands aussehen?

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Die Jahre der Wiedervereinigung fallen zusammen mit dem Beginn meiner politischen Arbeit. 1990 rief mich eine ehemalige Kommilitonin – Brigitte Zypries – an und berichtete begeistert von dem frischen Wind einer rot-grünen Landesregierung. Einige Monate später fand ich mich als Hilfsreferent in der Staatskanzlei Hannover wieder. Der neue Job gab mir auch die Chance, meiner Neugier für die neuen Länder zu folgen. Niedersachsens Zuständigkeit in der Verwaltungshilfe führte mich nach Sachsen-Anhalt. Und in Sachen Fusion der norddeutschen Rundfunkanstalten machte ich mich mehrfach auf nach Mecklenburg-Vorpommern. Unvergesslich ist mir der erste Urlaub an den endlosen Sandstränden der Insel Usedom. Genauso unvergesslich wie unsere Unterkunft, ein ehemaliges Ferienheim des Chemiekombinats Buna-Werke! Überraschung am Bahnhof Mein zweiter Besuch in Potsdam fällt ins Jahr 1993. Mittlerweile Büroleiter des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, stieg ich in Hannover in den Zug und bereitete mich auf der Fahrt vor auf anderthalb Arbeitstage in den Büros der Staatskanzlei. Doch am Bahnhof in Potsdam erwartete mich nicht etwa mein brandenburgischer Counterpart, sondern ein charismatischer und strahlender Ministerpräsident höchstpersön-

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lich... Einen ganzen Tag lang fuhr Manfred Stolpe mit mir landauf, landab und zeigte mir stolz sein schönes Bundesland. Mauern sind verschwunden Dieser Besuch mit seinen vielen Eindrücken von Sanssouci und Havelseen hat sich mir eingebrannt. Viele Jahre später wurde das westliche Brandenburg endgültig zu meiner politischen Heimat. Diesen Glücksfall verdanke ich Manfred Stolpes Nachfolger, meinem Freund Matthias Platzeck. Ein Blick in die Gegenwart: Vor kurzem war ich nach unzähligen Staatsreisen und Krisentreffen endlich mal wieder einige Tage am Stück unterwegs in meinem Wahlkreis. In einer fröhlichen Gruppe radelten wir durch Wald und Feld und machten Rast in Dörfern bei Vereinen und Betrieben. Beim Blick über den Fahrradlenker musste ich oft an meine eigene Heimat denken, das Lipperland in Ostwestfalen, ebenfalls eine ländliche Gegend. Fontane schreibt in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, dass die Lipper – arme Landbauern zumeist – in den Sommermonaten hier nach Brandenburg zum Grasmähen und Ziegelbrennen kamen. Heute radeln wir durch schön renovierte Dörfer zwischen Fläming und Havelland. Und ich spüre, wie endgültig die „Schranken und Mauern“ verschwunden


FRANK-WALTER STEINMEIER | ALTE LIEDER, NEUE ZEITEN

sind, die Realität der deutschen Teilung, unter der ich aufgewachsen bin. Natürlich sind nicht alle Probleme gelöst, weder im Osten noch im Westen: Ansiedelungen und Arbeitsplätze, Bildung und Infrastruktur, demografischer Wandel – all das sind Herausforderungen in Ostwestfalen genau wie in Brandenburg. Aber es sind eben gemeinsame Probleme, und wir haben die Freiheit, sie gemeinsam zu lösen und voneinander zu lernen. Ich liebe nicht nur das oben erwähnte Lied, sondern das gesellige Singen überhaupt. Deshalb habe ich vergangenes Jahr mit meinem Team in Brandenburg eine kleine Liedersammlung herausgegeben. Ganz weit vorn steht natürlich „Die Gedanken sind frei“. Gern habe ich das kleine Liederbuch im Wahlkreis dabei, mit seinen Volksliedern und Heimatliedern und – je später der Abend – auch den Trink- und Feierliedern, die weiter hinten gedruckt sind. Und wenn ich in meine alte Heimat zu alten Freunden fahre, dann nehme ich das kleine Liederbuch auch mit ins Gepäck. Denn ganz gleich ob in Ostwestfalen oder Brandenburg: Es sind gemeinsame Lieder – unsere Lieder. | DR. FRANK-WALTER STEINMEIER

ist Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.

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GÜNTER BAASKE | „... DER SINGT AUCH IN KIRCHEN!“

„... DER SINGT AUCH IN KIRCHEN!“ Mein Wendeherbst in der Mark — Von Günter Baaske

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s gibt Ereignisse im Leben, die wird man ewig als einmalig, zumindest aber als etwas Besonderes in Erinnerung behalten. Dazu gehört die Geburt eines Kindes, eine Hochzeit oder irgendein Tag, der uns nachhaltig beeindruckt hat. Ich weiß nicht, ob es auch ganze Zeiträume oder Epochen im menschlichen Leben geben kann, die man später als besonders und prägend in Erinnerung hat. Aber wenn es dies in meinem Leben gibt, werden es zuallererst die Jahre um 1990 sein. Und in jener Zeit gab es Tage, auch einzelne Stunden, die sind im Besonderen unvergessen. Wer sich 1988 in Ostdeutschland seinen ganz persönlichen Fünfjahrplan zusammengestellt hatte, dürfte spätestens im Herbst 1989 mit Umplanungen begonnen haben. Im Grunde wurde jeder bisherige Plan zur Makulatur. Ich war 1988 Lehrer an der Gehörlosenschule „Albert Gutzmann“ in der Berliner Gartenstraße. Ich hatte dort eine wunderbare Zeit und war schon etwas wehmütig, weil die Familien-

planung vorsah, dass wir zum Schuljahr 1989/90 wieder in die heimatliche Provinz nach Belzig ziehen sollten. An der Gehörlosenschule haben sie uns relativ in Ruhe gelassen mit all dem Politikram, weil von den Schülern dort sicher kein NVA-Offizier oder bedeutender Wissenschaftler erwartet wurde, der 100-prozentig hinter der Parteilinie stehen musste. Das Zentralkomitee fehlte Das änderte sich aber schon am ersten Schultag im September 1989. Mein Einsatzort war Borkheide, eine gemütliche kleine Schule auf dem Lande. Ich sollte Klassenlehrer einer 8. Klasse werden und freute mich wirklich auf die Truppe, von denen ich einige schon in den Ferien kennengelernt hatte. Und so wollte ich die erste „Klassenlehrerstunde“ auch dazu nutzen, dass alle sich vorstellen und über ihre Ideen und Ziele für die nächsten zwei Jahre reden können. Aber schon vor dem Unterricht ging der Zwist los, als sich eine

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Schulrätin meldete und ankündigte, sie wolle bei mir hospitieren. In den ersten zwei Stunden! Als ich ihr das untersagen wollte, führte sie irgendwelche Paragrafen an und meinte, es sei ihr Recht, jetzt hospitieren zu dürfen. Nun gut, ich habe sie ignoriert, auch den Kindern nicht vorgestellt. Sie hat eifrig mitgeschrieben und mir dann im Anschluss erklärt, was ich alles falsch gemacht habe – zum Beispiel die Jungs nicht angesprochen habe, ob sie sich vielleicht in den Ferien überlegt hätten, Berufssoldat zu werden; ich hätte nicht auf irgendwelche wegweisenden Beschlüsse des Zentralkomitees hingewiesen usw. Das war offensichtlich Störfeuer von der ersten Minute an. Später hat mir ein befreundeter Schulleiter erzählt, dass in der Leitungsrunde der Schulrat massiv vor mir warnte, denn „der Baaske singt auch in Kirchen!“ Kündigung auf der erika Ich bin jedenfalls nach der Schule nicht nach Hause gefahren, sondern zu meinem Freund Norbert Leisegang, dem Keimzeit-Sänger. Der hatte auch Pädagogik studiert und war längst ausgestiegen. Wir haben nur eine Stunde gebraucht und ich war Manager von Keimzeit – am ersten Schultag des Jahres 1989! Zu Hause habe ich auf meiner Reiseschreibmaschine „Erika“ meine Kündigung geschrieben und sie noch

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am selben Nachmittag der Schulrätin mit den Worten: „Ich habe auch meine Rechte“ auf den Tisch gelegt. Mit dem Schulleiter hatte ich allerdings vereinbart, dass ich den Unterricht, den er anders nicht absichern konnte, natürlich übernehme. Also arbeitete ich vormittags ein paar Stunden in der Schule und war nachmittags für Keimzeit unterwegs. Schon bald ging es dann los mit den Montagsdemos in Leipzig und in Berlin mit Veranstaltungen rund um die Zionsund Gethsemanekirche. Der neue berufliche Freiraum ermöglichte es mir, dort regelmäßig teilnehmen zu können. Werden die schießen? Nie vergessen werde ich den Montagabend um den 7. Oktober 1989, als wir in der Gethsemanekirche eine Resolution zum Thema „Bürgerrechte“ verfassten und dann beschlossen, sie gemeinsam zum Staatsratsgebäude der DDR zu bringen, um sie dort – wem auch immer – zu übergeben. Es wurde ein gewaltiger Protestmarsch, der uns auch am ADN- Gebäude vorbeiführte. Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst war uns verhasst, war er doch ganz entscheidend mit dafür verantwortlich, dass die SED über Jahrzehnte ihre verlogene Propaganda ins In- und Ausland tragen konnte. Und so skandierten wir fröhlich: „A-D-N: hört auf zu pennen!“


GÜNTER BAASKE | „... DER SINGT AUCH IN KIRCHEN!“

Ich weiß gar nicht wie viele von uns das mitbekamen, dass plötzlich die Fenster in der oberen Etage des Gebäudes aufgingen, aber irgendjemand in meinem Umfeld zeigte dort hoch und meinte: „Die werden doch jetzt nicht schießen?“ Der Schreck fuhr uns jedenfalls gewaltig in die Glieder und ich konnte kaum noch woanders hin schauen. Aber es ging alles gut, wir liefen am Palast der Republik vorbei, jemand übergab unser Schriftstück und die Demo löste sich auf. Aber der Schreck saß wohl wirklich tief: Ich wurde nachts wach, schweißgebadet, mit Pusteln am ganzen Körper und erst eine kalte Dusche schaffte Abhilfe. In den nächsten Wochen suchte ich Verbündete in Belzig. Die Kreise, in denen man sich traf, wurden immer größer, erste öffentliche Veranstaltungen wurden angemeldet und organisiert. Nie war die Kirche so voll Unvergesslich wird für mich – wie für so viele – der 9. November bleiben. Wir hatten eine große öffentliche Versammlung in der Lütter Dorfkirche. Am Nachmittag habe ich eine Resolution gegen die Staatssicherheit vorbereitet, die ich am Abend von den Besuchern unterschreiben lassen wollte. Martin Gutzeit, einer der SDP- Mitbegründer, war unser Gast. Nach Aussagen des Pfarrers war die Kirche nie zuvor so

voll wie an diesem Abend. Unsere ängstlichen Blicke wanderten immer wieder hoch zur Empore und der Last an Menschen, die sie an diesem Abend zu tragen hatte. Ich eröffnete die Veranstaltung mit Zitaten aus der Verfassung der DDR zu Presse- und Versammlungsfreiheit. Es gab jeweils ein herzhaftes, aber natürlich auch zynisches Lachen im Saal, da wir alle wussten, dass die verfassten Rechte das Eine, die gelebte Realität jedoch etwas ganz anderes war. Ein Gast begründete das unter anderem damit, dass auch an diesem Abend die Ausfallstraßen des Dorfes mit Mannschaftswagen der Polizei besetzt waren – wozu und warum auch immer. Wir wollten Freiheit Die Diskussion war lebhaft, viele berichteten von ihren persönlichen Erlebnissen. Natürlich kam man beim Thema Freiheit nie um das Thema Stasi herum, und das wollten wir ja auch gar nicht. Die Zustimmung zur Resolution war demzufolge auch groß. Wir forderten die sofortige Abschaffung der Staatssicherheit und alle Freiheiten, die unsere Verfassung uns gab. Dass am Ende von den etwa 400 Anwesenden über 200 sich trauten, das auch zu unterschreiben, hatte ich wirklich nicht erwartet – zumal natürlich auch die Stasi unter uns weilte. Die Turbulenzen dieses wahrlich historischen Tages wurden aber durch den

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Auftritt einer Frau aus Lütte nach zweistündiger Debatte offenbar. Gegen 21 Uhr meldete sie sich unaufhörlich mit hochgestreckter Hand und völlig aufgelöst zu Wort. Als Moderator des Abends hatte ich noch eine lange Rednerliste vor mir, aber um etwas Ruhe in ihre Ecke zu kriegen, gab ich ihr schließlich das Wort. Und dann war die Mauer offen Atemlos berichtete sie, dass sie gerade erfahren hätte, dass die Mauer offen sei und die Leute schon aus Ostberlin nach Westberlin fahren würden. Ich guckte Martin Gutzeit an, er guckte mich an, unsere Blicke sagten wohl das Gleiche und so bat ich sie, sie möge sich doch wieder setzen, das würden wir später klären. Es setzte auch keine Flucht aus dem Kirchenhaus ein, alle blieben und diskutierten, so unwahrscheinlich erschien uns das, was wir gerade erfahren hatten. Heute, in Zeiten von SMS, Twitter und WhatsApp ist das unvorstellbar, aber damals war das so. Erst als ich nach dem ganzen Trubel gegen halb elf bei unserer Pfarrersfamilie vor dem Fernseher saß und die unglaublichen, aufwühlenden Bilder aus Berlin sah, fing ich an zu realisieren, was an diesem Abend passiert war. Und ich sagte zu unserem Pfarrer: „Edgar, wenn wir die Veranstaltung morgen Abend gemacht hätten, wären wir unter uns geblieben.“

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Am nächsten Morgen ging ich mit der Anti-Stasi-Resolution und den Unterschriften unterm Arm zur Regionalredaktion der Märkischen Volksstimme. Und tatsächlich wurde der Text am darauffolgenden 11. November 1989 veröffentlicht – neben vielen Erfahrungen und Berichten der ersten Westberlin– Besucher. So habe ich „meine Wendetage“ als eine turbulente, spannende Zeit in Erinnerung. Tage, die für mich schon lange davor begannen, als ich mich im September 1989 aus dem Schulsystem weitgehend ausklinkte, mit Keimzeit eine wunderbare Zeit erlebte und über die Kirche aktiv zur Opposition fand. Und in der langen Nacht des 9. November 1989 begriff ich erleichtert, dass mit dem Mauerfall das ganze unsägliche System verschwinden würde – allerdings ohne zu ahnen, wie schnell dies passieren würde. Und natürlich auch noch nicht wusste, wie lang und oft steinig der Weg in die neue Gesellschaft werden würde. Aber doch mit dem guten Gefühl und der Gewissheit: Wir sind den richtigen Weg gegangen. | GÜNTER BAASKE

ist Minister für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg.


HEINZ VIETZE | WAS ICH GEMACHT HABE, KANN UND MUSS ICH VERANTWORTEN

WAS ICH GEMACHT HABE, KANN UND MUSS ICH VERANTWORTEN Über eine Karriere in der SED, den Umgang mit der Opposition und Windeln im Politbüro sprach Thomas Kralinski mit Heinz Vietze PERSPEKTIVE21: 1967 waren Sie 18 Jahre alt. Hatten Sie eigentlich eine rebellische Phase in Ihrer Jugend? HEINZ VIETZE: Aber natürlich. Ende der sechziger Jahre waren da die Beatles, hörten wir Rolling Stones. Das war eine interessante Herausforderung. Mein Musikgeschmack entsprach nicht ganz dem der politischen Führung der DDR. Sie kommen aus einem Pfarrhaushalt. Hat das Ihre Entwicklung behindert? Dadurch hat es mit der Erweiterten Oberschule nicht geklappt. Aber ich habe dem keine Bedeutung beigemessen und dann erstmal eine Berufsausbildung mit Abitur gemacht. Ich fand das nicht schlecht, dadurch konnte ich einen „richtigen Beruf“ lernen. Ich finde das heute noch ein Konzept, dem man sich stärker widmen sollte. Denn zwei Jahre in ein – wie es damals hieß – Arbeitskollektiv eingebunden zu sein, ist nichts Schlechtes.

Hat Sie der „Prager Frühling“ 1968 beschäftigt? Zu der Zeit bin ich nach Potsdam gezogen. Klar haben wir damals auch über die politische Atmosphäre geredet, dass man bestimmte Sachen modernisieren und demokratisieren müsse. Unter den Abiturienten und an der Jugendhochschule gab es viele pfiffige junge Leute – und entsprechend muntere Diskussionen. Ich fand es dann richtig, dass die NVA nicht in die Tschechoslowakei einmarschiert ist, das wäre historisch nicht zu verantworten gewesen. Aber intensiv hat mich das nicht beschäftigt. Ich habe in der Zeit meine Frau kennengelernt – und wir hatten schlicht andere Prioritäten. Sie sind dann sehr schnell FDJ-Sekretär geworden. War das Zufall oder Planung? Ich war in einer Jugendbrigade der Werkzeug-Maschinen-Union, einem

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großen Kombinat der DDR. Wir waren erfolgreich und wurden als herausragendes Kollektiv ausgezeichnet. Ich war schon mit 20 Jahren der verantwortliche Brigadier und junger Kandidat der SED, habe auf dem gesamtdeutschen Arbeiterkongress in Halle eine Rede gehalten. Man hat mich wohl als politisches Talent gesehen. Und so bin ich dann von verschiedenen Seiten gedrängt und umworben worden, FDJ-Sekretär zu werden. Die DDr wurde Billigproduzent Was war damals Ihr Antrieb, welche politischen Ziele hatten Sie? Meine Eltern hatten beide Kinderlähmung, meine Mutter saß 50 Jahre im Rollstuhl. Da hatte ich schon zu Hause eine Fürsorgepflicht. Ich war immer daran interessiert, dass man in der Gesellschaft Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum schafft, um so die soziale Situation der Menschen verbessern zu können. Ich war kein Fan davon, Antennen von den Dächern zu reißen, wichtiger war, dass wir Probleme mit ausreichend Wohnungen in der DDR hatten. Ich fand, das Leben muss gerechter werden. Was die DDR für kranke Menschen machen konnte, war entsprechend ihren wirtschaftlichen Bedingungen bescheiden. Das wollte ich verändern. Das war mein Antrieb. Und dann war ich auch für Frieden, gegen Konfrontation. Der Vietnam-Krieg,

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Apartheid im Süden Afrikas, die 68er Bewegung in der BRD, die Auseinandersetzungen um Angela Davis in den USA und der Putsch in Chile – das alles hat mich politisiert. War Ihnen klar, dass sie als FDJSekretär auch Teil des Systems oder der Herrschaftssicherung waren? Diesen Kopf hat man sich mit 19 oder 20 Jahren nicht gemacht. Aber ist es systemstabilisierend, wenn man das System aus sich heraus verändern will? Ja und nein. Ich habe an vielen Stellen Handlungsbedarf gesehen, aber auch viele Sachen – die einem in der Schule vermittelt wurden – nicht hinterfragt. Waren Ihre Eltern einverstanden, dass Sie politische Karriere machten? Mein Vater ist 1952 aus der SED ausgetreten. Er hat mich immer zu kritischem Umgang ermahnt und fand auch nicht klug, dass ich in die SED gegangen bin. Meine Mutter fand es auch nicht gut. Aber ich wollte meinem alten Herrn und meiner Mutter zeigen, dass man was verändern kann. Sie haben es dann akzeptiert und meinten, ich solle meine eigenen Erfahrungen machen. Sie sind dann schnell aufgestiegen, waren an der Parteihochschule und wurden Bezirkssekretär der FDJ. Das war eine sehr intensive Zeit mit den Weltfestspielen der Jugend und ersten


HEINZ VIETZE | WAS ICH GEMACHT HABE, KANN UND MUSS ICH VERANTWORTEN

Westreisen mit Jugendtourist. Als Bezirkssekretär der FDJ war ich automatisch Mitglied des Sekretariats der SEDBezirksleitung und hatte meinen Sitz auch im Potsdamer „Kreml“. Wenn man heute Aussagen zu dieser Zeit sieht, muss ich sagen, dass ich eine andere Erfahrung gemacht habe – das war keine Abnick-Veranstaltung. Da wurde ernsthaft gestritten, wie man Unternehmen unterstützen, wie man Wohnungen bauen kann. Das war schon eine Zeit intensiver Charakterbildung. Und wurden dann mit 36 Jahren jüngster SED-Kreissekretär. In Oranienburg, damals der industriell wichtigste Kreis im Bezirk Potsdam. Als FDJ-Sekretär habe ich Jugendfestivals vorbereitet. Als SED-Kreissekretär war man auf einmal für alles zuständig. Es gab keinen anderen, die Partei war zuständig für die landwirtschaftliche Produktion, für die Kindergärten, das Gesundheitswesen, die Konsumgüterproduktion, den Wohnungsbau – einfach alles. Da bekommt man einen anderen Blick auf die Realität. Ich habe das wohl recht erfolgreich gemacht, so dass ich bald Bezirkssekretär für Wirtschaft werden sollte. Das habe ich abgelehnt, weil ich nicht unter Günter Mittag arbeiten wollte. Wie haben Sie denn die Realität in den achtziger Jahren wahrgenommen?

Die Probleme waren extrem, die Lage sehr zugespitzt. Die DDR hatte sich in eine Situation gebracht, in der sie Billigproduzent für die Otto- und QuelleKataloge war. Unsere Möbel sind dorthin gegangen. Wir haben unsere Eier für drei Pfennig exportiert, ein Großteil der Apfel- und Erdbeerernte ging in den Export. Es war ein Ausverkauf. Ein wenig war die DDR damals wie China oder Bangladesch heute – ein Billiglohnland, nur mit geringeren Transportkosten. Außerdem wurde offensichtlich, dass der RGW – also das Pendant zur EWG – nicht funktionierte. Dazu waren die Möglichkeiten in Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien zu unterschiedlich und die Sowjetunion überfordert. Die Zeiten änderten sich Bekamen Sie denn Systemzweifel? Die Partei nahm über die Verfassung die „führende Rolle“ und die Diktatur des Proletariats für sich in Anspruch und durch historische Kenntnisse und auf wissenschaftlicher Basis die Lösung alle Probleme bieten zu können. Das Problem war, es wurde offensichtlich, dass das nicht mehr funktionierte. Dann kam 1985 Gorbatschow. Er schärfte gerade für viele Jüngere den Blick auf nötige Veränderungen – aber wie man heute weiß, war das schon zu spät. Mir wurde klar, dass wir eine deutliche wirtschaftliche Leistungssteigerung brauchten

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und andere Umgangsformen mit den Bürgern. Die Menschen wollten unmittelbarer leben. Führte das nicht zu Konflikten mit der SED-Führung? Ja. Führungszentrum war Berlin, die anderen Zentren waren – wenn auch gewichtet – Schaltstellen. Wir hatten immer noch Verständnis für die Alten, wollten dann aber nur noch, dass sie zurücktreten. Ich habe mich lange mit Alfred Neumann unterhalten, er saß unter den Nazis lange im Zuchthaus Brandenburg und war stellvertretender Ministerpräsident der DDR. Er sagte mir: „Als junge Leute hatten wir nach dem ersten Weltkrieg fünf Ideale. Wir wollten Frieden, wir wollten Arbeit, Wohnungen für alle, niemand sollte mehr hungern und wir wollten Bildung.“ Für die Alten waren diese Ideale der zwanziger und dreißiger Jahre erreicht und sie verstanden nicht, warum die Menschen in den achtziger Jahren trotzdem unzufrieden waren. Sie verstanden nicht, dass die Zeiten sich geändert hatten. Dass die Ansprüche, zum Beispiel Reise- und Meinungsfreiheit andere waren. Wie ist die DDR mit diesen Ansprüchen umgegangen? Da ist die DDR-Führung an Grenzen gekommen. Die SED hat es nicht geschafft, sich dem Neuen zu öffnen. Stattdessen kam es zu Konfrontationen gegenüber

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Wissenschaftlern, Künstlern, Arbeitern und Bauern – die Ausreisewelle erreichte eine neue Dimension. Die Medien wurden indoktriniert. Es entstand eine ideologisch geformte Bleiwüste. Die Umgangsformen mit der Gesellschaft verhärteten, die Konflikte erhöhten den Sicherungsbedarf nach innen – all das führte zu einem fatalen Kreislauf. Und trug dazu bei, dass die SED-Führung für Perestroika und Glasnost keine aufgeschlossene Haltung fand. Nur noch Notstandsverwaltung Hatte denn die SED ein realistisches Bild der Lage in der DDR? Dass die Situation dramatisch war, wussten wir – zumindest als Kreissekretäre. Wir haben nicht ständig darüber gesprochen. Aber wenn das Politbüro Beschlüsse fällen muss zur Versorgung mit Toilettenpapier und Windeln, weiß man, dass die Planwirtschaft am Ende ist. Das ist nur noch Verwaltung von Notstand und Armut. Auf der anderen Seite hatten wir aber eine außenpolitisch andere Situation. Zum differenzierten Bild gehören andererseits die große Leistungsbereitschaft der Bürger der DDR und die internationale Anerkennung der Friedensbemühungen. Selbst die Bundesrepublik hatte der DDR Wertschätzung entgegen gebracht. Kohl hat Honecker in Bonn über den roten Teppich geführt. Die SPD hat mit der SED gemeinsame


HEINZ VIETZE | WAS ICH GEMACHT HABE, KANN UND MUSS ICH VERANTWORTEN

Papiere gemacht. Wir haben uns wechselseitig die Reformfähigkeit bescheinigt. Ich hatte das Gefühl, ja wir müssen was ändern, aber die anderen gehen ja auch Risiken ein. Allerdings so dramatisch, wie der Schürer-Bericht aus der Zentralen Plankommission die wirtschaftliche Situation 1989 schilderte, war sie mir auch nicht bewusst. Haben Sie denn auch die zunehmende politische Unzufriedenheit wahrgenommen? Ja. Die Aktivitäten von oppositionellen Gruppen haben in den achtziger Jahren zugenommen – und zwar nicht nur kirchlicher Gruppen. So gab es in Potsdam auch Gruppen, die sich für Umweltschutz und Stadtentwicklung eingesetzt haben. War es dann klug, die Kommunalwahlen im Mai 1989 so zu manipulieren, als gäbe es keine Unzufriedenheit? 1989 war ja nicht die erste Manipulation. Nur 1989 war die Situation erstmals eine andere, denn die Opposition hatte sich so organisiert, dass sie durch Beobachtung in allen Wahlbüros auch wirklich nachweisen konnte, dass manipuliert wurde. Ich war von Anfang an gegen solche Manipulationen und habe mich daran nicht beteiligt. Deshalb gibt es im Zusammenhang mit der Kommunalwahl von 1989 kein Schriftstück mit meiner Unterschrift. Ich wollte einen anderen Umgang der Führung mit ihren Bürgern,

einen mit mehr Ehrlichkeit. Deshalb hat die Potsdamer SED-Führung dem Neuen Forum schon im September einen „Dialog der ausgestreckten Hand“ angeboten. Der damalige SED-Bezirkschef war es dann auch, der den Rücktritt von Honecker eingefordert hat. Nun gab es aber auch Listen mit Namen von Systemkritikern, die im Fall der Fälle interniert worden wären. War das nicht eine Grenzüberschreitung des Systems, die an ganz finstere Zeiten erinnerte? Die Staatssicherheit hat solche Listen in der Tat geführt. Aber von ihrer Existenz habe ich erst kurz nach der Wende erfahren. Als Kreissekretär der SED hatte ich von ihnen keine Kenntnis erhalten. Von Schwante wußten wir Wann wurden denn aus den „Verfassungsfeinden“ der DDR-Opposition für Sie Partner? Verfassungsfeinde waren sie für mich nicht. Mein erstes Gespräch mit Detlef Kaminski, einem der führenden Potsdamer Oppositionellen, begann damit, dass er mir eröffnete, er stünde für einen reformierten Sozialismus. Damit hatten wir eine gemeinsame Grundlage. Am 7. Oktober 1989 wurde in der Nähe von Potsdam die SDP gründet – auch als klare Kampfansage an die SED. Hat die

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SED die Wiedergründung der Sozialdemokratie als die Kampfansage verstanden, als die sie gemeint war? Von der Gründung in Schwante haben wir gewusst, schlicht weil unter den 40 Gründungsmitgliedern ein halbes Dutzend Informelle Mitarbeiter des MfS war. Bis zum Ende hat es ja immer noch ehemalige Sozialdemokraten in der SED gegeben. Vielleicht hat die SED das deshalb auch nicht so richtig ernst genommen, zumal sie ja auch ordentliche Kontakte zur SPD im Westen hatte. Auch die SPD hat die Gründung einer Sozialdemokratie in der DDR zunächst als störend empfunden. Aber in jenen Tagen im Herbst 89 passierte ohnehin so viel gleichzeitig… ’89 war eine Chance Sie wurden im Oktober 1989 dann SEDBezirkschef. Wann haben Sie denn gemerkt, dass es mit der Herrschaft der SED und der DDR zu Ende ging? Dass es so schnell zur Vereinigung kommen würde, war ja weder nach den Aufrufen des Neuen Forums noch nach Helmut Kohls 10 Punkte-Programm klar. Es war klar, dass die DDR andere Beziehungen zur BRD haben würde. Es gab ja auch schnell Verhandlungen über weitere Hilfen und Kredite. Mir war auch klar, dass sich die SED vom verfassungsmäßig garantierten Führungsanspruch würde verabschieden müssen.

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Das geschah am 1. Dezember 1989. Das Problem war, dass die SED die verschiedenen Signale nicht verstanden hat und zu keinem Krisenmanagement mehr in der Lage war. Für mich war entscheidend, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung vor allem friedlich vollzog. Ich hatte ja nicht nur mit den Bürgerinitiativen zu tun, sondern auch mit der „Macht“ – also denen, die die Waffen hatten und nicht einsetzen sollten. Ich bin davon ausgegangen, dass die SED Mitverantwortung hat und sich dieser stellen muss. Dass sie sich mit ihren zwei Millionen Mitgliedern nicht aus allem rausziehen kann. Wir hatten für Ordnung und Sicherheit und einen friedlichen Übergang zu sorgen. Deshalb war der Runde Tisch so wichtig, weil er wichtige gesellschaftliche Gruppen mit eingebunden hat. Aber war mit dem Politbüro überhaupt nochmal Akzeptanz erreichbar? Nein. Am 1. Dezember 1989 bin ich nach Berlin gefahren und habe in einer Sitzung des Politbüros dieses zum Rücktritt aufgefordert. Der kam dann zwei Tage später, es folgte der Sonderparteitag der SED. Wie haben Sie denn Ihre Verantwortung gesehen? Dass was ich gemacht habe, kann ich und muss ich verantworten. Deshalb habe ich nach vielen Gesprächen mit


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Lothar Bisky, Gregor Gysi und Michael Schumann – die mich bedrängten – mich auch entschlossen, für den Landtag zu kandidieren und mich den Wählern zu stellen. Ich habe 1989 auch als Chance verstanden, unser Land zu demokratisieren, effizienter zu machen. Vieler meiner ehemaligen Mitstreiter sind schnell aus der Politik ausgeschieden und sind heute geachtete Mitglieder der Gesellschaft. Ich hatte das Gefühl, dass es sich lohnt in der Politik mitzumachen. Mir war klar, dass das kein leichter Gang würde. Warum? Nach einer Revolution gibt es über die alten Machthaber zunächst Ausgrenzung und Pauschalurteile. Damit bedienen sich die Demokraten eigentlich undemokratischer Mittel. Aber wir waren damals nun auch das Produkt, das wir selbst zu verantworten hatten.

Haltung beeindruckt, dass wir miteinander leben und uns die Meinung sagen müssen können. Dieses Nicht-Ausschließen war für mich der Kern des „Brandenburger Weges“. Dass die Opposition vom Staat mit finanziert wird, dass sie die Möglichkeit hat, sich in gesellschaftliche Debatten oder die politische Bildung einzubringen, ist für mich der zentrale Vorzug unserer Gesellschaft. Was wäre denn aus Ihnen geworden, wenn es die DDR weiter gegeben hätte? Ach, wer weiß das schon. | HEINZ VIETZE

war vor der Friedlichen Revolution Kreisund Bezirkssekretär der SED in Potsdam und von 1990 bis 2007 stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Parlamentarischer Geschäftsführer der PDS bzw. Linkspartei im Brandenburger Landtag.

Wie sind Sie da rausgekommen? Die Geschichte spricht ihr Urteil. Ich war der Meinung, die PDS muss an der Verfassung mitschreiben, denn wir konnten auch darauf aufmerksam machen, wie man Verfassungen missbrauchen kann. So ist die PDS in Brandenburg auch die einzige gewesen, die in den neuen Ländern zur Verfassungspartei geworden ist. Ich wollte, dass wir Verantwortung für unser Tun übernehmen und uns beteiligen. Mich hat Manfred Stolpes

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SUSANNE MELIOR | SPÄTER SOMMER

SPÄTER SOMMER Wie die Sozialdemokratie 1989 in der DDR Einzug hielt — Von Susanne Melior

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s war ein später Sommertag wahrscheinlich mit vielen Wolken und Wind, vielleicht auch Regen. Die Kieler Bucht hatte laut Wetteraufzeichnungen einen der schwersten Stürme erlebt. Wie viel wir hier davon gespürt haben – daran erinnere ich mich nicht mehr! Für mich und meine Familie brachte ein anderer Wirbel Bewegung in unser bis dahin in eher geordneten Bahnen verlaufendes Leben. Es war am 27. August 1989 am frühen Vormittag in unserer Küche in Langerwisch. Wir saßen beim Frühstück mit unseren beiden älteren, damals drei und vier Jahre alten Kindern und hörten im Hintergrund wie fast immer Radio, vermutlich RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor). Die Stimme des Nachrichtensprechers ließ uns aufhorchen, und die Meldung hatte es in sich. Es war die Rede vom Aufruf zur Neugründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR. Mein Mann meinte gleich, da müsse Arndt Noack beteiligt sein. Der war damals Studentenpfarrer für die Ernst-MoritzArndt-Universität in Greifswald. Wir hatten ihn dort als unseren dritten

Studentenpfarrer kennengelernt und begegneten uns danach auf mehreren Absolvententreffen der Evangelischen Studentengemeine (ESG). Wir schätzten ihn und seine Arbeit sehr. Sein Wort hatte für uns Gewicht, und so auch die Mitteilung an diesem Vormittag im RIAS. eine Meldung am 27. august Natürlich gibt es nicht einfach eine Meldung im Radio, und dann verändert sich ein Leben. Es gibt ein Davor und ein Danach. Ich studierte von 1977 bis 1984 Biologie in Greifswald, hatte Kontakt zur Studentengemeinde und lernte meinen jetzigen Mann kennen, der dort Physik studierte. Wir erlebten mit Walter Bindemann, Harro Lucht und Arndt Noack sehr politische Pfarrer, trafen interessante Menschen und übernahmen demokratisch legitimierte Leitungsaufgaben in der ESG. Es gab Kontakte nach Polen, in die Schweiz, nach Schweden und zu westdeutschen Partnergemeinden. Besonders beeinflusst waren wir von den Begegnungen mit dem Franziskaner Henk Jansen und den Studieren-

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den der protestantischen HerformdeKerk-Gemeinde aus Utrecht in den Niederlanden. Sie besuchten uns regelmäßig im Herbst, und bis heute verbinden uns enge Freundschaften. Bei diesen Begegnungen ging es wie in der gesamten Arbeit der ESG sehr politisch zu. Wir diskutierten über die großen Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, trafen uns zum philosophischen Frühstück, machten Front gegen den in den DDR-Schulen eingeführten Wehrkundeunterricht, lasen Christa Wolfs „Kein Ort Nirgends“, hörten Rolf Schneider zur deutschen Nation reden, setzten uns kritisch mit dem Nato-Doppelbeschluss auseinander, diskutierten den atomaren Overkill und dachten über mögliche Abrüstungsszenarien nach. Die Arbeit in und mit der ESG prägte und politisierte mich. Und auch als wir danach eher mit Arbeit, unseren Kindern, Haus und Garten beschäftigt waren, ließ uns die Politik nicht mehr los und eben auch aufhorchen an jenem 27. August. Vom 15. bis 17. September besuchten wir Freunde in Greifswald. Es wurde viel über das dann schon gegründete Neue Forum diskutiert. Wir sollten uns beteiligen. Wir sollten aber auch die kleinen Kinder unserer Freunde betreuen für den Fall, dass sie verhaftet werden würden. Nach einem langen Gespräch kurz vor Mitternacht verließ ein Freund unser Zimmer und sagte noch in der Tür stehend, dass es ja auch noch die sich

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in Gründung befindenden Sozialdemokraten gebe. Mein Mann und ich diskutierten bis in den frühen Morgen weiter, und kurz nach 6 Uhr waren wir sicher in unserer Entscheidung für die Sozialdemokratie. Markus Meckel und Steffen Reiche haben es so beschrieben: „Die Gründung der SDP war als grundlegende Kampfansage an die SED-Herrschaft konzipiert und damit selbst ein revolutionärer Akt ... In ihrer Radikalität setzte diese Initiative die Schwelle für die Beteiligung hoch. Es kostete anfangs noch besonderen Mut, gerade bei dieser Initiative, und das heißt bei einer Parteigründung mitzumachen, denn hier wurde das absolute Wahrheits- und Machtmonopol der SED grundlegend in Frage gestellt. Der Zugang zu den anderen oppositionellen Initiativen, die mehr zu einem öffentlichen Dialog über notwendige Reformen aufriefen, war da leichter.“ Keine Zeit für Basisdemokratie Wir hätten es damals ähnlich beschrieben, wahrscheinlich mit anderen Worten. Aber dass es um die Machtfrage geht, war uns sehr bewusst, und genau die wollten wir stellen. Auch war uns wichtig, dass es eine klare in das politische Leben passende Struktur geben muss, um aus diesem SozialismusSumpf herauszukommen. Das Neue Forum war uns zu heterogen, zu unterwandert und zu unorganisiert. Bei allen


SUSANNE MELIOR | SPÄTER SOMMER

anderen neuen Bewegungen fehlte uns das Vertrauen, das wir zu Arndt Noack oder auch Richard Schröder hatten. Viele unserer Freunde gingen zu den Grünen. Wir meinten, dass wir für ewige Diskussionen und sogenannte Basisdemokratie keine Zeit hatten. Der exodus schien unaufhaltsam Richard Schröder war Gast auf unserem Absolvententreffen am letzten spätsommerlichen Septemberwochenende in Mötzow bei Brandenburg an der Havel. Er hatte gesprochen und wir vergnügten uns am Abend mit dem Erfinden neuer Nationalhymnen für die DDR, darunter „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel aus“ als mehrstimmigen Kanon. Dann kam die Meldung, dass HansDietrich Genscher in Prag den 4.000 dort ausharrenden Ausreisewilligen die frohe Botschaft ihrer Weiterreise nach Westdeutschland verkündete. Diese Meldung legte sich wie Mehltau auf uns und ließ uns an die Übersetzung von DDR – „der doofe Rest“ – denken. Immer mehr Menschen verließen den Osten in Richtung Westen. Ein Exodus, der nicht mehr aufhaltbar schien. Erste Diskussionen zur Deutschen Einheit machten die Runde. Diese deutsch-nationale Bezogenheit auf die deutsche Wiedervereinigung löste bei mir Abwehr aus, und ich meinte, dass ich dann wohl eher nach Polen

oder in die Niederlande auswandern würde, als das mit zu ertragen. Später habe ich gemerkt, dass ich wohl einfach zu jung war, um die große Sehnsucht der Deutschen nach Wiedervereinigung zu spüren. Ich wollte politische Veränderungen in der DDR und ich konnte meine Ziele konkret benennen. Ich wollte ein freies und geheimes Wahlrecht, einen Rechtsstaat ohne Willkür und mit einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, ich wollte Pressefreiheit und mehr individuelle Freiheit des Einzelnen. in Gedanken in Schwante Im September 1989 hatte ich das erste Mal Kontakt zur sich bildenden SDP. Steffen Reiche leitete die Gesprächsrunde in der evangelischen Kirchgemeinde am Weberplatz in PotsdamBabelsberg. Am Ende des Abends gab es Andeutungen zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei am 7. Oktober, dem 40. Gründungstag der DDR, in Schwante. Ich hatte schon große Sympathie mit dem Gedanken, aber wir entschieden uns auch aus Angst gegen eine Teilnahme. Es war eine große Provokation, ausgerechnet den 40. Jahrestag der DDR für die Gründung der SDP zu wählen. Und da war unser Versprechen, uns um die Kinder unserer Freunde bei möglichen Verhaftungen zu kümmern. Wir verfolgten im Wissen um die Ereignisse natürlich umso aufmerksamer, was an

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dem Tag geschah und waren zumindest in Gedanken in Schwante mit dabei. Die Ereignisse überschlugen sich ja bereits. Am 4. Oktober war die große Demonstration in Leipzig. Man musste jede Nachrichtensendung hören, ansonsten lief man Gefahr, einen Rücktritt, den Untergang einer Regierung, das Zusammenfallen eines Staates und den Niedergang des gesamten Ostblocks zu verpassen. Die alte Macht war noch spürbar Im Oktober 1989 versuchten wir noch, politisch zu gestalten, suchten nach einem Weg, die verkrustete DDR zu reformieren. Erich Honecker war am 18. Oktober zurückgetreten. Als Nachfolger sollte Egon Krenz gewählt werden, und das wollten wir verhindern. Egon Krenz begleitete nicht nur mein Leben von der ersten Schulklasse an, erst als Vorsitzender der Pioniere, dann als ewig junger FDJler. Sein Bild hing immer hinten im Klassenraum. Und ausgerechnet der sollte für eine neue Politik stehen? Elisabeth Schroedter, die spätere Abgeordnete im Europaparlament für Bündnis 90/Die Grünen, und ich fuhren zur Blockpartei CDU nach Potsdam, um den Volkskammerabge-ordneten Kind aus Wilhelmshorst aufzufordern, Krenz nicht zu wählen. Friedrich Kind war nicht nur langjähriges Mitglied der Volkskammer, sondern saß auch im DDR-Staatsrat.

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Aber die CDU war überfordert und kannte keine Bürgerkontakte. Man versprach, das Schreiben weiterzuleiten. Alles vergeblich! – Krenz wurde gewählt, und die DDR wollte weitermachen wie bisher. Bereits beim Absolvententreffen in Mötzow fragte ich Arndt Noack nach einer Satzung für die SDP. Er verwies mich an Steffen Reiche in Christinendorf. Ende Oktober fuhr ich zu ihm. Ich erinnere mich noch heute an diese Fahrt. Es war ein eher nebliger Oktobertag mit wenigen Sonnenstrahlen. Ich fuhr über die Dörfer und hatte ein mulmiges Gefühl. Früh kam die Dunkelheit, und alles wirkte morbide. Aber ich bekam das Papier von Steffen und rief Arndt Noack an, dass er mich bitte auf die Kontaktliste für die Sozialdemokratie setzen sollte. Er meinte, dass ich es mir gut überlegen solle, weil die Stasi noch immer zuschlagen könne. Auch deshalb stand dann nur mein Name auf der Liste, vor allem wegen unserer Kinder. Sehr viel später erfuhren wir, dass es Listen gegeben hat mit den Namen aller politisch aktiven Personen. Wir sollten inhaftiert und in Massenquartieren zusammengepfercht werden. Die Betonböden für die Zelte waren schon vorbereitet. Zuständig waren die Bezirksleitungen der SED, so wurde mir berichtet. Bei einer weiteren Veranstaltung in der Kirche auf dem Weberplatz war die alte Macht der DDR dann auch konkret zu spüren. Um den Platz waren Polizei-


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Mannschaftswagen aufgefahren, Hunde bellten, und trotzdem ging ich mit vielen anderen Menschen in die Kirche, um Informationen zu bekommen. Es gab einen Aufruf zur großen Demonstration am 4. November in Berlin auf dem Alexanderplatz. Ich fragte Steffen Reiche, ob wir nicht mitfahren sollten. Er war überzeugt, dass da genug Menschen wären und wir uns lieber in Christinendorf zum Nachdenken über weitere Aktivitäten und unsere politischen Ziele treffen sollten. Dort waren wir in großer Runde und eine Liste ging herum, in die auch ich mich als ordentliches Mitglied der neu gegründeten SDP eintrug. Die SDP war nicht aufzuhalten Die Kontaktliste mit ausschließlich privaten Adressen war Grundlage aller weiteren Vernetzungen, Kontakte bis hin zu SDP-Ortsvereinsgründungen. Erst trafen wir uns als SDP Potsdam-Süd. Später gab es intensive Kontakte zu einem Herrn in Wilhelmshorst, der sich später, wie von mir zu Beginn auch vermutet, als StasiSpitzel herausstellte. Dennoch: Die SDPArbeit war angeschoben und nicht mehr aufzuhalten. An unserem Küchentisch in Langerwisch wurden die Ortsvereine von Michendorf, Beelitz, Bergholz Rehbrücke, Langerwisch, Wildenbruch und Wilhelmshorst vorgedacht. So stand eines Tages der spätere Bürgermeister von Michendorf, Klaus-Peter Dahm, vor

der Tür und wollte mich sprechen. Ich schaute seinen langen Ledermantel an und fragte, ob er von der „Firma“ (Stasi) wäre. Er lachte und sagte, sein Bruder aus Hamburg hätte ihm das gute Stück vererbt. Wie Wanderprediger Mit dem Fall der Mauer war die Deutsche Frage die alles beherrschende. Am 9. November verfolgten mein Mann und ich das Gestammel von Günter Schabowski in der Aktuellen Kamera und wussten, es ist vorbei, die DDR ist Geschichte, und wir freuten uns riesig. Am 10. November hängte ich auf unserem Grundstück Wäsche auf und sah die Stoßstange an Stoßstange fahrenden Autos auf dem Avus-Zubringer Richtung Westberlin fahren. War es das, was wir wollten? Wurde der Wille zur politischen Gestaltung so schnell vom schnöden Konsum abgelöst? Es war deprimierend. Dennoch ging die politische Arbeit weiter. Elisabeth Schroedter und ich zogen durch die Dörfer, versuchten den Menschen die soziale Marktwirtschaft zu erklären, hörten uns ihre Ängste und Sorgen an, diskutierten in Kirchgemeinden. Der Hunger nach Wissen über den kapitalistischen Staat Bundesrepublik war groß. Wir fühlten uns wie Wanderprediger, theoretisch nicht besonders gut ausgestattet, aber voller Optimismus.

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Im November 1989 fand ein Treffen im Jagdschloss Glienicke auf der Westseite der Glienicker Brücke statt. Es waren Gäste aus Westdeutschland, aus Westberlin und Vertreter der politischen Gruppen in der DDR eingeladen. Der Michendorfer Pfarrer Uwe Breithor bat mich mitzukommen und etwas über die neu gegründete Sozialdemokratie zu berichten. Ich kam und hatte das Gefühl, dass man uns nett zuhörte, uns aber auch für reichlich naiv und überengagiert hielt, nach dem Motto: Lass die mal in der Wirklichkeit ankommen! Und dann kam Paul In Brandenburg waren wir nun dabei, die Parteistrukturen aufzubauen, Ortsvereine zu gründen, um Delegierte wählen zu können und uns besser zu vernetzen. Das alles unter Bedingungen, die sich heute niemand mehr vorstellen kann. Es gab damals noch keine Handys, kaum Festnetztelefone, kein Internet und keine E-Mail. Alles musste mit Schreibmaschine getippt werden, mit Blaupapier vervielfacht oder über „Ormig“ abgezogen werden. Wir mussten dringend mehr werden, um die Arbeit zu bewältigen. Ich war nicht sicher, ob es in Langerwisch Menschen geben würde, die mitzumachen bereit wären. Arndt Noack hat es später treffend beschrieben: „Sicher, ein sozialdemokratisches Milieu, wie es vor der Zwangsvereinigung existiert hatte, gab es nur

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noch in Spuren. Aber es gab doch den einen oder die andere, die in ihrer Familiengeschichte sozialdemokratische Wurzeln hatten. Und es gab sehr verschiedene bodenständige Menschen, die sich von der SPD angezogen fühlten.“ Und dann kam Paul Bolz aus NeuLangerwisch. Er war in jungen Jahren als gelernter Fliesenleger im sozialdemokratischen Arbeiterverein organisiert. Bolz sagte, wie richtig er die Wiederbelebung der SPD finde und dass er auch seine Frau und seine Tochter mitbrächte und wir dann schon zu viert wären. Zwei seiner Freunde traten ebenfalls der SPD bei. Seine Tochter Ingelore Schulze wurde im Februar 1990 erste Vorsitzende des Langerwischer Ortsvereins der SPD. Wir haben gemeinsam alle folgenden Wahlkämpfe bestritten, an Ständen viele Stunden mit Menschen diskutiert, und es waren die alten Männer, die mich immer wieder ermuntert haben, nicht aufzugeben. Unmengen von Parteiämtern Im Januar 1990 war DDR-Parteitag der inzwischen umbenannten SPD. Ich nahm als Delegierte daran teil und traf Arndt Noack wieder. Es war ein herzliches Wiedersehen, wenn auch unter denkwürdigen Umständen. Die Messehalle war gerade wegen einer Bombendrohung geräumt worden. Und dennoch war die Angst, die uns bis Ende Oktober


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1989 begleitet hat, komplett weg. Die Polizei durchsuchte die Räume, und irgendwann ging auch der Parteitag weiter. Ibrahim Böhme, neben Markus Meckel, Martin Gutzeit und Arndt Noack einer der Verfasser des Aufrufs zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei, kandidierte als Vorsitzender. Ich fühlte mich sehr frei bei allen Entscheidungen und wählte ihn nicht mit. Eine richtige Entscheidung, wie sich später mit seiner Enttarnung als Spitzel der Staatssicherheit herausstellte. Alle Anträge wurden eifrig diskutiert und das Recht auf freie Meinungsäußerung nach allen Regeln der Kunst gelebt. Auch Oskar Lafontaine nahm am Parteitag teil, wie überhaupt alle Größen der deutschen Sozialdemokratie. Nach dem anfänglichen Fremdeln mit dem, was da im Osten passierte, den verhaltenen Worten von Egon Bahr im Westfernsehen nach der Gründung im Oktober 1989 – man war ja eigentlich bei Wandel durch Annäherung und hatte es mit der SED versucht –, Steffen Reiches Besuch im Westen und seinem Empfang im Parteivorstand, der späteren großartigen Unterstützung von Hans-Jochen Vogel, Annemarie Renger, Norbert Gansel und vielen anderen war das Eis gebrochen. Im Frühjahr 1990 fand auch der Bezirksparteitag der SPD im damals noch existierenden Bezirk Potsdam statt. Wir mussten Unmengen von Parteiämtern besetzen, darunter auch den DDR-Par-

teirat, und schon damals galt die Frauenquote in der SPD. Es war Carola Stern, die als Gast an unserer Versammlung teilnahm und mich ausdrücklich ermunterte, nicht alles den Männern zu überlassen und mich zu bewerben. Ich wurde dann Mitglied im DDR-SPD-Parteirat. Nach den Volkskammerwahlen am 18. März und der Regierungsbeteiligung der SPD wurden dort zahllose Diskussionen zum Einigungsvertrag und den Zwei-plus-Vier-Gesprächen geführt. Von der Pike auf Im Juni 1990 fand der Sonderparteitag in Halle statt, im September der Vereinigungsparteitag von West- und Ost-SPD in Berlin. Ich war hochschwanger mit unserem dritten Kind und wollte deshalb nicht allein fahren. Mein Mann begleitete mich, und wir erlebten Willy Brandt und wussten beide, dass unsere Entscheidung im späten Sommer 1989 für die Sozialdemokratie eine richtige war. Mein Mann war seit den Kommunalwahlen Bürgermeister unserer Gemeinde. Wir hatten 60 Prozent der Stimmen für die SPD bekommen. Er konnte nicht alles richtig machen in diesen ersten Jahren, aber die Weichen für ein schönes Dorf mit eigenem Flair sind durch ihn und seine Mitstreiter gestellt worden. Im Juni begann das Gerangel um die begehrten Landtagsmandate. Ich wusste gar nicht, was das bedeutete und

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strebte auch kein Mandat an. Ich wollte Zeit für unser drittes Kind haben und bin darüber auch heute noch froh. So habe ich alle kommunalen Ämter von der sachkundigen Einwohnerin über Gemeindevertretung und Kreistag bis 2004 zum Landtagsmandat wahrnehmen können und praktische Politik von der Pike auf gelernt. Mit den von viel Elan getragenen, aber auch chaotischen Anfangsmonaten hat die heutige brandenburgische SPD nur noch wenig gemein. Die Strukturen sind gefestigt, die SPD ist hier bei uns die Brandenburg-Partei. Es war ein Glücksfall, dass Steffen Reiche den damaligen Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe für die SPD gewinnen konnte. Die Kirchen waren die einzigen Strukturen zu DDR-Zeiten, in denen Demokratie gelebt wurde, wo freie und geheime Wahlen stattfanden, wo es so etwas wie Anträge und Diskussionen auf den Synoden gab. Nicht ohne Grund waren so viele Pfarrer unter den politisch Aktiven 1989 und auch ich war damals Mitglied in einem Gemeindekirchenrat. Gut gemeistert Mit Manfred Stolpe und der unermüdlichen Regine Hildebrandt haben wir den Transformationsprozess von der Diktatur in die Demokratie ganz gut gemeistert. Das hat 2014 auch die Enquetekommission zur „Aufarbeitung der Geschichte

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und Bewältigung von Folgen der SEDDiktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“, deren Vorsitzende ich war, festgestellt. Die Geschichte dampft noch, und das macht es schwer, gelassen ohne eigenes politisches Kalkül die Dinge zu betrachten. Nach 25 Jahren war es ein erster Versuch, und wir sind in Brandenburg damit weiter als die anderen neuen Bundesländer. Brauchte es die Neugründung? Brauchte es 1989 die Neugründung der SPD im Osten Deutschlands? Diese Frage steht immer wieder im Raum. Ich meine Ja! Es brauchte genau diesen Neuanfang. Der „Wandel durch Annäherung“, den die SED mit der Sozialdemokratie West begonnen hatte, war dafür nicht geeignet. Man begegnet sich nicht nett in Landschulheimen, um dann die Machtfrage an sein Gegenüber zu stellen. Das ist schwer vorstellbar. Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED hatte tiefe Wunden hinterlassen, die geheilt werden mussten. Ich erinnere mich an die harten Auseinandersetzungen darüber, ob frühere SED-Mitglieder jetzt in die SPD aufgenommen werden sollten. Die im Parteivorstand sehr kontrovers diskutierte Frage, ob man Teile der SED aufnehmen solle, die danach drängten, hätte ich genau wegen der Neugrün-


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dung mit Ja beantwortet. Vieles wäre dann anders verlaufen. Seit Mai 2014 bin ich Abgeordnete des Europäischen Parlaments, ein Mandat, dass ich mir nie hätte träumen lassen. Die europäische Sicht und der europäische Blickwinkel sind mir wie schon im Herbst 1989 noch immer lieber als die deutsch-deutsche Binnensicht. Aber da ist auch die Sorge, dass an diesem Haus Europa noch viel gebaut werden muss. Die Europäische Union hat den Friedensnobelpreis dafür bekommen, weil es gelungen ist, die osteuropäischen Staaten aufzunehmen und zunehmend besser zu integrieren. Dennoch: An den Außengrenzen herrscht blutiger Krieg, sind schon über 1.000 Menschen gefallen und verlassen Zehntausende ihre Heimat. Im Mittelmeer spielt sich fast täglich ein neues Flüchtlingsdrama ab. Vom friedlichen Haus Europa sind wir noch weit entfernt.

der Strom der Ereignisse riss uns mit. Es ist bis heute ein gutes Gefühl, dabei gewesen zu sein, und ich höre auch von anderen, die diese Zeit aktiv mitgestaltet haben, dass es vor allem Vertrauen in die eigene Kraft gegeben hat. Wir wissen, dass nichts unmöglich ist, dass keine Mauer ewig steht und man dennoch jeden Tag aufs Neue beginnen muss, auch im späten Sommer. | SUSANNE MELIOR

ist Abgeordnete des Europäischen Parlaments für Brandenburg.

Naiv und mutig 1989 haben wir die Welt ein kleines Stück verändert. Wir waren naiv und mutig genug, spürten den großen Schatten vom Volksaufstand am 17. Juni 1953, der unsere Eltern noch lähmte, nicht mehr und konnten auf die Vorleistungen der Werftarbeiter von Danzig, die Charta 77 und Michael Gorbatschow aufbauen, wir hatten Glück und Verstand. Vieles ist einfach passiert, und

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THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES?

IM OSTEN WAS NEUES? Wie sich die Parteiensysteme im östlichen Mitteleuropa verändert haben — Von Thomas Kralinski

D

ie Wende des Jahres 1989 in Mitteleuropa begann mit einem großen bunten Stift. Den hatte Lech Wałęsa von seiner Enkelin geschenkt bekommen – und mit ihm unterzeichnete er im April 1989 die am Runden Tisch ausgehandelte Vereinbarung zwischen Solidarność und der polnischen Regierung. Neben der Wiederzulassung der unabhängigen Gewerkschaft sah sie vor allem „halbfreie“ Wahlen vor – halbfrei deshalb, weil 65 Prozent der Sitze im Sejm nach einem festen Proporz verteilt wurden, lediglich der Senat wurde komplett „frei“ gewählt. Die Polen stellten sich mit der Vereinbarung an die Spitze der Demokratiebewegung im östlichen Mitteleuropa. Die Wahlen vom Juni 1989 wurden zu einem Triumpf der Solidarność, im August kam mit Tadeusz Mazowiecki der erste nicht-kommunistische Regierungschef ins Amt. Seitdem ist ein Vierteljahrhundert vergangenen. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei sind seit zehn Jahren Mitglied der EU, seit 15 Jahren Mitglied der NATO. Wie steht es heute um die politische Stabilität in diesen vier Kern-

ländern Mittelosteuropas? Haben sich die Parteiensysteme stabilisiert? Und welche Rolle spielt die Sozialdemokratie? 1. Polen Polen war der Schrittmacher der Friedlichen Revolution des Jahres 1989. Unter dem kommunistischen Regime kam es wiederholt zu Aufständen im Land. 1981 wusste sich die polnische Führung nur noch mit dem Kriegsrecht zu helfen, um die Macht an die immer mächtiger werdende Gewerkschaftsbewegung Solidarność nicht zu verlieren. Doch die zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten und die in der polnischen Gesellschaft immer tiefer verankerte Solidarność zwangen die Kommunisten schließlich 1989 an den Runden Tisch. Die neue polnische Regierung unter Tadeusz Mazowiecki begann im Sommer 1989 mit einer wirtschaftspolitischen Schocktherapie, die die ökonomische Lage der Menschen zunächst verschlechterte und auch zur Instabilität der Regierung beitrug. So kam es 1991 und 1993 zu vorgezogenen Parlamentswahlen. Die

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SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT

Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in Polen 1991-2011 in Prozent

1991

1993

1997

2001

2005

2007

2011

12

20

27

41

11

13

8

PiS (nationalkonservativ)

10

27

32

30

Po (bürgerlich-liberal)

13

24

42

39

7

9

7

9

8

34

6

SlD (sozialdemokratisch)

PSl (bauernpartei)

9

15

AWS (Wahlaktion Solidarność) Du (Demokratische union)

12

11

(Regierungsparteien sind fett gedruckt, auf die Darstellung einiger zwischenzeitlich agierender kleinerer Parteien wurde verzichtet.)

aufgewühlte gesellschaftliche Situation spiegelte sich auch in der hohen Zahl an Parteien, die ins Parlament kamen, und der Kurzlebigkeit der Regierungen. 1993 gewann die polnische Linke, als Nachfolgeorganisation der Kommunisten, die Wahlen und formte mit der ehemaligen Blockpartei PSL (Bauernpartei) eine Regierung – doch auch diese verschliss drei Premierminister innerhalb von vier Jahren. Bei den Wahlen 1997 gewannen erneut die Nachfolgeparteien der Solidarność, doch auch diese Regierung verlor im Laufe der Wahlperiode ihre Parlamentsmehrheit. Immerhin gelang es Jerzy Buzek als erstem Premier nach der Wende die volle Wahlperiode im Amt zu bleiben. Bei den Wahlen 2001 schwang das politische Pendel erneut zurück zu den Linken, die erneut eine Regierung mit der Bauernpartei bildete. Gleichzeitig verschwanden die wichtigsten Parteien der Buzek-Regierung komplett aus dem Sejm.

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Die Wahl 2001 markiert insofern eine Zeitenwende, da mit ihr eine Neuformation des polnischen Parteiensystems eingeleitet wird. Die bürgerliche PO (Bürgerplattforum) und die rechts-nationalistische PiS (Wahrheit und Gerechtigkeit) kamen erstmals ins Parlament, die Nachfolgeparteien der Solidarność flogen hingegen aus dem Sejm. Vier Jahre später, bei den Wahlen von 2005 erleidet die Linke eine fast ähnlich vernichtende Niederlage wie die Regierung Buzek vier Jahre zuvor: Die SLD stürzt von 41 auf 11 Prozent. Die von den Kaczyński-Zwillingen gesteuerte PiS bildet eine neue Regierung mit Hilfe zweier kleinerer populistischer Parteien. Jedoch auch diese Regierung ist von innerer Instabilität gekennzeichnet, so dass es 2007 erneut zu vorgezogenen Wahlen kommt. Diese gewinnt die bürgerliche PO, deren Chef Donald Tusk zusammen mit der Bauernpartei eine Regierung bildet.


THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES?

Damit ist die Neuformation des polnischen Parteiensystems (vorerst) abgeschlossen. Es ist gekennzeichnet durch zwei starke konservative Parteien: die bürgerlich-liberal orientierte PO und die sozialkonservativ-nationalistische PiS. Die Linke hingegen ist elektoral marginalisiert und erreicht seit 2005 nur noch um die zehn Prozent der Wähler. Einzige Konstante des polnischen Parteienspektrums ist die Bauernpartei, die seit der Wende als Koalitionspartei sowohl der Linken als auch den Bürgerlichen zur Verfügung stand und einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Offenheit der bäuerlichen Wählerschaft für die europäische Integration geleistet hat. Verschobene Konfliktlinien Insgesamt haben sich die Konfliktlinien in der politischen Landschaft Polens erheblich verschoben. Während im ersten Jahrzehnt die Stellung der Parteien zum Systemwechsel eine erhebliche Rolle spielte, verschoben sich die Konfliktlinien erheblich zugunsten ökonomischer und lebenskultureller Themen. Dabei fällt das deutlich unterschiedliche Wahlverhalten zwischen Stadt und Land auf: Auf dem Land und im Osten Polens dominiert die PiS, in den Städten und im Westen die PO. Eine wesentliche Rolle in der politischen Auseinandersetzung spielen seit Jahren Fragen von Korruption und Amtsmissbrauch. Diese The-

men haben nicht unerheblich zur Wahlniederlage der Regierungen 1997, 2001, 2005 und 2007 beigetragen. Bis heute sind diese Fragen – mit ebenfalls immer wieder auftauchenden Abhörskandalen – eine Konstante der polnischen Politik. Zum ersten Mal wieder gewählt Insgesamt hat sich das polnische Parteienspektrum erheblich konsolidiert. Noch 1991 kamen 29 Parteien ins Parlament. 1993 blieb – nach Etablierung einer landesweiten Sperrklausel – sogar ein Drittel der Wählerstimmen bei der Sitzverteilung im Sejm unberücksichtigt, weil so viele Parteien an der 5 Prozent-Hürde scheiterten. Mittlerweile dominieren PO und PiS das Parteiensystem. 2011 wurde mit Donald Tusk zum ersten Mal nach der Wende eine Regierung im Amt bestätigt. Offen ist, ob es der PO gelingt, nach dem Wechsel von Tusk in das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, ihre dominierende Rolle im Parteiensystem zu halten. 2. Tschechien Die Tschechoslowakei war im Wendeherbst 1989 ein „Nachzügler“, dafür ging der Machwechsel von den Kommunisten zur Opposition umso schneller und das wichtigste Symbol der Bürgerrechtsbewegung, Václav Havel, zog bereits Ende 1989 als neuer Präsident auf die Prager Burg. Noch inmitten der ökonomischen

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SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT

Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in tschechien 1992-2013 in Prozent

1992

1996

1998

2002

2006

2010

30

30

27

25

35

20

8

7

26

32

30

32

22

21

14

10

11

19

13

11

15

6

8

9

14

7

4

7

17

12

oDS (konservativ) ČSSD (sozialdemokratisch) kPČm (kommunistisch) kDu-ČSl (christdemokratisch) toP 09 (Schwarzenberg) Ano 2011

2013

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(Regierungsparteien sind fett gedruckt, auf die Darstellung einiger zwischenzeitlich agierender kleinerer Parteien wurde verzichtet.)

Reformen führten die zweiten freien Parlamentswahlen 1992 zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen in der tschechischen und slowakischen Teilrepublik und damit letztlich zur Trennung von Tschechen und Slowaken. Das in Tschechien gültige Verhältniswahlrecht begünstigte die Entstehung einer Vielzahl von Parteien. In dessen Zentrum standen spätestens mit den Wahlen von 1996 zwei Parteien: die liberal-konservative ODS und die sozialdemokratische ČSSD. Letztere ist als einzige (erfolgreiche) Sozialdemokratie Osteuropas eine Neugründung. Die Nachfolger der Kommunisten verfolgen – auch eine Besonderheit im östlichen Mitteleuropa – bis heute ihren orthodoxen Kurs. Damit hat sich in Tschechien schnell ein politisches Links-rechts-Schema gebildet. Auf der linken Seite des Spektrums weist es mit den Kommunisten jedoch einen Defekt auf, da diese zumindest auf der Ebene

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des Gesamtstaates bisher nicht regierungstaugliche Positionen vertreten. Insgesamt zeigt das Parteiensystem ein instabil-stabiles Muster: Zum einen gibt es die meisten der bereits 1992 existenten Parteien noch heute, gleichwohl schwanken deren Wahlergebnisse zum Teil recht erheblich. Die Stabilität ist verschwunden In den gut 20 Jahren der Unabhängigkeit haben nur zwei Regierungen die volle Amtsperiode „durchgehalten“. Neben der ersten Regierung Klaus (ODS, von 1992 bis 1996) war dies die sozialdemokratische Regierung von Miloš Zeman, der von 1998 bis 2002 mit einem Minderheitskabinett regierte. Seither hat keine Regierung mehr über volle vier Jahr amtiert. Auch hat die Konzentration des Parteiensystems eher nachgelassen. Das ist eine Folge nicht abreißender Korrup-


THOMAS KRALINSKI | IM OSTEN WAS NEUES?

tionsskandale, die sowohl die Sozialdemokraten als auch die konservative ODS – aber auch andere Parteien – immer wieder erschüttern. So haben die Wahlen seit 2006 nur instabile Mehrheiten hervorgebracht und zum schnellen Aufstieg und schnellen Abstieg verschiedener Parteien geführt. Besonders bemerkenswert sind dabei zwei Parteien: die TOP 09 des damaligen Außenministers Karel Schwarzenberg sowie ANO 2011 des nunmehrigen Finanzministers Andrej Babiš. Der Erfolg beider Parteien gründet auf dem hohen Ansehen ihrer jeweiligen Anführer und dem Vertrauen, dass sie aufgrund ihres Quereinstiegs und ihrer finanziellen Unabhängigkeit wenig korruptionsanfällig sind. Babiš hat als erfolgreicher Unternehmer gleichzeitig die Kontrolle über mehrere Tageszeitungen, Fernsehkanäle und Druckereien erlangt – was zu bedenklichen Verschränkungen medialer und politischer Macht führt. Eine der zentralen Konfliktlinien im Parteiensystem spannt sich somit auch in Tschechien entlang von Amtsmissbrauch und Korruption. Anti-Korruptionsparteien erhielten bei den jüngsten Wahlen großen Zulauf, konnten aber genauso schnell auch wieder verschwinden. Gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung in den vergangenen zwei Jahrzehnten von gut 75 Prozent auf um die 60 Prozent zurückgegangen. Die erhebliche Unzu-

friedenheit der Tschechen mit ihrer politischen Klasse hat mittlerweile dazu geführt, dass seit 2010 keine Partei mehr als 25 Prozent der Wähler hinter sich vereinigen kann. Während die beiden großen Parteien ODS und ČSSD 2006 noch über zwei Drittel der Wähler binden konnten, sind es nunmehr nicht mal mehr 30 Prozent. So hat nach einer anfänglichen Konsolidierung des Parteiensystems in den neunziger Jahren eine erneute Destabilisierung eingesetzt, auch das klassische Rechts-links-Schema ist in Auflösung geraten. 3. Slowakei Die Slowakei hat in Europa eine der erstaunlichsten Wandlungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten hinter sich gebracht. Nach der staatlichen Unabhängigkeit 1993 steuerte sie zunächst einen wirtschaftspolitisch isolationistischen Kurs verbunden mit einer Regierung, die zum Autokratismus neigte und der EU sehr reserviert gegenüberstand (was gleichwohl auf Gegenseitigkeit beruhte). Nach dem Regierungswechsel 1998 wurde die Slowakei zum Musterschüler, der als eines der ersten osteuropäischen Beitrittsländer 2009 den Euro einführte. In ökonomischer Hinsicht entwickelte sie sich zum „Autobauer“ Europas, in politischer Hinsicht entstand ein Parteiensystem, das sich zumindest vordergründig gut auf der Rechts-links-Skala

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SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT

Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in der Slowakei 1992-2012 in Prozent

1992

1994

1998

2002

2006

2010

hZDS (unabhängigkeitspartei)

37

35

27

20

9

4

SDl (ex-kommunistisch)

15

10

15 14

29

35

44

(mit kDh)

26

15

18

15

6

Smer (sozialdemokratisch) SDk/SDku (christdemokratisch)

2012

SnS (rechtspopulistisch)

8

5

9

3

12

5

5

Smk-mkP (ungarische minderheit)

8

10

9

11

12

4

4

8

7

9

10 (mit SDk)

8

8

9

9

12

6

most-hid (ungarische minderheit) kDh (konservativ-christlich) SaS (liberal)

(mit SDK)

(Regierungsparteien sind fett gedruckt, auf die Darstellung einiger zwischenzeitlich agierender kleinerer Parteien wurde verzichtet.)

einordnen lässt. Gleichwohl haben auch hier die Parteien verschiedene Häutungen und Wandlungen durchlebt. Zu Beginn wurde die Parteienlandschaft durch die HZDS von Vladimir Mečiar dominiert, der die Slowakei in die nationale Unabhängigkeit führte. Zwar verlor er 1998 das Premiersamt, seine Partei blieb bis 2006 aber stimmenstärkste Partei. 2010 scheiterte sie jedoch an der 5 Prozent-Hürde, 2014 löste sich die Partei auf. Die linke Seite des Parteienspektrums tat sich in der Slowakei zunächst schwer, die ehemaligen Kommunisten häuteten sich mehrfach, bis es 1999 zur Abspaltung der sozialdemokratischen SMER von der post-kommunistischen SDL kam. SMER hat seit 2002 bei jeder Wahl an Zuspruch gewonnen und hält seit 2012 sogar eine absolute Mehrheit

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der Mandate in der Nationalversammlung – ein Novum in der slowakischen Demokratie. Die beiden SMER-Regierungen (2006-2010 sowie seit 2012) haben der Slowakei ein hohes Maß an politischer Stabilität gebracht. Inhaltlich verfolgt ihr Vorsitzender Robert Fico einen traditionell-sozialdemokratischen Kurs gepaart mit einem Hang zum Populismus. Sozialdemokraten dominieren Neben der das Parteienspektrum dominierenden SMER sind seit 2012 noch vier Parteien im Parlament vertreten, von denen jedoch keine mehr als 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann. Die zwischen 1998 und 2006 recht erfolgreich regierende liberal-konservative


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Koalition aus drei bzw. vier Parteien ist mittlerweile implodiert. Deren stärkste Kraft, die Christdemokraten, haben ihren Wähleranteil von 1998 bis 2012 von 26 auf 6 Prozent reduziert. Wesentlicher Grund dafür waren auch hier interne Machtgerangel und ausufernde Korruptionsvorwürfe. Die erneute konservative Regierung von 2010 bis 2012, die im Prinzip eine Anti-SMER-Regierung aus vier Parteien war, scheiterte an inneren Widersprüchen über den Euro-Rettungsschirm und verlor den Rest ihres Ansehens durch Vorwürfe von Amtsmissbrauch und Korruption. So hat sich das slowakische Parteiensystem von einem autokratischen 1+x-Modell zu einem pluralistischen 1+x-Modell gewandelt bei dem eine Hauptkonfliktlinie entlang des Gegensatzes zwischen Markt und Staat verläuft. Die seit 1998 geltende 5 ProzentHürde hat ebenfalls zur Konzentration des Parteiensystems beigetragen und weitere Fragmentierung durch die bis dahin häufigen Abspaltungen begrenzt. Jedoch ist auch die vordergründig derzeit dominante SMER nicht vor Abstrafungen gefeiht. Ihr Präsidentschaftskandidat, Premier Fico, erreichte im Frühjahr 2014 gerade ein Viertel der Stimmen. Gewonnen hat die Wahl Andrej Kiska, ein Unternehmer und Philantrop, dessen wichtigsten Themen Korruption und Justizversagen sind. Bei allen Häutungen, die das slowakische Parteiensystem in

den vergangenen 20 Jahren durchlebte, gibt es jedoch zwei Konstanten, die in den ersten Jahren des neuen Staates nicht selbstverständlich waren. Mittlerweile besteht breiter Konsens über die EU-Integration und die Währungsunion und auch darüber, dass die ungarische Minderheit in der Slowakei nicht zum Spielball nationalistischer Politik – gerade im nicht immer ganz spannungsfreien – Verhältnis zum Nachbarland Ungarn wird. 4. Ungarn Vor 1989 galt Ungarn als die „fröhlichste Baracke im Ostblock“. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes von 1956 mit Hilfe der Roten Armee versuchte die Kommunistische Partei die Zustimmung der Bevölkerung mit einer vergleichsweise liberalen Politik zu erhalten. So kam die Revolution von 1989 in Ungarn auch eher als „Refolution“ (Timothy Garton Ash) daher, denn die Kommunisten begannen selbst sehr frühzeitig mit einer Reihe von wirtschafts- und zunehmend auch gesellschaftspolitischen Reformen. So wurden in Ungarn am schnellsten neue Parteien zugelassen, was die Kommunistische Partei auch dazu zwang, sich am konsequentesten in eine sozialdemokratische Partei umzuwandeln. Parallel dazu entstanden in den achtziger Jahren viele neue politische Gruppierungen, aus denen die Parteien wie das Demokratische Forum (MDF), die

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Wahlergebnisse der wichtigsten Parteien in Ungarn 1990-2014 in Prozent

1990

1994

1998

2002

2006

2010

2014

11

33

33

42

43

19

26

9

7

30

41

42

53

44

SZDS (linksliberal)

21

20

8

6

7

3

mDf (christdemokratisch)

25

12

3

5

3

fkGP (landwirte)

12

9

14

mSZP (sozialdemokratisch) fiDeSZ (nationalkonservativ)

Jobbik (rechtsextrem) lmP (grünliberal)

1 17

21

8

5

(Regierungsparteien sind fett gedruckt, auf die Darstellung einiger zwischenzeitlich agierender kleinerer Parteien wurde verzichtet.)

liberale SZDSZ und die „Jungdemokraten“ (FIDESZ) entstanden. Im September 1989 verabredeten die Kommunisten und die Opposition am Runden Tisch Verfassungsreformen und freie Wahlen. Der letzte Parteitag der Kommunistischen Partei fand bereits im Oktober 1989 statt, dort erfolgte dann auch die Spaltung in die sozialdemokratisch orientierte MSZP und die Gruppe der orthodoxen Reformablehner, die schnell in der politischen Versenkung verschwanden. Einen Monat später fand ein für die ungarische Transformation entscheidendes Referendum statt. Die radikal-liberalen Gruppen der Opposition setzten dabei durch, dass der zukünftige ungarische Staatspräsident nicht direkt vom Volk sondern vom Parlament gewählt wird. In der Konsequenz führte das zu einer Schwächung der Reformkommunisten, die sich be-

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rechtigte Hoffnung auf einen Sieg bei direkten Präsidentschaftswahlen machen konnten. Stattdessen gewann die bürgerliche Opposition im Frühjahr 1990 die Parlamentswahlen, der liberal-oppositionelle Árpád Göncz wurde zum Präsidenten gewählt. ideologische Widersprüche Die wirtschaftliche Transformation kam in Ungarn vergleichsweise schleppend voran. Die bürgerliche Regierung von József Antall (1990-1993) zerrieb sich an ideologischen Widersprüchen zwischen moderaten Kräften und anti-westlichen, nationalistischen und anti-liberalen Positionen. Die beiden Regierungsperioden der Sozialisten (1994-1998 sowie 20022010) waren von harten Wirtschaftsreformen gekennzeichnet. Problematisch für die MSZP war dabei, dass sie in Tei-


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len in hartem Gegensatz zu ihrer Programmatik und Wahlkampfrhetorik stand, die letztlich zum Niedergang der Partei ab 2006 führte. eine stabile Demokratie? Vordergründig ist das ungarische Parteiensystem von einer erstaunlichen Stabilität gekennzeichnet. Heute ist Ungarn das einzige Land im östlichen Mitteleuropa, in dem sich zwei Parteien gegenüberstehen, die bereits 1989/1990 die politische Agenda bestimmten: die derzeitige Regierungspartei FIDESZ und die MSZP. Gleichzeitig verfügt Ungarn heute über eines der am schärfsten konturierten Parteiensysteme Europas. Das hat zu einem zweipoligen Parteiensystem geführt, in dem kleinere Parteien entweder unter die Räder gekommen sind (wie die Linksliberalen) oder von größeren aufgesaugt wurden (wie das konservative MDF und die „KleineLandwirte-Partei“ durch die FIDESZ). Die für die Transformationsstaaten außergewöhnlich hohe Stabilität zeigt sich in zwei weiteren Punkten. Zum einen endete seit 1990 jede Wahlperiode des Parlaments regulär nach vier Jahren, zu vorzeitigen Neuwahlen kam es bisher nicht. Und zweitens hat der Grad der Wechselwähler, in den neunziger Jahren noch sehr hoch, erheblich abgenommen. So ist es 2006 einer (sozialliberalen) Regierung zum ersten Mal

gelungen wiedergewählt zu werden, 2014 gelang dies auch der konservativnationalistischen Regierung. Ist Ungarn also auf dem Weg zu einer stabilisierten Demokratie? Nach den Verfassungsreformen der Wendezeit verfügte das Parlament zunächst über eine starke Stellung im politischen System. Die erste FIDESZ-Regierung (1998-2002) begann diese Position einzuschränken, die zweite FIDESZ-Regierung (seit 2010) schwächte dann auch die Position von Staatspräsident, Verfassungsgericht und Medien. illiberale Werte auf dem Vormarsch Der amtierende ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán – bereits seit 1989 im politischen Geschäft – hat in den vergangenen 25 Jahren die erstaunlichste Wende osteuropäischer Politiker vollzogen. Orbán wandelte sich vom „Jungliberalen“ und Anti-Kommunisten zu einem autoritär-nationalistischen Politiker, der erst im Sommer 2014 verkündete, Ungarn müsse sich an Gesellschaften orientieren, die „nicht westlich, nicht liberal, und keine liberalen Demokratien, vielleicht nicht einmal Demokratien sind.“ Sein Ziel sei es, den Liberalismus in Ungarn zu beseitigen und einen „illiberalen Staat“ nach einem „eigenen, nationalen Denkansatz“ zu errichten. Hinzu kommt eine zunehmend nationalistisch orientierte Politik,

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die dazu beiträgt, Unruhe in Ungarns Nachbarländern zu stiften, in denen beträchtliche ungarische Minderheiten leben. eine herausforderung für die eU Vergleichbare Wandlungen eines – immer noch in der europäischen Christdemokratie organisierten – Regierungschefs hat es in der EU noch nicht gegeben. Die Art und Weise, wie Orbáns Regierung Medien kontrolliert oder den gesamten Staatsapparat als auch die Justiz unter Kontrolle brachte, stellt eine enorme Herausforderung für den Wertekanon Europas dar. Orban profitiert dabei von einem Wahlsystem, das große Parteien bevorzugt (und stets stabile politische Mehrheiten produziert hat), und einer schwachen Opposition, die wie die MSZP noch unter dem Eindruck ihrer verheerenden letzten Regierungsperiode leidet. Die Konfliktlinien in der ungarischen Politik haben sich dabei in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich verschoben. Zunächst stand die Stellung zum alten System im Vordergrund, später das Verhältnis von Markt und Staat. Zunehmend in den Vordergrund schiebt sich jedoch eine Konfliktlinie, die zwischen liberal-westlichen und antiliberalnationalistischen Werten verläuft. Dies ist eine für die EU bisher einmalige Entwicklung.

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5. Neues im Osten? Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei sind die Kernländer der EU-Osterweiterung; alle vier Länder haben in den vergangenen gut zwei Jahrzehnten eine enorme Transformation hinter sich gebracht. Allen gemeinsam war die dreifache Transformation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes. In Tschechien und der Slowakei kam 1992/93 die Etablierung der neuen eigenen Staatlichkeit hinzu. Im Vorfeld des EU-Beitritts 2004 mussten erneut hohe Anpassungsleistungen erbracht werden. Dies führte in allen Ländern zu tiefgreifenden sozial-ökonomischen Veränderungen mit erheblichen Konflikten, die sich auch im politischen System niederschlugen und hier zweifellos lediglich überblickartig betrachtet wurden. Das ansehen der Parteien ist gering Grundsätzlich verfügen alle vier Länder über funktionierende Parlamente, Regierungen und Verwaltungen, eine unabhängige Justiz mit Verfassungsgerichtsbarkeit, freie Medien und eine pluralistische Parteien- und Vereinslandschaft (wobei die Entwicklungen der letzten Jahre in Ungarn diesen Befund zunehmend in Zweifel ziehen). Allerdings zeigt schon der Blick auf die Parteien, dass diese eine deutlich geringere


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Mehr Vertrauen in die eU vertrauen in ...

Polen

Tschechien

Slowakei

Ungarn

EU 28

die europäische union

41%

32%

35%

44%

31%

das nationale Parlament

20%

15%

19%

33%

28%

die nationale regierung

22%

26%

20%

37%

27%

Quelle: eurobarometer 2014

Mitgliederbasis und Aktivität als beispielsweise in Deutschland haben und damit auch ihre politikvermittelnde und personalrekrutierenden Funktionen nur eingeschränkt ausüben können. Korruption dominiert die agenda Alle vier Länder haben (zwar in unterschiedlicher Intensität) mit Korruption in Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft erhebliche Probleme. Das führt in allen Ländern insbesondere zu außerordentlich geringem Ansehen der Parteien und entsprechend gering ausgeprägtem parteipolitischem Engagement. Auffällig ist, dass in allen Ländern die Institutionen der EU höheres Vertrauen genießen als die jeweiligen nationalen Parlamente und Regierungen. Letztlich schlägt sich dies auch in den Wahlbeteiligungen der verschiedenen Länder nieder. Traditionell besonders niedrig ist die Wahlbeteiligung in Polen, was zweifellos auch mit dem historisch geringen Vertrauen in den Staat an sich zu tun hat. So nehmen in der Regel nur

40-50 Prozent der Polen an den SejmWahlen teil, wobei die verhältnismäßig hohe Beteiligung an den letzten beiden Wahlen (54 und 49 Prozent) sogar auf eine Konsolidierung des Vertrauens schließen lässt. In Tschechien und der Slowakei ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich zurückgegangen. Sie lag in den neunziger Jahren noch bei 80 Prozent und hat sich zuletzt bei 60 Prozent eingepegelt. Einzig Ungarn verzeichnet relativ stabile Wahlbeteiligungen zwischen 60 und 70 Prozent, zuletzt allerdings auch mit sinkender Tendenz. In allen vier Ländern hat es eine deutliche Verschiebung der Konfliktlinien gegeben, die das Parteiensystem strukturieren. In der ersten Phase der Transformation zog sich die Hauptkonfliktlinie entlang der Stellung zum bisherigen kommunistischen System, mit der Folge, dass zunächst ein erheblicher Elitenwechsel stattgefunden hat. Tschechien ist das einzige Land, in dem die postkommunistischen Eliten (bisher) nicht in die Regierung zurückkehrten.

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SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT

Wahlbeteiligung 1990-2013 Polen

Tschechien

Slowakei

Ungarn

90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014

Diese erste Konfliktlinie wurde abgelöst durch die „klassische“ Konfliktlinie entlang der Achse zwischen Marktliberalismus und Sozialstaatlichkeit. Das hat in Ungarn (bis 2006) und in Tschechien (bis 2006) zur Bildung von jeweils zwei Großparteien nach dem klassischen Links-rechts-Schema geführt. Mittlerweile scheint sich quer zu dieser Konfliktlinie in allen Ländern eine neue gelegt zu haben, die entlang von politischer Hygiene verläuft. Korruption und Amtsmissbrauch ist in allen Ländern zu einem beherrschenden Thema in der Politik geworden, das zu erheblicher Instabilität des Parteiensystems und dem schnellen Aufstieg von Protestparteien geführt hat. So sind mittler-

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weile in Tschechien und Ungarn rechtsextreme Parteien im Parlament. In Polen hat die Schwäche der Sozialdemokratie zur Bildung einer links-liberalen Protestpartei geführt. In der Slowakei hat ein unabhängiger Unternehmer überraschend die Präsidentschaftswahl gewonnen, in der Tschechischen Republik ist ein schillernder Geschäftsmann mit seiner kurz zuvor gegründeten Partei zur zweitstärksten Kraft geworden. Parteiensysteme mit Schieflage Insgesamt sind die Parteiensysteme in allen Ländern – aus zugegebener weise westeuropäischer Sicht – in eine erhebliche Schieflage geraten:


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> In Polen gibt es derzeit zwei starke konservative Parteien und eine extrem schwache Linke. Allerdings hat dies zu einer erheblichen Stabilität des politischen Systems beigetragen. > In Ungarn hat sich die klassische Bipolarität des Parteiensystems zugunsten einer dominanten nationalkonservativen Partei aufgelöst, die sich anschickt, das gesamte politische System nach ihrem Gusto umzukrempeln und zu de-liberalisieren. > Am ehesten hat sich in der Slowakei ein „klassisches“ rechts-links-orientiertes Parteiensystem herausgebildet, wobei die linke Seite durch eine starke Sozialdemokratie dominiert ist, während sich die konservativen Parteien durch eine erhebliche Zersplitterung auszeichnen. > In Tschechien hat sich ein zunächst relativ stabiles Parteiensystem aufgelöst zu einem extrem heterogenen und volatilen Vielparteiensystem, das die Mehrheitsfindung für eine kohärente Regierung erheblich erschwert. > Auffällig sind in allen vier Ländern die vollständige Abwesenheit einer post-materialistischen Konfliktlinie und damit auch das nahezu komplette Fehlen relevanter grüner Parteien. Und wie steht es um die Sozialdemokratie? Die gute Nachricht zuerst: Die erfolgreichste europäische Sozialdemo-

kratie regiert mit absoluter Mehrheit in der Slowakei. Zwar hat auch Tschechien einen sozialdemokratischen Premier, doch muss sich die einst stolze ČSSD mittlerweile mit 20 Prozent der Wählerstimmen begnügen. In Ungarn und Polen sind die Sozialdemokraten elektoral marginalisiert, ferner fehlen ihnen Partner, mit denen sie wieder an die Regierung gelangen können. Alle vier Parteien haben mit Korruptionsfällen zu kämpfen gehabt; hinzukommt, dass sie sich – abgesehen vielleicht von der slowakischen SMER – durch erhebliche programmatische Unschärfe auszeichnen. Somit fehlen den westeuropäischen Sozialdemokraten aber wichtige Anspielstellen in Mittelosteuropa, was es beispielsweise erheblich schwerer macht, ein gemeinsames europäisches Sozialstaatsmodell zu entwickeln. Vorschau auf neue Verhältnisse? Zwar sind zentrale Fragen der ökonomischen, politischen und sozialen Transformation in den vier mittelosteuropäischen Ländern beantwortet. Die daraus entstandenen Verwerfungen sind aber bis heute gesellschaftlich noch nicht verdaut. Das spiegelt sich in Parteiensystemen, die nach wie vor fluide sind, und politischen Strukturen wider, die – wie beispielsweise im Falle Ungarns – nicht frei sind von illiberalen Angriffen.

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SCHWERPUNKT | 25 JAHRE FREIHEIT

Nun sind die inneren Verhältnisse eines Landes in Zeiten enger europäischer Kooperation von hoher Relevanz auch für die Partnerländer. So ist fraglich, wie die ideelle und personelle Aufstellung der politischen Parteien von außen befördert werden kann ohne in Bevormundung umzuschlagen. Beunruhigend ist jedoch am Ende die Frage, ob die Entwicklungen im östlichen Europa nicht sogar eher eine Vorschau auf die auch im südlichen und westlichen Europa in Bewegung geratenen politischen Verhältnisse und Parteiensysteme sind.| THOMAS KRALINSKI

ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg und Chefredakteur der Zeitschrift Perspektive 21.

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DAS DEBATTENMAGAZIN Wie werden wir im 21. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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Seit 1997 erscheint „perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

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Kinder? Kinder! Erneuerung aus eigner Kraft Ohne Moos nix los? Was nun Deutschland? Die neue SPD Chancen für Regionen Investitionen in Köpfe Auf dem Weg ins 21.Jahrhundert Brandenburg in Bewegung 10 Jahre Perspektive 21 Den Rechten keine Chance Energie und Klima Das rote Preußen Osteuropa und wir Bildung für alle Eine neue Wirtschaftsordnung? 1989 - 2009 20 Jahre SDP

Heft 44 Heft 45 Heft 46 Heft 47 Heft 48 Heft 49 Heft 50 Heft 51 Heft 52 Heft 53 Heft 54 Heft 55 Heft 56 Heft 57 Heft 58 Heft 59 Heft 60

Gemeinsinn und Erneuerung Neue Chancen Zwanzig Jahre Brandenburg It’s the economy, stupid? Wie wollen wir leben? Geschichte, die nicht vergeht Engagement wagen Die Zukunft der Kommunen Die Zukunft der Medien Welche Hochschulen braucht das Land? Quo vadis Brandenburg? Sport frei! Wo es stinkt und kracht Wachsam bleiben Zwischen Erfolg und Niederlage Aufstieg organisieren Intelligent wirtschaften


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