perspektive 21: INTELLIGENT WIRTSCHAFTEN

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Heft 60 | Juli 2014 | www.perspektive21.de

Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik

MAGAZIN Klaus Ness Zwischen Lenin und Hochgeschwindigkeit Thomas Kralinski It’s still the economy, stupid! Jürgen Kocka & Wolfgang Merkel Kapitalismus und Demokratie DAS STRASSENSCHILD Hannelore Mühlenhaupt über Kurt Mühlenhaupt Ein pralles Leben SCHWERPUNKT

INTELLIGENT WIRTSCHAFTEN Die Zukunft der Industrie in Deutschland

Dietmar Woidke Sicher, bezahlbar und europäisch Detlef Wetze Mehr Investitionen für mehr Wohlstand Manfred Güllner Energiewende ohne Ende? Günter Baaske Auf die Fachkräfte kommt es an Ulrich Berger Wir sind keine Insel Hendrik Fischer Gestärkte Stärken


Eine persรถnliche Bestandsaufnahme

20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989: Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutschland jetzt?

224 Seiten, gebunden

| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen


VORWORT

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eutschland ist gut durch die große Wirtschaftskrise gekommen. Ein Grund dafür ist, dass der Anteil der Industrie an unserer Wirtschaft immer noch eine wichtige Rolle spielt – im Gegensatz zu Großbritannien, den USA oder Frankreich, die stärker auf Dienstleistungen und insbesondere Finanzdienstleistungen gesetzt haben. Auch in Brandenburg spielt die Industrie eine wichtige Rolle – und das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Industrie steht heute vor einem großen Wandel: der vollständigen Digitalisierung. Das wird nicht nur die Arbeitswelt stark verändern, es stellt auch die Politik vor gewaltige Herausforderungen. Diese Fragen wollen wir in dieser Ausgabe der Perspektive 21 diskutieren. Dietmar Woidke schaut dabei auf die deutsche Energiewende – eine wichtige Rahmenbedingung für die Zukunft der deutschen Industrie. In einem sehr lesenswerten Beitrag zeichnet Detlef Wetzel, der neue Vorsitzende der größten Industriegewerkschaft Europas, das Bild einer Investitionspolitik – auch das ein wichtiges Element von Industriepolitik. Besonders stolz sind wir auf den Essay von Wolfgang Merkel und Jürgen Kocka. Sie analysieren die enge Wechselbeziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus – gerade unter dem Blickwinkel der jüngsten Finanz- und Eurokrise. Ihre Thesen lohnen in jedem Fall der weiteren Diskussion. Wir wünschen Ihnen eine interessante Sommerlektüre.

Klara Geywitz

Klaus Ness



INHALT

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Zwischen Lenin und Hochgeschwindigkeit Die Ukraine-Krise lenkt von Russlands eigenen Schwierigkeiten ab – der Ball muss zurück ins innenpolitische Spielfeld von Klaus Ness

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It’s still the economy, stupid! Wie die SPD verloren gegangene Wähler zurückgewinnen kann von Thomas Kralinski

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Kapitalismus und Demokratie Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch von Jürgen Kocka und Wolfgang Merkel

DAS STRASSENSCHILD 39 Ein pralles Leben

Hannelore Mühlenhaupt über Kurt Mühlenhaupt

SCHWERPUNKT INTELLIGENT WIRTSCHAFTEN | DIE ZUKUNFT DER INDUSTRIE IN DEUTSCHLAND

43 Sicher, bezahlbar

65 Auf die Fachkräfte kommt es an

und europäisch Wie die Energiewende zum Erfolg werden kann von Dietmar Woidke

Wie moderne Arbeitspolitik dem Mangel an Fachkräften begegnen kann von Günter Baaske 75

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Mehr Investitionen für mehr Wohlstand Wie die Industriepolitik der Zukunft aussehen muss von Detlef Wetzel

Wir sind keine Insel Über Karbonautos, die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Zukunft der Industrie sprach Thomas Kralinski mit Ulrich Berger

85 Gestärkte Stärken 59 Energiewende ohne Ende?

Was die Bürger über die Energieversorgung denken von Manfred Güllner

Von der Dezentralen Konzentration zu Regionalen Wachstumskernen und Clustern: Eine Zwischenbilanz nach zehn Jahren von Hendrik Fischer

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Zwischen Lenin und Hochgeschwindigkeit Die Ukraine-Krise lenkt von Russlands eigenen Schwierigkeiten ab – der Ball muss zurück ins innenpolitische Spielfeld — Von Klaus Ness Frage an einen Moskauer Taxifahrer: Wie geht es Ihnen eigentlich heute im Vergleich zur Sowjetzeit? Antwort: Das Leben ist beschissen. Früher war es auch beschissen, aber da war unser Land wenigstens noch wer in der Welt. ine sechsspurige Schnellstraße führt schnurgerade aus der Stadt heraus. Auto um Auto reiht sich aneinander, soweit das Auge reicht. Nach großen Wohnblöcken folgen Shoppingmalls und Logistikzentren, danach schließen sich Einfamilienhaussiedlungen und später Gärten mit den dazugehörigen Datschen an – und dann beginnen unendliche Weiten mit großen Seen, unendlichen Wäldern und breiten Flüssen. Russland heute – das ist eine Megastadt wie Moskau mit ihren zwölf Millionen Einwohnern, die sich unaufhörlich in ihr Umland ausbreitet. Eine Stadt, die in ihrer Geschäftigkeit, ihrem permanenten Verkehrschaos, ihrem Lärm, ihrer Rastlosigkeit, ihrer Geschwindigkeit und ihrer Kluft zwischen Arm und Reich amerikanischen Großstädten viel ähnlicher ist, als sicherlich mancher Russe und Amerikaner glauben mag. Russland heute – das ist aber auch ein Land riesiger Entfernungen, in dem die Lebensbedingungen schon 100 Kilometer vom Kreml entfernt kaum vergleichbar sind mit dem Moskauer Zentrum, wo die Uhren deutlich langsamer gehen, Lenin noch auf jedem zweiten Dorfplatz steht und an jedem dritten Haus selbst gefangene Fische und angebautes Gemüse angeboten wird, um die Haushaltskasse aufzubessern. Russland heute ist ein Land, mit gigantischen Einkommensunterschieden, ein Land, das von starkem Bevölkerungsrückgang und großer Landflucht geprägt ist, ein Land mit enormen Ressourcen, einer reichhaltigen Kultur und einer Geschichte voller Brüche.

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Russland heute hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine beeindruckende Modernisierungsleistung vollbracht. Moderne Autobahnen, Schnellbahnen und Flughäfen sind entstanden. Durch eine lange Phase des wirtschaftlichen Wachstums wurde die Verschuldung abgebaut und hohe Währungsreserven aufgebaut. Es ist so etwas wie Stabilität entstanden im Land, Löhne und Renten werden wieder regelmäßig gezahlt, der Staat hat sich wieder Autorität verschafft. Verglichen mit den wilden neunziger Jahren, mit der chaotischen Jelzin-Zeit, in der der Staat kurz vor der Auflösung stand, hat sich die Lebensqualität der russischen Bevölkerung deutlich verbessert.

Der technischen Modernisierung fehlt die gesellschaftliche Doch neben dieser „technischen“ Modernisierung ist die gesellschaftliche zurückgeblieben. Der wirtschaftliche Aufschwung des zurückliegenden Jahrzehnts hat eine – sicherlich – kleine Mittelschicht entstehen lassen. Ausländische Investoren haben zur Öffnung des Landes beigetragen. Doch größere politische und gesellschaftliche Liberalisierungen bleiben aus. Nach den Parlamentswahlen 2011 und den Präsidentschaftswahlen 2012 kam es erstmals zu spürbaren Demonstrationen für mehr Demokratie und Freiheit. Doch im Wesentlichen blieben diese Demonstrationen auf die Hauptstadt und einige wenige Großstädte beschränkt. Das gleiche gilt dann auch für ihren Erfolg. Direktwahlen von Bürgermeistern und Gouverneuren wurden wieder eingeführt, vielmehr ist nicht geblieben. Die Mittelschicht als Träger moderner Gesellschaften und ihrer inneren Liberalisierung ist nach wie vor zu schwach im Land, um tief greifende Veränderungen einzufordern. Die innenpolitische Situation hat sich seitdem trotzdem nicht beruhigt. Das Putinsche Wachstumsmodell ist an seine Grenzen gestoßen. Seit zwei Jahren steigt die Inflation, das Wirtschaftswachstum sinkt. So betrug der Zuwachs des BIPs 2013 gerade noch 1,3 Prozent – nachdem die Wachstumsrate im Laufe des Jahres immer weiter nach unten korrigiert wurde. 2014 wird mit einer ähnlichen oder niedrigeren Rate gerechnet. Das ist zu wenig für ein Land, das nach wie vor einen enormen wirtschaftlichen Aufholbedarf hat. Auch der Außenhandel und die Investitionstätigkeit schrumpfen. In der Folge sank der Wert des Rubels im Laufe des Jahres 2013 um über 11 Prozent. Stiegen die Realeinkommen der Russen in den 2000er Jahren jährlich um die zehn Prozent, waren es 2013 nur noch drei Prozent. Mit anderen Worten: Russland ist wieder in einer wirtschaftlichen Krise angekommen. Und dies blieb auch nicht ohne politische Auswirkungen. So ist Ende 2013

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die Unzufriedenheit im Land erstmals seit Putins Machtantritt größer gewesen als die Zufriedenheit. Auch die Zustimmungswerte für Putin selbst befanden sich seit 2008 im kontinuierlichen Sinkflug. So hat das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada einen Rückgang von knapp 80 Prozent (2008) auf gerade mal noch 25 Prozent am Ende des Jahres 2013 gemessen. Nach „westlichen“ Standards befand sich somit die politische Führung Russlands zu Beginn des Jahres 2014 in einer veritablen Vertrauenskrise. Bisher begegnete Putin dem mit einem verstärkten Anziehen der innenpolitischen Zügel. Das äußerte sich nicht zuletzt bei der Beschränkung der Pressefreiheit, bei der Rolle von NGOs in Russland oder der Gesetzgebung zu gleichgeschlechtlichen Lebensweisen. Doch die Krise um die Ukraine und die Reaktionen des Westens eröffneten dem russischen Präsidenten eine innenpolitische Entlastungsstrategie – und diese nutzt er konsequent. So ist die Zustimmung zu Putin und seiner Regierung mittlerweile wieder so hoch wie seit sechs Jahren nicht und liegt bei 70-80 Prozent. Auch die Frage, ob die Entwicklung in Russland in die richtige Richtung geht, wird von den Russen mittlerweile wieder deutlich positiv beantwortet. Präsident Putin hat also einen außenpolitischen Konfliktherd genutzt, um innenpolitische Schwierigkeiten zu überdecken – ein Trick, den viele Politiker – von Thatcher bis Clinton – schon angewendet haben.

Die Stimmung in Russland ist gekippt Zweifellos war die Annexion der Krim völkerrechtswidrig. Unakzeptabel ist auch die Rolle Russlands bei den Auseinandersetzungen in der Ostukraine und bei der Ausrüstung der Separatisten. Diese außen- und sicherheitspolitischen Fragen harren weiterhin einer Lösung. Doch bei der Beurteilung der Lage sollte stärker als bisher auch die innenpolitische Situation Russlands in den Blick genommen werden. Zunächst muss man feststellen, dass die Annexion der Krim auf große Zustimmung in Russland selbst trifft, übrigens auch in der Opposition. Selbst Michael Gorbatschow hat kundgetan, dass auch er die Gelegenheit, die Krim zurück nach Russland zu holen, genutzt hätte. Insgesamt ist die Grundstimmung in der russischen Bevölkerung in den vergangenen Monaten deutlich selbstbewusster und patriotischer geworden – und im selben Atemzug kritischer gegenüber dem Westen geworden. So ist von 2003 bis 2013 nach den Zahlen des Lewada-Instituts das Delta aus positiven und negativen Meinungen gegenüber der EU Schritt für Schritt von +60 auf +20 gesunken, mittlerweile

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ist es dramatisch auf -40 Punkte abgesackt. Das Verhältnis der Russen zu den USA ist zwar schon immer größeren Schwankungen unterworfen gewesen, aber auch hier ist das Delta von positiven und negativen Meinungen von +70 (1990) auf mittlerweile -40 Punkte abgestürzt. Nun mag ein Teil dieser Entwicklung zweifellos der gut geölten PropagandaMaschine des Kremls zuzuschreiben sein. Aber ein Teil erklärt sich auch aus dem Verhalten des Westens in den vergangenen Jahren. Das Wort von der „Regionalmacht Russland“ (Barack Obama) war dabei eine gute Illustration, wie die Amerikaner das größte Land der Erde wahrnehmen. Aus russischer Sicht hat der Westen in den vergangenen Jahren elementare Interessen Moskaus missachtet, politische Versprechen nicht gehalten und somit seinen eigenen Beitrag zur zunehmend antiwestlichen Stimmung beigetragen.

Russland fehlt Selbstbewusstsein mit Anziehungskraft Mit dieser (innenpolitischen) Stimmungslage in Russland selbst steht der Westen gleichwohl vor einem Dilemma. Denn zusätzlicher Druck von außen, beispielsweise in Form neuer Sanktionen – wird nur dazu führen, dass der russischen Führung neue Argumente für die wirtschafts- und innenpolitischen Schwierigkeiten zufallen (sprich: „der Westen ist Schuld“) – und damit dem Regime neue Legitimation verschaffen. Damit werden gleichzeitig jedoch drei zentrale Fragen überdeckt, deren Antworten Putin und seine Regierung schuldig geblieben ist: > Russland exportierte 2013 Waren im Wert von knapp 400 Milliarden Euro, davon sind über 300 Milliarden Energieträger wie Öl und Gas sowie Metalle. Russland hat es in den vergangenen Jahren versäumt, eine Wirtschaft aufzubauen, die international wettbewerbsfähig ist und nicht ausschließlich auf den Export von Bodenschätzen (und deren hohe Preise) angewiesen ist. Initiativen zur Modernisierung der Wirtschaft, wie sie unter Präsident Medwedjew angegangen worden, sind versandet. > Wahlen, so unfair sie auch bisweilen verlaufen mögen, sind eine wichtige aber keine hinreichende Bedingung für eine sich entfaltende Demokratie. Ohne ein stabiles, unabhängiges und vertrauenswürdiges Rechtssystem kann sich Demokratie – aber vor allem auch keine funktionierende Marktwirtschaft – entfalten. Denn der Rechtsstaat schafft Vertrauen und genau dieses Vertrauen ist eine zwingende Voraussetzung gerade für wirtschaftliche Aktivitäten von Unternehmen, seien es ausländische oder einheimische.

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> Dass Russland von seinen Nachbarn als ein wenig vertrauenswürdiger Partner wahrgenommen wird, hat viel damit zu tun, dass es im Inneren mit sich selbst nicht zufrieden ist. Es ist in den vergangenen Jahren kein russisches Selbstbewusstsein, keine Leitidee entstanden, die Anziehungskraft ausüben könnte. Man kann die Politik der Vereinigten Staaten an vielen Stellen kritisieren – die USA und ihr way of life üben trotzdem eine ungebrochene Anziehungskraft für viele Menschen aus, weltweit. Russland ist ein großes Land mit beeindruckender zivilisatorischer Leistung. Doch übt es jenseits der Achtung vor dem heroischen Kampf der Roten Armee gegen Hitlerdeutschland Achtung und Anziehungskraft aus? Dem ist nicht so – und eine Ursache liegt darin, dass die Russen mit sich selbst nicht im Reinen sind. Der Westen sollte großes Interesse daran haben, dass Russland sich wieder genau diesen Fragen widmet, dass Präsident Putin keine Ausreden für innere Missstände hat und von Schwierigkeiten ablenken kann. Der Ball muss zurück in die Arena der russischen Innenpolitik – dort liegen die Wurzeln für außenpolitische Eskapaden. Genau dabei, einer wirkungsvollen wirtschaftlichen Modernisierungsstrategie, sollten die EU und die USA Russland zur Seite stehen – und zwar ohne zu belehren. Niemand sollte sich über die andauernde Nachwirkung sowjetischer Handlungsund Denkmuster in der Tiefe Russlands Illusionen machen. Russland ist ein Land ohne demokratische Traditionen und gleichzeitig voller Traumata, von den unfassbaren Opfern im Zweiten Weltkrieg über Stalins totalitäre Schreckensherrschaft bis hin zur beschämenden Selbstbereicherung der Oligarchen. Eine tiefgreifende gesellschaftliche Modernisierung hat es in Russland bisher nicht gegeben – zu sehr sind Demokratie, Freiheit und soziale Marktwirtschaft in den neunziger Jahren diskreditiert worden. Die innenpolitische Transformation wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen – aber sie wäre gut für die Stabilität in Europa und der Welt. | KLAUS NESS

ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Brandenburger Landtag.

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THOMAS KRALINSKI | IT’S STILL THE ECONOMY, STUPID!

It’s still the economy, stupid! Wie die SPD verloren gegangene Wähler zurückgewinnen kann — Von Thomas Kralinski Prozent! Bei einer Europawahl! Ein besseres Ergebnis als 2014 hatte die SPD das letzte Mal vor 15 Jahren eingefahren. Überhaupt konnte die SPD in diesem Jahr erstmals bei einer Europawahl zulegen. Deshalb fühlen sich die 27 Prozent fast an wie ein Wahlsieg. Und in der Tat: Gegenüber der Bundestagswahl vom vergangenen Herbst konnte die SPD Stimmenanteile hinzugewinnen, auch ist der Abstand zur CDU/CSU nur noch halb so groß. Aber dennoch: Für eine Partei, die den Anspruch hat, Kanzlerpartei zu sein, ist das immer noch (zu) wenig. Die Bundestagswahlen 2013 endeten für die SPD mit enttäuschenden 25,7 Prozent. Das war ein Zuwachs von knapp 3 Prozentpunkten, aber die SPD saß weiterhin tief unten im 20-Prozent-Turm. Die Union triumphierte mit über 40 Prozent der Stimmen, Grüne und Linkspartei erhielten jeweils weniger als 10 Prozent, die FDP stürzte unter die Fünf-Prozent-Hürde. Die anschließende Regierungsbildung dauerte eine halbe Ewigkeit, doch seit Dezember regiert die Große Koalition endlich. Man mag von ihrer Arbeit halten, was man will, aber die Regierung setzt das in die Tat um, was sie verabredet hat – sei es die Mütterrente, das Mindestlohngesetz, die so genannte Rente mit 63 oder mehr Geld für Bildung.

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Stabile politische Wetterlage Doch im Vergleich zum Start aller anderen Bundesregierungen der vergangenen 20 Jahren verändert sich die politische Stimmung kaum. Bis zur Europawahl lag die CDU/CSU weiterhin bei 40 Prozent, die SPD bei um die 25 Prozent, Grüne und Linkspartei bei 10 Prozent, die FDP weiter unter 5 Prozent, einzig die AfD hatte zugelegt auf tendenziell über 5 Prozent. Diese Zahlen liegen gegenüber dem Bundestagswahlergebnis innerhalb der Schwankungsbreite der Meinungsforschung.

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Die stabile politische Wetterlage ist relativ einzigartig und ein Novum in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik. Bisher hatte der Honeymoon von Bundesregierungen meist nur ein paar Wochen angehalten. Denn allzu schnell mussten die Regierenden entweder erst in der Realität ankommen oder das Regieren lernen – und manchmal auch beides. Die Folgen waren interne Streitereien und ein schneller Absturz der Zustimmungswerte. Die letzte schwarz-gelbe Koalition hat sich von den Anfangsquerelen nicht mehr erholt und galt über die gesamte Wahlperiode hinweg als zerstritten und handlungsschwach. Ganz anders im Jahr 2014. Zunächst einmal scheinen derzeit Profis am Werk zu sein, die das in die Tat umsetzen, was zuvor – teilweise bis ins kleinste Detail – verabredet wurde. Die stabile politische Stimmungslage ist aber auch ernüchternd, vor allem für die Sozialdemokraten. Denn ihre Zustimmungswerte stagnieren, obwohl sie exakt das tun, was sie vorher versprochen hatten.

Ein Programm für 25 Prozent Aber vielleicht liegt genau da das Problem. Vielleicht ist das Wahlprogramm von 2013 – auf das die SPD so stolz war – genau das: ein Programm für 25 Prozent der Wähler. Nicht mehr und nicht weniger. Und wenn es verwirklicht wird, befriedigt man gewiss die 25 Prozent, die einen gewählt haben, aber man erreicht noch lange keine neuen Wählerschichten. Nun mag eine Voraussetzung für neues Vertrauen darin liegen, dass man Versprochenes auch hält. Nur wird das allein nicht ausreichen, um von den in den vergangenen zehn Jahren verloren gegangenen zehn Millionen Wählern einen großen Batzen zurückzuholen. So hat die SPD in ihrer Oppositionszeit von 2009 bis 2013 einige inhaltliche Korrekturen vorgenommen, die vor allem als „Linksschwenk“ wahrgenommen wurden und auch so wahrgenommen werden sollten. Ein Blick auf die Wahlergebnisse dieser Jahre zeigt relativ klar, was dieser Kurs bewirkt hat. Grosso modo hat die SPD gut 10 Prozent ihrer verloren gegangenen Wähler zurückgeholt: etwas über eine Million von zehn. Dieser Trend zeigte sich nicht nur bei der Bundestagswahl 2013, sondern auch bei den meisten Landtagswahlen (abgesehen von einigen Ausnahmen wie Hamburg, die eher mit Sonderfaktoren erklärbar sind). Die meisten der verlorenen „Schröder-Wähler“ sind auch mitnichten zur Linken gewandert, sondern entweder zur CDU und FDP, oder sie verharren in der Wahlenthaltung und warten auf ein attraktives personelles und inhaltliches Angebot der SPD. Die Wahlen in Deutschland werden auch weiterhin in der Mitte gewonnen.

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THOMAS KRALINSKI | IT’S STILL THE ECONOMY, STUPID!

Deshalb ist es falsch zu glauben, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns der SPD elektoralen Auftrieb geben würde. Das Mindestlohngesetz ist gut. Es findet – trotz großen öffentlichen Gegenwindes – breite Unterstützung in der Bevölkerung. Zustimmungswerte von 60 bis 80 Prozent können nicht viele politische Großprojekte für sich verbuchen. Gleichwohl ist der Mindestlohn für die meisten Deutschen (auch die SPD-Wähler) überhaupt nicht relevant. Für die Wahlentscheidung hat er kaum Bedeutung. Der Mindestlohn ist im Bereich von politischer Hygiene angekommen – man erwartet ihn schlicht und einfach, weil das doch eh klar ist. Wenn man so will, handelt es sich um ein „Sowieso-Gesetz“ – ein Gesetz, das sowieso kommen muss. Abgesehen davon, dass die Mehrheit der Deutschen die 8,50 Euro sogar tendenziell eher für zu niedrig hält als für zu hoch. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Gesetz zur „Rente mit 63“. Auch dieses Vorhaben hat große Zustimmungswerte – weil die meisten Deutschen nun mal lieber kürzer als länger arbeiten wollen. Aber auch hier gilt: Die meisten Wähler haben verstanden, dass die Neuregelung für sie kaum Auswirkungen hat. Je nach Schätzungen werden ein paar zehn- oder hunderttausend Menschen in den Genuss eines früheren Renteneintritts kommen. Auch eine Reihe anderer Regierungsprojekte, die in erster Linie auf Druck der SPD angepackt werden, erfüllen die Kriterien der schwachen Relevanz. Alles keine falschen Pläne, alle mit relativ hohem Rückhalt in der Bevölkerung. Aber auf die Frage „was bringt es mir?“ zucken die meisten dann mit den Achseln. Eine Frauenquote für Aufsichtsräte in Dax-Unternehmen? Kann nicht schaden, aber ändert das wirklich etwas? Sukzessiv-Adoption für Schwule und Lesben? Ok, aber ist das wirklich ein Kernprojekt einer Regierung? Kurzum, aus der Addition von Minderheitenthemen wird noch keine Mehrheit.

Was sind die Themen der Mitte? Die Frage muss lauten: Welche Themen brennen der breiten Mitte in Deutschland auf den Nägeln – und hat die SPD glaubhafte Antworten darauf? Zunächst einmal – und das ist sicherlich keine Neuigkeit – sind die Deutschen keine elektoralen Revolutionäre. Die stille Sehnsucht nach möglichst wenig Veränderung musste selbst Gerhard Schröder am Ende der bleiernen Kohl-Jahre mit dem Satz bedienen: „Es wird nicht alles anders, aber vieles besser“. Gerade die enormen ökonomischen Verwerfungen in Europa verstärken die Sehnsucht nach Ruhe – ist Deutschland doch so etwas wie die Insel der Glückseeligen in einem unruhigen Meer von Verschuldung,

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Massenarbeitslosigkeit und Zukunftsangst. Gleichwohl: Es gibt Themen, auf die die SPD Antworten braucht. Sie haben auch mit der guten wirtschaftlichen Situation Deutschlands zu tun. Es geht also darum, Ideen zu entwickeln, die die Leute nicht verschrecken und gleichzeitig das Leben vieler Menschen in den mittleren und unteren Etagen der Gesellschaft spürbar verbessern können. Einer der wichtigsten Gründe, warum das größte Land Europas ökonomisch so gut dasteht, ist die Lohnzurückhaltung der vergangenen 15 Jahre. Sie hat die hohe Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf den Weltmärkten erst ermöglicht. Aber bei einem so langen Zeitraum hinterlassen stagnierende Löhne gerade bei den Beziehern von unteren und mittleren Einkommen tiefe Spuren. So können sich selbst Durchschnittsverdiener in den Innenstädten von München oder Berlin kaum noch Wohnungen leisten. Welche Möglichkeiten gibt es also, die Einkommen insbesondere der unteren und mittleren Einkommensschichten zu steigern, wenn man sich nicht mehr auf die Stärke von Gewerkschaften und die Breitenwirkung von Tarifverträgen verlassen kann?

Ende der Steuererhöhungspartei Im Bundestagswahlkampf hat die SPD noch mit Steuererhöhungen geworben – zwar hauptsächlich für die oberen Einkommensgruppen, aber das ist etwas untergegangen. Auch was die SPD mit dem Geld vorhatte, ist weitgehend im Nebel geblieben. Sinnvoller wäre angesichts der immer neuen Einnahmerekorde vielmehr ein neuer Ansatz: Entlastung der unteren und mittleren Einkommen – gerade um ihr verfügbares Einkommen zu erhöhen. Es ist nur folgerichtig, dass Sigmar Gabriel das Ende der Steuererhöhungspolitik verkündete und die Bereitschaft zur Steuersenkung durch die Bekämpfung der „kalten Progression“ signalisierte. Die Kita-Gebührenfreiheit – im Wahlprogramm von 2013 bereits verankert – wäre ein echtes Entlastungspaket gerade für Familien aus der Mittelschicht und sollte ein echtes Kernprojekt der SPD sein. Eine Steuererhöhungspartei ist einfach nicht attraktiv für Leute, die den (nicht von der Hand zu weisenden) Eindruck haben, seit vielen Jahren keinen Einkommenszuwachs gehabt zu haben. Diese Familien sind es auch, die Entlastung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf suchen. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig hat zu Beginn dieses Jahres einen schlecht vorbereiteten, aber hoch interessanten Vorschlag gemacht. Mit einer Familienteilzeit sollen Eltern ihre Arbeitszeit auf 32 Stunden pro Woche senken können, während der Lohnausgleich zumindest teilweise über Steuermittel sichergestellt wird. Die Idee wurde zwar von der Kanzlerin schnell

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THOMAS KRALINSKI | IT’S STILL THE ECONOMY, STUPID!

kassiert, ein attraktives Angebot an junge Familien mit Kindern wäre die Familienteilzeit gleichwohl. Die finanzielle Unterstützung von Kindern aus einkommensschwachen Familien auf dem Weg zum Abitur – unter Schmidt und Brandt als Schüler-Bafög gewährt – wäre es ebenfalls. Hinzu kommt eines der Megathemen dieser Zeit: die Rente. Dass die „Rente mit 67“ mal ein Kassenschlager wird, erwartet sicherlich niemand; abgefunden haben sich die Deutschen mittlerweile aber doch damit. Auch versteht ja kaum jemand die Rentenformel in ihren Details. In der Summe haben die umfangreichen Diskussionen um Demografie, eine alternde Gesellschaft und ein schwieriger zu finanzierendes Rentensystem die Bevölkerung tief verunsichert, was die Stabilität der Alterssicherung und die Höhe des Lebensstandards in der Rente betrifft. Die Mini-Renditen bei den Lebensversicherungen haben dieser Unsicherheit einen weiteren Baustein hinzugefügt. Diese Unsicherheiten artikulieren sich derzeit politisch kaum, zumal sie von den „Wohltaten“ der Großen Koalition für die derzeitige Rentnergeneration überschattet werden. Dennoch wird jede Partei in Deutschland Antworten auf die Fragen der mittleren Altersgenerationen nach ihrem Lebensstandard im Alter haben müssen. Eine garantierte Mindestrente, die deutlich über dem Sozialhilfeniveau liegt, wäre ein wichtiges Signal an diejenigen, die ein Leben lang arbeiten, aber mit ihrer Rente trotzdem auf keinen grünen Zweig kommen. Wenn die SPD wieder Kanzlerpartei werden will, braucht sie ein Programm, das sie deutlich über die jüngsten Wahlergebnisse hinausbringt. Dafür wird sie die sozialdemokratische Kernwählerschaft mit der breiten Mitte der deutschen Gesellschaft verbinden müssen. Eine Chance wird die SPD dabei nur bekommen, wenn ihr kluge Antworten auf ganz weltliche Fragen einfallen. Anders gesagt: It’s still the economy, stupid! Oder noch anders: Es geht darum, unseren wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern und dafür zu sorgen, dass mehr Menschen davon profitieren, dass sich Leistung lohnt. Sozialdemokraten sind dann Wählermagneten, wenn sie soziales Engagement, Aufstiegsversprechen und moderne Gesellschaftspolitik mit ökonomischem Sachverstand verbinden. Wenn die Leute auf die Frage „Und was tun die Sozialdemokraten für mich?“ eine einfache Antwort haben, dann wird sich ein Wahlergebnis auch wieder wie ein richtiger Sieg anfühlen können. | THOMAS KRALINSKI

ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg und Chefredakteur der Perspektive 21.

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JÜRGEN KOCKA & WOLFGANG MERKEL | KAPITALISMUS UND DEMOKRATIE

Kapitalismus und Demokratie Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch — Von Jürgen Kocka und Wolfgang Merkel

I.

Kapitalismus und Demokratie haben sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten als die erfolgreichsten wirtschaftlichen und politischen Ordnungssysteme erwiesen. Der Kapitalismus hat sich seit dem Kollaps des sowjetischen Staatssozialismus nach 1989 und der Transformation der Volkswirtschaft Chinas weltweit durchgesetzt. Nur wenige Enklaven wie Nordkorea konnten sich mit barbarischen Mitteln dem kapitalistischen Siegeszug widersetzen. Der Markt als Koordinationsform und die Profitmaximierung als Motiv und Antrieb ökonomischen Handelns scheinen den Wettlauf der Wirtschaftssysteme gewonnen zu haben. Spricht man vom Kapitalismus im Singular, verhüllt dies allerdings die Unterschiede der „varieties of capitalism“. Das staatskapitalistische System Chinas, der neoliberale Kapitalismus angelsächsischer Provenienz oder die wohlfahrtsstaatlichen Marktwirtschaften Skandinaviens unterscheiden sich erheblich, harmonieren oder disharmonieren in unterschiedlicher Weise mit demokratischen Regimen.

Keine Demokratie kam bisher ohne Kapitalismus aus Der Erfolg der Demokratie war im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts zwar beeindruckend, aber doch viel unvollständiger als die Durchkapitalisierung der Welt. Misst man ihn mit der weiten Elle eines minimalistischen Verständnisses, so ließen sich im Jahr 2010 123 Länder (von knapp 200 Staaten) als „electoral democracies“ bezeichnen. Misst man jedoch mit dem anspruchsvollen Maßstab der rechtsstaatlichen Demokratie, schrumpft deren Zahl auf rund 60 Staaten zusammen. Sowohl für elektorale als auch rechtsstaatliche Demokratien kann aber gelten, dass alle mit kapitalistischen Wirtschaftsformen koexistieren. Auch historisch gilt: Keine entwickelte Demokratie ist bisher ohne den Kapitalismus ausgekommen.

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Vice versa trifft dies nicht zu. Die Beispiele des nationalsozialistischen Deutschlands, der Volksrepublik China, Singapurs, der kapitalistischen Diktaturen Lateinamerikas oder Asiens im zwanzigsten Jahrhundert zeigen, dass der Kapitalismus unter verschieden politischen Herrschaftsformen bestehen oder gar blühen kann.

Wie sich der Kapitalismus entwickelte Der beachtliche Siegeszug der Demokratie im Weltmaßstab koinzidiert aber mit zunehmender Kritik am gegenwärtigen Zustand der entwickelten Demokratien. Nach der Jahrtausendwende mehren sich Theorien und Analysen, die den reifen Demokratien nur noch „Schwundstufen“, „postdemokratsche Zustände“ oder bloße „Fassaden“ attestieren. Als Hauptursache gilt der Kapitalismus, der insbesondere als Finanzkapitalismus die Ungleichheit der Einkommen und politischen Beteiligungschancen verschärfe, Parlamente entmündige und Regierungen wichtige Handlungskompetenzen nehme. Wie vereinbar sind Kapitalismus und Demokratie? Wie tief reicht die Inkompatibilität der „varieties of capitalism“ mit den Varianten der Demokratie? Inwieweit ist der Kapitalismus in seinen unterschiedlichen Varianten zu einer Herausforderung für die Demokratie und ihren normativ-funktionalen Qualitätsstandards geworden?

II.

Der Kapitalismus bildete sich als Kaufmanns-, Finanz- und Agrarkapitalismus heraus, lange bevor er sich – beginnend mit dem 18. Jahrhundert – als Industriekapitalismus allgemein durchsetzte und schließlich global ausbreitete. Während im frühen neunzehnten Jahrhundert die wichtigsten wirtschaftlichen Entscheidungen in einer Vielzahl kleiner bis mittelgroßer Unternehmen von Eigentümer-Unternehmern (Familienunternehmen) getroffen wurden, kam seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das häufig viel größere ManagerUnternehmen meist auf Aktienbasis auf, an dessen Spitze eine gewisse Trennung von Eigentum und Kontrolle stattfand. Die wichtigsten Entscheidungen wurden von angestellten Unternehmern (Managern) getroffen, während sich die Eigentümer auf Grundsatzentscheidungen beschränkten. Man hat vom „Managerkapitalismus“ gesprochen. In einigen Bereichen ist dieser aber mittlerweile vom Investorenkapitalismus verdrängt worden, der dadurch gekennzeichnet ist, dass zentrale Entscheidungen über Investitionen und Strategien von Vertretern großer Fondsoder Finanzierungsgesellschaften getroffen werden, für die die Unternehmen bloß noch Ort der Anlage und Quelle des Profits sind. Soweit sich dieser Trend vom

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JÜRGEN KOCKA & WOLFGANG MERKEL | KAPITALISMUS UND DEMOKRATIE

Eigentümer- über den Manager- zum Investorenkapitalismus durchgesetzt hat, war damit eine schrittweise Herauslösung der kapitalistischen Kernfunktion, der Investitionsentscheidung, aus dem Ensemble der vielfältigen Leitungsfunktionen verbunden, die im Eigentümer- wie auch noch zum Teil im Manager-Unternehmen von den Unternehmensleitungen im Zusammenhang erledigt wurden bzw. werden. Wenn man das Verhältnis von Markt und Staat als zentrales Unterscheidungsmerkmal von Kapitalismustypen wählt, lassen sich mit Blick auf die letzten beiden Jahrhunderte drei Typen unterscheiden, die in unterschiedlichen Phasen dominierten. > Der marktliberale Kapitalismus: Er war in Europa und Nordamerika im größten Teil des neunzehnten Jahrhunderts durch die Dominanz des Wettbewerbsprinzips im Verhältnis der Unternehmen zueinander und durch weitgehende Zurückhaltung staatlicher Organe bei wirtschafts-und sozialpolitischen Eingriffen gekennzeichnet. > Der organisierte Kapitalismus: Kapitalismusinterne Koordinierungs-und Regulierungsbedürfnisse unter sich verändernden technologisch-organisatorischen Bedingungen einerseits, die Zunahme sozialer Störungen als Folge des kaum regulierten Kapitalismus andererseits waren die hauptsächlichen Triebkräfte, die zu zunehmender Organisation des Kapitalismus führten. Diese manifestierte sich zum einen in zunehmender, wettbewerbsbeschränkender Kooperation großer Wirtschaftsunternehmen in Form von Kartellen, Fusionen, Verbänden und Ansätzen zu gemeinsamer Planung und Interessenvertretung, andererseits in zunehmenden staatlichen Interventionen in Wirtschaft und Gesellschaft, unter anderem mit Mitteln des Arbeitsrechts, der selektiven Subventionierung und Verstaatlichung, mit zunehmender Regulierung, aber auch durch den Aufbau des Sozialstaats und den Ausbau der Sozialgesetzgebung – in Deutschland seit den 1880er Jahren. Der so entstehende organisierte Kapitalismus trat im zwanzigsten Jahrhundert in liberal- beziehungsweise sozialdemokratischen Varianten auf, so im New Deal der dreißiger und vierziger Jahre in den USA, als soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Ländern oder als ausgeprägter keynesianisch-wohlfahrtsstaatlicher Kapitalismus in Frankreich und Skandinavien. Aber er existiert auch in diktatorisch-autoritären Varianten, so im ostasiatischen Staatskapitalismus der letzten Jahrzehnte. > Der neoliberale Kapitalismus: Seit den siebziger Jahren hat sich, teilweise in ausdrücklichem Gegensatz zum keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Kapita-

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lismus, „neoliberale“ Kritik geltend gemacht, die die Mechanismen der Märkte, die Prinzipen der kapitalistischen Selbstregulierung und die Grenzen staatlicher Lenkungsfähigkeit betonte. Eine neue Phase des Kapitalismus setzte ein, die durch Deregulierung, Privatisierung und partiellen Rückbau des Sozialstaats gekennzeichnet war, während die Globalisierung rasch voranschritt, der internationale Finanzkapitalismus immens an Bedeutung gewann und die sozialökonomische Ungleichheit in den Gesellschaften wieder zu wachsen begann.

III.

Der Demokratiebegriff ist umstritten: Konservative, liberale, soziale, pluralistische, elitäre, dezisionistische, kommunitaristische, kosmopolitische, republikanische, deliberative, partizipative, feministische, kritische, postmoderne oder multikulturalistische Demokratie-Modelle konkurrieren miteinander. Je nachdem welches Demokratiemodell man heranzieht, wird man kaum, häufig oder fast immer eine „Krise der Demokratie“ entdecken können. Wir wollen für unsere Analyse das Konzept der „eingebetteten Demokratie“ verwenden. Die embedded democracy konstituiert sich aus fünf Teilregimen: dem demokratischen Wahlregime, dem Regime politischer Partizipationsrechte, dem Teilregime bürgerlicher Freiheitsrechte, der institutionellen Sicherung der Gewaltenkontrolle sowie der Garantie, dass die effektive Regierungsgewalt der demokratisch gewählten Repräsentanten de jure und de facto gesichert ist. Es hängt von der ‚Krisenverarbeitungskapazität‘ jedes einzelnen Teilregimes und seiner Inter- und Independenz innerhalb der gesamten eingebetteten Demokratie ab, ob ein Bereich von einer Krise infiziert wird und inwieweit sich der jeweilige ‚Krisenvirus‘ über die Teilregimegrenzen hinaus ausbreiten kann.

Egoismus gegen Allgemeinwohl Es ist nicht zu übersehen, dass sich die Logiken von Kapitalismus und Demokratie grundsätzlich unterscheiden und in Spannung zueinander stehen. Kapitalismus und Demokratie besitzen unterschiedliche Legitimationsgrundlagen: ungleich verteilte Eigentumsrechte dort, gleiche Staatsbürgerrechte hier. In ihnen dominieren unterschiedliche Verfahren: der profitorientierte Tausch im Kapitalismus, Debatte und Mehrheitsentscheidung in der demokratischen Politik. Die egoistische Wahrnehmung partikularer Vorteile ist für kapitalistisches Handeln das eindeutige Ziel. Die Verwirklichung des allgemeinen Wohls ist dagegen das Ziel demokratischer Politik. Entscheidungen und ihre Implementierung führen im Kapitalismus zu

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einem Ausmaß an wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit (an Einkommen, Vermögen, Macht und Lebenschancen), das nach den an gleichen Rechten, Chancen und Pflichten orientierten Grundsätzen der Demokratie schwer akzeptabel erscheint. Dies umso mehr, als die tatsächliche Wahrnehmung demokratischer Rechte und Pflichten von verfügbaren ökonomischen und sozialen Ressourcen abhängig ist, und häufig geballte ökonomische Ressourcen in politische Macht transformiert werden können. Umgekehrt ist die volle Anwendung demokratischer Entscheidungsregeln – allgemeine und gleiche Partizipations- und Eigentumsrechte, Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenschutz –mit den Regeln des Kapitalismus unvereinbar. Kapitalismus ist nicht demokratisch, Demokratie nicht kapitalistisch.

Ohne staatliche Ordnung tut sich der Kapitalismus schwer Doch dies ist nur eine Seite, zwei andere müssen mitbedacht werden. Zum einen ist es ein fundamentaler Grundsatz freiheitlicher Demokratie, dass die Reichweite politischer Entscheidungen begrenzt wird: durch die Sicherung von Grundrechten, durch die Anerkennung des Prinzips, dass demokratische Entscheidungsregeln zwar für das politische System zentral sind, aber andere gesellschaftliche Teilsysteme nach anderen Regeln – ihren – Logiken funktionieren. Die Verfassungen binden die Ausübung der politischen Macht zunächst an rechtsstaatliche, seit dem neunzehnten Jahrhundert an demokratische Grundlagen, und gerade nicht an ökonomische Ressourcen. Gleichzeitig aber sichern sie das Recht auf Eigentum und aus ihm folgende Verfügungsrechte als Grundrechte ab und entziehen somit einen Kernbestand wirtschaftlicher Handlungsmacht dem Zugriff auch der demokratischen politisch-staatlichen Macht. Wenn aber die Verteilung und der Gebrauch von Eigentumsrechten zur Kumulation von Vermögensressourcen in einer Größenordnung führen, die es erlaubt, die Politik in ihrer eigenen politischen Sphäre in kapitalistische Schranken zu weisen, oder aber wenn demokratische Entscheidungen zu einer Einschränkung der Eigentumsrechte führen, kommt es zum Konflikt. Zum anderen ist auf gewisse Affinitäten und Interdependenzen zwischen Kapitalismus und Demokratie zu verweisen. In beiden spielen Wettbewerb und Wahlentscheidungen eine wichtige Rolle – Aspekte der praktizierten Freiheit von Individuen. Kapitalismus und Demokratie haben gemeinsame Feinde: unkontrollierbare Zusammenballung staatlicher oder ökonomischer Macht, Regellosigkeit und Unberechenbarkeit, Korruption und Krieg. Schließlich können sich Kapitalismus und Demo-

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kratie wechselseitig stützen. Denn einerseits: Ohne eine im Grundsatz berechenbare staatliche Ordnung, die auf Dauer am ehesten demokratisch gewährleistet werden kann, tut sich nachhaltiger Kapitalismus schwer. Andererseits gilt: Nachhaltiges Wachstum, das demokratische Institutionen erfahrungsgemäß legitimiert und stärkt, wird am ehesten – trotz seiner Konjunkturen und Krisen – von einem demokratisch eingebetteten Kapitalismus hervorgebracht.

IV.

Das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie stellt sich also in systematischer Hinsicht widersprüchlich dar. Dem entsprechend finden sich in historischer Hinsicht viele Variationen. Einige zentrale Stationen seien beispielhaft benannt. Der Kapitalismus setzte sich in seinen verschiedenen Varianten in der Frühen Neuzeit vor allem im westlichen Europa durch. Die Niederlande und England nahmen dabei eine Führungsstellung ein. Landwirtschaft und Gewerbe waren dort schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert großenteils kapitalistisch strukturiert. Von Amsterdam und London aus boomte der Finanzkapitalismus, durch die Finanzierung von Staaten und ihrer Kriege weltweit, aber auch bei der Organisation der atlantischen Ökonomie mit Plantagenwirtschaft, Sklavenhandel, Warenexport und kolonialer Ausbeutung. In England begann im achtzehnten Jahrhundert der Industriekapitalismus. Dies war eine vordemokratische Zeit. Aber zweifellos waren die Niederlande und England nicht nur die kapitalistischsten Länder der Welt, sondern auch an politischer Freiheit, Verfassungsstaatlichkeit und zivilgesellschaftlicher Dynamik allen anderen deutlich voraus. Kapitalistische Entwicklung und die Entstehung repräsentativer Regierungsformen und Rechtstaatlichkeit verliefen hier also Hand in Hand.

Die Arbeiter forderten mehr Rechte ein Die Demokratisierung kam in Europa im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts sehr ungleichmäßig voran. Typischerweise setzten sich Kapitalisten, Unternehmer und Manager zwar für gemäßigte liberale Verfassungs- und repräsentative Regierungsformen mit Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit ein, selten aber für das allgemeine Wahlrecht und andere Formen der entschiedenen Demokratisierung. Im Gegenteil, je weiter diese voranschritt, desto häufiger befand sich die Bourgeoisie auf der Seite der Warner, Bremser und Gegner. Aber der sich ausbreitende Industriekapitalismus erfasste große Teile der breiten Bevölkerung, ließ

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eine qualifizierte, selbstbewusste und zunehmend fordernde Arbeiterklasse entstehen und trug entscheidend zur Stärkung sozialer und politischer Bewegungen bei, die die sich vergrößernde sozialökonomische Ungleichheit kritisierten, mehr Bildungschancen einforderten und sich für radikale Demokratisierung einsetzten. Nimmt man Nordamerika hinzu, lässt sich sagen, dass die Spannungen zwischen kapitalistischen Interessen und Demokratisierungsbestrebungen erheblich waren, dass Kapitalismuskritik im Namen demokratischer Grundsätze wuchs, aber trotzdem die Demokratisierung am ehesten in den Teilen der Welt an Boden gewann, in denen sich gleichzeitig der Kapitalismus ausbreitete.

Nach dem Krieg entsteht der Wohlfahrtsstaat Der Erste Weltkrieg brachte nicht nur einen Durchbruch der Demokratisierung – Massenmobilisierung, das allgemeine Wahlrecht jetzt häufig für beide Geschlechter, Fortschritte der Parlamentarisierung, Ausbau des Sozialstaats, Machtgewinn der Arbeiterbewegungen und Beginn der Entkolonialisierung –, sondern auch die Radikalisierung antidemokratischer Reaktionen, meist gestützt von den kapitalistischen Führungsschichten. Nach wenigen Jahren setzten sich in großen Teilen Europas autoritäre Systeme und Diktaturen durch. Die entschiedene Beseitigung des Kapitalismus nach der Revolution von 1917 und unter sowjetischer Hegemonie nach 1945 hat im östlichen Teil Europas zur Verhinderung der Demokratie ganz entschieden beigetragen. Denn die Enteignung und Vergesellschaftung oder Verstaatlichung des Kapitals beseitigte eben auch jene strukturelle Machtteilung zwischen Markt und Staat, zwischen ökonomischen Ressourcen und politischer Macht, die als Voraussetzung von Freiheit und Demokratie letztlich unersetzbar ist, und ohne die die Überwältigung der Zivilgesellschaft durch staatlich-politische Machtzusammenballung zur kaum zu kontrollierenden Gefahr wird. Umgekehrt zeigte sich in der Entstehungs- und Gewaltgeschichte der faschistischen Diktaturen Europas, wie demokratiefeindlich kapitalistische Führungsschichten in der Krise des Kapitalismus wie in der Abwehr konsequenter Demokratisierung und befürchteter revolutionärer Herausforderungen von links reagieren können: Sie wurden zu Steigbügelhaltern für Diktatoren und sympathisierende Befürworter der Vernichtung freiheitlicher Demokratie. Die deutsche Geschichte 1933-1945 zeigt überdies, dass der Kapitalismus, obwohl von den nationalsozialistischen Herrschern entschieden instrumentalisiert und in einigen Bestandteilen amputiert, auch unter extremen diktatorischen Bedingungen – in der engen Kooperation mit Diktatoren – florieren kann.

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In der zweiten Hälfte, vor allem im dritten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts erwies sich im westlichen Europa, in Nordamerika und in Japan ein zunehmend organisierter Kapitalismus als besonders kompatibel mit der demokratischen Verfasstheit der Politik. Dies geschah, obwohl oder besser, weil ein zunehmend ausgebauter Interventions- und Sozialstaat in die kapitalistischen Ökonomien eingriff: regulierend, stabilisierend und egalisierend. In manchen nord- und kontinentaleuropäischen Ländern entstand der „Keynesianische Wohlfahrtsstaat“ (Offe) als eine soziale und koordinierte Form des Kapitalismus. Gleichzeitig nahmen die Tendenzen zur Selbstorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft zu, blieben die Wahrnehmung wirtschaftlicher Chancen und Aufgaben ebenso wie das Austragen von Verteilungs-und wichtigen Sozialkonflikten den wirtschaftlichen und sozialen Akteuren überlassen. Ein intensives Geflecht von Interdependenzen zwischen Staat und Markt, zwischen demokratischen Institutionen und kapitalistischer Wirtschaft entstand, das die wirtschaftlichen Akteure vielfach einbettete, regulierte, privilegierte und in die Pflicht nahm. Andererseits öffneten sich die staatlichen Entscheidungsprozesse weit für wirtschaftliche und soziale Einflussnahmen.

Wie viele Konzessionen können Diktaturen machen? Punktuell wurden Elemente der Demokratie ins Wirtschaftssystem eingepflanzt – beispielsweise durch gesetzlich vorgeschriebene Mitbestimmung von Arbeitnehmern und durch die rechtlich einklagbare Absicherung von Arbeitnehmerinteressen. Das rasche Wirtschaftswachstum der ersten Nachkriegsjahrzehnte, die weiterhin starke Kritik am Kapitalismus im Namen von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, vor allem aber die im Westen aufmerksam registrierte Herausforderung durch die Existenz einer starken nichtkapitalistischen Alternative in Form des real existierenden Staatssozialismus waren wichtige Faktoren, die die Herausbildung dieses Systems wechselseitiger Verflechtung, Kontrolle und Stützung von Kapitalismus und Demokratie erleichterten. Obwohl dies vor allem in Nord- und Westeuropa die Phase einer besonderen Koexistenz von sozialem Kapitalismus und sozialer Demokratie markierte, blieb sie dennoch unvollkommen, spannungsreich, labil und von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Kapitalismus auch in Weltregionen hinein ausgeweitet, die ihm lange verschlossen waren. Kapitalistische Formen des Wirtschaftens haben beispielsweise in Süd- und in Südostasien, in China, seit den

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frühen neunziger Jahren auch in großen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion und im ehemals sowjetisch beherrschten Teil Europas Fuß gefasst. Der Kapitalismus erwies erneut seine grenzüberschreitende Expansionsenergie, die bereits Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ voraussahen. Damit bestätigte sich in dramatischer Weise, was schon die Geschichte des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts zeigte: Der Kapitalismus kann zwar nicht in allen politischen Systemen existieren, aber doch unter sehr unterschiedlichen politischen Regimen. Ob und wie lange eine Diktatur in der Lage ist, Konzessionen im Interesse von Wachstum, Wohlstandvermehrung und Machtzuwachs zu machen, ohne sich als Diktatur schrittweise aufzuheben, ist eine zentrale Frage, die auch im chinesischen Fall noch nicht beantwortet ist. Die modernisierungstheoretisch begründete Hoffnung, dass moderner Kapitalismus, offene Gesellschaft und irgendeine Form von Demokratie letztlich aufeinander angewiesen sind und deshalb langfristig nur gemeinsam florieren können, wird durch die jüngsten historischen Erfahrungen jedenfalls nicht bestätigt.

V.

Seit den siebziger Jahren hat sich der Kapitalismus nun in einer Weise verändert, dass seine Vereinbarkeit mit der Demokratie deutlich abgenommen hat. Dazu trugen die Wende zum „Neoliberalismus“ vor dem Hintergrund der Globalisierung und der rasante Aufstieg des Finanz- und Investorenkapitalismus entscheidend bei. Die „Große Rezession“ seit 2008 manifestierte und verschärfte die krisenhaften Elemente in dieser Entwicklung. Sie veränderte das Verhältnis von Wirtschaft und Staat erneut. Aus der Krise des Kapitalismus droht eine Krise der Demokratie zu werden. Seit den späten siebziger Jahren kam es zu gezielten Deregulierungs- und Privatisierungsschüben wie zu einem gewissen Rückbau sozialstaatlicher Leistungen. Die Stimmung schlug um: weg von Organisation und Solidarität als Leitwerten, hin zum Lob der Vielfalt und Individualität. Das anglo-amerikanische Modell des Finanzkapitalismus drohte den verschiedenen Varianten des stärker koordinierten Kapitalismus kontinentaler Prägung den Rang abzulaufen. Zu den Ursachen dieser Trendwende gehörten zweifellos Schwächen des bis dahin dominierenden Keynesianischen Wohlfahrtsstaat – man denke an die „Stagflation“ der siebziger Jahre –, aber auch technisch-organisatorische Innovationen im beginnenden IT-Zeitalter, vor allem aber die grenzüberschreitende Konkurrenz und weltweite Verflechtung, die mit der rasch voranschreitenden Globalisierung zunahmen. Die Globalisierung setzte das Modell des organisierten Kapitalismus unter erheblichen Druck, war es

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doch durchweg im nationalstaatlichen Rahmen entwickelt worden. Die Regulierungsfähigkeit starker Nationalstaaten sah sich nun dem scharfen Wind grenzüberschreitender Konkurrenz ausgesetzt. Globalisierung und Neoliberalisierung gingen Hand in Hand. Die Globalisierung des Kapitalismus wurde nicht von der Herstellung globaler staatlicher Strukturen begleitet, die ihm zähmend und regulierend hätten Paroli bieten können. Die Balance zwischen Markt und Staat verschob sich zu Ungunsten des Staates, und das heißt: der Demokratie.

Der Finanzkapitalismus übernimmt Finanzkapitalismus – als Inbegriff der Geschäfte, die nicht mit der Produktion und dem Tausch von Gütern, sondern vor allem mit Geld gemacht und von Wechslern, Maklern, Banken, Börsen, Investoren und Kapitalmärkten betrieben werden, – ist nicht neu, sondern bereits im frühneuzeitlichen Europa voll ausgebildet. Aber als Folge von Globalisierung, finanz- und währungspolitischer Deregulierung, partieller Deindustrialisierung in einigen westlichen Ländern kam es seit den siebziger Jahren zu einer exorbitanten Ausweitung des Finanzsektors, vor allem in England und den USA. Dort stieg sein Anteil am Gesamtprodukt von den fünfziger Jahren bis 2008 von zwei auf acht bis neun Prozent! Der grenzüberschreitende Kapitalverkehr schwoll immens an, von 4 Prozent des weltweiten Gesamtprodukts in den achtziger Jahren auf 20 Prozent im Jahr 2007. Ein großer Teil davon diente nicht Investitionen für produktive Zwecke, sondern der Spekulation. Es entstanden große Profite, denen keine Wertschöpfung entsprach. Selbst Industrieunternehmen wie Porsche verdienten zeitweise mehr über reine Finanzspekulationen als durch ihr Kerngeschäft, die Güterproduktion. Es stieg die Erwartung auf höchste Gewinne wie auch die Bereitschaft zum großen Risiko. Zunehmend dereguliert und sich selbst überlassen, mit neuen beschleunigenden Technologien und immer komplexeren Instrumenten ausgestattet, getrieben von harter Konkurrenz untereinander, erwies sich dieser Teil der kapitalistischen Wirtschaft als unfähig zur Entwicklung stabiler, allgemein verträglicher Geschäftsführungsregeln. An der Spitze der großen Produktions-, Handels- und Dienstleistungsunternehmen haben sich die Machtverhältnisse verschoben. Der shareholder value wurde zum fast allein regierenden Erfolgsmaßstab, die Unstetigkeit und Kurzatmigkeit der wirtschaftlichen Prozesse nahmen zu. Damit bröckelten zentrale Elemente der Koordinierung jenseits des Marktes (Staat, Verbände, Banken-Industrie), die den organisierten Kapitalismus stabilisiert hatten. Der meist spekulative Investorenkapitalismus löste

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in großen Bereichen den Managerkapitalismus ab. Für diese Transformation gilt, was der Investor George Soros schon 1998 erkannte: „Das Finanzkapital ist auf den Fahrersitz gesetzt worden.“ Seine Bedeutung für das gesamte wirtschaftliche System ist also weit bedeutender als es sein Anteil am BIP belegt. Sowohl im Eigentümer- wie im Managerkapitalismus bleibt das Profitstreben und die Investitionsfunktion eingebettet in andere Funktionen der Unternehmensleitung, in langfristige Erhaltungsstrategien, in Strategien des Umgangs mit Personal, in die Gestaltung sozialer Verhältnisse. Im neuen Finanz- und Investorenkapitalismus bleibt davon wenig übrig. Die Fondsdirektoren und Investmentbanker entscheiden gewissermaßen von außen über eine Vielzahl von Unternehmen, an die sie sonst kaum etwas bindet und von denen sie wenig wissen, ausgenommen standardisierte Kennzahlen und gewinnrelevante Marktsignale. Der shareholder value wurde zum primären, wenn nicht gar ausschließlichen Kriterium für Investitionsentscheidungen. Der neuen Verabsolutierung des Profits als des tendenziell einzigen Kriteriums zur Beurteilung von Unternehmenserfolgen entsprach die Überspitzung der finanziellen Bezüge (Gehalt, Boni, Shares) als Erfolgsbestätigung für Manager. Die innere Dynamik des Kapitalismus nimmt damit zu, seine Instabilität allerdings auch. Die Kluft zwischen individuellem Profitstreben und Allgemeinwohl wird riesengroß.

Die Ungleichheit steigt wieder So instabil und krisengefährdet dieser sich verändernde Kapitalismus auch ist, so sehr nimmt seine gesamtgesellschaftliche Prägekraft zu. Er ist die Haupttriebkraft hinter der in unseren Gesellschaften seit den siebziger Jahren wieder zunehmenden Ungleichheit der Einkommen und Vermögen, die von den astronomisch hohen Einkommen der Spitzenverdiener unter den wirtschaftlichen Akteuren spektakulär vorgeführt wird. Der immer marktradikalere, immer beweglichere, immer kurzatmigere Kapitalismus ist auch die wichtigste Triebkraft hinter der Deregulierung der Arbeitsmärkte, auf denen kurzzeitige, befristete und partielle Beschäftigungsverhältnisse an Verbreitung gewonnen haben. Kapitalistische Prinzipien drängen sich in viele Lebensbereiche hinein, aber auch die Kritik daran wird stärker. Wie hat sich die Transformation des koordinierten Industrie- zum deregulierten Finanzkapitalismus und die von diesem verursachte Finanzkrise auf die Demokratie ausgewirkt?

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VI.

Es zeigt sich, dass die Idee eines goldenen Zeitalters der Demokratie empirisch nicht haltbar ist. Ähnliches gilt auch für den Kapitalismus. Zwar ist die Phase der langanhaltenden Prosperität des Kapitalismus von 1950 bis zum Beginn der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ebenso ungewöhnlich wie beachtlich. Wenn von einer goldenen Ära in dieser Periode gesprochen werden kann, dann nicht vom Kapitalismus an sich, sondern von jener der „sozialen Marktwirtschaft“, also einer ganz besonderen „eingebetteten“ Form des „koordinierten oder organsierten Kapitalismus“. Kapitalismus und Demokratie waren wohl nie so komplementär wie in dieser historischen Phase. Die Entbindung von manchen dieser sozialen wie regulativen Einbettungen und sozialen Zumutungen durch die neoliberalen Deregulierungsjahrzehnte seit Ende der siebziger Jahre hat den Kapitalismus verändert, im anglo-amerikanischen Raum mehr als im „Rheinischen Kapitalismus“.

Neue Probleme für die Demokratie Der neoliberal ‚entfesselte‘ Finanzkapitalismus wirft erheblich mehr Probleme für das Funktionieren der rechtsstaatlichen Demokratien auf, als es der sozialstaatlich und keynesianisch koordinierte Kapitalismus der ersten Nachkriegsjahrzehnte tat. Mit der Zunahme der „Denationalisierung“ der Volkswirtschaften und der politischen Entscheidungsstrukturen sowie der anwachsenden sozioökonomischen Ungleichheit wurden gleich zwei fundamentale Prinzipien der Demokratie herausgefordert: zum einen, das demokratische Kernprinzip, dass die autoritativen politischen Entscheidungen nur von jenen zu treffen sind, die durch konstitutionelle Verfahren dazu legitimiert wurden; zum anderen das Prinzip der politischen Gleichheit, deren demokratische Aktivierung infolge der asymmetrischen sozioökonomischen Ressourcenverteilung unter den Bürgern sich zunehmend zu Lasten der unteren Schichten auswirkte. Die übergreifende Hypothese lautet: Alle Demokratien der OECD-Welt sind von diesen beiden Entwicklungen negativ betroffen. Je weiter aber die Denationalisierung fortgeschritten ist, je weiter der Kapitalismus seine soziale Einbettung verloren und sich zum (neo-)liberalen Finanzkapitalismus entwickelt hat, umso stärker lassen sich negative Auswirkungen auf die Qualität der Demokratie erkennen. Da dies nur für bestimmte, wenngleich wesentliche Bereiche der Demokratie gilt, sollen hier fünf zentrale Thesen diskutiert werden.

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1. Die wachsende sozioökonomische Ungleichheit führt zu asymmetrischer politischer Partizipation. In West- und noch viel stärker in Osteuropa geht die Wahlbeteiligung zurück. In Westeuropa gingen im Jahr 1975 noch durchschnittlich 85 Prozent, in 2012 nur noch 75 Prozent der Wahlberechtigten zu den nationalen Wahlen. In Osteuropa ist der Wählerrückgang dramatischer: von 72 Prozent im Jahr 1991 sank die Wahlbeteiligung 2012 auf 57 Prozent. Die durchschnittliche Beteiligung an den US-amerikanischen Kongresswahlen betrug in den letzten drei Jahrzehnten (1980-2012) durchschnittlich magere 45 Prozent. Allgemeine Wahlen, zu denen nur die Hälfte der Bürger gehen, sind problematisch, auch wenn es keine Demokratieformel für die perfekte Wahlbeteiligung gibt. Die Absenz von 50 Prozent des Souveräns beim wichtigsten Legitimationsakt der repräsentativen Demokratie gibt einen Hinweis darauf, wie (un-)wichtig die politische Beteiligung an der res publica für die Mehrheit der Bürger in den USA und in Osteuropa geworden ist. Aus empirischen Untersuchungen wissen wir, dass der bei weitem überwiegende Teil derer, die sich bei Wahlen enthalten, sich auch sonst nicht beteiligt. Bernard Manin hat das die „Zuschauerdemokratie“ genannt. Das eigentliche demokratietheoretische Problem ist jedoch nicht die Höhe der Wahlbeteiligung an sich, sondern die mit ihr einhergehende soziale Selektivität. Denn als empirisch gesicherte Faustregel kann gelten: Mit sinkender Wahlbeteiligung steigt die soziale Exklusion. Es sind die unteren Schichten, die aus der politischen Beteiligung aussteigen; die mittleren und oberen Schichten bleiben. In den USA haben bei den Präsidentschaftswahlen rund 80 Prozent jener Personen angegeben zu wählen, die über ein Haushaltseinkommen von 100.000 US-Dollar und mehr pro Jahr verfügen. Von den Bürgern, die nur über ein niedriges Haushaltseinkommen bis zu 15.000 US-Dollar verfügen, erklärt nur noch ein Drittel ihre Wahlabsicht.

Das untere Drittel wird marginalisiert Es gibt vermehrt Erkenntnisse, dass die amerikanische Krankheit der Unterschichtsexklusion auch die europäischen Wähler zunehmend ergreift. Betrachtet man die Wahlbeteiligung, sind die meisten Demokratien der OECD-Welt Zweidrittel-Demokratien geworden. Die Gründe für den Wählerrückgang sind vielfältig, aber teilweise liegen sie in der Zunahme der sozioökonomischen Ungleichheit und der Prekarisierung der unteren Schichten auf dem Arbeitsmarkt. Dazu kommen der Bedeutungsverlust von

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Volksparteien, Gewerkschaften und anderen großen kollektiven Organisationen, die für die politische Sozialisation und Repräsentation gerade des unteren Schichtungsdrittels der Gesellschaft im 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielten. Die Partizipation-Repräsentationslücke hat sich in nahezu allen OECD-Ländern im vergangenen Jahrzehnt weiter geöffnet. Wenn sich Angehörige der unteren Schichten aber seltener als andere Bevölkerungsgruppen an Wahlen beteiligen, dann hat dies erhebliche Konsequenzen für die Repräsentation ihrer Interessen. 2. Wahlen sind in Demokratien zunehmend unzureichend in der Lage, die wachsende sozioökonomische Ungleichheit zu stoppen. Nun könnte man im Sinne des economic voting argumentieren, dass all jene Wähler deren Einkommen unter dem Medianeinkommen liegt, für politische Parteien votieren, die für Umverteilung optieren. Damit hätte die Demokratie mit den Wahlen ein geniales Instrument, das grobe sozioökonomische Ungleichheiten verhindert. Warum hat dieser Mechanismus aber in den vergangenen Jahrzehnten versagt? Erstens: Die unteren Schichten bleiben zu weit größeren Anteilen den Wahlen fern als die mittleren und höheren Schichten. Stimmenmaximierende Parteien scheinen sie auch zunehmend als ein zu gewinnendes Wählerpotenzial aufgegeben zu haben. Wenn sozialdemokratische oder andere linke Volksparteien dennoch programmatisch die Interessenvertretung dieser Schichten betreiben, ist das mehr der Aufrechterhaltung des Images einer Partei der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ geschuldet als der gezielten Mobilisierung der politisch indifferent gewordenen Unterschichten.

Die wirksame Drohung des Kapitals Zweitens sind Wahlprogramme und reale Politik auseinander zu halten. Konservative und rechte Parteien haben aus ideologischen oder elektoralen Gründen wenige Motive, eine aktive Umverteilungspolitik von oben nach unten zu verfolgen. Weder entspricht es ihrer Programmatik noch ihrer Wahlklientel. Wenn linke Parteien an der Regierung gezielt eine Politik für die unteren Schichten – mehr Bildung, Mindestlohn, Aufrechterhaltung des Sozialstaats, stärkere Besteuerung der Reichen zur Vermehrung der Staatseinnahmen – durchsetzen wollen, werden sie mit den diskursiven oder realen Drohungen der Kapitalseite und der reicheren Schichten konfrontiert. Die Hauptdrohung lautet: Verschiebung von Kapital und Investitionen ins Ausland. Die Finanzialisierung des Kapitalismus und die leichtere Verlagerung von Finanzkapital über nationale Grenzen hinweg hat den demokratischen Staat ver-

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wundbarer gemacht. Damit eröffnet sich gerade für linke Parteien rasch ein Zielkonflikt. Machen die Investoren mit ihrer Investitionsverschiebung ernst, kostet dies Arbeitsplätze, bedeutet dies weniger Wachstum, weniger Staatseinnahmen, weniger Sozialinvestitionen und dann letztendlich weniger Wählerstimmen. In der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik haben viele sozialdemokratischen Parteien sich dem dominanten neoliberalen Globalisierungsdiskurs der vergangenen zwei Jahrzehnte gebeugt. Die Frage der Umverteilung verlor damit ihren wichtigsten Fürsprecher in der parteipolitischen Arena.

Die Demokratie gerät in Geiselhaft Drittens ist economic voting nicht die einzige Erklärung für Wahlverhalten. Sozioökonomische Konfliktlinien werden durch kulturelle Konfliktlinien durchschnitten. Insbesondere untere Schichten (vor allem Männer) sind überdies für autoritäre und ethnozentrische Politikangebote, die gleichzeitig eine neoliberale Wirtschaftspolitik vertreten, anfällig. Wo und soweit sie existierten, waren demokratische Wahlen in den ersten drei Vierteln des zwanzigsten Jahrhunderts die „paper stones“ – so bezeichnet Adam Przeworski in seinem gleichnamigen Buch die Wahlzettel – die die Arbeiterbewegung benutzte, um über die Wahl von linken Parteien den Kapitalismus sozial einzuhegen und den Ausbau des Wohlfahrtsstaats demokratisch zu erzwingen. Tatsächlich kam es in dieser langen Phase des sozialen Ausbaus auch zu einer Umverteilung von oben nach unten, insbesondere nach 1945. Der Trend wurde in den siebziger Jahren gestoppt und umgekehrt. Die paper stones verloren ihre Wirkung und scheinen heute Papiertiger im Hinblick auf die Umverteilung geworden zu sein. 3. Der Staat ist in Zeiten der Finanzialisierung des Kapitalismus verwundbarer geworden. Die Finanzialisierung des Kapitalismus hat die Verwundbarkeit des Staates gegenüber Banken, Hedgefonds und Großinvestoren größer und sichtbarer gemacht. Der Staat hat sich durch die Deregulierung der Finanzmärkte ein Stück weit selbst entmächtigt. Regierungen und Parteien, die bei Strafe ihrer Abwahl auf ökonomische Prosperität angewiesen sind, wurden zunehmend von den Entscheidungen der Großinvestoren und ihrer Kreditgeber abhängig. Dies wurde in der Finanz- und Währungskrise seit 2008 besonders sichtbar. Einerseits zeigte sich die Unfähigkeit des kapitalistischen Systems zur Stabilisierung aus eigener Kraft. Die Auftritte der um staatliche Hilfe bettelnden Großbanken

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sprachen den neoliberalen Lobpreisungen der vergangenen Jahrzehnte Hohn. Der finanzialisierte Kapitalismus der Gegenwart ist, das wurde schlagartig klar, unfähig zur Selbsterhaltung aus eigener Kraft. Vielmehr hängt sein Überleben von staatlichen Interventionen ab. Es ist in der Tat befremdlich, dass trotzdem soviel vom Neoliberalismus in Ideologie und Praxis bis heute überlebt. Andererseits zeigte die Krise mit nicht zu überbietender Offenheit auf, wie sehr auch der demokratische Staat vom mächtigen Finanzkapitalismus in Geißelhaft genommen worden ist. Denn auch und gerade die Regierungen demokratischer Staaten sprangen den vom Bankrott bedrohten Banken und Fonds mit Unsummen öffentlicher Gelder bei. Der Steuerzahler bezahlte die Zeche oder stand doch mit riesenhaften Bürgschaften gerade. Die trudelnden Banken galten als „too big to fail“, ihr Bankrott, so fürchtete man, würde angesichts vielfacher Verflechtungen tiefe soziale und politische Erschütterungen nach sich ziehen, die die Politik, auch in Erinnerung an die katastrophalen Folgen der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, um fast jeden Preis zu verhindern versuchte, zumindest in Europa.

Aus der Finanzkrise wird die Schuldenkrise Die Finanz- und Währungskrise seit 2008 hat offengelegt, dass ein tragender Grundpfeiler des kapitalistischen Systems nachhaltig zerbrochen ist, nämlich das Prinzip der notwendigen Zusammengehörigkeit von Entscheidung und Haftung. Was das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie betrifft, hat die Krise seit 2008 eine dramatische Veränderung gebracht. Die staatlichen Einflussmöglichkeiten hatten sich als zu schwach erwiesen, die Krise zu verhindern, doch die Schuld für die Krise lag eindeutig bei den finanzkapitalistischen Akteuren, die zur Steigerung ihrer Gewinne verantwortungslose Investitionen und Spekulationen auf sich genommen hatten. Die Verantwortung für die Folgen der Krise gingen gleichwohl von den kapitalistischen Akteuren auf den demokratischen Staat über. Indem dieser sie schulterte, bürdete er sich Lasten auf, von denen noch unklar ist, wie sie mittelfristig verarbeitet werden können. Mit der spektakulären Zunahme der öffentlichen Verschuldung wurde die kapitalistische Finanzkrise partiell in eine öffentliche Schuldenkrise umgewandelt, an deren Folgen nicht nur die einzelnen Staaten, sondern auch das Projekt der europäischen Integration seitdem leiden. Außerdem drängt der Umgang mit den Folgen der wirtschaftlichen Krise oft notgedrungen zu raschen, parlamentarisch nicht hinreichend diskutierten und damit demokratisch unzureichend legitimierten Entscheidungen, also zur Aushöhlung von Verfahren, die für das System

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der parlamentarischen Demokratie essentiell sind. Die Distanz zwischen Kapitalismus und Demokratie ist größer geworden. Die Lösung kann aber nicht in der Schaffung einer „marktkonformen Demokratie“ (Angela Merkel), sondern muss umgekehrt in der Sicherung eines demokratie-kompatiblen Kapitalismus bestehen – so schwierig das unter Bedingungen der weit fortgeschrittenen Transnationalisierung in der EU und darüber hinaus auch ist. 4. Der Finanzkapitalismus und die Globalisierung beschleunigen die Entparlamentarisierung politischer Entscheidungsprozesse zu Gunsten der Exekutive. Besonderheiten des Finanzkapitalismus in Zeiten der Globalisierung sind Digitalisierung, Geschwindigkeit, Volumen, Komplexität und die potentiell räumlich unbegrenzte Reichweite finanzieller Transaktionen. Parlamente aber sind in ihrer Zuständigkeit territorial begrenzt und benötigen Zeit für die Vorbereitung und Verabschiedung von Gesetzen. Finanzielle Transaktionen ungeheuren Ausmaßes bedürfen im digitalisierten computergestützten Finanzverkehr nur Bruchteile von Sekunden. Der amerikanische Politikwissenschaftler William Scheuermann spricht generell von einem „empire of speed“, und der deutsche Soziologe Hartmut Rosa nennt das die „Desynchronisierung“ von Politik und Wirtschaft.

Die Parlamente geraten ins Abseits Die Beschleunigung in Wirtschaft und Gesellschaft bevorzugt jene politischen Institutionen, die nicht deliberativ wie die Legislative oder Judikative agieren, sondern tendenziell dezisionistisch wie die Exekutive. Auch wenn es naiv wäre anzunehmen, dass irgendeine politische Entscheidung sich mit den Transaktionsgeschwindigkeiten der Finanzmärkte messen könnte, gibt es die Forderung nach Beschleunigung politischer Entscheidungen. Spätestens seit 2008 kann das im politischen Diskurs und in den Handlungen der europäischen Regierungen beobachtet werden. Hier wird ein besonderes Demokratie-Krisenparadox sichtbar: Einschneidende Krisenentscheidungen haben oft erhebliche wohlfahrts- und verteilungspolitische Konsequenzen. Typischerweise werden unter dem objektiven oder auch nur fahrlässig angenommenen Zeitdruck technokratisch-exekutive Entscheidungsmuster mit dünner Input-Legitimation getroffen. Es ist aber nicht nur die Geschwindigkeit, sondern vor allem auch die Entterritorialisierung von wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Entscheidungen in inter – und supranationalen Zusammenhängen in den Blick zu nehmen. Zwar ist die

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politische Supranationalisierung auch ein eigenständiger Prozess. Getrieben wurde er aber nicht zuletzt durch die wirtschaftliche Globalisierung. Die politische Globalisierung verlief zu Gunsten der nationalen Exekutiven und zu Lasten der territorial eingeschränkten Parlamente. Parlamente verlieren dabei Einfluss in zwei ihrer wichtigsten Bereiche: der parlamentarischen Gesetzgebung und der Kontrolle der Exekutive. In Extremfällen werden Parlamente dann zu bloßen Ratifikationsinstitutionen vorher getroffener Entscheidungen der Exekutive, die diese mit der Drohung der Alternativlosigkeit durch die Parlamente peitscht, wie dies in der Eurokrise geschehen ist.

Kommt die Umverteilung zurück? Auch die Komplexität der wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen spielt in die Hände der Exekutive. Sie verfügen über größere Stäbe, Expertengremien und können schneller externe Expertise mobilisieren. Der durchschnittliche Parlamentarier ist in der Regel mit den finanzpolitischen Materien und den Konsequenzen bestimmter Entscheidungen überfordert. Dies ist nicht neu. Aber dass dem Parlament schon jede zeitliche Möglichkeit genommen wird, sich zu informieren und zu debattieren, erscheint als eine neue Qualität exekutiver Dominanz. Die Geschwindigkeit, Komplexität und Denationalisierung wichtiger währungs-, finanz- und geldpolitischer Entscheidungen haben zu einer tendenziellen Entparlamentarisierung von politischen Entscheidungen geführt. Häufig ging es dabei weniger um die „Realwirtschaft“ als um die verselbständigten Transaktionen eines virtuellen Finanzkapitalismus mit Kasino-Charakter. Die Exekutive profitierte allerdings nur teilweise davon. Denn ein Teil der Entscheidungsmacht ist von den Exekutiven rasch weiter zu internationalen Expertengremien, Zentralbanken, Hedgefonds und globalen Finanzakteuren geflossen. Die Verschiebung der Kompetenzen erfolgt also vom Parlament auf die Exekutive und von dieser auf nicht-staatliche Akteure. 5. Die Erosion großer kollektiver Organisationen schwächt die unteren Schichten bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Warum aber, ist zu fragen, haben die Verlierer von Deregulierung und Globalisierung sich nicht mit ihren Assoziationsrechten gegen diese Entwicklung gestemmt? Die Entwicklung des neoliberalen Finanzkapitalismus schwächt die Gewerkschaften, also jene große Kollektivorganisation, die maßgeblich zu einer Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit in den sechziger und siebziger Jahren beigetragen hat. Die Gründe dafür sind häufig

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JÜRGEN KOCKA & WOLFGANG MERKEL | KAPITALISMUS UND DEMOKRATIE

dargelegt worden: Angestellte im stark angewachsenen privaten Dienstleistungsbereich lassen sich aufgrund ihrer heterogenen Interessenlagen, Lebens- und Bewusstseinsformen weit weniger erfolgreich gewerkschaftlich organisieren als Arbeiter in großen industriellen Produktionseinheiten. Die permanente Drohung vieler Unternehmen, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, und die auch dadurch politisch beschleunigte Deregulierung der Arbeitsmärkte schwächte die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Von liberalen und konservativen Parteien mit programmatischer Überzeugung betrieben, erfasste dieser Trend in den neunziger Jahren auch die großen sozialdemokratischen Arbeiterparteien. Auf der Suche nach den neuen Mittelschichten aus dem Dienstleistungsbereich gaben sie viele programmatische Positionen auf. Der Fokus verschob sich von ökonomischer Umverteilung auf kulturelle und postmaterielle Identitätsfragen: der Gleichberechtigung der Geschlechter, dem Ausbau ethnischer und sexueller Minderheitenrechte. Fokusgruppen waren nicht mehr primär die unter-, sondern die ökonomisch überprivilegierten bürgerlichen Schichten des liberalen Kosmopolitanismus. Gewerkschaften wurden als rückwärtsgewandt betrachtet, herausgefallen aus den Zeiten der Globalisierung und des Postmaterialismus. Während kulturelle Diskriminierungen (zurecht) als skandalös betrachtet wurden, galten die wachsenden sozioökonomischen Ungleichheiten als hinnehmbar. Der globalisierte Finanzkapitalismus erschien den konservativen und liberalen Parteien als wünschenswert und den sozialdemokratischen Parteien als national nicht mehr zu bändigen, es sei denn auf Kosten nationaler Wohlfahrtsverluste, die wiederum an den Wahlurnen bestraft würden. Dies beginnt sich erst in den letzten Jahren seit der Finanzkrise zu ändern – vielleicht. | PROF. DR. JÜRGEN KOCKA

ist Sozialhistoriker und emeritierter Professor der Freien Universität Berlin. PROF. DR. WOLFGANG MERKEL

ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin.

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MAGAZIN

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DAS STRASSENSCHILD

Kurt Mühlenhaupt 1921-2006

Ein pralles Leben Von Hannelore Mühlenhaupt

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chon bei der Geburt 1921 hatte das kleine Kurtchen seinen eigenen Kopf. Auf der Eisenbahnfahrt von Prag nach Berlin war er auf einmal da und machte sich dadurch bemerkbar, dass er furchtbar plärrte. Als Sonntagskind war er ein Leben lang ein glücklicher und zufriedener Mensch. Aus Geldmangel lebten die Eltern als einzige Dauerbewohner in einer Laubenkolonie in Tempelhof. Mit fünf Jahren beginnt er für seine Freunde Tiere zu malen. Das aufgeweckte Kind will Bildhauer werden, zu jener Zeit für einen Sprössling aus armen Verhältnissen ein völlig unrealistischer Wunsch. So beginnt er eine Lehre als Modelltischler, um sich Fähigkeiten für seinen Traumberuf anzueignen. Im Zweiten Weltkrieg wird er als Fallschirmjäger schwer verwundet, die linke Hand bleibt für immer steif, am Bein fehlt auch ein Stück. Bei den langen Lazarettaufenthalten aquarelliert er, um sich von den Schmerzen abzulenken. Er wird trotz seiner Verwundung wieder eingezogen, landet wegen Aufsässigkeit in einer Strafkompanie und wird bei Himmelfahrtkommandos verheizt. Die Familie überlebt das Kriegsende mit Hamsterfahrten und illegalem Tabakanbau. Kurt malt wann immer er kann und wird dabei von Karl Hofer auf den Rieselfeldern entdeckt. 1946 war an der Akademie der Stil zwischen Bauhaus und Expressionismus angesagt. Der Professor fragt Kurt Mühlenhaupt wie er sich verwirklichen will, aber der antwortet inhaltlich: „Ich will ein großer Maler der Liebe werden“. So wird er ein Menschenmaler, der mit viel Humor und Herzenswärme die kleinen Leute und ihr Milieu schildert. Er wird an der Akademie angenommen und beginnt ein Studium. Als er jedoch Meisterschüler bei Schmidt-Rottluff werden will, spricht dieser ihm jegliche künstlerische Begabung ab. Das Verdikt stürzt den jungen Maler in tiefe Depressionen. Es folgte ein langer Klinikaufenthalt in der Hufelandklinik in Berlin Buch. „Es sprach sich in der Anstalt herum. Die vielen Doktoren wollten alle ein Bildchen. Ich hatte vollends zu tun. Meine Krankenstube verwandelte sich in ein Atelier. Für die Ärzte war ich ein Rätsel. Nach drei Monaten Gekleckse sahen sie, dass ich wieder ganz gesund war.“ 1953 heiratet er Frieda Konrad. Ein Jahr später kommt die Tochter Christine zur Welt. Zum Lebensunterhalt züchtet Mühlenhaupt Mehlwürmer, Küken und Mäuse.

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Kurt Mühlenhaupt 1921-2006

Als die Stasi ihn unter Druck setzt, flieht die Familie nach West-Berlin. Der Neuanfang ist schwer. Nach Versuchen als Kartoffelschalenbimmler und Leierkastenmann eröffnet Kurt Mühlenhaupt in Kreuzberg eine Trödelhandlung. Schon bald finden dort berühmte Feste statt. Freundschaften mit Günter Grass, Wolfgang Schnell, Günter Anlauf und Günther Bruno Fuchs bringen neue Anregungen. Kunst für die kleinen Leute Sein Sohn Carol wird 1962 geboren. Für die Mutter Rosi Kendziora kauft er eine heruntergekommene Kaschemme in Kreuzberg, die sich schon bald zum angesagten Künstlerlokal „Leierkasten“ mausert. Mühlenhaupt organisiert Ausstellungen und Musik. Es finden legendäre Feste statt. Dürenmatt und Henry Miller schauen vorbei. Eine erste Einzelausstellung gibt es im Berliner Kunstkabinett. Bald darauf richtet er eine Druckwerkstatt ein. Sein Anliegen ist zutiefst demokratisch. Kurt Mühlenhaupt will gute und bezahlbare Kunst für „die kleinen Leute“ herstellen. Holzschnitte, Radierungen, Lithographien und Handpressenbücher entstehen. Der erste Berliner Bildermarkt findet vor seiner Trödelhandlung statt. Daraus entwickelt sich der Kreuzberger Kunstmarkt. Erster Erfolg stellt sich ein. „Bis 1960 war alles sehr ruhig. Aber dann auf einmal ging es los, ick glaube, sie brauchten ein Orginal. Von dem Tag an ließen sie mir nich mehr in Ruhe. Erst kamen die Leute von der Zeitung, dann vom Film und dann kamen se alle. Wat war bloß los? Ick malte doch nur meine Bilder, Männekin, Blumen, Automobile, nackte Weiber, alles in stiller Poesie“, beschrieb Mühlenhaupt diese Zeit. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland verbessern die finanzielle Situation. Allmählich kann er ausschließlich von seiner Kunst leben. Vom immerwährenden Fernweh getrieben, kann er nun endlich durch die Welt gondeln, verbringt Monate in Spanien, Italien und Frankreich. In Valoris schließt er Bekanntschaft mit Picasso. Zweimal in Kreuzberg „wegsaniert“, kauft sich Kurt Mühlenhaupt 1975 einen Bauernhof in Kladow. Dort baut er den großen Feuerwehrbrunnen für den Mariannenplatz, malt monumentale Stadtbilder für das ICC und entwirft Mosaiken für das Stadtbad im Wedding. 1980 findet in der Berliner Kunsthalle eine erste Retrospektive mit 475 Objekten statt. Es kommt zu Besucherrekorden. 1981 trifft er mit Hannelore Frisch die Liebe seines Lebens. Sie kaufen eine Quinta an der Algarve und leben abwechselnd in Berlin und Portugal. Auch dort ist er als Maler erfolgreich. Nach der Wende entdecken sie einen heruntergekommenen

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Kurt Mühlenhaupt 1921-2006

Gutshof in Bergsdorf. Die mühevolle Aufbauarbeit ist für die beiden ein neues Abenteuer. Es entstehen viele neue Bilder. Das alte Herrenhaus und das kleine Dorf in der Mark werden zur bleibenden Heimat. Mit der Vision vom eigenen Museum entsteht ein Kulturzentrum, das sein Publikum von weither anzieht. 1995 heiraten Kurt Mühlenhaupt und Hannelore Frisch. Seine letzten Lebensjahre sind von Krankheiten gezeichnet. Alte Kriegsverletzungen brechen wieder auf. Sich gegen die Qualen wehrend, beginnt er seine Biografie zu schreiben. Das nachlassende Augenlicht macht ihm zu schaffen. Fast erblindet, malt der Meister mit Hilfe einer Assistentin unermüdlich weiter und bleibt trotz seiner Gebrechen ein glücklicher Mensch. Er stirbt am Ostermorgen 2006 in seinem Haus in Bergsdorf. Ein Maler der Liebe ist er bis zum Schluss geblieben. Sein Publikum, das vor allem in den Sommermonaten zahlreich nach Bergsdorf pilgerte, gab ihm die Liebe reichlich zurück. | HANNELORE MÜHLENHAUPT

ist Kurt Mühlenhaupts zweite Ehefrau.

Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen.

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SCHWERPUNKT | INTELLIGENT WIRTSCHAFTEN

SICHER, BEZAHLBAR UND EUROPÄISCH Wie die Energiewende zum Erfolg werden kann — Von Dietmar Woidke

I.

Wir in Brandenburg blicken zurück auf schwierige Aufbaujahre, die für sehr viele Menschen geprägt waren durch Hoffnungslosigkeit und fehlende Perspektiven. Mittlerweile liegt diese Zeit hinter uns. Die Arbeitslosigkeit im Land hat sich mehr als halbiert, viele Tausende neuer Arbeitsplätze sind entstanden. Brandenburg 2014, das ist ein erfolgreiches Land mit Lebensqualität und Lebenschancen für mehr Menschen als jemals zuvor. Energie betrifft uns alle Die Aufgabe der nächsten Jahre ist es, das Erreichte zu bewahren und zukünftig noch mehr Menschen ein gutes und sicheres Leben in unserem Land zu ermöglichen. Das Fundament jeder positiven Entwicklung unseres Landes bleibt eine positive Wirtschaftsentwicklung. Es gilt die Faustregel: Ohne wettbewerbsfähige Wirtschaft keine Arbeit, keine Wertschöpfung, kein Wohlstand, kein tatkräftiger Sozialstaat, keine Per-

spektiven für unsere Kinder und Enkel. Es geht darum, die ökonomische Basis unseres Landes mit Augenmaß, Vernunft und Verantwortung weiter zu stärken.

II.

Genau hier kommen nun Energie und Energiepolitik ins Spiel. Ohne Energie gibt es keine Ökonomie. Energiepolitik ist daher immer zugleich Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Wie sich unser Land weiter entwickeln wird, hängt entscheidend davon ab, welchen energiepolitischen Kurs wir heute einschlagen. Darum kommt der Energiewende eine absolute Schlüsselstellung zu: Stellen wir die Weichen richtig, dann sichern wir auf lange Zeit hinaus die Grundlagen unseres Gemeinwesens. Stellen wir die Weichen aber grundlegend falsch, dann werden wir unter den Folgen unserer Irrtümer noch in Jahrzehnten zu leiden haben. Konkret: Entscheiden wir uns heute für eine Form von Energiewende, die die Kosten industrieller Wertschöpfung hier

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bei uns im Land unverantwortlich in die Höhe treibt und damit Arbeitsplätze und sozialen Frieden gefährdet, dann leisten wir für die Akzeptanz von Umwelt- und Klimaschutz ganz sicher keinen Beitrag. Deshalb war und ist die aktuelle Diskussion über die Novelle des ErneuerbareEnergien-Gesetzes mehr als eine Debatte unter Fachleuten. Sie betrifft uns alle. Sie betrifft im Kern die Zukunft unseres Landes. Brennglas Brandenburg Brandenburg hat großes Interesse daran, dass die Energiewende gelingt. Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie muss unumkehrbar sein. Den erneuerbaren Energien gehört die Zukunft. Zu diesem Ziel hat sich Brandenburg bereits mit seiner Energiestrategie 2030 bekannt. Wir in Brandenburg wissen sehr genau, was daraus konkret folgt. Wir sind dasjenige Land in Deutschland, das inzwischen die größten Erfahrungen darin besitzt, wie Energiewende geht: Welche Vorteile damit verbunden sind. Welche Rückschläge man erleiden kann. Aber auch: Welche Konflikte man auf diesem Weg austragen und aushalten muss. Hier bei uns in Brandenburg läuft die bundesdeutsche Energiewende mit all ihren Zielkonflikten wie unter einem Brennglas ab:

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> Wir sind das Bundesland, das dreimal hintereinander den „Leitstern Erneuerbare Energien“ erhalten hat. > Wir sind zugleich ein Bundesland, in dem – quer durch die Uckermark – 380 KV-Leitungen neu gebaut werden müssen. > Wir sind ein Bundesland, in dem die Braunkohle tiefe Eingriffe in das Leben der Menschen nach sich zieht und Kohlekraftwerke jährlich Millionen Tonnen Kohlendioxid ausstoßen. > Wir sind aber zugleich ein Bundesland, in dem eben diese Braunkohle maßgeblich zur Sicherheit und Bezahlbarkeit der deutschen Energieversorgung beiträgt und tausende von Arbeitsplätzen sichert.

III.

Mit unseren Erfahrungen sind wir manchen anderen voraus. In Brandenburg gab es bis Ende 2012 bereits 3.135 Windkraftanlagen. 2013 sind weitere 79 hinzugekommen. In Baden-Württemberg waren bis Ende 2012 gerade einmal 382 Windkraftanlagen installiert. Und 2013 sind dort neun (!) neue hinzugekommen. Eine der wichtigsten Erfahrungen, die wir gemacht haben, lautet: Energiewende geht nur mit den Menschen. Nicht ohne sie und nicht gegen sie. Ohne gesellschaftliche Akzeptanz gibt es keine Energiewende. Das heißt natürlich zunächst mal: Reden! Reden! Reden! Wer den Sinn der Energiewende, die mit ihr


DIETMAR WOIDKE | SICHER, BEZAHLBAR UND EUROPÄISCH

verbundenen Entscheidungen und Belastungen nicht nachvollziehen kann, der wird die Energiewende auch nicht bereitwillig mittragen. Was aber auch klar ist: Wie viel Akzeptanz die Energiewende findet, das hängt auch von den Kosten ab, die jeder und jede Einzelne tragen muss – ob als privater Haushalt oder als Unternehmen. In dieser Debatte brauchen wir erstens dringend mehr Ehrlichkeit. Und zweitens müssen wir unbedingt Maßnahmen verabreden, die mindestens zu einer Dämpfung des Kostenanstiegs beitragen. Denn in der Tat: Die Kosten sind inzwischen immens hoch. Allein über die EEG-Umlage werden pro Jahr etwa 20 Milliarden Euro bewegt. Da die garantierten Zahlungen für 20 Jahre gelten, kann man sich leicht das ungefähre Gesamtvolumen ausrechnen. Wer bezahlt die Energiewende? Als Ministerpräsident einer Landesregierung, die mit Nachdruck für soziale Gerechtigkeit und Fairness steht, weise ich ständig auf noch eine weitere Frage hin: Wer eigentlich muss die Summen für die EEG-Umlage aufbringen? Und wohin fließen diese Mittel? Tatsächlich ist mit dem bisherigen EEG auch eine beispiellose soziale Umverteilung von unten nach oben verbunden. Oder glaubt jemand, es wären vor allem Arbeiter und kleine Angestellte,

Rentner und Hartz-IV-Empfänger, die einträglich in Solarkraftwerke und große Windparks investieren? Die unbequeme Wahrheit lautet: Alle diese Menschen finanzieren über ihre Stromrechnung die Gewinne von Leuten mit, die sich Solardächer leisten können. Die Steuerung fehlt Brandenburg steht aber vor allem auch für Vernunft, Verantwortung und Augenmaß. Darum sind verbindliche Ausbaupfade für die erneuerbaren Energien noch aus einem weiteren Grund richtig. Es ergibt schlicht keinen Sinn, ungebremst weiter Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energie zu bauen und sich daran zu berauschen, dass inzwischen knapp 40 Prozent der installierten Leistung zur Stromerzeugung auf Wind- und Solaranlagen entfallen. Der Anteil dieser Anlagen an der tatsächlichen Stromerzeugung beträgt nämlich gerade einmal 14 Prozent. Und bei diesen rechnerischen 14 Prozent muss berücksichtigt werden, dass Solaranlagen bekanntermaßen nachts gar keinen Strom produzieren, dass es also stundenlange Zeiträume gibt, in denen der Beitrag der Solaranlagen genau 0 Prozent beträgt. Ähnliches gilt für Windkraftanlagen, die ja nur dann Strom liefern, wenn der Wind weht. Bei Dunkelheit und Windstille müssen also andere Anlagen einspringen.

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Entscheidend ist deshalb, dass wir uns in Deutschland viel stärker als bisher damit beschäftigen, wie wir die Erneuerbaren in das bestehende System integrieren können. Das Anreizsystem darf nicht mehr allein auf weiteren Zubau ausgerichtet sein, sondern muss endlich dahin steuern, dass die Erneuerbaren zunehmend verlässlich Energie liefern. Das bedeutet: Wenn die Energiewende gelingen soll, dann müssen die regenerativen Energien grundlastfähig werden. Dafür brauchen wir gut ausgebaute und klug geplante Netze. Dafür brauchen wir vor allem aber auch Technologien, mit denen sich der aus Wind oder Sonne gewonnene Strom speichern lässt. Ohne Speicher geht es nicht Wenn es nämlich mit der Grundlastfähigkeit von Sonnen- und Windenergie nicht klappt, dann werden wir auf alle Zeiten einen parallelen konventionellen Kraftwerkspark brauchen und finanzieren müssen, der immer dann einspringt, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Von diesen technischen Möglichkeiten sind wir aber noch meilenweit entfernt. Matthias Kurth, der ehemalige Chef der Bundesnetzagentur, hat das Problem präzise auf den Punkt gebracht: „Viele denken bei Debatten um Spei-

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cherlösungen, dass manches, was vielleicht in 40 Jahren geht, bei gutem Willen schon am Freitag nächster Woche funktionieren könnte. … Wenn unsere derzeitigen Speicher das Volumen eines Wasserglases haben, würden wir die Wassermenge des Bodensees benötigen, um daraus eine dauerhafte Stromversorgung über mehrere Wochen garantieren zu können, wenn Windstille herrscht und keine Sonne scheint.“ Die Fragen der Systemintegration und Speicherfähigkeit sind schlichtweg entscheidend für Erfolg oder Scheitern der Energiewende.

IV.

Ein weiterer zentraler Punkt für das Gelingen der Energiewende wird der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie sein. In den vergangenen Monaten habe ich eine Vielzahl Brandenburger Unternehmen besucht: Arcelor Mittal in Eisenhüttenstadt, MTU und Mercedes in Ludwigsfelde, Rolls-Royce in Dahlewitz, aber auch LEIPA in Schwedt, die Möbelwerke in Meyenburg und die Märkische Faser in Premnitz. Bei allen Besuchen war die Sorge um die Entwicklung der Energiepreise ein zentrales Thema. Wenn die Kosten der Energiewende weiter steigen, dann verhindern sie kurzfristig Investitionen und stellen langfristig unsere Wettbewerbsfähigkeit in Frage. Im Klartext: Gefährdet sind dann Standorte, Arbeitsplätze und der soziale


DIETMAR WOIDKE | SICHER, BEZAHLBAR UND EUROPÄISCH

Frieden – auch bei uns in Brandenburg. Das dürfen wir nicht zulassen. Deshalb brauchen wir auch europarechtskonforme Ausgleichsregelungen für unsere Industrie. Ich hatte bei der Diskussion der vergangenen Wochen allerdings den Eindruck, dass bei den Ausgleichsregelung nicht alle immer mit offenen Karten gespielt haben. Da behaupteten etwa die Grünen monatelang, Golfplätze wären von der EEG-Umlage befreit. Völliger Unsinn, wie ein Blick in die Liste der befreiten Unternehmen zeigt. Oder es wurde behauptet, der Strompreis könne fast dramatisch sinken, wenn die Industrie keine Erleichterungen mehr erhält. Richtig ist, dass der Wegfall aller Erleichterungen ganze 1,5 Cent Reduzierung bei der EEG-Umlage nach sich ziehen würde. Bei einem durchschnittlichen Strompreis von derzeit 29 Cent pro Kilowattstunde, sind die Reduzierungen also sehr überschaubar. Industrie braucht Unterstützung Zum anderen: Welche Unternehmen würde das denn betreffen? Und wollen wir deren Wettbewerbsfähigkeit wirklich schwächen? Wo wollen wir anfangen? Bei CEMEX in Rüdersdorf, bei der Holzbearbeitung Bralitz in Bad Freienwalde oder doch lieber bei Verbio oder LEIPA in Schwedt?

Worauf ich hinaus will: Der ganz überwiegende Teil der befreiten Unternehmen steht völlig zu Recht auf der Liste und es ist ein politischer Erfolg, dass dies auch in Zukunft weitgehend so bleiben wird. Unser Maßstab war und ist der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und damit auch der Erhalt gut bezahlter Arbeitsplätze in Brandenburg.

V.

Die Energiewende wird nur dann funktionieren, wenn sie europäisch gedacht und europäisch gemacht wird. Die besten Solarstandorte liegen nun einmal im Süden. Und Windkraftanlagen lassen sich auch nicht überall gleich wirtschaftlich betreiben. Schon heute hätte Brandenburg ohne den Umweg über Polen und Tschechien große Probleme, den Windstrom aus der Uckermark abzuleiten. Wir schaffen es also nur gemeinsam. Und das gilt erst recht für uns in Deutschland. Denn im Moment schaffen wir es scheinbar nicht einmal in unserer föderalen Republik, enge Länderinteressen zurückzustellen und an das gemeinsame Ganze zu denken. Bayern ist da ein besonderes Beispiel. Da geht es etwa um die geplante Stromtrasse zwischen Bad Lauchstädt und Meitingen, die vor allem Windstrom aus Ostdeutschland nach Westdeutschland transportieren soll. Dieser so genannte Korridor D ist Bestandteil der Bundes-

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netzplanung, so wie diese – mit Zustimmung Bayerns – beschlossen wurde. Dann aber erklärt plötzlich der bayerische Ministerpräsident, den Netzausbau wolle er nun nicht mehr. Horst Seehofers Begründung: Er wünsche in Bayern keinen Braunkohlestrom. Richtig ist: Der Korridor D wird gebraucht um Windstrom abzuleiten und durch den Einsatz ostdeutscher Braunkohlekraftwerke auch in Bayern Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Wenn Korridor D nicht kommt, dann müssen nach Abschaltung der verbleibenden Atomkraftwerke in Bayern zwingend neue konventionelle Kraftwerke zugebaut werden. Heimische Energieträger erhalten Und genau das will Herr Seehofer: Neue Gaskraftwerke, finanziert aus öffentlichen Mitteln oder über die Netzumlage gefördert und mit Abnahmegarantie für mindestens 20 Jahre. Den Nutzen davon hätte allein Bayern. Bezahlen sollen das aber alle Verbraucher in Deutschland. Und in die Röhre gucken würden alle, die in Nord- und Ostdeutschland erneuerbare Energie produzieren. Doch so wird es nichts mit der Energiewende in Deutschland! Damit mit Blick auf die Gaskraftwerke kein falscher Eindruck entsteht: Natürlich müssen wir uns Gedanken machen, wie Versorgungssicherheit gewährleistet werden kann, wenn alle

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Kernkraftwerke abgeschaltet sein werden. Genau dafür brauchen wir stärker europäische Lösungen. Dass wir Kraftwerke brauchen, die flexibel und umweltverträglich sind, ist Allgemeingut. Ob dies aber immer Gaskraftwerke sein müssen, daran habe ich meine Zweifel. Mehr Gaskraftwerke bedeuten größere Importabhängigkeit. Wir sehen gegenwärtig mit Blick auf Russland und die Ukraine, dass Importabhängigkeit durchaus Probleme bedeuten kann. Vor allem dann, wenn die Abhängigkeit zu Erpressbarkeit führt. Wir in Deutschland dürfen nicht in eine Lage geraten, in der wir uns nicht mehr selbst helfen können. Es zeugt also nicht von strategischer Weitsicht, unseren heimischen Energieträger Braunkohle für obsolet zu erklären. Natürlich sind die Eingriffe der Tagebaue in Landschaften und Lebensräume immens. Natürlich ist der Schadstoffausstoß gerade älterer Kraftwerke zu hoch. Mit Vernunft und Verantwortung Zugleich aber ist die Braunkohle bis auf weiteres der einzige grundlastfähige Energieträger, den wir in Deutschland in großen Reserven besitzen. Hier – und nur hier – sind wir unabhängig von Weltmarktpreisen oder geopolitischen Großwetterlagen. Deshalb warne ich davor, die Verstromung der Braunkohle als vorgestrig zu


DIETMAR WOIDKE | SICHER, BEZAHLBAR UND EUROPÄISCH

verdammen. Es könnte sein, dass sich der Abschied von der Braunkohle volkswirtschaftlich und gesellschaftlich als teurer Irrweg erweisen würde. Dieses Risiko können wir nicht eingehen. Den Erfolg der Energiewende werden wir erleben, wenn diese mit Vernunft, Augenmaß und Verantwortung vorangetrieben wird, wenn wir Systemintegration und Speicherfähigkeiten stärker betonen und wenn wir kleinteilige Länderinteressen zurückstellen und Energiepolitik europäisch denken.| DR. DIETMAR WOIDKE

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD.

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DETLEF WETZEL | MEHR INVESTITIONEN FÜR MEHR WOHLSTAND

MEHR INVESTITIONEN FÜR MEHR WOHLSTAND Wie die Industriepolitik der Zukunft aussehen muss — Von Detlef Wetzel etztes Jahr meldete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, dass Deutschland zwar hervorragend durch die Krise gekommen sei, im europäischen Vergleich dennoch relativ schlecht dastehe. Denn seit 1999 habe Deutschland im Vergleich zum Euroraum ein niedrigeres Wirtschaftswachstum erzielt. Die Reallöhne seien seitdem kaum gestiegen und die Konsumausgaben legten schwächer zu als im Eurozonendurchschnitt. Laut DIW bestehe daher kein Grund für die öffentlich zur Schau getragene Euphorie und Selbstbeweihräucherung deutscher Politiker. Die EU-Kommission kritisiert Deutschlands Wirtschaftspolitik ebenfalls: Deutschland solle von seiner Kürzungspolitik abkehren und seine Binnennachfrage stärken, um Europa aus seiner aktuellen Wirtschaftskrise herauszuhelfen. Deutschlands Handelsüberschüsse seien, so die Kommission weiter, eine Ursache für die Krise in Europa. Denn einerseits profitiere

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Deutschland von seinen hohen Exporten, biete aber andererseits mit seiner relativ schwachen Binnennachfrage anderen Ländern zu wenig Absatzchancen. Beide Argumentationslinien sind nicht von der Hand zu weisen. Was kann also getan werden, dass Deutschland die selbst gewählte, und selbst und anderen verordnete Kürzungspolitik aufgibt? Die IG Metall hat hierzu einen Lösungsansatz entwickelt. Investitionen sind kein Selbstzweck Deutschlands Investitionsquote ist in den letzten 20 Jahren drastisch zurückgegangen, im internationalen Vergleich gering und weiter im Sinken begriffen. In den letzten 15 Jahren hat sich eine Investitionslücke von drei Prozent des aktuellen Bruttoinlandsproduktes (BIP) gebildet. Kumuliert entspricht dies etwa einer Billion Euro, also mehr als 40 Prozent des heutigen BIP. Das Schließen dieser Investitionslücke würde laut DIW zu einer erheblichen

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Steigerung des Wirtschaftswachstums führen. Fiskalischer Spielraum für die dringend benötigten Investitionen ist vorhanden, weisen doch die öffentlichen Haushalte bereits wieder leichte Überschüsse auf. Aber vielen Politikern scheint ein kurzfristig ausgeglichener Haushalt wichtiger als Investitionen, die dazu beitragen, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sicherzustellen. Mehr Wachstum durch mehr Investitionen ist kein Selbstzweck. Mehr Investitionen heißt in der Regel auch mehr Beschäftigung, mehr Einkommen und damit auch mehr Steuereinnahmen. Diese können dann wiederum zum Schuldenabbau verwendet werden – aber eben auch die Binnennachfrage stärken. In der mittel- bis langfristigen Perspektive hieße das: Trotz Schuldenabbau mehr Wohlstand für viele, und nicht weniger! Drei wichtige Signale Durch mehr Investitionen würden deutsche Politiker drei wichtige Signale aussenden: Erstens, dass sie begriffen haben, dass der bisherige Weg, sich aus der Krise „herauszusparen“ gescheitert ist und damit zweitens, dass sie gewillt sind, die drastische Kürzungspolitik in Deutschland aufzugeben, die sie nicht nur sich selbst verordnet, sondern insbesondere den Krisenstaaten mit aufgezwungen haben. Und drittens, dass sie

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dazu beitragen wollen, die Krisenfolgen in Europa solidarisch zu mildern. Denn höhere Investitionen können auch dazu beitragen, Deutschlands Importe zu steigern und damit die Absatzchancen anderer Länder in Deutschland zu verbessern. Letzteres könnte dazu beitragen, Deutschlands Exportüberschüsse durch ein stärkeres Importwachstum zu verringern und damit eine wichtige Krisenursache zu entschärfen. Ein solcher dringend notwendiger Politikwechsel, gerade von einem wirtschaftlich so bedeutenden Land wie Deutschland, wäre eine angemessene Reaktion auf die berechtigte Kritik der EU-Kommission. Ein neuer Marshall-Plan Die aktuell günstigen Finanzierungsbedingungen würden die Abkehr vom „Sparen bis es quietscht“ (Wowereit) erheblich erleichtern. Denn neben der schlichten Notwendigkeit für mehr Investitionen vor allem im öffentlichen Bereich, sind es die zurzeit äußert niedrigen Zinssätze, die das Einschwenken auf einen nachhaltigen Wachstumspfad leichter finanzierbar machen. Allerdings, die im deutschen Grundgesetz verankerte Schuldenbremse setzt deutschen Politikern hier unnötig enge, selbst auferlegte Grenzen. Denn was hilft es, wenn die Europäische Zentralbank die Zinsen senkt, die Geldpolitik also die Investitionsbedingungen ver-


DETLEF WETZEL | MEHR INVESTITIONEN FÜR MEHR WOHLSTAND

bessert und die Fiskalpolitik dagegen auf die Bremse tritt? Weil man in der kurzen bis mittleren Frist wohl kaum um die Schuldenbremse in Deutschland und Europa herumkommt, beschreitet der DGB einen alternativen Weg zum „Wiederaufbau Europas“ auf schuldenbasierter Finanzierung. Auf europäischer Ebene könnte der vom DGB entwickelte „neue Marshall-Plan für Europa“ zur Kehrtwende aus der Krise beitragen. Er ist ein auf zehn Jahre angelegtes Investitions- und Aufbauprogramm für 27 EU-Länder. Das Konzept sieht zusätzliche Investitionen in Höhe von jährlich (!) 260 Milliarden Euro vor. Ein Großteil davon, 150 Milliarden, soll in die europäische Energiewende investiert werden. Das Konzept basiert auf einer soliden Berechnung. Finanziert werden soll der „neue Marshall-Plan“ über eine einmalige Vermögensabgabe und die Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer. Darüber hinaus kollidiert er nicht mit den Vorschlägen des DIW, das insbesondere in den Bereichen Energie(wende) und energetische Sanierung, Verkehrsinfrastruktur und Bildung erheblichen Investitionsbedarf sieht. Unterschiede in Ost und West Auch die wirtschaftlich unterschiedliche Entwicklung von Ost- und Westdeutschland ist das Ergebnis einer unterschied-

lichen Investitionsintensität. Einzelne Bundesländer bzw. Regionen investieren äußerst unterdurchschnittlich in ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und damit in ihre Zukunft. Ein Blick in die volkswirtschaftlichen Statistiken bestätigt das schnell. Brandenburg schlägt sich nicht schlecht Fast ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten erscheint es regelrecht anachronistisch, die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland nach „Ost“ und „West“ getrennt zu beobachten. Doch dafür gibt es leider allen Grund: Deutschlands Investitionsschwäche zeigt sich in den geringen Zuwächsen der Bruttoanlageinvestitionen. 2011 gegenüber 1991 nahmen sie gerade einmal um 22 Prozent zu. Das entspricht einem jahresdurchschnittlichen Zuwachs von lediglich gut einem Prozent. Betrachtet man die Investitionsentwicklung nach alten und neuen Bundesländern getrennt, wird das Bild noch dramatischer. Legten die Bruttoanlageinvestitionen im Westen in diesen 20 Jahren um fast 25 Prozent zu, waren es im Osten nur gut 13 Prozent, also gerade etwas mehr als die Hälfte des Zuwachses im Westen. Brandenburg schlug sich in dieser Zeit zwar nicht schlecht, aber dennoch unterdurchschnittlich. Hier betrug der Zuwachs gut 20 Prozent. Trotz dieser

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Steigerung erreichte Brandenburg 2011 gerade mal das Investitionsniveau von Westdeutschland zu Beginn der neunziger Jahre. Keine gute Voraussetzung für die dringend notwendige, nachholende Entwicklung Ostdeutschlands. Wie sollen so die Zukunftsfähigkeit dieses Bundeslandes bzw. von Ostdeutschland insgesamt gesichert werden, wenn bereits bei den Investitionen so wenig passiert? Kein gutes Signal Betrachtet man die Entwicklung der Bruttoanlageinvestitionen differenziert nach ihren zwei Hauptkomponenten, wird eine weitere interessante Entwicklung deutlich: Die beiden wesentlichen Teilgruppen der Anlageinvestitionen, also Ausrüstungen (Maschinen etc.) und Bauten, haben sich in diesem Zeitraum unterschiedlich entwickelt. Während von 1991 bis 2011 in Westdeutschland 51 Prozent mehr in Ausrüstungen investiert wurde, waren es im Osten 56 Prozent, deutschlandweit 53 Prozent. Das heißt, Ostdeutschland hat seinen Maschinenpark kräftiger modernisiert als Westdeutschland. Nun kann man sagen, das sei ja auch dringend nötig gewesen. Es war und ist ja kein Geheimnis, dass der Maschinenbestand in Ostdeutschland einen besonders dringenden Modernisierungsbedarf hatte. Wenn das aber der Fall war, warum hat dann Brandenburg von

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1991 bis 2011 seine Ausrüstungsinvestitionen mit 43 Prozent nur unterdurchschnittlich gesteigert? Bei den Bauinvestitionen, der zweiten wichtigen Komponente der Anlageinvestitionen, wurde in den Jahren 1991 bis 2011 im Osten deinvestiert, sie gingen um acht Prozent im gesamten Zeitraum zurück. Das mag auch mit der Bevölkerungsabwanderung zu tun haben, ist aber dennoch kein gutes Signal für Investoren und eventuelle Zuwanderer aus Deutschland bzw. dem Ausland. Im Westen hingegen legten die Bauinvestitionen um immerhin fünf Prozent zu. Daraus ergab sich ein bundesdurchschnittlicher Zuwachs von ein Prozent. Brandenburg investierte gegen den Trend und steigerte seine Bauinvestitionen um elf Prozent. Das ist im direkten Vergleich zwar relativ viel und kann als ein Erfolg brandenburgischer Politik interpretiert werden. Für einen Zeitraum von 20 Jahren ist es dennoch relativ wenig. Spätere Generationen werden belastet Mittlerweile setzt sich in der Politik zwar die Erkenntnis durch, dass zu wenig investiert wird. Gleichzeitig aber wird weiterhin die Kürzungspolitik aggressiv propagiert und praktiziert. Das zeigt sich zum Beispiel an der Vehemenz, mit der für die sogenannte Schuldenbremse in Deutschland und Europa


DETLEF WETZEL | MEHR INVESTITIONEN FÜR MEHR WOHLSTAND

geworben wurde. Kürzungen bei den öffentlichen Aufgaben werden, ideologisch verklärt, als „Sparen“ bezeichnet, womöglich noch mit dem zynischen Hinweis auf das Wohl künftiger Generationen. Dass unsere Kinder und Kindeskinder einmal marodes, heruntergewirtschaftetes öffentliches Eigentum erben werden, dass die heutige Kürzungspolitik spätere Generationen ungleich stärker belasten wird, das alles wird geflissentlich verschwiegen. Unter Umständen dient das Verwahrloste dann noch als scheinbarer Beweis, dass die Privaten alles besser können als der Staat, man sehe ja ein, dass das alles nicht mehr finanzierbar ist. ÖPP bringt nichts Da passt dann ein Bundesfinanzminister genau ins Bild, der behauptet: „Investition muss nicht Staatssache sein“. Und das, obwohl soeben der Bundesrechnungshof festgestellt hat, dass fast alle Autobahnen, die in einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) gebaut wurden, deutlich teurer wurden, als in der rein öffentlichen, konventionellen Erstellung. Diese Mehrkosten belasten die Haushalte anstatt sie zu entlasten, wie dies bislang von den ÖPP-Befürwortern behauptet wird. Mit dieser von der Realität längst überholten Überzeugung ist daher keine Kehrtwende beim Investitionsdefizit zu erwarten. Es gilt für

eine neue und bessere Politik zu streiten, die zukunftsorientierter argumentiert und handelt. Die Demografie schlägt zu Das Thema demografischer Wandel und Fachkräftebedarf schlägt in Ostdeutschland schon seit einigen Jahren auf und wird als massives Problem für die weitere industrielle Entwicklung gesehen. Das Thema Fachkräftebedarf wird in zwei Richtungen diskutiert: > Immer noch wandern viele Beschäftigte aus Ostdeutschland ab, um in Bayern, Baden-Württemberg oder Hessen mehr zu verdienen und bessere Arbeitsbedingungen vorzufinden. Ostdeutschland gilt noch immer als Niedriglohnland, das zwar in wichtigen Bereichen industrielle Strukturen erhalten und weiterentwickeln konnte, aber wenig attraktive Arbeitsbedingungen vorweist. > Die größten Probleme kommen jedoch erst noch. Die Altersstruktur wandelt sich rapide. Da die starken Nachkriegsjahrgänge bald in Rente gehen, viele Jüngere abwandern und die Geburtenrate niedrig ist, wird sich die Nachfrage nach Fachkräften künftig noch verschärfen. Mit dem überproportionalen Wegzug von jungen ausgebildeten Personen ver-

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liert Ostdeutschland wichtige Entwicklungspotenziale. Die neue Herausforderung eines nicht nur demografie-, sondern auch arbeitspolitisch bedingten Fachkräftemangels haben Politik und Wirtschaft bisher noch nicht wirklich ausreichend erkannt. Gute Arbeit, tarifliche Bindung und demografischer Wandel sind daher die Themen, die die IG Metall in Ostdeutschland voranbringen will, um qualifizierte Beschäftigte im Land zu halten und Ostdeutschland industriepolitisch weiterentwickeln zu können. Der demografische Wandel und der hohe Bedarf insbesondere an qualifizierten Beschäftigten müssen bewältigt werden. Dazu gibt es drei Ansatzpunkte. > Tarifpolitik: Solange die Entgelte in Ostdeutschland noch weit unter denen liegen, die für vergleichbare Arbeiten in Baden-Württemberg oder Bayern gezahlt werden, ist die Gefahr groß, dass qualifizierte Beschäftigte nach kurzer Zeit wieder abwandern. > Qualifizierte Aus- und Weiterbildung: Ostdeutsche Unternehmen investieren zu wenig in die Aus- und Weiterbildung insbesondere in die klassische berufliche Erstausbildung. Das Engagement der Unternehmen muss hier deutlich gesteigert werden. > Attraktivere Arbeitsbedingungen: Beschäftigte sind mit ständig steigendem Leistungsdruck in den Betrieben konfrontiert. Nur mit

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„Guter Arbeit“ können qualifizierte Fachkräfte gehalten werden. Die Fachkräftesicherung muss Teil einer pro-aktiven Industriepolitik sein, wie sie die IG Metall schon seit längerem fordert. Durch sie kann die industrielle Wertschöpfung in Deutschland und Europa gestärkt werden. Gleichzeitig kann sie dazu beitragen, den Aufholprozess Ostdeutschlands einzuleiten und mittel- bis langfristig hinzubekommen. Durch sie könnte diese doppelte Herausforderung gemeistert werden. Eine solche, längst überfällige Industrie-Offensive verfolgt deshalb fünf zentrale Leitgedanken: > ökonomisch effektiv > schadstoffarm und ressourcenschonend > sozial verträglich > regional ausgewogen > demokratisch und beteiligungsorientiert mit Beschäftigten und Gewerkschaften. Die pro-aktive Industriepolitik grenzt sich bewusst ab von einer angebotsorientierten Politik, die lediglich den Wunschzettel der Unternehmer nach Kostensenkung abarbeitet. Eine proaktive, nachhaltige Industriepolitik im Verständnis der IG Metall und im Geist der fünf zuvor genannten Aspekte, setzt konkret darauf,


DETLEF WETZEL | MEHR INVESTITIONEN FÜR MEHR WOHLSTAND

> vorhandene industrielle Kerne zu stärken und auszubauen, zum Beispiel in Ostdeutschland die Halbleiterindustrie, den Automobilbau, die Chemie- und Textilindustrie, > aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen (so wurde in der ostdeutschen Solarindustrie zu wenig Forschung betrieben und sich zu lange auf dem Erreichten ausgeruht), > sich von der bislang praktizierten „Billiger-ist-besser-Strategie“ gerade in Ostdeutschland zu verabschieden und stattdessen konsequenter auf eine „Besser-statt-billiger-Strategie“ zu setzen. Denn es hat sich gezeigt, dass geringere Entgelte und längere Arbeitszeiten im Osten nicht als nachhaltiger Standortvorteil funktionieren, > öffentliche Zuwendungen an die Unternehmen mit der Förderung von „Guter Arbeit“ zu verbinden. Beispielsweise sollen Unternehmen mit Flächentarifbindung Bonuspunkte bei der Wirtschaftsförderung erhalten. Oder aber, Unternehmen, die einen bestimmten Anteil an Leiharbeit überschreiten, erhalten gar keine Förderung mehr. > dass die Politik verlässliche Anschlussregelungen für den 2019 auslaufenden Solidarpakt II beschließt und umsetzt.

in Zukunft orientieren sollte. Werden diese Gedanken nicht nur vollmundig propagiert, sondern konsequent umgesetzt, steht einer Investitionsstärkung in Deutschland und einer aufholenden und damit nachhaltigen Wirtschaftspolitik gerade in Ostdeutschland nichts mehr im Wege. | DETLEF WETZEL

ist Erster Vorsitzender der IG Metall.

Diese Aspekte sind nur ein grobes Raster, an der sich die Industriepolitik

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SCHWERPUNKT | INTELLIGENT WIRTSCHAFTEN

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MANFRED GÜLLNER | ENERGIEWENDE OHNE ENDE?

ENERGIEWENDE OHNE ENDE? Was die Bürger über die Energieversorgung denken — Von Manfred Güllner eitdem die damalige sozialliberale Bundesregierung Anfang der siebziger Jahre begann, die Idee des Umweltschutzes konkret auszugestalten und damit auch die Erzeugung von Strom mithilfe erneuerbarer Energiearten zu fördern, träumen die Bürger in Deutschland davon, dass Sonne und Wind die alleinigen Energielieferanten werden. Wann immer seither nach den aktuell präferierten oder für die Zukunft gewünschten Energiearten gefragt wurde: Sonnen- und Windenergie lagen immer weit vor allen herkömmlichen Energiequellen. Befördert wurde diese hohe Präferenz für aus Sonne und Wind stammender Energie von der etwas naiven Einschätzung, dass beide als Energiequelle ja immer zur Verfügung stünden und – da ohnehin vorhanden – nichts kosten würden. Vor dem Hintergrund dieses fast ein halbes Jahrhundert alten Traums von einer 100-prozentigen Energieversorgung durch Sonne und Wind wird auch die nach dem Reaktorunglück von

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Fukushima im Frühjahr 2011 vollzogene abrupte Kehrtwende in der Energiepolitik – vollständiger Ausstieg aus der Kernenergie und Umstieg auf erneuerbare Energien – im Prinzip bis heute für richtig befunden. Die verschwommene Realität Allerdings entsprach diese abrupte, unter dem Eindruck des Reaktorunglücks in Fukushima vollzogene Kehrtwende in der Energiepolitik nicht im dem Maße „Volkes Wille“ wie von den meisten politischen Akteuren – allen voran dem damaligen Umweltminister Norbert Röttgen – angenommen. Die Mär, dass im Frühjahr 2011 80 Prozent aller Bundesbürger nichts dringender gewünscht hätten, als die in dieser Form vollzogene Energiewende, hält sich bis heute, obwohl sie mit der Realität wenig zu tun hatte; denn nach Fukushima erfolgte – anders als nach der Katastrophe von Tschernobyl – keine erneute Dämonisierung der Kernkraft. Im Gegensatz zur

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schwerpunktmäßig auf die Kernkraft konzentrierte Berichterstattung der meisten Medien wurde von der großen Mehrheit der Bundesbürger nämlich Fukushima nicht als isoliertes Ereignis, sondern als Folge der schweren Naturkatastrophe in Japan gesehen. Erwartet wurde deshalb von der Politik in erster Linie, den Menschen in Japan zu helfen, mit dieser Naturkatastrophe fertig zu werden. Über Konsequenzen aus der Katastrophe für die deutsche Energieversorgung bzw. die Kernkraftwerke nachzudenken, wäre nach der Erwartung der Bürger erst der zweite Schritt gewesen. Die Grünen profitierten Entsprechend brachte die Energiewende 2011 auch nicht die Reaktion, die sich ihre Protagonisten erhofft hatten: Die Union, die damit der grünen Bewegung ihr angeblich zentrales Thema rauben wollte, gewann dadurch keine Sympathien, sondern verlor bei den Parteipräferenzen sechs Prozentpunkte und fiel auf 30 Prozent. Die SPD – neben den Grünen eifrigster Befürworter des Ausstiegs aus der Kernenergie – gewann ebenfalls durch ihre volle Unterstützung der energiepolitischen Kehrtwende keine Sympathien. Profitiert haben 2011 von der Energiewende nur die Grünen; denn wie immer bei solch monothematischen Zuspit-

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zungen wurde auch diesmal das Original jedweder Kopie vorgezogen. Der erste grüne Ministerpräsident in einem Bundesland wurde durch die Energiewende deshalb nicht – wie von der Union erhofft – verhindert, sondern ins Amt gehievt. Und selbst die Kanzlerin erlebte zum ersten Mal in ihrer Kanzlerschaft eine Glaubwürdigkeitsdelle: Bei der Kanzlerpräferenz, bei der sie üblicherweise Werte bis zu 60 Prozent erhielt und heute wieder erhält, fiel sie unter die 40-Prozent-Marke. Zweifel nehmen zu Bis heute wird diese abrupte Kehrtwende in der Energiepolitik im Frühjahr 2011 von der Mehrheit der Bundesbürger (aber auch der Unternehmer im Land) als wenig glaubwürdig, zu schnell und zu hektisch vollzogen, in dieser Form nicht notwendig und in erster Linie durch parteipolitischen Opportunismus – die bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und RheinlandPfalz – motiviert bewertet. Drei Jahre nach dieser Kehrtwende wird sogar der ursprünglich überwiegend positiv besetzte Begriff der „Energiewende“ eher negativ gesehen. Von 1.000 Befragten verbinden noch nicht einmal mehr 10 (also weniger als 1 Prozent!) positive Assoziationen mit diesem Begriff. Allenfalls lassen sich wertneutrale Assoziationen finden – wie


MANFRED GÜLLNER | ENERGIEWENDE OHNE ENDE?

Ausstieg aus der Kernenergie oder Umstieg auf erneuerbare Energien. Doch über die Hälfte aller Befragten verbindet inzwischen negative Assoziationen mit der Energiewende. In erster Linie sind das Zweifel, ob die Energiewende so wie geplant überhaupt gelingen kann, und Befürchtungen, dass Energie für Bürger und Unternehmen nicht mehr bezahlbar sein wird. Hinzu kommen – bei aller nach wie vor prinzipiell ungebrochen hohen Präferenz für Wind und Sonne – Zweifel, ob die Energieversorgung in Deutschland auch in absehbarer Zeit tatsächlich allein mithilfe von Sonnen- und Windenergie möglich ist. Derzeit glaubt das nur noch ein Zehntel aller Bundesbürger. Die große Mehrheit aber sieht die Notwendigkeit, noch lange Zeit neben den erneuerbaren Energien auch die herkömmlichen Energiearten zur Energieerzeugung zu nutzen. Und dass die Energiewende die von den politischen Akteuren vollmundig prophezeiten ökonomischen Impulse bringt und neue Arbeitsplätze schafft – das glaubt auch nur noch eine Minderheit von weniger als einem Viertel aller Bundesbürger. Die Bürger sind schlauer Wieder einmal scheinen die Bürger in ihrer Einschätzung schlauer als manch politischer Hellseher: Sie sehen, dass in dem Maße wie es vielleicht neue Arbeits-

plätze durch die Erzeugung von Energie durch erneuerbare Energien gibt, mindestens in gleichem Maße Arbeitsplätze dort wegfallen, wo bisher Energie erzeugt worden ist. Sensible Reaktionen Eine Mehrheit aller Bundesbürger weiß also, dass neben den regenerativen Energien die herkömmlichen Energiearten noch lange benötigt werden, um die Versorgung der Haushalte und Unternehmen mit Energie zu gewährleisten. Das gilt in erster Linie für Gas, das als wichtiger Energieträger geschätzt wird. Entsprechend sensibel reagieren die Bürger auch auf jedwede tatsächlichen oder möglichen Störungen bei den Gaslieferungen – vor allem aus Russland. Die durch die Ukraine-Krise ausgelösten Ängste bei den Deutschen bezogen sich hauptsächlich auf die Gefahr einer Beeinträchtigung der russischen Gaslieferungen. Entsprechend hoch war und ist deshalb auch die Akzeptanz der Ostseepipeline und der sich daran anschließenden OPAL-Erdleitung zur Durchleitung von Gas. Der Bau und Betrieb dieser Leitungen (und im Übrigen auch die Rolle, die der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder dabei spielt) wird überwiegend als Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung in Deutschland gewertet. Und dass ein so hoher Anteil der Gaslieferungen aus

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Russland kommt, beunruhigt die meisten Bürger weniger als einige Politiker, weil Russland – im Übrigen auch während der andauernden Ukraine-Krise – als eher verlässlicher, denn unzuverlässiger Energielieferant gesehen wird. Das Öl hat im Wettbewerb mit dem Gas in der Bewertung der Bürger seine einstmals dominante Stellung verloren, so dass Krisen und Störfälle bei der Erdölförderung nicht mehr so gravierend gesehen werden wie mögliche Engpässe bei den Gaslieferungen. Kohle wird nicht verteufelt Die Akzeptanz der Kohle als Energielieferant ist bei allen Bundesbürgern nicht mehr annähernd so hoch wie die des Erdgases. Doch unter dem Gesichtspunkt, dass heimische Energie durchaus wieder wichtig für die Energieversorgung wird, wird die Kohle von den Bürgern nicht in dem Maße verteufelt wie von einigen politischen Gruppierungen. Dies gilt auch für die Braunkohle, die vor allem von der durch deren Förderung betroffenen Bevölkerung hoch geschätzt wird. Forsa-Untersuchungen in der Lausitz (aber auch im linksrheinischen Braunkohlenrevier) haben gezeigt, dass die Bewohner im Umfeld der Braunkohlenförderstätten keinesfalls die Förderung einschränken oder gar drosseln wollen. Im Gegenteil: Die weitere Förderung wird von einer übergroßen

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Mehrheit befürwortet – auch wenn Medien wie der RBB im Bündnis mit Minoritätengruppen in ihrer Berichterstattung anderes vermitteln wollen. Gerade in Brandenburg wird die weitere Förderung der Braunkohle von der Mehrheit der Bürger als wichtiger Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung im Lande gesehen. Vor dem Hintergrund der großen Skepsis im Hinblick auf das Gelingen der Energiewende wird heute sogar auch die Kernenergie noch von einer beachtlichen Minderheit (fast 30 Prozent) weiterhin als eine der Energiearten gesehen, die man eigentlich nutzen sollte, um die Energieversorgung in Deutschland sicher und bezahlbar zu machen. Keine pauschale Ablehnung Schließlich wird auch „Fracking“ als eine Möglichkeit, heimische Energie zu nutzen, nicht in jedem Fall pauschal abgelehnt. Wenn Energieförderunternehmen glaubhaft machen können, dass sie die Sorgen der Menschen wegen möglicher Umweltschäden ernst nehmen, könnte Fracking – anders etwa als die CCS-Technik – durchaus mehr Akzeptanz als heute finden. Dass die Suche und mögliche Förderung von heimischer Energie durchaus nicht mehr pauschal abgelehnt wird, zeigt im Übrigen auch eine forsa-Untersuchung in Mecklenburg-Vorpommern: Dort befür-


MANFRED GÜLLNER | ENERGIEWENDE OHNE ENDE?

wortet eine Mehrheit von fast drei Viertel aller Bewohner, dass die schon zu DDRZeiten erfolgte Öl-Aufsuche und -Förderung wieder aufgenommen wird. Ängste ernst nehmen Das von der Politik von den Bürgern eingeforderte „energieeffiziente“ Verhalten wird heute nicht sonderlich ernst genommen. Das ist deshalb bemerkenswert, weil in den siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre „Energiesparen“ einen festen Platz im Bewusstsein der Bürger hatte. Neben einem Mix der einzelnen Energiearten (damals vor allem die Kernenergie) wurde das Energiesparen als wichtiger Beitrag zur Sicherheit der Energieversorgung gesehen. Das ist heute anders: Der Ersatz des für die Bürger klaren Begriffs „Energiesparen“ durch die Chiffre „Energieeffizienz“ hat zur Reduzierung des Spargedankens auf die Schonung des eigenen Geldbeutels beim Kauf und dem Betrieb von Elektrogeräten wie Waschmaschine oder Geschirrspüler geführt. Dort achtet man heute auf die Effizienz-Klassifizierung – doch dass der Einzelne durch sein Nutzungsverhalten zur Reduzierung des Energieverbrauchs generell beitragen kann, dieser Gedanke ist heute weitgehend verloren gegangen. Das zeigt sich im Übrigen auch daran, dass es derzeit nicht gelingt, intelligente Stromzähler den Verbrauchern schmackhaft zu machen.

Festgehalten werden kann, dass die Energiewende, bei aller prinzipiell unverändert hohen Akzeptanz erneuerbarer Energie, heute für die Bürger kein Vorhaben mit höchster Priorität ist – wenn es denn überhaupt einmal so gewesen sein sollte. Viel wichtiger als eine umweltschonende Erzeugung von Energie ist für die große Mehrheit der Bürger, dass eine sichere und bezahlbare Versorgung mit Energie für die Haushalte und die Unternehmen gewährleistet ist. Ängste lösen bei den Menschen nicht mehr – wie einige Zeit nach Tschernobyl – die Kernkraftwerke aus, sondern die Sorge, ob man nicht irgendwann wegen einer gestörten Versorgung mit Energie im Dunkeln oder Kalten sitzen muss. Die Politik wäre gut beraten, diese konkreten Ängste der Bürger ernst zu nehmen und nicht Visionen zu verbreiten, die ohnehin nicht mehr geglaubt werden. Aber auch die Unternehmen, die die Bürger mit Energie versorgen, sollten sich darüber im Klaren sein, dass man nur mit dem Anspruch, regionaler Vorreiter bei der Energiewende zu sein, beim Verbraucher und Kunden kein Vertrauen gewinnt. | PROF. MANFRED GÜLLNER

ist Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa.

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GÜNTER BAASKE | AUF DIE FACHKRÄFTE KOMMT ES AN

AUF DIE FACHKRÄFTE KOMMT ES AN Wie moderne Arbeitspolitik dem Mangel an Fachkräften begegnen kann — Von Günter Baaske

ie brandenburgische Sozialdemokratie hat im vergangenen Jahr Eckpunkte für die industrielle Entwicklung im nächsten Jahrzehnt auf dem Weg zur sogenannten „Industrie 4.0“1 skizziert. Damit bekennt sie sich zu einer modernen und gestaltenden Industriepolitik. Sie ist das Fundament für eine weitere positive wirtschaftliche und soziale Entwicklung in unserem Land – aus unterschiedlichen Gründen: > Informationstechnologien werden Produktionsprozesse vor allem in der Industrie verändern. Es geht nicht mehr darum, dass Computer Menschen im Arbeitsprozess ersetzen. Zukünftig werden internetbasierte miteinander kommunizierende Systeme der Produktion ihren Stempel aufdrücken. Dies kann eine Vielfalt von noch nicht überschaubaren Möglichkeiten eröffnen, die für

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1

SPD-Landtagsfraktion, Auf dem Weg zur Industrie 4.0, Strategiepapier für eine sozialdemokratische Industriepolitik, Potsdam 2013

Beschäftigte Vorteile, aber auch Nachteile mit sich bringen können. Deshalb ist es Aufgabe der Sozialdemokratie, Veränderungsprozesse zu gestalten, zum Wohl der Menschen in unserem Land und damit wir bei technologischen Neuerungen die Nase vorn haben und leistungsstark bleiben. > Eine gute industrielle Basis ist das Rückgrat einer funktionierenden Wirtschaft. Das haben die Weltwirtschaftskrise und die noch anhaltende Krise in Europa deutlich gezeigt. Dass Deutschland mit einer nur kleinen Delle recht unbeschadet durch diese Krise gekommen ist, liegt wesentlich an unserer gut aufgestellten modernen und innovativen Industrielandschaft. Und dies gilt nicht nur für die Republik im Gesamten sondern auch für die krisenfeste kleinbetriebliche Struktur im Land Brandenburg. Der Nachteil einer wenig ausgeprägten Exportorientierung wurde hier

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zum Vorteil. Es zeigt sich eben auch, dass Betriebe, die klein und flexibel, nicht börsennotiert, dafür aber nah am Markt und innovativ sind, der Krise der Finanzwirtschaft durchaus die kalte Schulter zeigen können. > Wer Industrie 4.0 möchte, braucht qualifizierte Fachkräfte – denn bei allem Fortschritt lassen sich Innovationen auch im „Internet der Dinge“ noch nicht ohne Menschen bewerkstelligen. Moderne Industriepolitik ist von den Fragen der Fachkräftesicherung und -entwicklung nicht abzukoppeln. Sie können wir nicht alleine dem Markt überlassen. Unsere Vorschläge und Ideen zur Industrie 4.0 müssen die Fachkräftesicherung und -entwicklung immer mitdenken. > Gute Arbeit in der Breite ist ohne die Industrie mittel- und langfristig nicht zu realisieren. In der Industrie lassen sich durch eine hohe Wertschöpfung nicht nur gute Löhne und Arbeitsbedingungen refinanzieren, Industriearbeitsplätze schaffen wiederum auch Arbeitsplätze in anderen Bereichen, zum Beispiel im Dienstleistungs- und Servicebereich. Damit Industriearbeitsplätze aber weiterhin auch für die Beschäftigten einträglich sind und positiv auf andere Sektoren ausstrahlen, brauchen wir Sozialpartner, die sich mit den anstehenden Veränderungen auseinander-

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setzen und eine betriebliche Mitbestimmungskultur, die das Wissen und die Erfahrung der Beschäftigten in die Veränderungsprozesse einspeist. Daraus lassen sich zwei Thesen ableiten: > Die Krisenfestigkeit unserer Wirtschaft entscheidet sich auch zukünftig nicht am Kapitalmarkt. Sie ist vor allem davon abhängig, dass es uns gelingt, die qualifizierten Fachkräfte für unsere Unternehmen zu halten und zu gewinnen. Wir brauchen die Fachkräfte für eine innovative Industriepolitik. Die Fachkräfteverfügbarkeit ist darüber hinaus gleichermaßen relevant, um ein gesellschaftliches Umfeld zu gewährleisten, dass für die Menschen lebenswert ist und in dem Fachkräfte sich zu Hause fühlen. Dazu gehören zum Beispiel auch Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Pflegende in der Kranken- und Altenpflege, Kulturschaffende und Lokomotivführer. > Die demografische Entwicklung verknappt den „Markt“ an Fachkräften. Den anhaltenden Rückgang der Bevölkerung und insbesondere auch der Erwerbsbevölkerung können wir belastbar vorhersagen. Wer aber glaubt, der Markt regelt die Auswirkungen der demografischen Entwicklung hinsichtlich der Verfügbarkeit der Fachkräfte, bewegt sich auf glat-


GÜNTER BAASKE | AUF DIE FACHKRÄFTE KOMMT ES AN

tem und überdies dünnem Eis. Dies gilt auch für jene, die meinen, das Fachkräfteproblem ließe sich alleine durch Zuwanderung in den Griff bekommen. Deshalb müssen wir Strategien entwickeln, wie Fachkräftepotentiale zunächst in Brandenburg selbst gehoben werden können. Das Fachkräftethema ist inzwischen konkret. Brandenburger Unternehmen suchen nach passendem Personal, nicht nur nach Auszubildenden. Und sie entdecken zunehmend die sogenannten „weichen Faktoren“, wie Vereinbarkeit von Beruf und Familie und betriebliches Gesundheitsmanagement, um Fachkräfte zu binden. Hilfe zur Selbsthilfe Den Fachkräftebedarf haben wir in Brandenburg schon früh im Blick gehabt. Bereits 2004 hat das Arbeitsministerium die erste Fachkräftestudie in Auftrag gegeben. Sie prognostizierte einen Bedarf von rund 100.000 Personen bis 2015. Fünf Jahre später folgte die zweite Studie gemeinsam mit Berlin. Bei einem „Weiter so“ erwarten wir nach dieser Studie einen nicht gedeckten Bedarf an Fachkräften von rund 460.000 Personen bis 2030. Gleichzeitig nimmt die Bevölkerung zwischen 2010 und 2030 um 10 Prozent ab. Noch dramatischer stellt sich die demografische Entwicklung bei den Men-

schen im erwerbsfähigen Alter dar, ihre Zahl wird um 28 Prozent zurückgehen. Brandenburg hat frühzeitig auf diese Entwicklung reagiert. Zunächst mit Unterstützungs- und Netzwerksystemen. So wurden Regionalbüros für Fachkräftesicherung aufgebaut. Ferner wurde ein Bündnis zur Fachkräftesicherung gemeinsam mit allen relevanten Partnern initiiert. In beiden Strukturen geht es darum, Maßnahmen zu definieren und zu entwickeln, um dem drohenden Fachkräfteproblem strategisch zu begegnen. Letztlich geht es bei allen Aktivitäten des Landes aber vor allem um Hilfe zur Selbsthilfe: Die regionalen Akteure, vor allem die kleinen Unternehmen, sollen dabei unterstützt werden, eigeninitiativ für sie passfähige Maßnahmen zur Sicherung des Fachkräftebedarfs umzusetzen. Programme im Paket 75 Prozent aller Betriebe im Land Brandenburg haben weniger als zehn Beschäftigte. Politik muss sich also genau an dieser betrieblichen Realität orientieren. Und sie muss bei allen ihren Zielsetzungen mitdenken, was Fachkräfteentwicklung für diese Unternehmen im betrieblichen Alltag bedeutet. Anspruch und Wirklichkeit sind dabei nicht immer deckungsgleich: > Unternehmer könnten Verantwortung für Jugendliche und teilweise

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moralische Zeigefinger und das Szenario des Fachkräftekollapses bei unternehmerischer Untätigkeit bringen uns nicht weiter. Wir müssen Unternehmen über betrieblich relevante Themen ansprechen, durch diese Brücke können wir die Unternehmen besser sensibilisieren, sich mit denen bis dato doch eher nachrangig behandelten Personal- und Organisationsentwicklung zu beschäftigen. Das Arbeitsministerium hat damit begonnen, seine Programme stärker als Gesamtpaket zu kommunizieren und deren Nutzen an konkreten betrieblichen Belangen, zum Beispiel den Vorteilen von mehr Energieeffizienz oder der Erschließung internationaler Absatzmärkte, festzumachen. Ausgehend von unternehmerischen Interessen bietet es eine umfassende Palette von Unterstützungsmaßnahmen zur Fachkräftesicherung und -entwicklung an.

bestehende Lerndefizite übernehmen und ihnen Vorbild sein, um sie an berufliche Perspektiven heranzuführen. Aber lassen die zeitlichen und personellen Kapazitäten eines Kleinstunternehmens die „Sonderbetreuung“ von Jugendlichen zu, wenn für sie schon die Berufsausbildung an sich ein Kraftakt ist? > Bestehendes Personal könnte mit den erheblichen Zuschüssen der Landesförderung weitergebildet werden. Natürlich muss derjenige, der öffentliche Gelder in die Hand nimmt, auch Antragsaufwand und Nachweispflichten auf sich nehmen. Aber wie können wir noch besser die Unternehmen erreichen, für die das Antragsprozedere eine schier unüberwindbare Hürde darstellt? > Betriebe müssten noch besser mit Hochschulen kooperieren, um innovativer und wettbewerbsfähiger zu sein. Aber wie muss eine Kooperation zweier so unterschiedlicher Partner wie Hochschulen und Kleinbetriebe ausgestaltet werden, um längerfristig tragfähig zu sein? Welche Übersetzungsleistungen sind nötig, wenn die potentiellen Partner nicht dieselbe Sprache sprechen und mit welchem Beitrag kann das Land hier wirksame Unterstützung leisten?

Das heißt ganz konkret: Brandenburg bietet seinen Unternehmen und Beschäftigten letztlich ein Portfolio personalpolitischer Unterstützung, beispielsweise im Rahmen der Einführung neuer Technologien, der Umsetzung von Innovationsprojekten oder ganz einfach der Verkaufsschulung für Mitarbeiter:

Wir müssen also die Unternehmen in ihrem betrieblichen Alltag abholen. Der

> Weiterentwickelt wurde die Weiterbildungsrichtlinie. Sie stellt einen

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Stellen werden nicht besetzt


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maximal 70-prozentigen Zuschuss zur Weiterbildung (max. 3.000 Euro pro Beschäftigtem) in der betrieblichen Weiterbildung. Weiterentwickelt wurde auch der Innovationsassistent. Dieses Programm bietet 60 Prozent Zuschuss zum Arbeitnehmer-Bruttogehalt von mindestens 2.200 Euro bei der Einstellung von Hochschulabsolventen (max. 20.000 Euro pro Jahr und Person für mindestens 12 Monate). Neu eingeführt wurde das Brandenburg-Stipendium. Das Programm fördert Studierende für die Erstellung einer Abschlussarbeit in einem Unternehmen sechs Monate lang mit 375 Euro bei einem Stipendium von mindestens 500 Euro im Monat. Alternativ gibt es einen 75-prozentigen Zuschuss (höchstens 622,50 € monatlich) zum Gehalt für eine Teilzeitbeschäftigung als Werkstudent in einem kleinen oder mittleren Unternehmen für sechs bis zwölf Monate. Das Fachkräfteportal bringt Unternehmen und Fachkräfte bzw. Ausbildungsinteressierte zusammen und kommuniziert Möglichkeiten des Lebens und Arbeitens in Brandenburg besser. Mit der Förderung der Verbundausbildung werden Unternehmen mit unterschiedlichen Förderelementen bei der Ausbildung in Kooperation

mit anderen Unternehmen oder Bildungspartnern unterstützt. Wir haben in Brandenburg trotz deutlicher Erfolge und einer kontinuierlich sinkenden Arbeitslosenquote weiterhin Probleme mit verfestigter Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig melden die Unternehmen Stellenbesetzungsprobleme in vielen Branchen und Berufen. Wir haben in unserem Land Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz finden und gleichzeitig betriebliche Lehrstellen, die nicht besetzt werden können. Wenn es nicht passt Dieses Mismatch-Problem gilt es zu lösen. Eines ist dabei ganz klar: Bei einer bundes- und europaweiten Konkurrenz um Fachkräfte, bei der Brandenburg zudem mit seiner kleinteilig geprägten Unternehmensstruktur mit einem gewachsenen Mittelstand und Großunternehmen in anderen Ländern konkurriert, müssen wir alle denkbaren Potentiale nutzen. Neben der Möglichkeit, Fachkräfte nach Brandenburg zu locken und ihnen hier ein attraktives zu Hause zu bieten, müssen also auch Wege gefunden werden, um zusätzliche Fachkräftepotentiale vor allem im Land Brandenburg zu erschließen. Das bedeutet zum einen eine stärkere Fokussierung auf Gruppen am Arbeitsmarkt, die bisher weniger im Fokus der

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Fachkräftesicherung standen, zum Beispiel durch Aufstiegsfortbildungen Geringqualifizierter und eine stärkere Berücksichtigung der Menschen, die womöglich gut ausgebildet sind, aber auf Grund der schwierigen Arbeitsmarktsituation in den vergangenen Jahren erst wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt werden müssen. Dies schließt aber auch ein, denen Vollzeitarbeit zu ermöglichen, die dies möchten, aber bislang nicht realisieren können: Dies betrifft vor allem erwerbstätige Frauen, die trotz vergleichsweise guter Kinderbetreuungsstruktur oftmals unfreiwillig in Teilzeit arbeiten. Die weitere Erhöhung der Erwerbsbeteiligung ist ein auf der Hand liegender Ansatzpunkt zur Fachkräftesicherung. Neuer Umbruch Damit lässt sich ohne zu übertreiben folgendes schlussfolgern: Wir stehen nicht nur vor einer vierten industriellen Revolution. Das Land Brandenburg ist auch mit einer erneuten Umbruchsituation nach der Wende konfrontiert. Treiber ist dieses Mal die demografische Entwicklung, der Rückgang der Schulabgängerzahlen und die alternde Gesellschaft. Aufgabe der Politik ist es, Rahmenbedingungen zu ermöglichen, unter denen die mit den zukünftigen Veränderungen verbundenen Chancen genutzt werden können. Mehr denn je gilt es, die Perlen im märkischen Sand freizulegen, kreativ

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zu sein, uns unsere Stärken bewusst zu machen und diese für die weitere Entwicklung des Landes zu nutzen. Eine Mannschaftsdisziplin Fachkräftesicherung ist eine Mannschaftsdisziplin. Es ist gut und wichtig „Stars“ in einer Mannschaft zu haben, gewinnen kann man aber nur, wenn das Zusammenspiel funktioniert und gemeinsame Regeln geachtet werden. Dabei darf die Erstausbildung nicht vernachlässigt werden. Deshalb gibt es im Fachkräfteportal des Landes Brandenburg2 seit dem letzten Jahr einen gesonderten Bereich zum Thema Ausbildung, wo hilfreiche Informationen für Jugendliche, Eltern, Lehrer und Unternehmen zur Verfügung stehen. Das Mismatch-Problem auf dem Ausbildungsmarkt ist lösbar, wenn die Spielregeln neu definiert und die Akteure in Gänze umdenken. Konkret: Eine erfolgreiche Berufsausbildung muss möglichst früh mit einer guten Berufsorientierung vorbereitet werden. Das machen wir in Brandenburg mit den obligatorischen Schülerbetriebspraktika und der Möglichkeit des Praxislernens an vielen Schulen. Der jährlich stattfinde Zukunftstag für Mädchen und Jungen ist ein zusätzlicher Weg für Schüler, mit regionalen Unternehmen und dort ausgebildeten 2 www.fachkraefteportal-brandenburg.de


GÜNTER BAASKE | AUF DIE FACHKRÄFTE KOMMT ES AN

Berufen bekannt zu machen. Die Beteiligung auf beiden Seiten – Schulen und Betriebe – steigt und zeigt, dass dies ein gutes und ausbaufähiges Instrument ist. Die Akzeptanz der dualen Ausbildung ist bei unseren Jugendlichen ungebrochen, es muss aber auch die bevorzugte Form der Fachkräftesicherung unserer Betriebe bleiben. Dass stärker gewordene Mismatch-Problem in den letzten drei Jahren zeigt, dass es nicht ausreicht, dass unsere Betriebe nur Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen – sie müssen auch ihre bisherigen Rekrutierungsmuster überdenken. Ausbildung weiterentwickeln Das ständige Wehklagen über „schlechte“ Schulabgänger ist erstens falsch und zweitens auch wenig hilfreich. Richtig ist, die Bewerberlandschaft hat sich verändert, jetzt müssen sich die Betriebe ändern und den betrieblichen Umgang mit Auszubildenden anpassen. Den besten Auszubildenden für sich zu gewinnen, ist nicht gleichbedeutend mit „den Schulabgänger mit den besten Zeugnisnoten oder Testergebnissen zu nehmen“! Unser Potential sind unsere Jugendlichen. Alle, auch die vermeintlich Leistungsschwachen. Wir lassen unsere Unternehmen damit ja aber auch nicht allein, dafür gibt es das Programm „Spezifische Verbundausbildung“. Damit unterstützt das Land Unterneh-

men bei der Besetzung von offen gebliebenen Ausbildungsplätzen, begleitet und hilft ihnen auch im ersten Ausbildungsjahr. Das ist deshalb von elementarer Bedeutung, da alle Statistiken zeigen, dass vor allem im ersten Ausbildungsjahr nahezu jeder dritte Vertrag frühzeitig aufgelöst wird. Das zeigt deutlich: Wir müssen nicht nur Ausbildungssuchende und Ausbildungsbetriebe zusammenbringen, sondern vielmehr die Qualität der betrieblichen Ausbildung weiterentwickeln. Ziel muss eine erfolgreich absolvierte Ausbildung sein. Für diese ist nicht nur die Ausbildungsqualität entscheidend sondern auch die Attraktivität – angefangen von der Ausbildungsvergütung bis hin zu Zusatzqualifikationen und Karriereaussichten. Gerade das Versprechen einer Karriereentwicklung löst doch die duale Ausbildung ein und ist im europäischen Vergleich vorbildlich. Eine erfolgreiche Ausbildung ist für viele die wichtigste Station auf dem Berufsweg. Nächste Stationen können sich anschließen, wie zum Beispiel die Meisterfortbildung oder ein berufsbegleitendes Studium. Es sind Argumente mit denen die Attraktivität der dualen Ausbildung unterstrichen werden kann und die insbesondere für Eltern potentieller Auszubildender ausschlaggebend sein könnten. Allerdings müssen wir solche Informationen wesentlich stärker in den Mittelpunkt stellen. Da können die Schulen und

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Anteil der Betriebe mit Weiterbildung an allen Betrieben in Prozent

Brandenburg

Ostdeutschland

Westdeutschland

60 55 50 45 40 35 30 1997

2001

2005

2007

2009

2011

2012

Quelle: IAB Betriebspanel

Betriebe, aber auch die Agentur für Arbeit und die Kammern im Land noch eine Schippe drauflegen. Immer wichtiger für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung wird es zudem, regelmäßig in das bestehende Personal zu investieren. Die Halbwertzeit unseres Wissens wird immer kürzer. Die Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist damit keine wünschenswerte Kür für Unternehmen, sondern Pflicht. Ein Bereich in dem Brandenburg seine Hausaufgaben gemacht hat. Waren wir 2008 noch Schlusslicht bei der betrieblichen Weiterbildungsteilhabe, so hat sich dieses Bild hin zu einer konstant positiven Weiterbildungsquote entwickelt. Zeitweise sind wir im Bundesländervergleich in die Spitzengruppe aufgerückt.

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Ein Blick in die Branchen zeigt allerdings, dass die Beschäftigten nicht überall die gleichen Chancen haben, an einer betrieblichen Weiterbildung teilzunehmen. So nimmt jeder zweite Beschäftigte in den Bereichen Gesundheit/Soziales und Erziehung/Unterricht an einer Weiterbildung teil, im Bau- und verarbeitenden Gewerbe ist es nur noch jeder Fünfte. Über Branchen hinweg Kommt zu den unterschiedlichen Branchen noch ein weiteres bildungsbenachteiligendes Merkmal wie Alter, Geschlecht oder Qualifikationsgrad hinzu, muss über Weiterbildung über die Branchen hinweg nachgedacht werden. So rücken die Themen Energieeffizienz, Umwelt und nach-


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haltige Entwicklung auch bei der wirtschaftlichen Entwicklung in den Fokus, entsprechende Weiterbildungsangebote werden aber nur schleppend in Anspruch genommen – die Branchen bleiben unter sich. Eine zielgerichtete Ansprache bestimmter Branchen in Kombination mit Themen, beispielsweise dem Querschnittsthema Energie, kann aber auch die Weiterbildungsteilhabe erhöhen. Damit schließt sich der Kreis hin zu nicht genutzten Potentialen bei der Fachkräftesicherung und -entwicklung. Institutionell ist die Wirtschaft- und Arbeitsförderung des Landes seit 2014 bei der Zukunftsagentur Brandenburg (ZAB) verortet. Sie muss zwingend das Ziel einer auf Cluster ausgerichteten Wirtschaftsförderung mit einem arbeitspolitischen Mehrwert generieren. Brandenburg zum Leben und Arbeiten Qualifizierte Fachkräfte sind ausschlaggebend bei der Ansiedlung oder Erweiterung von Unternehmen. Für die Fachkräfte entscheidet nicht nur der Standort, sondern auch das Arbeitsangebot und sie haben hier Auswahlmöglichkeiten, die vor wenigen Jahren so noch nicht bestanden. Das Fachkräfteportal Brandenburg führt Unternehmen und Fachkräfte zusammen, es informiert über die Möglichkeiten, die Brandenburg zum Leben und Arbeiten bietet, und es gibt eine Übersicht über nützliche Ansprechstellen für

Zuziehende sowie Rückkehrende nach Brandenburg. Mit dem Fachkräfteportal gelingt es, Menschen für Brandenburg zu interessieren und Ihnen gleichzeitig Erwerbsperspektiven aufzuzeigen. Es ist somit praktiziertes Standortmanagement zum Thema Fachkräfte. Fachkräfte wollen „Gute Arbeit“ Die Bedeutung des Standortfaktors „Fachkräfte“ ist längst auch bei der Wirtschaftsförderung angekommen. Mit dem Bereich „ZAB Arbeit“ bei der Landeswirtschaftsförderung steht den Unternehmen und Beschäftigten in Brandenburg erstmals ein breites Angebot bei der Landeswirtschaftsförderung zur Verfügung, das sich ausschließlich mit nicht in Beton gießbaren Standortfaktoren befasst. Fachkräftesicherung und -entwicklung ist überdies längst ein europäisches Thema geworden, zu dem ein internationaler Austausch stattfindet und das auch von potentiellen Investoren grenzüberschreitend nachgefragt wird. Fachkräftesicherung in Brandenburg braucht gute Arbeit. Das ist ein wichtiger Grund für den Brandenburger Sozialpartnerdialog. Gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften beraten wir Aspekte, die untrennbar mit dem Thema gute Arbeit verbunden sind: Lohnentwicklung, Arbeitsschutz, betriebliche Gesundheitspolitik und Vereinbarkeit

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von Familie und Beruf. Sie machen unseren Arbeitsmarkt attraktiver. Eine Querschnittsaufgabe Das braucht ein gemeinsames Bekenntnis von Arbeitgebern und Gewerkschaften, Betriebsräten und der Politik. Wir können es uns nicht leisten, auf qualifizierte Menschen zu verzichten. Wir wollen sie bei uns halten, zurückholen und gewinnen. Dafür brauchen wir aber auch mehr Vollzeitstellen und gute und gerechte Löhne für qualifizierte Arbeit. Klar ist: Fachkräftesicherung funktioniert in erster Linie über faire Löhne. Deshalb hat sich Brandenburg für die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns und gegen die Ausweitung der Leiharbeit eingesetzt. Darüber hinaus geht es aber darum, die Tarifbindung in Brandenburg zu erhöhen. Nur 21 Prozent der Brandenburger Betriebe waren 2013 tariflich gebunden. Damit werden nur etwa 51 Prozent der brandenburger Beschäftigten tariflich entlohnt. Starke Sozialpartner und gute Tarifabschlüsse in unserer Region sind jedoch die Voraussetzung dafür, dass wir zukunfts- und wettbewerbsfähig bleiben. Gute Arbeit muss sich als strategischer Ansatz einer modernen Arbeitspolitik auch als Querschnittsaufgabe beweisen, die politikfeldübergreifend Wirkung entfaltet. Gute Arbeit muss für

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alle Beteiligten ein Standard werden, sei es bei der Fachkräftesicherung oder bei der Gestaltung von Übergängen in einem meist nicht mehr gleichförmig und vorhersehbar verlaufenden Erwerbsleben. Messbar wird der Erfolg dieser Strategie unter anderem daran sein, dass über „gute Arbeit“ nicht mehr geredet oder geschrieben werden muss – wenn nämlich wieder selbstverständlich ist, dass in einem hochentwickelten Industrieland wie der Bundesrepublik der wirtschaftliche Erfolg ganz wesentlich auf dem ausgewogenen sozialen Gefüge innerhalb der Gesellschaft basiert – einer Gesellschaft, die sich selbst als Bestandteil des Erfolges sieht. Darauf kommt es nämlich an. | GÜNTER BAASKE

ist Minister für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg.


ULRICH BERGER | WIR SIND KEINE INSEL

WIR SIND KEINE INSEL Über Karbonautos, die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Zukunft der Industrie sprach Thomas Kralinski mit Ulrich Berger PERSPEKTIVE21: Welche Rolle spielt die Industrie heute in Deutschland? ULRICH BERGER: Deutschland hat es geschafft, dass die Industrie noch immer einer der wichtigsten Bestandteile des Bruttoinlandsproduktes ist. Der Anteil der Industrie liegt in Deutschland heute bei etwa 26 Prozent und ist zentraler Wachstumstreiber. In Frankreich liegt die Industrie bei etwa 18 Prozent, in Großbritannien und den USA bei etwa 19 Prozent. Diese Länder sind gerade händeringend dabei, die Industrie wieder zu stärken. Wieso? Diese drei Länder waren früher mal starke Industrieländer, haben aber in den vergangenen Jahren mehr auf Dienstleistungen gesetzt, nicht zuletzt auf Finanzdienstleistungen. Jetzt stellen sie fest, dass diese Strategie hohe Risiken mit sich bringt. Doch ein Wiederaufbau der Industrie ist sehr schwer, wenn einem die Basis in Breite und Tiefe fehlt. Man stellt dabei schnell fest, dass der Wettbewerb sehr hart ist. Insbesondere wenn man daran

denkt, dass mit Schwellenländern wie China und Südkorea – deren industrielle Anteile bei etwa 40 45 Prozent liegt – mittlerweile starke Konkurrenten auf dem Weltmarkt erwachsen sind. Industrie motiviert Woher kommt denn die Renaissance der Industrie? Die Industrie ist ein substantieller Teil der Realwirtschaft – und diese hat mit der Produktion von Gütern und Werten zu tun. Damit verbunden ist oft die Freude an der Erzeugung eines Produkts und die Schaffung des damit verbundenen Nutzens. Man braucht sich nur die Motivation der Mitarbeiter in manchen Produktionswerken anschauen. Sie haben einen Spaß an ihrer Arbeit und ihrem Produkt – eben weil sie einen Mehrwert schaffen, der nicht virtuell ist, den man anfassen kann. Man sieht am Abend, was man geleistet hat. Ja und das führt auch zu einer intrinsi-

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schen Motivation. Industrielle Wertschöpfung zeichnet sich oftmals auch dadurch aus, dass sie über den Bezug zur Arbeit und dem aus dem Produkt erzeugten Mehrwert heraus gute Arbeitsbedingungen schaffen kann. Das ist ein wichtiger Punkt. Wie man so etwas nutzbar macht, kann man beispielsweise sehr gut in der süddeutschen Automobil- und Zuliefererindustrie sehen. Ein industrieller Arbeitsplatz, der fest im Markt etabliert ist, garantiert eine gute Bestandssicherung. Was ist Industrie 4.0? Sind denn aber die herkömmlichen Brancheneinteilungen überhaupt noch auf der Höhe der Zeit? Sind nicht die Übergänge zwischen Industrie und Dienstleistungen, aber auch zwischen Landwirtschaft und Dienstleistungen oder Industrie, fließend? Natürlich generiert die Industrie auch im Dienstleistungsbereich Arbeitsplätze, sei es in der Logistik oder der Versorgung. Dazu existieren einschlägige Modellberechnungen. Auch schafft jeder industrienahe Ingenieurarbeitsplatz etwa vier zusätzliche Arbeitsplätze. Zudem ist jeder siebte Arbeitsplatz in Deutschland an Ingenieurdienstleistungen gekoppelt. Die Industrie sichert also einerseits Arbeitsplätze und weitet andererseits das Arbeitsplatzangebot deutlich aus.

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Heute spricht man von Industrie 4.0. Was genau verbirgt sich dahinter? Als Industrie der ersten Generation bezeichnet man heute gemeinhin das Zeitalter der Dampfmaschine. Mit der zweiten Generation wurde um 1870 die Fließbandproduktion eingeführt. Mit der dritten Generation hielt um 1970 die Elektronik mittels Steuerungs- und Automatisierungstechnik Einzug in die Industrielandschaft. Vor etwa drei Jahren haben sich nun in Deutschland die für die Informations- und Kommunikationstechnologie (I+K), dem Maschinen- und Anlagenbau und der Elektronik- und Elektroindustrie zuständigen Verbände mit der Industrie zusammengetan und überlegt, wie man die Renaissance der industriellen Produktion beflügeln kann. Die Grundhaltung war: Wir sind schon gut, aber wir müssen noch besser werden. Die sogenannten I+K-Technologien müssen umfassend in der Industrie Einzug halten. Diese Initiative wird nun als die vierte Generation der industriellen Revolution, Industrie 4.0, bezeichnet. Und das heißt? Es geht um die vollständige Digitalisierung der Arbeitswelt, der Wertschöpfungsketten und des Kundenund Lieferantenbeziehungssystems. Es geht um das „Internet der Dinge und Dienste“ in der industriellen Wertschöpfung.


ULRICH BERGER | WIR SIND KEINE INSEL

Was bedeutet das für die Industriebetriebe? Aus Sicht des Unternehmens soll primär eine bessere Arbeitsproduktivität und Energieproduktivität erzielt werden. Ich kann zusätzlich mit meinen Kunden und Lieferanten besser kommunizieren und dadurch transparenter und effizienter arbeiten. Der Ressourcenverbrauch lässt sich ebenfalls verbessern, weil man effizienter arbeiten kann. Und schließlich wird die Prozessqualität optimiert, zum Beispiel weil man schneller erkennt, wenn fehlerhafte Teile in die Wertschöpfungskette eingeschleust wurden. Anschaulich ausgedrückt werden Sicherheit, Schnelligkeit, Sauberkeit und Sparsamkeit erhöht. Mehr regeln, weniger wuchten Was heißt das für die Arbeit? Wenn man heute durch Fabriken geht, sieht man ohnehin schon kaum Leute. Wir erleben einen Paradigmenwechsel in Bezug auf zukünftige Arbeitsformen, der auch weltweit von statten geht. Wir sind da keine Insel. Die tiefe Durchdringung der Arbeit durch das Internet weist den Menschen in industriellen Arbeitsprozessen ganz neue Rollen zu. Aufgabenbeschreibungen wie bedienen, beobachten, steuern, überwachen und regeln rücken dabei mehr in den Vordergrund gegenüber der traditionellen physischen Arbeit.

In Zukunft werden wir also weniger Dinge aufs Band wuchten und Kisten heben. Ja. Damit werden aber auch neue Anforderungen an Ausbildung und Qualifizierung der Mitarbeiter gestellt. Bedeutet das auch das Ende der klassischen Ausbildungsberufe? Müssen jetzt alle studieren? Nein. Aber die Ausbildungsformen in allen beruflichen Bereichen, in der sekundären und tertiären Ausbildung sowieso, aber auch im lebenslangen Lernen wird sich deutlich verändern. Sicher haben wir heute noch Facharbeiter, die wissen, was mit Drehstrom und Umschaltrelais anzufangen ist und die nicht mit Twitter und Facebook aufgewachsen sind. Wir müssen generationenübergreifend die neuen Herausforderungen bewältigen. Das lässt sich am Beispiel einer Maschinen-und Werkzeugüberwachung gut verdeutlichen. Da muss man aus unendlich vielen Sensorinformationen die richtigen Schlüsse ziehen und dann in die Hardware eingreifen– also ob man die Maschine weiterbetreiben kann, Leistungsparameter zurückfahren oder Risikomaßnahmen ergreifen muss. Das Thema der Zukunft ist also, die Unmengen an Daten zu filtern, die wesentlichen von den unwesentlichen zu trennen und den Mitarbeitern in Form von elektronischen Assistenzsystemen Vorschläge zum Anlagenbetrieb zu machen.

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Das ist dann so wie im Auto? Ja, da gibt es heute schon viele Assistenzsysteme zum Bremsen, Lenken und Einparken. So muss man sich die industrielle Produktion der Zukunft auch vorstellen. Assistenzsysteme filtern laufend und werten kontinuierlich Daten aus und bereiten aus dem vorhandenden Produktund Prozesswissen Vorschläge für den optimalen Maschinenbetrieb aus. Was passiert eigentlich mit den klassischen Leitindustrien wie Stahlindustrie und Autobau – wenn Autos demnächst mit Elektromotoren arbeiten und aus Karbon sind? So schnell geht das alles nicht. Gerade die deutschen Automobilbauer sind international gut aufgestellt und wissen genau, wie sich der Markt entwickelt. Wir werden noch lange mit metallbasierten Autos zu tun haben. Zum einen weil der Karbon-Preis für den breiten Markt noch nicht erschwinglich ist. Zum anderen weil der ökologische Fußabdruck oft nicht gerade optimal ist. Ein Karbonauto arbeitet an sich sehr ressourceneffizient – aber erst, wenn es im Verkaufsraum steht. Man muss aber auch den gesamten Herstellungsprozess und damit Ressourcenverbrauch betrachten, bis es dorthin kommt. Klassische Rohstoffe sowie die Energieerzeugung spielen also weiterhin eine große Rolle.

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Ja. In Brandenburg sind wir ja gleichzeitig Industrie- und Energieland. Genau diese Symbiose ist das spannende Thema der Zukunft. Die Frage ist, wie gelingt es uns Energieerzeugung mit industrieller Wertschöpfung lokal sinnvoll zu verknüpfen. Zum einen, wie kann man Maschinen und Anlagen entwickeln und bauen, die man für die Energieerzeugung und -speicherung der Zukunft braucht – sei es mit konventionellen oder mit neuen Energien. Zum anderen, welche innovativen Methoden und Verfahren zur Steigerung der industriellen Energieeffizienz sind gerade bei klein- und mittelständischen Unternehmen zu entwickeln und umzusetzen. Ein Treiberfaktor sind dabei die stark gestiegenen Energiepreise. Da gibt es ein Ungleichgewicht, das regulativ ausgeglichen werden muss. Beispielsweise ist in Baden-Württemberg die Kilowattstunde im Vergleich zu Brandenburg um bis zu 5 Cent günstiger. Diese Differenz erzeugt für Unternehmen im vorverarbeitenden Gewerbe – also Gießereien, Schmelzereien oder Schmieden – einen großen Wettbewerbsnachteil. Brandenburg versorgt Berlin Und wie ist Brandenburg da aufgestellt? Brandenburg hat einen soliden industriellen Kern und ist, gerade im Vergleich mit Berlin, ein viel prägnanteres


ULRICH BERGER | WIR SIND KEINE INSEL

Industrieland. Energieerzeugung und verteilung spielt in Brandenburg ebenfalls eine große Rolle, schließlich versorgen wir auch die Metropole in unserer Mitte mit.

müssen Energie- und Breitbandversorgung koppeln – wo eine Gasleitung gelegt wird, muss ein Breitbandkabel daneben gelegt werden. Regionen müssen sich in Arbeitsgemeinschaften organisieren.

Wie kriegt man die Interessen einer dienstleistungsgetriebenen Metropole und die eines Industrielandes unter einen Hut? Zunächst einmal ist industrielle Wertschöpfung eher in der Fläche als auf dem Alexanderplatz angesiedelt. Das ist offensichtlich. Aber wir müssen die industriellen Wertschöpfungsketten vom Anfang her betrachten. Wir brauchen für die Entwicklung neuer, innovativer Produkte auch die Disziplinen des Entwerfens und des Gestaltens, also den Kreativitätspool der Hauptstadt. Diese Zusammenarbeit wird unter dem Thema Industrie 4.0 noch deutlicher hervortreten. Ganz entscheidend für die Zukunft ist daher der Ausbau der digitalen Infrastruktur.

Langer Atem

Also Breitband? Ja und zwar in allen Landesteilen. Bei der Verkehrsinfrastruktur sind wir auf gutem Weg, jeder industrielle Kern muss gut erreichbar sein. Aber Breitband spielt eine riesige Rolle – und das wird immer wieder gern vergessen. Wenn man die Digitalisierung der Industrie vor sich hat, muss man Ansiedlungsvorteile schaffen. Das heißt zum Beispiel, wir

Wo liegen denn die Vorteile der Brandenburger Industrie? Wir haben eine kleinteilige aber sehr robuste Industrie. Das haben wir bei der letzten großen Wirtschaftskrise in den Jahren 2009 und 2010 bemerkt. Die monolithisch strukturierte Industrie im Süden Deutschlands musste die konjunkturellen Erwartungen stark zurückfahren, während die Brandenburger Industrie mehrere Märkte gleichzeitig bedienen und dadurch Ausgleichsmechanismen entwickeln konnte. Auf der anderen Seite brauchen wir neue und andere Formen der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Das 1:1-Modell zwischen Forscher und Unternehmer funktioniert nicht mehr. Wir müssen Firmen im Verbund mit anwendungsnahen Bildungseinrichtungen koppeln. Dafür brauchen wir eine privat-öffentliche Partnerschaft. Was die Grundlagenforschung angeht, sind wir in Brandenburg und Berlin gut ausgestattet. Bei der anwendungsorientierten Forschung mit Effekten auf mittelständische Unternehmen haben wir jedoch noch Nachholbedarf.

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Die Wertschöpfungsketten von Entwicklung über Produktion bis Verkauf sind also in Brandenburg und Ostdeutschland zu kurz? Ja, wir haben einen relativ hohen Anteil an vorverarbeitendem und weniger endkundennahem, verarbeitendem Gewerbe. Damit ist auch Wartung und Instandhaltung verbunden – ein immer wichtigeres Thema. Man braucht heute einen langen Atem und permanente Forschungs- und Entwicklungsleistungen (F&E) um das Tal zwischen Innovation und gewinnbringender Wertschöpfung zu überwinden. Wir reden dabei in der Regel von drei bis fünf Jahren bei Neuentwicklungen. Dafür sind staatliche Fördermittel wichtig und richtig. Insbesondere dann, wenn wir das Ziel anstreben, auf 100 Beschäftigte drei Mitarbeiter mit F&E- Aufgabenschwerpunkten zu haben Voneinander lernen Und wie kriegt man das hin? Über die Stärkung bewährter Maßnahmen, wie zum Beispiel dem Innovationsassistenten oder neuen, innovativen Lösungen, wie dem sog. public-privatepartnership in innovation. Dabei werden neue Anreizsysteme und Finanzierungsmodelle für die Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft erzeugt und eingeführt. So können für einen definierten, begrenzten Zeitraum For-

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scher und Entwickler, gerne auch interdisziplinär, in Zusammenarbeit mit Unternehmen tätig werden. Auch müssen, in konsequenter Fortführung der Clusterstrategie, komplementäre Innovationsverbünde auf Unternehmensund Forschungsebene entwickelt und in der Zusammenarbeit gefördert werden. Brandenburg hat einen vergleichsweisen geringen Exportanteil – verglichen mit Westdeutschland aber auch mit Sachsen. Wie kann man das ändern? Auch hier muss man wieder die gesamte Wertschöpfungskette und deren Auswirkungen auf statistische Erhebungen betrachten. Wir haben beispielsweise in Brandenburg Unternehmen, die bauen Schaltschränke und liefern diese an andere Unternehmen in Deutschland – die dann regelmäßig an Endkunden im Ausland liefern. Unmittelbar liefern diese Brandenburger Unternehmen nach Deutschland, mittelbar jedoch ins Ausland, also sind sie doch exportorientiert. Daraus lässt sich auch gut das Problem der kurzen, fragmentierten Wertschöpfungsketten verdeutlichen. Volatile Marktschwankungen schlagen oft ohne Vorwarnung durch, die Erzeugung eines höheren Mehrwertes über eigene, endkundennahe Produktangebote fehlt. Die Verstärkung der industriellen Zusammenarbeit in horizontaler und vertikaler Richtung wie in Sachsen könnte ein probates Mittel dafür sein.


ULRICH BERGER | WIR SIND KEINE INSEL

Vor fast einem Jahrzehnt wurde in Brandenburg die Wirtschaftsförderung auf Branchenschwerpunkte umgestellt. War das eine richtige Entscheidung? Die Clusterförderung begann damit, dass man unabhängig von existierenden Branchen alle Akteure an einen Tisch bringen wollte und zwar aus Wirtschaft, Wissenschaft und Wirtschaftsförderung. Beim Gesundheitscluster heißt das beispielsweise, dass medizinische Hochschulen, pharmazeutische Entwickler, biomedizinische Gerätetechnik und Kliniken an einem Tisch sitzen. So schafft man einen Verbund ohne Scheuklappen, erkennt gemeinsame Interessenslagen und erstellt zielgerichtete, ausgewogene Strategiepapiere, so genannte Masterpläne. Sie haben so etwas für die Metallindustrie in Brandenburg gemacht? Und dabei haben wir oft mit Erstaunen festgestellt, dass dort viele Akteure unterwegs sind, die sich sehr gut ergänzen würden aber lange Zeit nichts voneinander wussten. Die jetzt im Ausland gemeinsam auftreten wollen oder sich auf Auslandsmärkten wie zum Beispiel China gemeinsam über Markteinführungsstrategien und vorhandene Handelshemmnisse austauschen. Durch den Clusterprozess wird die Kommunikation untereinander stark beflügelt. Dadurch kann man im Idealfall auch gemeinsam auftreten, ein komplettes Produkt-port-

folio anbieten und somit auch eine höhere Wettbewerbsfähigkeit erreichen. Die Branchenförderung funktioniert also? Der Ansatz ist richtig. Man darf ihn aber jetzt nicht stoppen, sondern muss in Anbetracht der zukünftigen Entwicklung den „Sack zumachen“. Das heißt, die Implementierung über konkrete Maßnahmen, Projekte aber auch zielgerichtete Änderungen im verwaltungstechnischen Prozedere sind jetzt wichtig. Man muss vielleicht, nach sorgfältiger Abwägung, das eine oder andere Format zurückfahren, aber insgesamt den Clusterprozess verdichten. Wo Google hin will Was muss man denn zurückfahren? Angesichts hoher Energie- und Rohstoffpreise sowie dem drängenden Fachkräfteengpass stellt sich die Frage, in welcher Frist wir mit welchen Produkten und Wertschöpfungsketten am Markt noch wettbewerbsfähig sein können und welche Branchen wir beispielsweise durch Spezialisierung in zukunftsträchtigere Bereiche führen können. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts verschwand beispielsweise über Nacht die elektrofeinmechanische Industrie in Baden-Württemberg. Sie fiel schlicht der aufkommenden „Transistorisierung“ zum Opfer. Wenn weltmarkt-

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Können denn Cluster wirklich funktionieren, wenn doch dort auch Konkurrenten am Tisch sitzen? Wettbewerb tut immer gut, ohne Wettbewerb gibt es keinen kein Fortschritt. Unternehmen kennen den Wettbewerber und dessen Produkte auch ohne Cluster, da reicht manchmal Wikipedia oder Google. Die Idee der Cluster ist, dass man über in und über Branchen hinweg zu strukturellen Themen kommuniziert und zusammenarbeitet. So arbeiten gerade zum Thema der Industrie 4.0 die Akteure aus dem Metallcluster intensiv mit denen aus der der Information und Kommunikation zusammen. Wir reden auch mittlerweile gerne von „Brandenburg 4.0“ – auch wenn es Brandenburg 3.0 oder 2.0 nicht gegeben hat.

geben angesichts dieser enorm großen Marktdynamik? Der wesentliche Handlungsrahmen wird durch Innovationen, Fachkräfte, Energieversorgung und Digitalisierung abgesteckt. Die Politik muss das alles zusammenhalten – und dabei vor allem verlässlich sein. Wenn sich Unternehmen, allein oder im Verbund, in einer Produktentwicklung engagieren, reden wir über vier, fünf, teilweise zehn Jahre Produktlebenszeit. Da muss man sich als Unternehmen immer auf langfristig tragfähige Gesetze und Verordnungen verlassen können. So hat die Politik zum Beispiel CO2-Grenzwerte für die Zukunft verhandelt und festgelegt – mit welcher Halbwertzeit?. Die Unternehmen brauchen einfach eine gewisse Zeit, bis sie die geforderten Bedingungen in den industriellen Prozessen und den damit verbundenen Investitionen in Maschinen und Anlagen abgebildet haben. Auch bei der Energie-preisgestaltung brauchen wir Verlässlichkeit. Die skandinavischen Länder sind da sehr vorbildlich. Sie haben sich einen industriellen Kern bewahrt und haben es trotzdem geschafft, die Zielkriterien Energie, Umwelt, Industrie sowie Innovation und Bildung unter einen Hut zu bringen.

Welche Rolle kann denn Politik bei industrieller Entwicklung spielen? Kann es sowas wie Industriepolitik wirklich

Ist es sinnvoll, wenn sich der Staat in bestimmten, vermeintlich strategischen, Industriezweigen engagiert?

führende Firmen über Nacht verschwinden, führt das zu einem gewaltigen Schockerlebnis. Oder schauen wir heute in die USA, wo Unternehmen wie Google, Amazon oder Facebook jetzt mit Macht die horizontale Erweiterung ihrer Geschäftsmodelle über digitale Informationsplattformen betreiben entwickeln und sogar in die Automobilindustrie einsteigen wollen. Jetzt kommt Brandenburg 4.0

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ULRICH BERGER | WIR SIND KEINE INSEL

Für Brandenburg wäre das nur sinnvoll, wenn wir flächendeckende Großkonzernstrukturen hätten. Wir haben aber einfach zu wenig Headquarter im Land. Dafür haben wir einige „hidden champions“ in der Region. Die ständige Kommunikation mit diesen Unternehmen ist besonders wichtig, da diese oft auch im regionalen, sozialen und gesellschaftlichen Umfeld, eine wichtige Rolle spielen. Wie kann man die unterstützen? Hier sind wir wieder bei der Entwicklung und Einführung von öffentlich-privaten Partnerschaften bei Forschung und Entwicklung. Und Unterstützungsstrukturen beim Aufstellen von Verbünden. Den wichtigsten Aspekt bildet jedoch die gemeinsame Fachkräfteentwicklung. Das Gewinnen und Halten von Fachkräften auch in der Fläche wird ein großes Thema werden. Wir müssen dazu die Bildungsträger im Lande so aufstellen, dass sie die entsprechenden Qualifikationen, die in Zukunft gefordert werden, auch anbieten können. Gibt es denn schon Unternehmen, die Investitionen nicht tätigen oder gar nicht entstehen, weil Fachkräfte fehlen? Bisher eher nicht. Die Metropolregion Berlin zieht immer noch viele junge Leute an, davon profitieren wir auch in Brandenburg. Auch jenseits des Autobahnrings gibt es einige Oberzentren, die Nachwuchskräfte anziehen. Aller-

dings müssen wir die höheren Bildungseinrichtungen stärker auf die Bedarfe der Zukunft ausrichten. So brauchen wir mehr duale Studiengänge. Gute Perspektiven ergeben sich für junge Nachwuchskräfte auch dadurch, dass in den nächsten Jahren viele Unternehmensnachfolger gesucht werden. In den letzten Jahren hat die Skepsis gegenüber Großprojekten in Infrastruktur und Energie zugenommen. Gibt es auch eine zunehmende Aversion gegenüber der Industrie? Nein. In Brandenburg hat die Industrie immer noch ein positives Image. Unsere Clusterstrategien beflügeln durch eine Vielzahl an Veranstaltungen diesen Effekt. Viele Bürger erfassen das Vorhandensein einer industriellen Basis als Quelle von Wohlstand und Zukunftssicherung. | PROF. DR.-ING. ULRICH BERGER

leitet den Lehrstuhl für Automatisierungstechnik an der Brandenburgischen Technischen Universität CottbusSenftenberg und ist Clustersprecher Metall des Landes Brandenburg.

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HENDRIK FISCHER | GESTÄRKTE STÄRKEN

GESTÄRKTE STÄRKEN Von der Dezentralen Konzentration zu Regionalen Wachstumskernen und Clustern: Eine Zwischenbilanz nach zehn Jahren — Von Hendrik Fischer „Holzhacken ist deshalb so beliebt, weil man bei dieser Tätigkeit den Erfolg sofort sieht“ Albert Einstein

I.

Warum das Ganze? Erinnern wir uns zurück: Brandenburg im Jahr 2004. Die „Wende“ liegt 15 Jahre zurück. Brandenburg ist 14 Jahre alt und hat wie der gesamte Osten Deutschlands in einem historisch kurzen Zeitraum das sozialistische Wirtschafts-, Währungsund Sozialsystem hinter sich gelassen. Systemtransformation im Schnelldurchgang. Das Tempo in dem Unternehmen privatisiert oder liquidiert wurden, Arbeitsplätze verloren gingen, teilweise buchstäblich kein Stein auf dem anderen blieb war atemberaubend. Es hatte viele Menschen an die Grenzen dessen geführt, was auszuhalten war, hatte auch die Gesellschaft in diverse Zerreißproben geführt. Aber: Gerade in den neunziger Jahren war für viele Menschen der Systemwechsel mit einer auch im Rückblick unvergleichlichen Aufbruchstimmung verbun-

den. Zwar wurden Betriebe geschlossen und Arbeitsplätze gingen verloren. Zugleich wurden aber auch Milliarden in die Infrastruktur investiert, historische Innenstädte wurden vom weitergehenden Verfall bewahrt und es entstanden neue innovative Unternehmen. Nicht zuletzt konnten die Menschen nun dorthin reisen, wohin sie wollten und zumindest der Großteil der Ostdeutschen verfügte über stetig (gefühlt aber zu langsam) wachsende Einkommen. Der Aufholprozess stockte Der vielfach beschworene Aufschwung war, auch wenn es für die meisten nicht schnell genug ging, doch sichtbar. Zu Beginn der 2000er Jahre jedoch trat eine nicht zu übersehende Stagnation ein. Die Arbeitslosigkeit verharrte in Brandenburg bei über 18 Prozent. Auch bei anderen wirtschaftlichen Indikatoren verlor der Aufholprozess gegenüber dem Westen deutlich an Dynamik. Große Neuinvestitionen kamen nicht mehr zustande. Es gewannen immer mehr die

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Pessimisten die Oberhand. So gehörte fast zum guten Ton, gegenüber der Landespolitik herauszustellen, was alles nicht gelang und wie wenig es im Land voran ging. Dabei spielten zum damaligen Zeitpunkt als gescheitert geltende Großinvestitionen und ein schlechtes Image Brandenburgs in anderen Bundesländern, aber auch darüber hinaus, eine Rolle. Mir ist ein Gespräch mit einem deutschen EU-Beamten in Brüssel in Erinnerung, bei dem es um die ersten Vorbereitungsschritte für die europäische Programmplanung ab 2007 ging. Nachdem die Brandenburger Delegation erste Ideen vorgestellt hatte, warf der Kollege ein: „Wozu braucht Ihr das Geld aus Brüssel? Ihr baut doch damit nur Rennstrecken auf denen keine Autos fahren, riesige Hallen in denen dann doch keine Luftschiffe gebaut werden und noch mehr große Hallen, in denen dann doch keine Mikrochips hergestellt werden. Bevor Ihr noch mal Geld bekommt, müsst Ihr Euch mal eine vernünftige Strategie überlegen“.1 So also wurde Brandenburg vielfach von außen wahrgenommen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: 2004 war eine Situation eingetreten, in der der Aufholprozess stagnierte

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Der guten Ordnung halber: Der Kollege meint dies natürlich eher scherzhaft. Abgesehen davon sind heute alle drei genannten Vorhaben mit veränderter inhaltlicher Ausrichtung durchaus erfolgreich.

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und die Außenwahrnehmung, das Image Brandenburg eher negativ war. Zudem war bereits zu diesem Zeitpunkt klar, dass sowohl europäische Fördermittel, aber auch die Mittel aus dem Solidarpakt zurückgehen würden. In dieser Situation lag es auf der Hand, sich Gedanken über die zukünftige Strategie der Landesentwicklung und daran anknüpfend der Förderpolitik zu machen. Kurz gesagt, es brauchte einen Anstoß, einen Impuls der neue Motivation und neue Kräfte freisetzen musste.

II.

Wie war der Plan? Ausgehend von der dargestellten Situation stand zunächst die Frage im Vordergrund, ob trotz der insgesamt unbefriedigenden Entwicklung in Brandenburg positive Entwicklungstrends zu erkennen waren und ob sich einzelne Bereiche nicht besser als andere entwickeln. Dabei wurde sehr schnell klar, dass einzelne Branchen (zum Beispiel die Luft- und Raumfahrt, die Metallerzeugung und –bearbeitung, die chemische Industrie aber auch Logistik) sich tatsächlich besser entwickelten als andere Branchen. Zudem war es unter Einbeziehung wirtschaftswissenschaftlicher Methoden möglich, Branchen mit besonders großen Entwicklungspotentialen zu identifizieren. Deutlich wurde auch, dass grundsätzlich das Berliner Umland, der so genannte engere Verflechtungs-


HENDRIK FISCHER | GESTÄRKTE STÄRKEN

raum, sich offenbar besser entwickelte und bessere Entwicklungschancen hatte als viele Standorte mit größerer Entfernung von Berlin. Daraus entstand zunächst die Überlegung, Fördermittel zukünftig insbesondere im Berliner Umland zu konzentrieren um die dort vorhandenen Potentiale noch besser ausnutzen zu können. Stärken im ganzen Land In der Diskussion wurden aber sehr schnell zwei Punkte klar: Zum einen zeigte sich, dass eine solche Überlegung auf dem ersten Blick zwar einleuchtend erschien, bei näheren Hinsehen aber deutlich wurde, dass viele, für Brandenburger Verhältnisse große und wichtige Standorte damit aus dem Blickfeld geraten würden. Dies hätte Industriestandorte wie Frankfurt (Oder) und Eisenhüttenstadt, Schwedt, aber auch Cottbus, Spremberg oder Brandenburg an der Havel betroffen. Zum anderen wäre eine ausschließliche Konzentration auf den engeren Verflechtungsraum auch politisch nicht vermittelbar gewesen. Im Ergebnis ist letztlich entschieden worden, anknüpfend an theoretische Überlegungen zu „Wachstumskernen“, das Prinzip „Stärken stärken“ zum übergeordneten Prinzip der Neugestaltung der Förderpolitik zu erheben. Konkret erfolgte dies durch die Ausweisung von 15 „Regionalen Wachstums-

kernen“ (RWK) und 17 „Branchenkompetenzfeldern“ (BKF). Während bei den RWK die regionale Konzentration von Fördermitteln im Vordergrund stand, ging es bei den BKF um die sektorale Konzentration auf besonders zukunftsträchtige Branchen. Ziel des eingeleiteten Prozesses war es, mit konkreten Maßnahmen die Schaffung von Arbeitsplätzen voranzubringen und damit Abwanderung zu verhindern. Indem Unternehmen passgenaue Investitionsbedingungen und attraktive Standorte angeboten werden, sollte die Arbeitslosigkeit bekämpft werden und dabei die weniger werdenden Fördermittel effizienter eingesetzt werden. Große Diskussionen Natürlich waren solche politischen Entscheidungen mit intensiven Diskussionen und politischem Gegenwind verbunden. Denn der Kern der Überlegungen bestand eben darin, den Einsatz von Fördermitteln stärker zu konzentrieren, also Prioritäten zu setzen. Wer aber Prioritäten setzt, setzt gleichzeitig Nachrangigkeiten – damit ist die Diskussionslage klar. Insbesondere die Ausweisung der 15 regionalen Wachstumskerne hat im politischen Raum zu erheblichen Debatten geführt. Dies im Rückblick betrachtet auch, weil die Kriterien für die Ausweisung der RWK (überdurchschnittliche wirt-

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SCHWERPUNKT | INTELLIGENT WIRTSCHAFTEN

schaftliche und wissenschaftliche Potentiale, mindestens ein Ort im Wachstumskern mit mehr als 20.000 Einwohnern) zumindest nicht eineindeutig waren. Da der gesamte Prozess topdown organisiert wurde, fühlten sich andere Standorte außerhalb der ausgewählten 15 RWK nicht immer fair behandelt und sahen sich im Extremfall als „Opfer politischer Entscheidungen“. Letztlich konnte sich die Landesregierung bei der Neuausrichtung ihrer Förderpolitik aber auch im Landtag auf eine breite Mehrheit stützen, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute besteht.

III.

Die Umsetzung. Nach der politischen Entscheidung der Landesregierung zur Ausweisung der regionalen Wachstumskerne begann eine sehr intensive Phase der Implementation.2 Gesteuert durch eine eigens eingerichtete Interministerielle Arbeitsgruppe ging es vor allem darum, konkrete Unterstützungsmöglichkeiten für die RWK herauszufinden und die Maßnahmen auszuwählen, mit denen die Ziele des Prozesses am besten erreicht

2 Die Frage der sektoralen Konzentration der Fördermittel wird hier nicht weiter verfolgt. Wichtig ist aber, dass nach anfänglichem „Nebeneinanderlaufen“ von regionaler und sektoraler Komponente, inzwischen beide Komponenten auch in der Interministeriellen Arbeitsgruppe im Zusammenhang besprochen werden. Es gibt eine enge Abstimmung zwischen dem Clustermanagement der ZAB und der Interministeriellen Arbeitsgruppe. Seit 2012 nimmt die ZAB auch an den jährlichen Gesprächen mit den RWK teil.

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werden können. Anders als bei Einzelförderungen sollte deshalb von vornherein nicht nur das Einzelvorhaben für sich genommen betrachtet werden. Ziel war es, solche Vorhaben herauszufinden, die strategischen Charakter haben und handlungsfeldübergreifend den Gesamtstandort voranbringen. Manche Maßnahmen warten Deshalb stand zunächst die Entwicklung von Standortentwicklungskonzepten an den ausgewählten Standorten im Vordergrund. Parallel bzw. vorab wurden durch die Landesregierung erste, sogenannte „Schlüsselmaßnahmen“ beschlossen. Das waren im Regelfall Infrastrukturmaßnahmen, die in den RWK als besonders bedeutsam für die Standortentwicklung angesehen wurden. Um die Umsetzung der Standortentwicklungskonzepte und den Fortgang der beschlossen Vorhaben kontinuierlich begleiten zu können, wurde eine jährliche Gesprächsreihe der Interministeriellen Arbeitsgruppe mit den RWK ins Leben gerufen, in deren Ergebnis das Kabinett über den jeweils erreichten Stand informiert wurde. Mit dem Wissen von heute waren mit den damaligen Entscheidungen zu den „Schlüsselprojekten“ durchaus auch Probleme verbunden, die in der Konsequenz dazu führten, dass ein Teil der damaligen „Schlüsselmaßnahmen“ heute noch nicht abgeschlossen ist.


HENDRIK FISCHER | GESTÄRKTE STÄRKEN

Exemplarisch mag dafür die „Schlüsselmaßnahme“ des RWK Prignitz „Bau der A 14“ stehen. Natürlich war diese Maßnahme politisch für den RWK Prignitz wichtig. Vermutlich wird es nur Wenige geben, die den strategischen Charakter einer solchen Maßnahme grundsätzlich in Frage stellen. Aber: Die Einflussmöglichkeiten des Landes auf die Umsetzung dieser Maßnahme waren zu gering, um tatsächlich Beschleunigungen zu erreichen. Bis heute ist der längste Brandenburger Abschnitt der A14 nicht rechtssicher geplant. Damit stehen der Baubeginn und die Fertigstellung fast zehn Jahre nach der Entscheidung zu diesem Schlüsselprojekt noch nicht fest. Für ein „normales“ Infrastrukturvorhaben ist das ärgerlich und für viele Menschen auch nicht akzeptabel. Für ein „Schlüsselprojekt“ im RWK-Prozess wirft diese Situation aber die Frage auf, was die Benennung als Schlüsselprojekt eigentlich gebracht hat. Ein Lernprozess für alle Zum Glück für den RWK-Prozess gibt es nicht allzu viele solcher Beispiele und viele gute Gegenbeispiele. Zudem sind die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der Landesregierung auf die Umsetzung der konkreten Vorhaben inzwischen ein wichtiges Kriterium für die Interministerielle Arbeitsgruppe bei der Auswahl

der Vorschläge für besonders zu unterstützende Maßnahmen. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Zusammenarbeit der Landesregierung mit den RWK ein gegenseitiger Lernprozess ist, bei dem es immer um Optimierungen, um Nachjustierungen geht. Dies war am Anfang so und ist auch heute ein wesentliches Merkmal.

IV.

Was ist erreicht worden? Um eine ehrliche und wissenschaftlich fundierte Antwort auf diese Frage zu finden, müssen ausgehend von den definierten Zielen zunächst Indikatoren gefunden werden, an Hand derer dann der Grad der Zielerreichung ermittelt wird. Wer es besonders gut und richtig machen will, sucht sich dann eine Vergleichsgruppe und würde so insbesondere die Antwort auf die Frage nach dem Mehrwert des RWK-Prozesses finden. So wäre zumindest der Idealfall, der schon wegen des Fehlens einer Vergleichsgruppe bei der Neuausrichtung der Förderpolitik nicht zu erreichen ist. Damit ist aber gerade die Frage nach dem Mehrwert des RWK-Prozesses nur an Hand konkreter Einzelvorhaben, die es ohne den RWK-Prozess vermutlich nicht gegeben hätte, zu beantworten. Auch hätte, um wissenschaftlich korrekt zu sein, die Festlegung von Indikatoren am Anfang stehen müssen. Aber wie so oft bei politischen Entscheidungen

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stand die Frage „Woran will ich zukünftig den Erfolg der beschlossenen Maßnahmen messen?“ nicht unbedingt im Vordergrund. Eine der erstaunlichsten Folgen der Ausweisung der 15 regionalen Wachstumskerne – und ein tatsächlicher Mehrwert – war ein Aktivitätsschub sowohl in den RWK selbst als auch an den Standorten, die nicht den Status des RWK zugestanden bekamen. Bei den ausgewiesenen Wachstumskernen war ein solcher Aktivitätsschub durchaus erwartbar. Die Gespräche mit der Interministeriellen Arbeitsgruppe, die Aufforderung Standortentwicklungskonzepte zu erarbeiten und „Schlüsselvorhaben“ auszuweisen hatten ja genau dies zum Ziel. Wie sich die Stimmung dreht Erstaunlich war aber die Entwicklung an Standorten wie Strausberg, Rüdersdorf, Wittstock, Teltow oder Stahnsdorf. Diese hatten trotz zum Teil intensiver eigener Bemühungen aus verschiedenen Gründen nicht den Status eines RWK erhalten. Die Reaktion darauf war: „Dann machen wir eben unseren eigenen RWKProzess, unsere eigenen Konzepte und zeigen es den Potsdamern mal“. Vor allem aber: Während es lange Zeit „zum guten Ton“ gehörte, immer wieder darauf hinzuweisen, wie schlecht es am jeweiligen Standort ginge und als Aus-

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gleich Förderungen zu fordern, rückte landesweit immer mehr in den Vordergrund, welche Stärken ein Standort hat. Denn diese sollten ja nunmehr ausgebaut und vom Land unterstützt werden. Damit drehte sich auch die Diskussionsund Stimmungslage im Land. Was die Gutachter sagen Ein anderes, nicht unbedingt vorhersehbares, Ergebnis war und ist die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Städten innerhalb der so genannten „Mehrlings-RWK“, also Wachstumskerne, in denen mehrere Städte zusammengefasst sind. Da diese aufgefordert waren, als Gesamt-RWK aufzutreten, ergab sich zum einen die Notwendigkeit einer Koordination und Kooperation, zugleich wurden aber auch Maßnahmen im Interesse des Gesamt-RWK entwickelt. Natürlich lagen Oranienburg, Hennigsdorf und Velten schon immer räumlich eng beieinander. Durch die Ausweisung als Wachstumskern sind sie aber zu einer viel stärkeren Zusammenarbeit gedrängt worden als ohne die Ausweisung. Heute werden viele Aktivitäten etwa zur Sicherung des Fachkräftebedarfs, zum Klimaschutz aber natürlich auch zur Wirtschaftsförderung durch den RWK koordiniert. Das „Kleeblatt“ im Norden von Berlin hat sich so zu einem der wirtschaftlich stärksten Wachstumskerne entwickelt.


HENDRIK FISCHER | GESTÄRKTE STÄRKEN

Unabhängig davon drängte der Landtag auf eine frühzeitige Evaluation des Prozesses, in die auch Standorte außerhalb der RWK einbezogen werden sollten. Das Ergebnis, welches in vielen Teilen auch heute noch seine Gültigkeit hat ist Anfang 2011 dem Kabinett vorgelegt worden. Wesentliche Punkte dabei waren: > Die Gutachter haben in allen Wachstumskernen ein hohes Engagement der Beteiligten bei der Umsetzung der Ziele des RWK-Prozesses feststellen können. Die Gutachter wiesen aber zugleich darauf hin, dass Ergebnisse des Prozesses gerade erst begannen deutlich zu werden. Dabei verwiesen sie auf die zu dem Zeitpunkt noch relativ kleine Zahl abgeschlossener Maßnahmen und die Tatsache, dass mit der Neuausrichtung der Förderpolitik ein grundsätzlicher Strategiewechsel erfolgte, der eben Zeit brauche um zu wirken. > Die Gutachter arbeiteten heraus, dass die Wachstumskerne bei wirtschaftlichen Kernindikatoren (zum Beispiel bei der Arbeitsplatzzentralität, der Arbeitsplatzdichte und der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten) tendenziell bessere Werte aufweisen als der Standorte außerhalb von RWK. Auf die Ziele des RWK-Prozesses bezogen ist aber auch deutlich geworden, dass überlagernde Effekte durch den RWK-Prozess nicht ausgehebelt werden können.

Im Ergebnis des Gutachtens hat das Kabinett entschieden, die Zusammensetzung der regionalen Wachstumskerne nicht zu verändern. Zugleich ist aber Standorten außerhalb der RWK unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnet worden, ebenfalls Gespräche mit der Interministeriellen Arbeitsgruppe zu führen und strategisch besonders wichtige Maßnahmen bei den Landesressorts einzuspeisen. Nicht nur Infrastruktur Drei Jahre nach der Evaluation hat sich der RWK-Prozess qualitativ weiterentwickelt. Die Zahl der abgeschlossenen Maßnahmen hat sich deutlich erhöht, auch eine steigende Zahl von abgeschlossenen Infrastrukturmaßnahmen beginnt ihre Wirkung zu entfalten. Zu solchen Maßnahmen gehört der Ausbau des Elbehafens im RWK Prignitz, der den Standort als trimodalen Knoten gefestigt und zu ersten Ansiedlungserfolgen geführt hat. Dazu gehören aber auch Maßnahmen wie der Neubau des Gymnasiums „Seecampus“ in Schwarzheide, die Fachkräfteinitiativen in Fürstenwalde und Eberswalde, die Seepromenade in Neuruppin, die Sanierung des Staatstheaters in Cottbus oder das Haus der Bildung in Schwedt. Alle diese Maßnahmen tragen inzwischen zur Verbesserung der Attraktivität der jeweiligen Standorte bei und sind in ihrer Konzeption beispielhaft.

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SCHWERPUNKT | INTELLIGENT WIRTSCHAFTEN

Die Maßnahmen zeigen aber auch, dass das bei den „Schlüsselvorhaben“ klar vorhandene Übergewicht klassischer Infrastrukturmaßnahmen immer mehr einem deutlich Mix aus verschiedenen Maßnahmetypen gewichen ist. Das Umland muß profitieren Mit dem RWK-Prozess ist es über die konkreten Maßnahmen hinaus aber auch gelungen, strategisch wichtige Themenbereiche landesweit zu besetzen. Ausgangspunkt war bereits in den Jahren 2006 und 2007 die systematische Aufnahme von Initiativen zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in die Vorhaben der Wachstumskerne. Solche Initiativen sind letztlich in nahezu allen RWK umgesetzt worden und laufen nach wie vor weiter. Damit haben die RWK auch die vom Land geforderte Vorbildwirkung gegenüber anderen Standorten wahrgenommen. Seit 2011 sind die Wachstumskerne auch aufgefordert, die Themenbereiche Innovation und Umlandkooperation stärker zu besetzen. Dabei spielt vor allem die Kooperation mit den jeweiligen Umlandgemeinden eine immer zentralere Rolle. Denn nur wenn es den RWK gelingt auch die im Umland liegenden Städte und Gemeinden „mitzunehmen“, werden sie ihrem Status als Wachstumskern gerecht. Gerade deshalb war und ist die Umlandfunktion für viele politische Akteure von entscheidender Bedeutung.

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V.

Der Blick nach vorn. Die wirtschaftliche Entwicklung in Brandenburg seit 2004 ist bemerkenswert. Die Arbeitslosigkeit ist annähernd halbiert, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten steigt kontinuierlich Brandenburg ist aus Studien mehrfach als dynamischstes Bundesland hervorgegangen und ist 2013 von allen ostdeutschen Bundesländern am stärksten gewachsen. Dieser Erfolg hat wie jeder Erfolg viele Ursachen. Eine der Ursachen ist aber zweifellos auch die Konzentration auf unsere Stärken und die Neuausrichtung unserer Förderpolitik. Wie es weitergeht Seit Anfang 2013 hat die Landesregierung in allen Kreisen und kreisfreien Städten auswärtige Kabinettsitzungen durchgeführt. Regelmäßig haben dort auch die Verantwortlichen der Wachstumskerne zum erreichten Stand berichtet. Kabinettsitzungen sind vertraulich. In diesem Falle ist es aber kein Geheimnis: Der Bericht zum jeweiligen RWK ist in jedem Fall positiv aufgenommen worden. Es bestand große Übereinstimmung, dass die Neuausrichtung der Förderpolitik, aber auch die neu gefundene Zusammenarbeit zwischen Landesregierung und Wachstumskernen unbedingt Bestand haben müsse. Sie ist ein Stück des „offenen Geheimnisses“ der wirt-


HENDRIK FISCHER | GESTÄRKTE STÄRKEN

schaftlichen Entwicklung Brandenburgs in den vergangenen Jahren. Deshalb spricht vieles dafür, am grundsätzlichen Prinzip festzuhalten. Der RWK-Prozess ist nach wie vor die richtige Strategie, um Brandenburg weiter voranzubringen. Noch in dieser Wahlperiode werden sich die RWK-Verantwortlichen mit der Interministeriellen Arbeitsgruppe treffen, um über die zukünftige Zusammenarbeit zu diskutieren. Dabei werden einerseits die erreichten Erfolge im Mittelpunkt stehen, es wird aber auch darüber zu reden sein, was sich im bisherigen Prozess als hemmend erwiesen hat, was sich vielleicht auch abgenutzt hat. Ziel wird es sein, einer künftigen Landesregierung Vorschläge zur weiteren Optimierung des Prozesses vorzulegen. | HENDRIK FISCHER

ist Referatsleiter in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg.

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IMPRESSUM

Herausgeber – Klara Geywitz (V.i.S.d.P.), Klaus Ness – SPD-Landesverband Brandenburg – Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. Die perspektive 21 steht für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der besseren Lesbarkeit halber wurden an manchen Stellen im Text ausschließlich männliche oder weibliche Bezeichnungen verwendet. Diese Bezeichnungen stehen dann jeweils stellvertretend für beide Geschlechter. Redaktion Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Klaus Ness, Dr. Manja Orlowski, John Siegel Anschrift Alleestraße 9 14469 Potsdam Telefon +49 (0) 331 730 980 00 Telefax +49 (0) 331 730 980 60 E-Mail perspektive-21@spd.de Internet www.perspektive21.de www.facebook.com/perspektive21 Herstellung Gestaltungskonzept, Layout & Satz: statement Designstudio, Berlin www.statementdesign.de Druck: LEWERENZ Medien+Druck GmbH, Coswig (Anhalt) Bezug Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.

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DAS DEBATTENMAGAZIN Wie werden wir im 21. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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